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In der einst unter Tarnnetzen verborgenen, jetzt aber offen einsehbaren Küche des militärischen Höhlenkomplexes drängten sich Genosse Lit, Dr. Siri und Schwester Dtui um einen Tisch mit dem nahezu vollständigen Leichnam Isandro Jesus Montanos. Genosse Lit fühlte sich nicht gut. Er hatte sich bereits einmal erbrochen und stand kurz davor, sich ein zweites Mal zu übergeben. Gewiss, er war nervös, denn in knapp vier Tagen würde das gesamte Politbüro einem Konzert beiwohnen, das keine dreißig Meter vom Leichenfundort entfernt stattfinden sollte. Er war nervös, denn die Frau, die seinen Antrag noch immer nicht gebührend zu würdigen wusste, obwohl er sie der Kommission für Partnerschaften und Beziehungen bereits als seine Zukünftige genannt hatte, stand praktisch direkt neben ihm. Doch trotz dieser äußerst unersprießlichen Umstände war es zweifellos der Anblick der Leiche, der ihm den Magen umdrehte.
Er hatte natürlich auch den anderen Kubaner gesehen, ja sogar dessen mumifizierte Leiche getragen. Aber die hatte ihn weniger an einen Menschen, denn an einen knorrigen Baumstamm erinnert. Dieses … Ding hingegen war obszön. Es wirkte so lebendig, als wollte es jeden Augenblick vom Tisch aufspringen und ihm an die Kehle gehen. Und wie, bitte, konnte jemand, der zeitlebens schwarz gewesen war, so weiß werden? Zwar schillerte sie hier und da in Gelb- und Grüntönen, doch ein Großteil der aufgedunsenen Haut war aschfahl wie das Fleisch des chinesischen Buddha. Siri wusste sogar, wie man diese Erscheinung nannte – adipici … adipoci oder so ähnlich -, aber im Laotischen gab es dafür kein Wort. Dem Doktor zufolge handelte es sich um ein recht ungewöhnliches Phänomen: Da die Leiche in kühler, feuchter Erde begraben worden war, hatte sich das Fett unter Beibehaltung der ursprünglichen Körperform in eine zähe, seifige Substanz verwandelt. Lit dürfe sich glücklich schätzen, meinte Siri, dieser Anblick werde nur wenigen Menschen zuteil.
Doch statt Glücksgefühlen verspürte Lit vor allem eines – Brechreiz. Der käsige Geruch sickerte durch das Tuch, das seine untere Gesichtshälfte bedeckte, und er wusste, dass das, was der Doktor vorhatte, seinem Magen den Rest geben würde.
»Auf zum fröhlichen Schneiden«, verkündete Siri mit Unschuldsmiene. »Nur keine Übelkeit vorschützen.«
Das Skalpell in seiner Hand schimmerte im Morgenlicht.
Lit begann zu schwanken.
Der Diensthabende hatte den Sicherheitschef um Mitternacht geweckt und ihn von der Entdeckung des zweiten Kubaners unterrichtet. Angeblich gab es weiter nichts zu tun, als den Leichnam bis zum Morgen zu bewachen. Lit war gegen sechs in Begleitung zweier Adjutanten eingetroffen, und Siri hatte ihn vor der Konzerthöhle lächelnd in Empfang genommen. Ohne ihren Ekel auch nur im Geringsten zu verhehlen, hatten die Adjutanten den Leichnam aus seinem Bad auf eine Trage bugsiert und ihn durch den langen Tunnel in die Küche geschleppt.
Währenddessen hatte Siri den Genossen Lit auf den neuesten Stand der Ermittlungen gebracht. Lit hatte dem Doktor zu seiner meisterhaften Detektivarbeit gratuliert und eifrig in sein Notizbuch gekritzelt. Doch jetzt, wo das Skalpell über dem Bauch des Toten schwebte, zog er es vor, sich aus dem Staub zu machen. Er werde später wiederkommen, wenn es ihm besser gehe. Dann, und erst dann, wolle er über das Obduktionsergebnis unterrichtet werden.
