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Die Reise vom Brunnen von Ara bis nach Cashel verlief ohne Zwischenfälle. Überraschenderweise bewachten keine Krieger mehr die Brücke über den Fluß Suir an der kleinen Gabelung von Gabhailin, wo Fi-delma und Eadulf vor wenigen Tagen auf dem Hinweg der Übergang verwehrt worden war. Fidelma meinte, es sei logisch, daß Gionga seine Krieger abgezogen hätte, als er erfuhr, daß Fidelma Imleach erreicht hatte.
Es war Eadulf, der das Problem ansprach, das Fi-delma seit dem Aufbruch aus Aonas Gasthaus am meisten beschäftigte.
»Ist es klug, Bruder Mochta nach Cashel zu schaffen?« fragte er. »Dort könnten die verschiedensten Gefahren auf ihn lauern, und es dauert noch mehrere Tage, bis die Brehons zur Verhandlung zusammentreten.«
Bruder Mochta fühlte sich nach der Nachtruhe etwas besser, seine Wunden schmerzten weniger.
»Unter den Brüdern in Cashel kann mir doch nichts passieren«, meinte er.
»Ich sähe es lieber, wenn erst im letzten Moment bekannt wird, daß du und das Reliquiar sich in Cashel befinden«, erklärte Fidelma. »Es gibt einen kaum benutzten Weg, der uns an den Rand der Stadt zu einem Haus führt, wo eine Freundin von mir wohnt. Bei ihr kann Mochta bis zum Tag der Verhandlung bleiben.«
»In der Stadt selbst?« wandte Eadulf ein. »Ist das günstig?«
Er spielte auf die Tatsache an, daß die Leute in den Städten kaum jemals ihre Türen verriegelten und in den Nachbarhäusern ständig aus und ein gingen. Städte bestanden zumeist aus den Wohnstätten von Großfamilien. Niemand dort hatte Scheu vor Fremden.
»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte Fidelma. »Meine Freundin gehört nicht zu denen, die häufig Gäste haben.«
»Ich denke, ihr macht euch die ganze Mühe umsonst«, sagte Bruder Mochta. »Wer sollte mir denn im Königspalast von Cashel etwas tun?«
Fidelma zog die Mundwinkel herab. »Genau das müssen wir herausfinden«, antwortete sie ruhig. »Mein Bruder hat mir dieselbe Frage gestellt.«
Einige Zeit später erreichten sie auf dem Weg, den Fidelma sie geführt hatte, Cashel. Fidelma ließ Eadulf und Bruder Mochta am Rande der Stadt im Schutz eines kleinen Gehölzes zurück, mit der Begründung, sie wolle voranreiten und den Weg erkunden. Schon nach kurzer Zeit war sie wieder da. Bruder Mochta schaute sie entsetzt an, denn sie trug das Reliquiar nicht mehr bei sich, das sie seit Imleach so sorgfältig gehütet hat-te. Doch sie versicherte ihm, es sei bei ihrer Freundin gut aufgehoben. Sie führte sie zu einem Haus, das etwas abseits von den anderen stand. Es war von mittlerer Größe und hatte eigene Nebengebäude. Fidelma brachte sie sofort in eines davon, das als Pferdestall diente. Eadulf hob Bruder Mochta aus dem Sattel, und Fidelma band die Pferde an.
Dann schritt Fidelma ihnen voran zum Haus, Ea-dulf stützte Bruder Mochta. Die Tür öffnete sich, und gemeinsam halfen sie Bruder Mochta hinein. Fidelma sah sich rasch um, ob jemand sie beobachtet habe, dann schloß sie die Tür von innen.
Dort stand eine Frau von kleiner Statur. Sie war in den Vierzigern, doch ihr Gesicht wirkte noch jugendlich, und ihr üppiges Haar schimmerte golden. Sie trug ein kittelähnliches Kleid, das ihre gute Figur, ihre schmalen Hüften und ihre wohlgeformten Glieder betonte.
