177555.fb2 Totentanz f?r Dr. Siri - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 16

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15LAOTISCHE VERHÄLTNISSE

Herr Geung war dem Ufer des Nam-Ngum-Stausees zwölf Meilen weit gefolgt. Er hatte in einer Fischerhütte am Strand übernachtet. Als er aufwachte, stieg ihm sein eigener Gestank in die Nase. Er konnte sich kaum noch erinnern, warum er von Kopf bis Fuß mit diesem klebrigen, dunkelbraunen Zeug bedeckt war, das seine Haut mit einer harten Kruste überzog, und das frische, klare Wasser lag gleich vor seiner Haustür. Bis auf seine Stiefel vollständig bekleidet, watete er in den See. Es war ein herrliches Gefühl. Erst als ihm das Wasser bis zum Hals stand, zog er sich aus. Seine Schulter brannte ein wenig, aber das kühle Nass entkrampfte seine schmerzenden Muskeln, tränkte seine schuppige Haut und spülte seinen einzigen Schutz gegen Insektenstiche hinweg.

Die Denguemücke ist deshalb so gefährlich, weil sie zur Unzeit zuschlägt. Wenn die Sonne hinter dem Horizont versinkt, geraten gewöhnliche Mücken außer Rand und Band. Die Leute wissen das und beugen vor, indem sie lange Ärmel tragen, sich mit Mückenschutz einreiben und ihre Spiralen einschalten. Nachts schlafen sie unter Netzen. Das ist so eine Art stillschweigende Übereinkunft zwischen dem Menschen und seinem Blut saugenden Widersacher. Doch die Denguemücke käme nicht im Traum auf die Idee, sich an diese Vereinbarung zu halten. Sie fällt am helllichten Tag über ihr Opfer her, während selbiges im Schweiße seines Angesichts ein Feld beackert, in einer schattigen Hängematte schaukelt oder splitternackt am Nam-Ngum-Stausee sitzt und darauf wartet, dass seine Kleider trocknen.

Die Inkubationszeit der Krankheit beträgt fünf bis sieben Tage. Kurz darauf weiß man, ob die entsprechende Variante einem lediglich heftige Beschwerden verursacht, aber nicht zum Tode führt, oder ob man sich das verflixte Fieber eingefangen hat, das für ein rasches, aber ungemein qualvolles Ableben sorgt. Trotz des ausbleibenden Regens hatten die mittäglichen Attacken der heimtückischen Bluträuber Zehntausende von Menschenleben gefordert. Die diesjährige Epidemie hatte ihren Ursprung im Norden der Provinz Vientiane, vermutlich in der Gegend rings um den Staudamm.

Geung schlug sich einen Sekundenbruchteil zu spät auf den Arm. Er pickte den Übeltäter von seiner Haut. Die Mücke war winzig, schwarz-weiß gestreift und blutverschmiert. Er fragte sich, wie so viel Blut in ein so kleines Tier hineinging.

Die Leute hatten den sonderbaren Burschen, der auf seinem langen Marsch entlang dem Südwestufer des Stausees durch ihre Dörfer kam, mit offenen Armen empfangen. Bevor politische Täuschung und Zersplitterung in Laos Einzug gehalten hatten, war derlei völlig normal gewesen. Wenn ein Fremder das Haus betrat, so gab man ihm, was man entbehren konnte. Selbst Familien, die kaum genug zu beißen hatten, um ihre Kinder zu ernähren, kredenzten dem Besucher eine Schüssel Klebreis mit scharfer Gemüsesauce. Man begegnete einander mit Vertrauen und Respekt.

In den großen Städten war dieses Gemeinschaftsgefühl weitgehend verloren gegangen. In den kleinen Dörfern hingegen klammerten sich die Alten an die Hoffnung, dass die laotischen Sitten und Gebräuche sich gegen die Politik behaupten würden. Sie gaben Geung zu essen und Balsam für seine Haut, verarzteten seine Blasen und Blessuren und boten ihm ein Bett für die Nacht. Sie mussten laut schreien, um sich verständlich zu machen, da für ihn sämtliche Geräusche zu einem undeutlichen Unterwassersummen verschwammen. Obwohl sie sich alle Mühe gaben, konnten sie ihn nicht von seinem törichten Vorhaben abbringen, zu Fuß in die Hauptstadt zu wandern. Sie brüllten »Viel Glück« und sahen ihm nach, wenn er gen Süden humpelte. Niemand rechnete damit, dass er sein Ziel lebend erreichen würde.