Ein wackliger Tisch in einer Freiluftküche inmitten einer Wolke neugieriger Fliegen war schwerlich der ideale Ort für eine postmortale Untersuchung. Der verhältnismäßig gute Zustand der Leiche machte die Sache ein klein wenig erträglicher. Das einzige Anzeichen äußerer Gewalteinwirkung war eine etwa zwanzig Zentimeter lange Inzision im Oberbauchbereich. Zwar mochte sich das Erscheinungsbild der Wunde dadurch, dass der Tote so lange in feuchter Erde gelegen hatte, etwas verändert haben, aber Siri fand weder Narbengewebe noch Tumore, was den Schluss nahelegte, dass der Eingriff nach Isandros Ableben erfolgt war.
Je weiter die Obduktion voranschritt, desto unglaublicher erschien es ihnen, dass sie es mit einer fünf Monate alten Leiche zu tun hatten. Der Grund für das Loch im Abdomen war schnell gefunden. Jemand hatte den Brustkorb geöffnet, um das sehnige Muskelgewebe des Zwerchfells durchtrennen und in die Perikardialhöhle vordringen zu können. Dann hatte er das Herz vorsichtig herausgetrennt und entnommen. Zu diesem Zeitpunkt war Isandro bereits tot gewesen.
»Darf ich jetzt ›Das ist aber komisch‹ sagen?«, fragte Dtui.
»Nur zu«, sagte Siri.
»Das ist aber komisch.«
»Fällt Ihnen sonst noch etwas Merkwürdiges auf?«
»Geben Sie mir einen Tipp.«
»Sehen Sie irgendwo parallele Narben?«
»Nein. Keine Narbe, nirgends. Auch komisch.«
Blieb die Frage, was den Tod des Kubaners verursacht hatte. Sie fanden keine weiteren Verletzungen, keine inneren Traumata, und ohne Labor konnten sie auch den Mageninhalt nicht analysieren. Alles deutete darauf hin, dass Isandro trotz seiner blendenden Gesundheit friedlich verschieden war.
Da sie leider nicht hatten feststellen können, was passiert war, sondern nur, was nicht passiert war, hatten Dr. Siri und Dtui keinen Schimmer, wie es nun weitergehen sollte. Während sie die Proben eintüteten, ließen sie die Geschehnisse des fraglichen Abends noch einmal Revue passieren: Die Kubaner werden dabei beobachtet, wie sie eine sedierte, wenn nicht gar tote vietnamesische Schönheit in diese Höhlen bringen. Isandro stirbt friedlich und wird in einem nassen Grab zur letzten Ruhe gebettet. Noch am selben Abend wird Odon brutal ermordet, in Zement ertränkt. Doch ihr bezauberndes Opfer verschwindet spurlos und entgeht auf mysteriöse Art und Weise dem zweiten, mutmaßlich für sie bestimmten Grab.
Um den Anschein von Ordnung zu wahren, verstauten sie Isandro in einem Leichensack, den die Sicherheitsabteilung ihnen zur Verfügung gestellt hatte, und kehrten ins Gästehaus zurück, um sich frischzumachen. Sie standen vor einem ebenso verwirrenden wie aufregenden Rätsel. Es war noch nicht zehn. Panoy kniete bei ihnen an dem kleinen Beistelltisch und spielte mit ihrer gesunden Hand Karten. Sie hatte die Herzen des Gästehauspersonals erobert, selbst das der furchteinflößenden Leiterin, die gewöhnlich wartete, bis Siri und Dtui gegangen waren, bevor sie mit dem Mädchen spielte.