»Dies ist meine Freundin Della«, stellte Fidelma sie vor. »Dies ist Bruder Mochta, der bei dir wohnen wird, und dies Bruder Eadulf.«
Eadulf lächelte der attraktiven Frau anerkennend zu.
»Weshalb habe ich Fidelmas Freundin noch nie am Hofe Colgüs gesehen?« fragte er zur Begrüßung.
Sofort spürte er, daß er etwas Falsches gesagt hatte.
»Ich gehe kaum aus dem Haus, Bruder«, erwiderte Della. Ihre Stimme war ernst, aber angenehm. »Ich lebe zurückgezogen. Die Leute von Cashel respektieren das.«
Fidelma fügte beinahe scharf, als wolle sie eine Taktlosigkeit überspielen, hinzu: »Aus diesem Grunde ist Bruder Mochta hier bis zum Tag der Verhandlung sicher aufgehoben.«
»Du lebst zurückgezogen?« wunderte sich Eadulf. »Ist das nicht sehr schwierig in so einer Stadt?«
»Man kann auch unter vielen für sich allein sein«, erwiderte Della ruhig.
»Du wirst Bruder Mochta gut versorgen, Della?« Fidelma bedeutete Eadulf mit einem Blick, daß er genug geredet habe.
Della lächelte. »Darauf hast du mein Wort, Fidelma.« Sie hatte Mochta schon zu einem Lager geleitet. Daneben stand das Reliquiar des heiligen Ailbe. Als Bruder Mochta es erblickte, wurde ihm sichtlich wohler.
Fidelma nahm Eadulf, der offenbar gern noch ein wenig geplaudert hätte, am Arm und führte ihn zur Tür.
»Wir kommen rechtzeitig vor der Verhandlung zurück, Bruder Mochta. Pflege deine Wunden.«
Mit einer Handbewegung verabschiedete sie sich von dem Mönch und lächelte ihrer Freundin dankbar zu.
Als sie draußen wieder ihre Pferde bestiegen, sagte Eadulf: »Eine seltsame Freundin hast du, Fidelma.«
»Della? Nein, seltsam ist sie nicht, nur traurig.«
»Warum sollte sie traurig sein? Sie sieht doch noch gut aus und scheint auch keine Not zu leiden.«
»Ich verrate dir jetzt etwas, worüber du nie reden sollst. Della war eine Frau mit Geheimnissen.« Sie benutzte den Ausdruck be-taide.
»Eine Frau mit Geheimnissen? Was bedeutet denn das?« Dann schien er zu begreifen. »Heißt das, sie war eine Prostituierte?« Er hatte das Wort echlach aus seinem Gedächtnis ausgegraben.
Fidelma nickte knapp. »Sprich also lieber nicht darüber. Es ist ein heikles Thema.«
Sie waren nun auf der Hauptstraße von Cashel und ritten an einem Gasthaus vorüber. Ein Mann mit einem Trinkhorn in der Hand stand davor. Er starrte sie an und lief dann hinein. Eadulf tat so, als habe er ihn nicht bemerkt, doch als sie vorbei waren, sagte er zu Fidelma: »Ich habe gerade Nion vor dem Gasthaus dort stehen sehen. Er hat uns bestimmt erkannt, wollte aber nicht gesehen werden.«
Fidelma schien das nicht zu erstaunen. »Nachdem er heute morgen bei Aona auftauchte, habe ich damit gerechnet, daß er jetzt in Cashel ist«, sagte sie.
»Wie hast du dich mit Della angefreundet?« wechselte Eadulf enttäuscht das Thema.
»Ich war ihre Anwältin, als man sie vergewaltigt hatte«, antwortete Fidelma gelassen.
Eadulf verzog spöttisch das Gesicht. »Eine Prostituierte vergewaltigt?«
»Kann denn eine Frau nicht vergewaltigt werden, nur weil sie eine Prostituierte ist?« fragte Fidelma geradezu wütend. »Bei uns jedenfalls gilt, daß ihr eine Entschädigung zusteht, falls ihr so etwas zustößt, auch wenn sie eine be-tdide ist. Ihr halber Sühnepreis wird fällig.«
Eadulf fühlte sich getroffen von der Heftigkeit ihrer Entgegnung. »Ich dachte, daß einer Prostituierten eine solche Entschädigung nicht zustünde, und glaubte, sie könnte kein Eigentum erwerben«, lenkte er ein.