Auch Herr Geung bekam allmählich ein ungutes Gefühl. So weit war er sein Lebtag noch nicht gelaufen. Schon spürte er, wie seine Kräfte schwanden. Er wusste nicht, wie viele Sonnenaufgänge er schon gesehen, wie viele Schritte er zurückgelegt hatte. In seinem Kopf gingen seltsame Dinge vor. Er schien sich in eine Motte zu verwandeln. Vientiane war eine elektrische Glühbirne, die ihn magisch anzog. Sie blendete ihn, tauchte alles um ihn herum in dichten Nebel und trübte seinen Verstand so sehr, dass er häufig nicht mehr wusste, wo er war oder mit wem er sprach. Jede Frau, die ihm begegnete, nannte er Dtui, jeden Mann Genosse Doktor.

Siri und Dtui saßen unweit der Bruchstelle auf dem Betonweg und schwiegen. Das »Beweisstück« erholte sich noch immer von dem Trauma, das sie unter den wachsamen Augen der Leiterin des Gästehauses durchlitten hatte. Die Sonne verbarg sich hinter Wolken, und der Himmel verhieß eine deprimierende Regenperiode – nicht den guten alten Südwestmonsun, sondern feinen Nieselregen, der aufs Gemüt schlug und das Denken erschwerte. Siri blockierte die Marschroute einer Kolonne roter Ameisen. Bevor sie in die Richtung zurückliefen, aus der sie gekommen waren, trat jede Ameise einzeln vor, um sich den Doktor aus der Nähe anzusehen, wie die Besucher eines Mausoleums.

»Vielleicht suchen wir an der falschen Stelle«, sagte Dtui schließlich. Siri hatte ihr das Versteck der Kubaner und den grausigen Altarraum gezeigt. Weder hier noch da waren sie auf neue Anhaltspunkte gestoßen.

»Oder nicht gründlich genug an der richtigen. Vielleicht haben wir mit den falschen Leuten gesprochen.«

»Dann sprechen wir doch mit den richtigen«, schlug Dtui vor.

»Und wo, bitte, sollen wir damit anfangen?«

»Gleich hier, unter unserem Allerwertesten.« Siri runzelte die Stirn. »Beton, so weit das Auge reicht. Was glauben Sie? Wie lange hat es wohl gedauert, diesen Weg zu bauen?«

»Mit drei, vier Arbeitern? Ein oder zwei Wochen, würde ich sagen.«

»Und die Kubaner waren die ganze Zeit hier in der Höhle hinter ihnen? Dann müssten sie doch eigentlich etwas gesehen haben, oder?«

»Hervorragend. Ja, in der Tat. Mit Ihrem Scharfsinn werden Sie die, äh, Betonköpfe im Ostblock im Handumdrehen erweichen.«

»Doc …«

»Pardon.«

Der Lastwagen des Gästehauses traf mit einer Stunde Verspätung in Xam Neua ein. Es war nicht allzu schwer gewesen, die Bauarbeiter ausfindig zu machen. Bei Regierungsprojekten wurden die meisten Betongussarbeiten von ein und derselben Kolonne erledigt. Derzeit errichtete sie unten an der Brücke ein neues Polizeirevier. Der Polier der Kolonne war ein ehemaliger Soldat, den Siri von mehreren Feldzügen her kannte. Der Betonbauer hieß Bui und gehörte zu jenen Männern, deren Gesicht und Statur sich zwischen sechzehn und sechzig nicht nennenswert verändern. Die Wahrscheinlichkeit, in Laos auf alte Bekannte zu treffen, war alles andere als gering. Man begegnete ihnen auf Schritt und Tritt. Dtui fand es beeindruckend, dass sich mit Ausnahme ranghoher Bürokraten alle aufrichtig über das Wiedersehen mit ihrem alten Freund Dr. Siri zu freuen schienen.

Sie saßen zu dritt auf dem frisch getrockneten Betonfußboden eines Büros, das in Kürze ein Leutnant der Polizei beziehen würde. Bui hätte dem Doktor zur Begrüßung gern einen Whisky angeboten, doch leider mussten sie sich mit lauwarmem Wasser begnügen, das leicht nach Farbverdünner schmeckte. Nachdem sie die wichtigsten Neuigkeiten ausgetauscht hatten, erklärte Siri dem alten Mann, warum er sich im Nordosten aufhielt, und fragte ihn, ob er ihm eventuell mit ein paar Informationen aushelfen könne. Die Antwort übertraf seine Erwartungen bei Weitem. Mit ihrem Geistesblitz hatte Dtui den Wasserbüffel, wie man so schön sagt, voll in die Eier getroffen.