Der Zustrom von fehlgeleiteten Lakaien des kapitalistischen Systems war vorerst verebbt. In zwei Tagen würden die ersten Delegierten zum Konzert in Vieng Xai eintreffen. Wer nicht als Ehrengast in den Privatgemächern der Mitglieder des laotischen Politbüros nächtigen durfte, würde hier im Gästehaus wohnen. Man hoffte, dass das Gästehaus Nr. 2, das am anderen Ende der Stadt in Windeseile aus dem Boden gestampft wurde, die Flut würde aufnehmen können. Doch bis dahin hatten die Mitarbeiter des Gästehauses Nr. 1 wenig mehr zu tun, als sich in ein vierjähriges Waisenmädchen zu verlieben.
Trotz seiner reichlich vorhandenen Freizeit zeigte sich das Personal nach wie vor erstaunlich unflexibel, was den Tagesablauf der Gäste anging. Siri und Dtui waren bereits vor dem Frühstück aufgebrochen, würden aber frühestens in zwei Stunden etwas zu essen bekommen. Und so setzten sie sich mit einer Tasse Tee auf die Veranda, knabberten Sonnenblumenkerne und sahen Panoy zu, die sich angeregt mit der Karten-Königsfamilie unterhielt. Zum Glück erschien Lit gegen halb elf mit zwei Tafeln Erdnusskrokant, welche die drei heißhungrig verschlangen. Während er keine Gelegenheit ausließ, seiner Auserwählten in die Augen zu schauen, legte Lit ihnen das Ergebnis der Nachforschungen dar, um die Siri ihn zuvor gebeten hatte.
Bevor er sie ins Bild setzte, machte er ihnen unmissverständlich klar, dass es sich um streng vertrauliche Informationen handele, die eine als geheim eingestufte Mission beträfen. Was er ihnen zu sagen habe, dürfe die Veranda unter keinen Umständen verlassen. Es gehe um eine Frage der nationalen Sicherheit. Siri meinte, die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Anwesenden, einschließlich Panoy, geheime Informationen an die Amerikaner weitergeben werde, tendiere stark gegen null, und er solle endlich zur Sache kommen.
»Also gut«, begann Lit. »Bei der Einheit – und es war nur eine Einheit -, die in der Nacht, in der Isandro zu Tode kam, an der Kreuzung bei Xam Neua stationiert war, handelte es sich um eine Guerillatruppe, die in den von den Hmong besetzten Gebieten geheime Operationen durchführen sollte. Sie war zwei Monate zuvor, kurz nach dem Überfall auf Oberst Ha Hungs Männer, zusammengestellt worden. Einige ihrer Mitglieder hatten in Ha Hungs Bataillon gedient, und die meisten waren an der Suche nach der entführten Tochter ihres Kommandeurs beteiligt gewesen.«
Inzwischen waren die Einheit aufgelöst und die Männer anderen Divisionen zugeteilt worden, doch Lit zog stolz einen Durchschlag mit den Namen ihrer Mitglieder aus seiner Tasche. Er reichte ihn Siri, der mit dem Finger an der Liste entlangglitt. Obgleich ihm die Namen der meisten vietnamesischen Soldaten wenig sagten, sprang ihn ein Name förmlich an. Siri umkringelte ihn mit dem Bleistift aus seiner Brusttasche. Er lächelte Dtui und Lit vielsagend zu, behielt die Erklärung jedoch für sich.
»Haben Sie Zeit, Genosse Lit?«, fragte Siri.