Fidelma ließ sich etwas besänftigen. »Sie kann Eigentum von ihren Eltern erben, doch im allgemeinen kann sie es nicht durch Heirat oder in einer Lebensgemeinschaft erwerben. Wenn Nutzen durch ihre Arbeit in einer solchen Verbindung entsteht, hat sie keinen Anspruch auf einen Anteil daran.«
Eadulf lächelte befriedigt. »Dann hatte ich also doch recht?«
»Nur daß du übersehen hast, daß eine Prostituierte sich von ihrer bisherigen Lebensweise abwenden und wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden kann.«
»Und Della hat das getan?«
Fidelma bejahte es mit einer Geste. »Bis zu einem gewissen Grade. Nach der Vergewaltigung, die zu der Gerichts-Verhandlung führte, bei der ich ihre Anwältin war, sagte sie sich von ihrem früheren Leben los und zog sich in das Haus zurück, das ihrem Vater gehört hatte. Das war vor ein paar Jahren. Bedauerlicherweise behandeln sie einige Leute immer noch mit Verachtung. Zu ihrem eigenen Schutz ist sie zur Einsiedlerin geworden.«
»Das ist aber keine Lösung«, erwiderte Eadulf. »In der Abgeschiedenheit findet man nur das, was man selbst mit hineingenommen hat.«
Fidelma schaute ihn an. Ab und zu formulierte Eadulf etwas so treffend, daß ihr wieder einmal klar wurde, warum sie den angelsächsischen Mönch mochte und sich auf ihn verließ. Zu anderen Zeiten wirkte er ungeschickt und ohne Gespür für Menschen und Situationen. Er war von zwiespältiger Art: einerseits brillant und scharfblickend, andererseits schwer von Begriff und unaufmerksam. Ihm schien die Beständigkeit zu fehlen. Er war so sehr verschieden von ihrer eigenen klaren, analytischen Art und ihrem lebhaften Temperament.
Auf ihrem weiteren Weg durch Cashel fielen sie wieder in Schweigen. Viele Leute erkannten sie und begrüßten sie mit einem Lächeln, während andere in Gruppen beieinander standen, sie mit unverhohlener Neugier ansahen und flüsternd Bemerkungen austauschten. Schließlich kamen sie ans Tor des Königs-palasts.
Capa, der Kommandeur der Wache, stand davor.
»Willkommen daheim, Lady«, begrüßte er sie, als sie hineinritten. »Der Fürst von Cnoc Äine ist heute morgen hier eingetroffen, daher wußten wir, daß ihr auch bald kommen würdet.«
Fidelma wechselte einen Blick mit Eadulf.
Bevor sie noch etwas sagen konnte, eilte ihr Vetter Donndubhain, der erwählte Nachfolger Colgüs, herbei und begrüßte sie lächelnd.
»Fidelma! Gott sei Dank, du bist in Sicherheit. Wir alle haben von dem Angriff auf Imleach gehört. Fürst Donennach bestreitet natürlich, daß die Ui Fidgente daran beteiligt waren ... Was soll er auch sonst tun?«
Fidelma war vom Pferd gestiegen, und ihr Vetter umarmte sie. Sie schnallte ihre Satteltasche ab, Eadulf folgte ihrem Beispiel.