Während sie an ihrem Wasser nippten, senkte sich ein leichter Nieselvorhang über das Land, und Bui erzählte ihnen, was sich eines schönen Januartages zugetragen hatte.

»Es war ein Dienstag, wenn ich mich recht erinnere«, begann er. »Das weiß ich deswegen so genau, weil der Fußweg des Präsidenten der letzte war und mittwochs ein Inspektor einfliegen sollte, um unser Werk zu begutachten. Damals gingen nur zwei Flüge in der Woche. Wir hinkten unserem Zeitplan ein klein wenig hinterher, darum mussten wir ein paar Überstunden einlegen, um pünktlich fertig zu werden. Als wir spätabends zu unseren Hütten hinuntergingen, war es schon dunkel.

Wir waren alle drei fix und fertig und freuten uns nur noch auf ein gutes Essen und unser Bett. Wir waren gerade beim Fußballplatz angekommen. Wie so oft herrschte dieser schreckliche Nebel, der einem kalte Schauer über den Rücken jagt, wenn man nur hindurchgeht. Da sahen wir sie.«

»Die Kubaner?«, fragte Siri.

»Und das Mädchen.«

»Hong Lan? Die Vietnamesin?«

»Da bin ich mir nicht ganz sicher, aber natürlich kannten wir die Geschichten über schwarze Magie und die Entführung und so weiter. Der größere der beiden hatte das Mädchen auf dem Arm. Sie wissen schon, wie man alte Leute trägt. Sie schien unter Drogen zu stehen. Sie wirkte irgendwie benommen.«

»Oder tot?«, fragte Dtui dazwischen.

»Schon möglich. Ihre Arme baumelten, und ihr Kopf hing schlaff herunter. Sie kamen etwa dreißig Meter vor uns aus dem Nebel. Ich und die Jungs erstarrten. Wir kamen uns vor wie in einem dieser Geisterfilme aus Hongkong. Der Größere ging mit dem Mädchen voraus. Der Kleine war etwa fünf Schritte hinter ihm, und er hatte ein großes Messer in der Hand. Oder war es ein Schwert? Es sah jedenfalls ziemlich gefährlich aus.«

»Haben die beiden Sie gesehen?«

»Wenn ja, haben sie sich das nicht anmerken lassen. Aber sie machten, ehrlich gesagt, nicht den Eindruck, als ob sie sehr viel mitbekommen hätten – sie waren wie in Trance.«

»Wohin wollten sie?«, fragte Siri.

»Zum Hauptquartier der Armee.«

»In die Konzerthalle, äh, -höhle?«

»In diese Richtung, ja. Wir wagten nicht zu sprechen, bis sie weg waren, weit weg. Und auch dann flüsterten wir nur. Der Nebel trägt den Schall. Wir steckten die Köpfe zusammen und überlegten, was wir tun sollten. Wir wussten, dass die Vietnamesen das Mädchen gesucht hatten, aber die Mutter war schon abgereist – zurück nach Hanoi, wenn mich nicht alles täuscht. Also fuhr einer der Jungs mit dem Fahrrad zum Armeestützpunkt hinaus – der an der Kreuzung bei Xam Neua. Erinnern Sie sich?«

»Den gab es noch? Ich dachte, die Viet Minh wären Ende 75 abgezogen.«

Der alte Soldat lachte, machte sich jedoch nicht die Mühe, dieses Gaunerstück der PL näher zu erläutern.

»Und weiter?«, wollte Dtui wissen.

»Nichts weiter.«

»Was soll das heißen?«

»Wir haben nichts mehr davon gehört.«

»Und Sie haben auch nicht nachgefragt?«

»Am nächsten Morgen sind wir nach Xam Neua zurückgefahren und haben uns mit dem Bauinspektor getroffen. Er verlangte ein paar kleinere Änderungen. Sie wissen ja, wie diese Leute sind. Damit war die Angelegenheit für uns beendet. Wir hatten sie eigentlich schon vergessen.«

»Himmel! Ich an Ihrer Stelle wäre geplatzt vor lauter Neugier«, sagte Dtui.