»Dr. Siri, in zwei Tagen muss ich für die Sicherheit von sechzig ausländischen Würdenträgern, unserem gesamten Kabinett sowie über vierzig Generälen garantieren. Bis dahin habe ich einen Mordfall zu lösen, zur Zufriedenheit des Präsidenten. Wenn Sie das irgendwie möglich machen könnten, würde ich in den kommenden zweiundsiebzig Stunden mit Freuden auf meinen Schönheitsschlaf verzichten.«
»Gut. Dann machen wir doch eine kleine Spritztour.«
Während Lit fuhr und Dtui schweigend auf dem Rücksitz hockte, setzte Siri seinem Zuhörer das Obduktionsergebnis in allen Einzelheiten auseinander. Zwar nickte der junge Mann an den richtigen Stellen, aber Siri merkte schnell, dass Lit heillos überfordert war. Er bekleidete einen Posten, den er lediglich als Zwischenstation betrachtete, musste ihn jedoch nach bestem Wissen und Gewissen ausfüllen, um schnellstmöglich befördert werden zu können. Folglich bot er Siri bereitwillig jede nur erdenkliche Unterstützung. Lit sah immer wieder in den Rückspiegel, nicht etwa, um nach eventuellen Verfolgern Ausschau zu halten, sondern weil er den Blickkontakt mit Dtui suchte. Trotz der Breite des Spiegels und des beträchtlichen Umfangs seiner Verlobten gelang es ihr irgendwie, sich seinem Gesichtsfeld zu entziehen. Die Fahrt hätte deshalb beinahe in einer Katastrophe geendet. Lit starrte gebannt in den Spiegel und bemerkte darüber nicht, dass die Straße schnurstracks in den Fluss führte. Siri erwachte gerade noch rechtzeitig aus seinem Nickerchen, um einen Warnschrei auszustoßen.
Siri kannte die Strecke gut. Als sie an der richtigen Kilometermarke abbogen, saß dort derselbe zerlumpte Wachposten unter seinem Strohdach. Sie hielten gar nicht erst an, um sich seine Lügen anzuhören. Als der arme Mann sein Jagdgewehr endlich von seiner Schulter bugsiert und umständlich in Anschlag gebracht hatte, war der Jeep längst außer Sicht. Was nicht weiter störte, denn es war ohnehin nicht geladen.
Zehn Minuten später saßen Siri, Lit und Dtui an einem Tisch in einem ansonsten leeren Zelt. Siri hatte seinen alten Freund Hauptmann Vo beiseitegenommen und ihm die Lage geschildert. Doch die Zeit der zwanglosen Plaudereien war vorbei. Es handelte sich um eine hochoffizielle Angelegenheit, die den gesamten Militärapparat betraf und sich auf Zeugenaussagen und Unterlagen stützte. Während die Vietnamesen den Amtsschimmel auf Trab brachten, hatte Siri weiter nichts zu tun, als zwischen Dtui und Lit zu sitzen wie eine italienische Großmutter, die beim ersten Rendezvous die Anstandsdame spielt. Dtui war dankbar, Lit stocksauer.
Eine Reihe ernst dreinblickender Männer in Paradeuniform, die bis auf einen sämtliche verbliebenen Sitzplätze am Tisch einnahmen, machte dem betretenen Schweigen ein jähes Ende. Siri hegte den nicht ganz unbegründeten Verdacht, dass diese Atmosphäre schwerlich geeignet war, einen Berufssoldaten zu einem Mordgeständnis zu bewegen. Er ging in Gedanken verschiedene Strategien durch, doch auch als Oberstabsfeldwebel Giap schließlich ins Zelt eskortiert wurde, salutierte und auf dem letzten freien Stuhl Platz nahm, hatte Siri noch immer nicht die leiseste Ahnung, wie er den Mann zum Reden bringen sollte. Wie sich herausstellte, war seine Sorge völlig unbegründet. Hauptmann Vo übernahm die Gesprächsführung.
»Oberstabsfeldwebel Giap …?«
»Jawohl?«
»Im Januar dieses Jahres dienten Sie in einer dreißig Kilometer vor Xam Neua stationierten Einheit von Viet-Minh-Soldaten.«
Als Giap in die fremden Gesichter ringsum sah, wurde ihm klar, dass die Armee die Wahrheit von ihm hören wollte, Geheimoperation hin oder her. »Ganz recht, Herr Hauptmann.«
»Eines Abends«, fuhr Vo fort, »kam ein Handwerker aus Vieng Xai in Ihr Lager und meldete, dass er die beiden vermissten Kubaner gesehen hatte. Stimmt das?«
Hätte der Oberstabsfeldwebel mit Nein geantwortet, wäre der Fall vermutlich zu den Akten gelegt worden, dachte Siri später. Doch als der alte Soldat ein zweites Mal in die ausdruckslosen Gesichter seiner Ankläger blickte, sagte ihm sein Instinkt, dass es auf all diese Fragen bereits Antworten gab.