»Ihr könnt uns sicher viel von dem Überfall auf die Abtei erzählen«, fuhr Donndubhain aufgeregt fort. »Als wir davon erfuhren, hatte ich zu tun, deinen Bruder davon abzuhalten, mit seiner Wache nach Im-leach zu reiten. Aber das ...« - er sah sich verschwörerisch um - »hätte Cashel ohne Schutz gelassen, und es war ja auch mit Gionga und seinem Trupp Ui Fidgen-te zu rechnen.«
Fidelma wies Capa an, ihre Pferde in den Stall führen und versorgen zu lassen. Dann fragte sie ihren Vetter: »Hat sich hier sonst etwas getan, was ich wissen sollte?«
Donndubhain schüttelte den Kopf. »Wir haben gehofft, du bringst Neuigkeiten mit, die die rätselhaften Ereignisse erklären helfen.«
Fidelma lächelte schwach. »Solche Dinge sind niemals einfach«, erklärte sie müde.
»Dein Bruder, der König, möchte dich gleich sprechen«, fuhr ihr Vetter fort. »Macht es dir etwas aus? Oder möchtest du dich erst von der Reise erholen?«
»Als erstes spreche ich mit Colgü.«
»Es ist nicht erforderlich, daß Bruder Eadulf dich begleitet«, sagte Donndubhain und eilte ihnen voran.
»Ich sehe dich später«, sagte Fidelma mit einem entschuldigenden Lächeln zu ihrem Gefährten.
Colgü erwartete Fidelma in seinen Privatgemächern. Bruder und Schwester begrüßten sich herzlich, und Fidelma erkundigte sich sofort nach Colgüs Wunde.
»Dank unserem angelsächsischen Freund verheilt sie gut. Siehst du?« Er hob den Arm über den Kopf und bewegte ihn frei. »Sie ist noch etwas hinderlich, aber nicht entzündet, und bald wird alles wieder in Ordnung sein, wie er es versprochen hat.« Dann fragte er: »Hast du Bruder Eadulf nicht mitgebracht?«
Fidelma sah Donndubhain an, der an der Tür stand.
»Ich dachte, du wolltest mich allein sprechen?«
Colgü schaute einen Moment verblüfft drein.
»Ach ja. Schon gut, Donndubhain. Wir kommen gleich zu dir.« Nachdem Donndubhain gegangen war, deutete Colgü auf einen Stuhl. »Der Tanist ist zum fanatischen Anhänger der Verschwörungstheorie geworden, wenn’s nach ihm geht, lauern überall Feinde. Ich hoffe, Eadulf ist nun nicht beleidigt. Ich vertraue ihm voll und ganz.«
Fidelma setzte sich lächelnd. »Ich bin sicher, daß er dich nicht enttäuscht.«
»Was hast du in Imleach in Erfahrung bringen können? Wir haben von dem Überfall gehört. Unser Vetter Finguine, der Fürst von Cnoc Äine, kam heute vormittag hier an. Er berichtete uns die Einzelheiten.«
»Das hat man mir schon gesagt«, antwortete Fidel-ma. »Dem ist anscheinend wenig hinzuzufügen. Abt Segdae und die Zeugen aus Imleach werden in den nächsten Tagen hier eintreffen.«
»Zeugen?« fragte Colgü hoffnungsvoll.
