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Das Konzert sollte um halb sieben anfangen. Jetzt war es schon fast acht, und Dr. Siri saß noch immer neben einem leeren Stuhl etwa fünfzig Meter von der leeren Bühne entfernt. Die ersten sechsundzwanzig Reihen begannen sich eben zu füllen, und er hatte einen herrlichen Blick auf die Hinterköpfe berühmter Laoten und andere, vermutlich ebenso berühmte Köpfe aus befreundeten kommunistischen Ländern. Die Mitglieder des Politbüros waren mit ihren Frauen angereist, unter ihnen auch Civilai und seine Lebensgefährtin, das reizende Fräulein Nong. Ein Kordon uniformierter Soldaten trennte die Ehrengäste vom gemeinen Volk im hinteren Teil des Saales, wo Siri in einer der letzten Reihen saß und Dtui einen Stuhl freihielt.
Als Platzanweiser fungierten ehemals hochrangige Offiziere der royalistischen Armee. Nach fast zwei Jahren Umerziehung galten sie als einigermaßen vertrauenswürdig. Sie trugen geborgte Hemden und Krawatten und machten eine gekränkte Miene. Dabei konnte man ihre heutige Aufgabe – gemessen an ihren Erlebnissen im Dschungel – schwerlich als Demütigung bezeichnen. Kaum einer von ihnen wusste, dass ihr König und ihre Königin ebenfalls im »Exil« weilten, und es interessierte sie auch nicht.
Mit gebührender Verspätung betraten der Präsident, der Premierminister und die Leiter der vietnamesischen Delegation den Saal, begleitet vom donnernden Applaus des Publikums. Sie drehten sich um und erwiderten den Beifall, bevor sie sich auf den Sofas und Sesseln in der ersten Reihe niederließen. Wie bei allen großen und kleinen Veranstaltungen in der Volksrepublik Laos mussten die Zuhörer zunächst eine unerträglich lange und langweilige Rede über sich ergehen lassen, in der sämtliche Revolutionäre sowie deren Väter und Großväter gewürdigt wurden. Dtui traf gegen Ende der Ansprache ein.
»Ich dachte schon, Sie kommen nicht mehr«, sagte Siri, ohne die Stimme zu dämpfen. Die meisten Leute auf den billigen Plätzen plauderten ausgelassen miteinander. Um des laotischen Publikums Herr zu werden, waren sozialistische Verstärkeranlagen mit besonders leistungsfähigen Lautsprechern ausgestattet.
»Ich musste nur noch rasch zwei traumatische Erlebnisse hinter mich bringen«, erklärte sie.
»Sie haben sich mit Lit getroffen?«
»Das war das erste. Er machte eigentlich nicht den Eindruck, als ob ich ihm das Herz gebrochen hätte. Ich habe wohl eher seine Lebensplanung durcheinandergebracht. Verstehen Sie? Ehrlich gesagt, hatte ich das Gefühl, dass dem werten Genossen bei unserer kleinen Vorstellung heute Morgen der eine oder andere Zweifel gekommen ist, ob ich tatsächlich die Richtige für ihn bin.«
»Er weiß doch, dass Sie mit dem ganzen Schwindel nichts zu tun hatten.«
»Ja, aber ihm ist wohl nicht entgangen, dass ich auch nicht sonderlich erstaunt war. Ich bin schließlich nicht kreischend in Ohnmacht gefallen. Vielleicht erwartet er das von einer Frau. Die ganze Geschichte scheint ihn ziemlich mitgenommen zu haben. Er hat mich jedenfalls nicht gebeten, meine Entscheidung noch einmal zu überdenken.«
»Umso besser. Ihr Entschluss stand schließlich felsenfest.«
»Ja. Trotzdem wäre es nett gewesen, einen Verehrer zu haben. Ich hätte mit ihm tanzen gehen und ihn den Mädels vorführen können. Außerdem hätte ich ihn gern meiner Mutter vorgestellt.«
Eine versehentliche Rückkopplung schrillte durch den Saal. Beschämt verstummten die Zuschauer.
»Und haben Sie mit Ihrer Mutter gesprochen?«, flüsterte Siri.
»Ja. Das war der zweite Schock.«
»Um Gottes willen. Warum?«
»Sie hat mir einen Brief vorgelesen.«
»Schlechte Nachrichten?«
»Das weiß ich noch nicht genau.«
»Aber sie haben Ihnen einen Schock versetzt?«
»Ich bin vor Schreck fast gestorben.«
»Wollen Sie mir vielleicht verraten, was in dem Brief stand?«
Eine Prozession von rosa und gelb gewandeten Musikern betrat den Saal und verschwand samt Instrumenten im Orchestergraben. Es war eine Schande, dass man ihre wunderschönen Kostüme nur ein paar Sekunden lang zu sehen bekam. Kurz darauf stiegen auch schon die ersten Töne aus dem Graben auf und wurden von dem ausgeklügelten Lautsprechersystem bis unter die gewölbte Decke getragen. Die ganze Höhle vibrierte. Die natürliche Akustik, ohne elektronische Verstärkung, hätte einen ungleich angenehmeren Klang produziert. Siri spürte Dtuis warmen Atem, als sie ihm ins Ohr brüllte.