»Ja.«
Der Hauptmann sah ihm scharf in die Augen. Er hatte nichts mehr mit dem fröhlichen Burschen gemein, mit dem Siri tief in namenlosen Dschungeln Schach gespielt hatte. Aus Hauptmann Vo war ein unerbittlicher militärischer Führer geworden, der von seinen Untergebenen unbedingte Loyalität und schonungslose Offenheit verlangte.
»Als Dr. Siri das letzte Mal hier war«, fuhr er fort, »hielten Sie es anscheinend nicht für nötig, diese nicht ganz unbedeutende Tatsache zu erwähnen. Haben Sie dafür eine Erklärung?«
»Er hat mich nicht danach gefragt.«
Der Hauptmann überspielte seinen Zorn mit einem flüchtigen Lächeln. »Er fragt Sie jetzt, Herr Oberstabsfeldwebel.«
Der alte Soldat hatte keine Wahl: Wenn er schwieg, würde er erschossen, wenn er log, würde er erschossen, und wenn er redete, würde er erst vor ein Kriegsgericht gestellt und dann erschossen. Die vietnamesische Armee kannte keine Kompromisse. Jeder Widerspruch war zwecklos. Mit Stümpern wie Giap machte das Militär kurzen Prozess.
»Die Truppe wurde von unserem Leutnant persönlich zusammengestellt«, begann er. Ein uniformierter Offizier stenografierte jedes seiner Worte mit. »Er wählte nur Leute aus, die direkt unter dem Oberst gedient hatten. Einige von uns waren an der Suche nach seiner Tochter beteiligt gewesen. Wir konnten selbst entscheiden, ob wir mitmachen wollten oder nicht. Natürlich wollten wir. Wir waren zu siebt beziehungsweise acht, wenn man den alten Hmong-Späher mitzählt. Es musste alles sehr diskret vonstattengehen – keine Schusswaffen. Die Aktion war nicht genehmigt. Wir wurden zu strengstem Stillschweigen verpflichtet, egal, was passierte.
Wir rückten so schnell wie möglich aus. Wir wussten ja nicht, wie lange die Kubaner noch in der Gegend sein würden. Wir schnappten uns einen Transporter, parkten ein paar hundert Meter vor der Höhle und gingen hinein.«
»Womit waren Sie bewaffnet?«, fragte der Hauptmann.
»Wir alle hatten Messer. Zwei Kameraden hatten Armbrüste, für Distanzschüsse.«
Siri hätte sich ohrfeigen können. Warum war er nicht von selbst darauf gekommen? Natürlich steckte keine Kugel in Odons Wunde. Sie stammte gar nicht von einer Feuerwaffe. Wenn er von einem Armbrustbolzen getroffen worden war, hatte der Angreifer ihn herausgezogen und eine Wunde hinterlassen, die einer Schussverletzung täuschend ähnlich sah. Er fragte sich, ob auch Dtui dahintergekommen war, bis ihm einfiel, dass sie ahnungslos dasaß und einer Sprache lauschte, die zu lernen sie nie das Bedürfnis verspürt hatte.
Giap fuhr fort. »Wir stürmten die Armeehöhlen von beiden Seiten. Der Anführer jeder Einheit hatte eine Rotlichttaschenlampe. Die Einheit, die durch das Auditorium in die Höhle eindrang, sah sie zuerst. Nach der endlosen Suche zerriss es uns fast das Herz. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wütend uns ihr Anblick machte. Sie war tot, Herr Hauptmann.«
»Fräulein Hong Lan?«, fragte Siri, obwohl er bei diesem Militärtribunal offiziell gar nicht hätte zugegen sein dürfen.