»Stimmt«, bestätigte Siri. »Ich habe Schwester Dtui bereits des Öfteren vor Neugier platzen sehen, und ich kann Ihnen sagen, Bui, das ist weiß Gott kein schöner Anblick.«

Zwei Stunden vor Einbruch der Dunkelheit kehrten Siri und Dtui nach Vieng Xai zurück. Sie schauten rasch im Gästehaus vorbei, um nach Panoy zu sehen. Lit hatte drei Nachrichten für sie hinterlassen, mit der Bitte, sich schnellstmöglich mit ihm in Verbindung zu setzen. Siri und Dtui ignorierten sie, packten zwei Taschenlampen sowie diverses Werkzeug ein und machten sich zu den Höhlen auf.

Als sie die Konzerthalle betraten, staunte Dtui nicht schlecht. Ohne die nächtlichen Tänzer kam sie dem Doktor noch größer vor.

»Seit unserer Ankunft in Houaphan zieht mich irgendetwas hierher«, gestand Siri. »Ich hätte vermutlich auf meinen Instinkt hören sollen.«

»Die ist ja riesig«, sagte Dtui. »Wo fangen wir mit der Suche an?«

»Oben befinden sich die Unterkünfte und das Generalsquartier. Darunter liegt dieser Saal, und dort hinten gibt es mehrere Nischen und einen langen Tunnel, der quer durch den Berg in den Mess- und Küchenbereich führt. Ich schlage vor, wir folgen einfach unserem Riecher und sehen uns ein wenig um.«

»Doc?« Dtui ließ den Lichtstrahl ihrer Taschenlampe über die hohen, gewölbten Wände wandern. Die unregelmäßigen Felsvorsprünge warfen bedrohliche Schatten. »Wir sind … äh … ganz allein hier, nicht?«

»Das will ich doch stark hoffen«, antwortete Siri. »Jedenfalls bis Mitternacht.«

»Wieso bis Mitternacht?«

»Weil dann die Disco losgeht.«

Er näherte sich der Bühne, während sie sich fragte, ob das einer von Dr. Siris dummen Witzen war oder sie ernstlich um seinen Verstand fürchten musste. Gemeinsam suchten sie die Wände nach Zeichen oder Symbolen wie denen ab, die sie am Altar gesehen hatten. Ohne Erfolg. Blieb die Frage, weshalb die beiden Kubaner mit Hong Lan hierhergekommen waren, wo sie doch in der Präsidentenhöhle einen Opferschrein errichtet hatten?

Sie durchkämmten das Auditorium Zentimeter für Zentimeter und machten sich dann an die Untersuchung der Höhlennischen. Hier hatte die Armeeführung militärische Strategien entwickelt, sich in der Kunst des Bombenbauens und des Guerillakriegs geübt und bei Kerzenlicht Tischtennis gespielt. Es gab einen kleinen Raum, in dem von Dr. Siri persönlich angelernte Krankenschwestern Medikamente verabreicht hatten, und einen weiteren, der als Waffenkammer genutzt worden war. Aber keiner von ihnen gab ein Geheimnis preis.

»Gehen wir zur Küche durch«, beschloss Siri, als sie sich dem schmalen Tunnel näherten, der fünfzig Meter weit in den massiven Fels hineinreichte. Sie stiegen über einen unterirdischen Bach hinweg, der in einer Betonrinne verlief und einst als Sammelstelle für Trinkwasser gedient hatte. Siri betrat den Tunnel als erster – und blieb schlagartig stehen. Fast hätte Dtui ihn über den Haufen gerannt.

»He«, sagte sie.

»Dtui, treten Sie ein Stück zurück.«

Sie gehorchte. »Was ist denn?«

Siri war aus zwei Gründen stehen geblieben. Zum einen hatte er das Gefühl, dass in seinen Beinen die Beine eines anderen steckten, die in die entgegengesetzte Richtung wollten. Zum anderen erinnerte er sich an die Vision, die ihm im Waschraum des Gästehauses zuteilgeworden war – Isandro, dessen Leiche friedvoll im Wasser lag. Er drehte sich um und inspizierte die etwa zwei Meter lange Wasserrinne. Das Quellwasser sammelte sich auf der einen Seite des Ganges und floss auf der anderen wieder ab. Sobald es den schmalen Kanal verlassen hatte, suchte es sich rasch seinen Weg und verschwand zwischen den Felsen.

»Leuchten Sie mal hierher, Dtui.« Auf einer Länge von drei oder vier Metern fiel der Boden sanft ab. Die Erde war eine Mischung aus Lehm, Sand und feinem Kies. Es war eine der wenigen Stellen, die man seinerzeit nicht zubetoniert hatte, vermutlich wegen des fließenden Wassers. Ohne seine alten Ledersandalen auszuziehen, stieg Siri in das knöcheltiefe Nass und ging in die Hocke.