»Er war vom Prüfungsausschuss.«
»Und?«
»Ich soll im Dezember in die UdSSR fliegen.«
»Sie haben bestanden?« Die Ouvertüre gelangte unvermittelt an ihr Ende, und Siris Freudenschrei zerriss die Stille. Einige Parteibonzen wandten den Kopf, aber das gemeine Volk lachte und bedachte das unsichtbare Orchester mit stürmischem Beifall. Siri genierte sich nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Am liebsten wäre er auf die Bühne gestürmt und hätte es öffentlich verkündet. Er küsste Dtui auf die Wange und hielt bis zum Schluss des Konzerts breit grinsend ihre Hand.
Die Veranstaltung dauerte bis in die Nacht. Wunderschöne vietnamesische Ballerinen in Armeeuniform drehten auf Turnschuhen Pirouetten. Akrobaten stellten mit Stühlen schier unglaubliche Dinge an. Ein Mädchen balancierte kopfüber auf einem Esel, der im Kreis lief und auf ein Stromkabel pisste, das daraufhin zu qualmen anfing. Ein kleiner Engelschor mit roten Halstüchern und Baretten schmetterte Parteilieder, die Ballerinen kamen noch einmal auf die Bühne und vollführten einen mitreißenden Tanz mit Gewehren, und ein nordvietnamesischer Popstar sang eine romantische Ballade, die dem alten Mann die Tränen in die Augen trieb.
Die letzte Nummer des Abends war ein laotischer ramwong -Tanz, der sich von der Bühne in den Saal hinunterschlängelte, wo sich Zuschauer um Zuschauer in den Zug der Tanzenden einreihte. Civilai sprang als einer der Ersten auf. Er winkte, als er Siri erblickte, der inständig hoffte, dass sein Freund seine Federboa in Vientiane gelassen hatte. Da den Zuschauern hinter der Militärabsperrung die Teilnahme an der bizarren Polonaise verboten war, blieben sie einfach, wo sie waren, und tanzten auf der Stelle. Dtui und Siri sahen einander an, wippten im Rhythmus der Musik und ahmten sich gegenseitig nach.
Hinter ihr, im Schatten der Nebenhöhlen, in den Ecken und Winkeln, sah Siri, wie die Verstorbenen zusammenströmten. Sie warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren. Nachdem die alten Männer zu Bett gegangen waren, sollte eine offizielle Party für alle Jungen und Junggebliebenen stattfinden. Aus gegebenem Anlass durfte die laotische Jugend bis in die frühen Morgenstunden tanzen. Obwohl die Feiernden nichts davon ahnten, wusste Siri, dass die Geister sich die Chance, mit den Lebenden eine kesse Sohle aufs Parkett zu legen, um keinen Preis der Welt würden entgehen lassen.
Da Civilai für moderne Musik wenig übrighatte, flog er gleich nach dem Konzert mit den anderen Partymuffeln nach Vientiane zurück. Im Hubschrauber war noch Platz, und so nahm er Siri und Dtui einfach mit. Trotz des Rotorenlärms genoss Civilai den Flug, weil er sich die Ereignisse der vergangenen zehn Tage von Siri ins Ohr brüllen ließ. Inzwischen fristete er ein derart ödes, eintöniges Dasein, dass Siris wundersame Geschichte auf ihn regelrecht belebend wirkte.
»Warum haben die Vietnamesen Isandro nicht gefunden, als sie die Leiche des Mädchens entdeckten?«, fragte Civilai und stieß damit zielsicher in eine der wenigen Lücken in Siris Beweisführung.
»Ich nehme an, Odon begrub erst seinen Freund und tarnte das Grab, damit es nicht entdeckt wurde, bevor das Ritual vollzogen war. Als er mit Hong Lan dann ebenso verfahren wollte, kamen ihm die Soldaten dazwischen.«
»Willst du die Sache nicht lieber der Polizei übergeben? Du hast doch genügend Beweise gegen die vietnamesische Miliz und den Späher wegen des Mordes an Odon?«
»Ich fürchte, die Armee wird das Problem auf ihre Weise lösen.«
»Wie es so ihre Art ist.« Damit war eigentlich alles klar. Blieb nur eine Frage, und Civilai wusste, dass die Antwort auf bloßen Vermutungen beruhte. »Hast du eine Ahnung, wie das Paar gestorben ist?«
»Dazu waren die beiden Leichen schon zu stark verwest. Das Mädchen ist wahrscheinlich an ihrer Krankheit gestorben. Falls sie doch noch am Leben war, haben die beiden vermutlich Gift getrunken, als sie in der Höhle ankamen. Es handelte sich schließlich um einen Liebespakt.«
»Und du glaubst im Ernst, der ganze Hokuspokus hat gewirkt, und ihre Seelen sind im Jenseits vereint?«
Siri dachte an den verschlossenen Schrank und an die Kreatur zurück, die er befreit hatte. »Ich weiß es nicht. Aber die Vorstellung gefällt mir.«
»Nach all den Jahren bist du noch immer ein Romantiker.«
»Wenn man in unser Alter kommt, älterer Bruder, wünscht man sich, man hätte der romantischen Liebe etwas mehr Zeit gewidmet, als man noch die Gelegenheit dazu hatte.«
»Du sagst es.« Civilai beugte sich zu Fräulein Nong und flüsterte seiner Begleiterin etwas ins Ohr, worauf ihre Augenbrauen in die Höhe schnellten und ein Hauch von Rot ihre Wangen färbte. Sie sah aus dem Fenster und grinste übers ganze Gesicht.