»Nicht nur tot, Doktor. Ausgeweidet. Sie lag mit herausquellenden Gedärmen in ihrem nassen Grab. Sie hatten sie aufgeschlitzt. Um eine so große Wunde zu verursachen, muss man mit dem Messer schon ganze Arbeit leisten. Es war widerlich, einfach widerlich. Das konnten nur diese verfluchten Kubaner gewesen sein.«
»Sie haben nur die eine Leiche gesehen?«, fragte Siri.
»Eine war mehr als genug.«
»Das ist sehr wichtig, Herr Oberstabsfeldwebel.« Siri wusste, dass er die Vernehmung an sich riss, aber er musste dringend ein paar Fragen loswerden. »Wo genau lag die Leiche?«
»In einem Grab. Ein kleiner Bach floss durch die Höhle, und das Loch befand sich direkt daneben.«
»Aber es gab nur dieses eine Grab?«
»Jawohl.«
»Und es war völlig offen?«
»Nicht ganz. Die Beine des Mädchens waren mit Sand bedeckt, und neben ihr lag ein kleiner Spaten, als hätten wir die Kubaner gestört, bevor sie ihr Werk vollenden konnten.«
»Und das Wasser hatte das Blut aus dem Körper gespült?«
»Genau.«
»Fanden Sie sonst irgendwo Blut? Oder Spuren eines Kampfes?«
»Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. Aber Sie dürfen nicht vergessen, wir hatten nur Rotlichttaschenlampen.«
»Und dann?«, fragte der Hauptmann.
»Dann gingen wir die Schweine suchen. Sie durften auf keinen Fall ungeschoren davonkommen. Wenn sie uns tatsächlich gehört hatten und abgehauen waren, konnten sie noch nicht weit sein. Der Hmong-Späher entdeckte eine Spur vor der Konzerthöhle.«
»Nur eine?«
»Jawohl. Wir nahmen an, dass die Kubaner in verschiedene Richtungen geflohen waren. Ich weiß nicht, wie lange wir nach ihnen suchten. Eine Stunde? Zwei? Dann fanden wir einen der beiden, oben vor der alten Präsidentenhöhle. Er sang. So wahr ich hier sitze. Er trug weiter nichts als eine alte Turnhose und tanzte singend im Kreis. Typen wie der haben keinen fairen Prozess verdient. Wir schossen mit der Armbrust auf ihn, ohne Erfolg. Er hielt sich noch immer auf den Beinen. Wir stürzten uns auf ihn, alle sieben. Ich kann Ihnen sagen, der Bursche war stark, stark wie ein Ochse. Trotzdem. Die Sache mit dem Zement war nicht geplant.«
»Aber umbringen wollten Sie ihn schon«, sagte der Hauptmann.
»Eigentlich nicht.«
»Sie hatten Messer und Armbrüste mitgenommen.«
»Nur zur Selbstverteidigung, Herr Hauptmann.«
»Ich glaube Ihnen kein Wort. Reden Sie weiter.«
»Also, der Zement war frisch gegossen und noch feucht. Als wir ihn hineinstießen, erwachte er aus seiner Trance und merkte, was los war. Er kämpfte wie ein Tiger – er kratzte und trat um sich. Dann endlich lag er still. Der Schütze zog seinen Bolzen heraus, wir strichen den Zement glatt und machten uns aus dem Staub, bevor noch jemand kam, der wissen wollte, was es mit dem Geschrei und dem Gesinge auf sich hatte.«
Die Männer um den Tisch atmeten erleichtert auf, als er verstummte.
»Herr Oberstabsfeldwebel«, fragte der Hauptmann, »haben Sie auch den zweiten Mann gefunden?«
»Nein, Herr Hauptmann. Wir sind am nächsten Abend nochmal hingefahren, aber er war spurlos verschwunden.«
»Und was haben Sie mit dem Mädchen gemacht?«
»Wir haben das Grab zugeschüttet, die Kleine auf den Transporter verfrachtet und mit ins Lager genommen. Der Leutnant hat sich mit der Mutter in Hanoi in Verbindung gesetzt und ihr erklärt, was passiert war. Wir dachten, sie würde herkommen oder uns bitten, die Leiche nach Vietnam zu überstellen, aber sie wollte nur, dass wir sie anständig begraben und ihr eine Haarsträhne ihrer Tochter schicken.«
»Wo haben Sie das Mädchen begraben?«, fragte Siri.