»Sehen Sie etwas?«, fragte Dtui.

»Ich weiß nicht genau. Wären Sie wohl so gut, ein paar Meter zurückzutreten und die Lampe anders zu halten?« Sie gehorchte. »Ein bisschen höher, wenn es geht. Ausgezeichnet. Fällt Ihnen etwas auf?«

Sie tat ihr Bestes. Sie kniff die Augen zusammen, rüttelte und schüttelte die Lampe und gab sich alle Mühe, etwas zu sehen, konnte außer den welligen Furchen jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Es sei denn natürlich, die Furchen … Sie hob die Lampe noch höher und ging langsam zurück in Siris Richtung. Endlich sah sie, was er gesehen hatte. Es mochte an der Dichte oder Beschaffenheit des Bodens oder an der leichten Erhöhung liegen, aber sie erkannte zwei ovale Umrisse. Sie lagen direkt nebeneinander und waren so gleichmäßig und akkurat angeordnet, dass sie unmöglich auf natürliche Art und Weise entstanden sein konnten.

»Ja, ich sehe sie, Dr. Siri. Sie glauben doch nicht etwa …?«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.« Er richtete sich auf und ließ seinen alten Armeerucksack von seinen Schultern gleiten. Er enthielt das Werkzeug, das sie aus Vientiane mitgebracht hatten. Da sie nicht hatten wissen können, was sie erwartete, waren sie für alle Fälle gerüstet. Er reichte Dtui eine kurzstielige Gartenschaufel und wappnete sich mit einer Maurerkelle.

Zunächst stellten sie fest, dass die Erde rings um die Ovale kompakter war als innerhalb der beiden eiförmigen Gebilde. Was sie in dem Verdacht bestärkte, dass hier womöglich etwas vergraben lag. Dann begannen sie in der Mitte des ersten Ovals zu graben, was ihnen sinnvoller und weniger mühsam erschien, als den ganzen Bereich auf einmal freizulegen. Nachdem sie etwa zwei Handbreit tief gegraben hatten, gingen sie etwas vorsichtiger zu Werke. Wenn hier eine Leiche verscharrt worden war, lag sie vermutlich nicht besonders tief.

Sie buddelten und buddelten – drei, vier, fünf Handbreit tief – und hatten noch immer nichts gefunden. In dem Loch sammelte sich klares Wasser und verursachte immer wieder kleine Lawinen, die ihre Arbeit erheblich erschwerten. Ehe sie sich’s versahen, waren beide patschnass und fröstelten.

Plötzlich hörte Dtui auf zu graben und lehnte sich zurück. »Dr. Siri …«

»Ich weiß«, sagte er.

Sie hatten sieben Handbreit tief gegraben und waren auf festen Lehm gestoßen. Das vermeintliche Grab war leer. Dtui beschlich ein eigenartiges Gefühl. Ihr wurde klar, dass sich ihr Anstands- und Sittlichkeitsempfinden im Laufe des vergangenen Jahres grundlegend geändert hatte. Vorher wäre es ihr im Traum nicht eingefallen, in feuchter Erde zu graben, in der Hoffnung – ja, sie hatte wirklich und wahrhaftig gehofft -, dort eine Leiche zu finden. Sie wusste, dass es Siri ähnlich ging. Was war aus ihr geworden? Ein gemeiner Leichenfledderer, weiter nichts.

»Wir sollten wohl nicht enttäuscht sein«, sagte Siri, als habe er ihre Gedanken gelesen.

»Dann hat es wohl auch keinen Zweck, es an der anderen Stelle zu versuchen«, setzte sie hinzu.

»Wohl kaum.«

»Es wird langsam spät. Wir sollten unbedingt die anderen Räume durchsuchen, bevor …«

»Die Disco losgeht?«

»Genau.«

Dennoch starrten sie auf das zweite Oval wie ein sattes Kind, das sehnsüchtig ein süßes Ziegenmilch-roti beäugt und sich fragt, ob in seinem Bäuchlein dafür nicht vielleicht doch noch Platz ist. Wortlos sanken sie von Neuem auf ihre nassen Knie und trugen die oberste Kiesschicht ab. In drei Handbreit Tiefe stieß Dtuis Schaufel auf ein Hindernis.