»Ich hoffe, du hast ihr keine Versprechungen gemacht, die ein alter Knacker wie du nicht mehr halten kann«, sagte Siri.
Dtui und der Doktor waren gegen drei Uhr morgens in ihrem überfüllten Vorstadtasyl angekommen. Die Promenadenmischung schlummerte nach wie vor friedlich in ihrem Nest, und ein Rudel Geckos scharte sich wie eine dreidimensionale Tapete um die Lampe auf der Veranda. Siri führte eine flüchtige Inventur durch und stellte fest, dass während ihrer Abwesenheit ein neuer Bewohner hinzugekommen war. Neben Manoluk, Dtuis Mutter, hatten Herr Inthanet aus Luang Prabang und Frau Fah, deren Mann vor Kurzem verstorben war, sowie ihre beiden Kinder unter Siris Dach Quartier gefunden. Und jetzt lag ausgerechnet ein Mönch in seiner Hängematte im Garten. Keiner von ihnen rührte sich.
Siri und Dtui aßen und schliefen ein wenig, doch schon gegen sechs waren beide wieder so hellwach wie die Hähne auf dem Dach. Prompt wurden sie von ihren Mitbewohnern ins Kreuzverhör genommen. »Wer ist ermordet worden? Wie? Wer war der Täter?«
Die Hörspielserien im Radio waren ihnen anscheinend zu langweilig geworden. Der Doktor gab sich alle Mühe, ihre Abenteuer im Nordosten kurz zusammenzufassen; dennoch war er erleichtert, als sie endlich zur Arbeit gehen konnten. Auf halbem Weg in die Stadt fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, nach dem Mönch zu fragen, vielleicht weil er nur ungern zur Antwort bekommen hätte: »Welcher Mönch?«
Schwester Dtui und er trafen zur gewohnten Zeit in der Klinik ein. Es war Montagmorgen, und schon schien ihr Aufenthalt im Nordosten unendlich fern, wie eine Reise in eine andere Zeit, ein anderes Land. Siri stellte sein Motorrad auf seinem Stammparkplatz ab, und Dtui schloss die Pathologie auf. Statt nach Bleich- und Desinfektionsmitteln roch es muffig. Wie eine Pathologie, die zehn Tage leer gestanden hatte. Wenigstens war es sauber, und alles war an seinem Platz, genau wie sie es zurückgelassen hatten.
Sie öffneten die Fenster, um die heiße Luft hinaus- und noch heißere Luft hereinzulassen. Dann setzten sie sich an ihre Schreibtische und machten sich daran, ihre bruchstückhaften Erinnerungen an den Houaphan-Fall zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen. Es würde sie vermutlich den halben Tag kosten, sie in eine Form zu bringen, die Richter Haengs beschränktes Begriffsvermögen nicht übermäßig strapazierte.
Um zwanzig nach acht kam Herr Geung wie ein Betrunkener ins Büro getorkelt. Er hatte noch nicht einmal seine Stiefel ausgezogen. Siri und Dtui blickten auf und sahen seine schwankende Silhouette in der Tür stehen. Das Einzige, was ihn noch auf den Beinen zu halten schien, war sein schiefes Lächeln.
»Hallo, Süßer«, sagte Dtui. »O Gott, Geung. Was ist denn mit Ihnen passiert?« Sie stand auf und ging auf ihn zu.
Bevor er auf die Knie sank und mit lautem Krachen auf dem Betonfußboden landete, hörte Geung die Stimme des Doktors. Sie klang so wunderbar – und er hatte schon befürchtet, er würde sie nie wieder zu hören bekommen. Er hatte dieses Zusammentreffen die ganze Zeit vor Augen gehabt, als er unter Schmerzen durch die Vororte und quer durch die Stadt getaumelt war und am Rande der belebten Straßen immer wieder das Bewusstsein verloren hatte. Er hatte davon geträumt, die Gesichter seiner Kollegen wiederzusehen, und jetzt war es so weit – das Leichenschauhaus stand noch, und er hatte sein Wort gehalten. Er war überglücklich. Auch das war sein vorbestimmtes Schicksal.
»Herr Geung«, hatte der Doktor mit einem Blick auf seine Armbanduhr gesagt. »Sie kommen zu spät.«