Thangon war ein winziges Dorf, in dem jeder jeden kannte. Selbst die Leute auf der Fähre hatten den kleinen Geung sofort erkannt. Schließlich war er achtzehn Jahre seines Lebens eine Berühmtheit – einer der beiden Dorftrottel – gewesen. Herr Watajak war über das Wiedersehen mit seinem Sohn nicht sonderlich erfreut, wollte sich vor den Nachbarn aber keine Blöße geben. Geungs Vater lebte jetzt allein und wurde langsam alt. Seine Frau hatte ihren versoffenen Mann schon vor Jahren verlassen. Die inzwischen erwachsenen Kinder waren in die Stadt gezogen. Wenn er nicht gerade nach Vientiane fuhr, um seinen Nachwuchs um Geld anzubetteln, setzte er kaum einen Fuß vor die Tür. Er hauste in derselben Hütte, in der Geung zur Welt gekommen und großgeworden war, bevor er in der Mahosot-Klinik angefangen hatte.
Als Geung am ersten Morgen aus seinem Erschöpfungsschlaf erwachte und alles genau so vorfand, wie er es in Erinnerung hatte, glaubte er zunächst, er habe alles – Vientiane, das Leichenschauhaus, Dr. Siri, Dtui und die Fahrt nach Luang Prabang – nur geträumt. Nichts davon war tatsächlich passiert, und er war immer noch ein halbwüchsiger Junge in Thangon. Er rief nach seinen Geschwistern, er rief nach seiner Mutter, aber es kam niemand außer seinem Vater. Nur dass sein Vater sehr viel älter war, als er hätte sein sollen – und das Haus war staubig und leer.
Die Nachbarn schauten in regelmäßigen Abständen herein und brachten Geung zu essen und zu trinken und Balsam für seine trockene Haut. Er erinnerte sich an ihre Gesichter. Er erinnerte sich an die Hebamme, die schon uralt gewesen war, als sie Geung zur Welt gebracht hatte, und heute immer noch uralt war. Wie in seinen Kindertagen punktierte sie Geungs Ohren mit einer Spritze, damit die Flüssigkeit abfloss, und wie damals war ihre Stimme das Erste, was er vernahm, als er endlich wieder hören konnte.
»Schön, dass du wieder da bist, kleiner Geung.«
Mit seinem Gehör kehrte auch die Wirklichkeit zurück. Endlich konnte er die Fragen der neugierigen Besucher verstehen und beantworten. Da es im Ort weder Strom noch anderweitige Zerstreuung gab, kamen die Leute gern vorbei und lauschten seinen Geschichten über die Klinik und die Fälle aus Dr. Siris Leichenschauhaus. Natürlich neigte er dazu, die Dinge zu vereinfachen und das eine oder andere wichtige Detail zu unterschlagen, was die einfachen Leute von Thangon jedoch gar nicht bemerkten.
Geung ahnte nichts von den schleichenden Veränderungen, die in der elterlichen Hütte vor sich gingen. Sein Vater hatte in weiser Voraussicht und mit der Regelmäßigkeit einer Fabrik, die Fleischklößchen am Fließband produziert, Kinder in die Welt gesetzt, die eines Tages seinen Lebensabend sichern sollten. »Ein cleveres Bürschchen, dieser Watajak«, hatten die Leute von Thangon gesagt. »Bei sieben Kindern braucht er nie wieder einen Finger krumm zu machen.« Und da saß er nun einsam und allein in seiner Ecke wie ein Idiot. Wer brachte ihm noch Respekt entgegen? Wer hörte noch auf ihn? Hilflos musste er mit ansehen, wie die Leute herbeiströmten, um den weisen Worten seines Sohnes zu lauschen. Aus dem Dummkopf war ein Genie geworden.