»Doc?«

Sofort floss Wasser in das ausgehobene Loch, und ein Gegenstand trieb an die Oberfläche. Ein hölzerner Hemdknopf. Schweigend erweiterten sie ihre Ausgrabungsstätte. Die Exhumierung der unter dem Wasserlauf verscharrten Leiche erforderte eine Stunde sorgfältiger Arbeit. Sie räumten den kiesigen Sand beiseite und häuften ihn neben sich auf, damit er nicht in das Loch zurückfiel. Schließlich war der Leichnam vollständig freigelegt und schwamm in einem Bad aus kristallklarem Wasser. Siri und Dtui standen rechts und links des Grabes und zitterten in der feuchten Höhle. Ihre Batterien gingen allmählich zur Neige, und die schaurige Szenerie schimmerte im schwachen Licht ihrer Taschenlampen.

»Dtui«, sagte Siri schließlich. »So etwas werden wir in diesem Leben wohl nicht noch einmal zu Gesicht bekommen.«

Die Leute redeten zwar noch mit ihm, aber Herr Geung konnte sie nicht mehr hören. Sie sahen ihn freundlich an, doch er vermochte ihr Lächeln nicht zu erwidern. Wenn er sich konzentrierte, gelang es ihm mit letzter Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen, einen Fuß … vor … den anderen. Erst links, dann rechts. Erst links, dann rechts. Sein schmerzender Schädel baumelte ihm auf die Brust, und er starrte auf seine Stiefel. Das Leichenschauhaus. Links … rechts … essen … Wasser. Insektenstiche. Links … links, nein, falsch.

Erst ein Dorf, dann noch eins. Und noch eins. Wie viele Dörfer eigentlich noch? Wie viele Kilometer auf der immer gleichen Straße? Hatte er die Sonne im Rücken? Seine Tasche war verschwunden, und damit auch der Schulterriemen. Wo war sie geblieben? War die Sonne überhaupt irgendwo, und sank sie ihm vom Scheitel in den Beutel? Morgens auf … Buckel rauf … wie ging das Lied noch gleich? Da plötzlich … hörte die Straße einfach auf. Eben war sie noch da gewesen – jetzt nicht mehr. Stattdessen ein breiter, sich zäh dahinwälzender Fluss. Eine Gruppe von Leuten, die stumm miteinander sprechen und dann lachend mit dem Finger auf ihn zeigen. Eine Fähre, ein flacher Metallquader, so schwer, dass er sich fragt, wie sie sich über Wasser hält. Untergehen, ja. Aber schwimmen? Nein. Sie kommt ihm irgendwie … bekannt vor.

Die Gruppe betritt den Metallquader wie eine riesige vielköpfige Krabbe. Wie durch ein Wunder schwimmen sie, die Krabbe, das Auto, das gute Dutzend Motorräder. Ein Junge kommt. Er bohrt Herrn Geung den Zeigefinger in die Brust und streckt die Hand aus. Wieder stößt er ihm den Finger in die Brust. Geung sieht dem Jungen in die Augen und erblickt sein Spiegelbild darin.

Der Metallquader stößt ans gegenüberliegende Ufer, als habe er mit diesem Hindernis nicht gerechnet. Die Krabbe gerät ins Straucheln, fällt aber nicht hin. Herr Geung wird aufs Deck geschleudert. Hände sammeln ihn auf, zerren ihn mit sich. Die Straße taucht wieder auf. Vor ihm, hinter ihm, überall stehen Leute. Zahllose Münder und ebenso viele Zähne. Sie lenken ihn wie ein mit Zuckerrohr bepacktes Fahrrad. Sie lotsen ihn von der Straße, und die Sonne scheint ihm nicht mehr auf die Schulter, sondern auf die Nase, in die Augen. Plötzlich schiebt sich ein Gesicht davor, verdeckt die Sonne, und die Glühbirne über Vientiane erlischt. Es ist ein ausdrucksloses, nichtssagendes Gesicht, das sich da über ihn beugt, wie ein Tischtennisschläger ganz in Schwarz. Herr Geung blinzelt. Warum legt der Tischtennisschläger ihm den Arm um die Schultern und streicht ihm das Haar aus der Stirn?

Er und der Tischtennisschläger drehen sich um die eigene Achse und tanzen einen sonderbaren Tango. Und wie durch ein Wunder bekommt der Tischtennisschläger mit einem Mal ein vertrautes Gesicht – das Gesicht von Herrn Watajak, dem Mann, der sich dereinst die Mühe gemacht hatte, sieben Kinder zu zeugen, von denen allerdings nur eins ein Dummkopf war.