»Ich glaube, daß die Ereignisse in Imleach - das Verschwinden der heiligen Reliquien und der Angriff auf die Stadt - alle mit dem Mordanschlag in Verbindung stehen. Wie geht es übrigens dem Fürsten der Ui Fidgente? Ich habe mich noch gar nicht nach seiner Wunde erkundigt.«
»Er hinkt noch leicht«, erwiderte Colgü spöttisch. »Seine Wunde hat sich gebessert, aber seine Laune hat sich verschlechtert. Sonst ist er bei bester Gesundheit und behauptet nach wie vor, es gebe eine Verschwörung gegen uns. Sein Leibwächter Gionga weicht kaum von seiner Seite.«
»Weißt du, daß Gionga Krieger auf der Brücke über den Suir postiert hatte, die uns nicht durchließen?«
»Das habe ich kurz darauf erfahren. Gionga oder sein Fürst, einer von beiden war schlau. Sobald bekannt wurde, daß du Imleach wohlbehalten erreicht hattest, kam Fürst Donennach zu mir und erklärte mir, Gionga habe in seinem Eifer dort eine Wache aufgestellt, um zu verhindern, daß sich die Komplizen der Attentäter aus dem Staube machen. Die Krieger hätten ihre Befehle falsch verstanden und versucht, dich an der Reise nach Imleach zu hindern. Donen-nach entschuldigte sich wortreich und sagte, er habe den Kriegern den Befehl zum Abzug gegeben.«
Fidelma lachte höhnisch. »Wer das wohl glauben soll! Sie hatten den ausdrücklichen Befehl, mir den Weg nach Imleach zu sperren. Das haben sie deutlich gesagt.«
»Aber können wir das beweisen? Donndubhain ist ja auch fest von einer Verschwörung der Ui Fidgente überzeugt, doch welche Beweise hat er dafür? Bald ist der Tag der Gerichtsverhandlung. Wie ich gehört habe, wird Brehon Rumann von Fearna mit seinem Gefolge in Kürze eintreffen, vielleicht schon morgen. Die Brehons Dathal und Fachtna sind bereits hier. Der Adel des Königreichs versammelt sich auch schon. Und unser Vetter Finguine hat Solam, den ddlaigh der Ui Fidgente, herbegleitet.« Colgü verbarg seine Besorgnis nicht. »Ich bin beunruhigt, Fidelma, das gebe ich offen zu. Weißt du inzwischen, wer hinter dem Mordanschlag steckt?«
Fidelma wollte weder zu optimistisch sein noch ihrem Bruder die ganze Wahrheit sagen.
»Ich glaube, ich sehe verschiedene Wege, auf denen man zum Ziel gelangen kann. Aber leider kenne ich die Schuldigen noch nicht.«
»Das habe ich mir schon gedacht, denn sonst hättest du es mir gleich gesagt. Offenbar müssen wir uns darauf verlassen, daß du während der Verhandlung im Gerichtssaal die Wahrheit zu ergründen vermagst.«
Fidelma wünschte, sie könnte ihrem Bruder Mut machen, doch sie wußte nicht wie und fragte: »Hat Donennach von den Ui Fidgente immer noch die Absicht, dich der Verschwörung zu beschuldigen?«
»Soviel ich weiß, will Solam die Anklage erheben, ich sei an einer Verschwörung mit dem Ziel beteiligt, Donennach zu ermorden. Die Adligen von Muman haben zu erkennen gegeben, daß sie das nicht dulden wollen. Zu Recht oder Unrecht glauben sie an mich als an ihren König und sind der Meinung, ich hätte nichts Böses getan .«
»Das stimmt.«
»Aber wir müssen in der Lage sein, es zu beweisen. Wenn ich und die Eoghanacht vom Gericht verurteilt werden, fürchte ich, daß die Adligen das für einen Teil der Verschwörung halten werden, so wie Donndub-hain es tun wird! Dann werden sie sich selbst das Recht nehmen, die Ui Fidgente zu bestrafen. Donn-dubhain ist zunehmend erbost über das Verhalten der Ui Fidgente. Für ihn gibt es keinen Zweifel, daß sie es waren, die Imleach überfielen. Es kann so weit kommen, daß Donndubhain die Adligen zum Angriff gegen alle Clans der Dal gCais führt. Das Königreich könnte von Kriegen zerrissen werden. Statt Frieden zu erlangen, wie ich erhofft hatte, könnten wir in einen neuen, Jahrhunderte andauernden Kreislauf von Konflikten geraten.«
»Die Adligen von Muman werden dir gehorchen, wenn du ihnen befiehlst . «, begann Fidelma, doch ihr Bruder unterbrach sie: »Sie murren bereits und erheben Drohungen gegen die Ui Fidgente. Sie behaupten, die ganze Angelegenheit sei ein wohlbedachter Versuch, die Eoghanacht und die Macht Cashels zu vernichten. Was kann ich ihnen entgegenhalten, was den Überfall auf Imleach betrifft?«
»Wir wissen noch nicht, ob es wirklich die Ui Fid-gente waren«, entgegnete Fidelma. »Bruder, du mußt die Adligen von Muman im Zaum halten, denn wenn vor der Verhandlung etwas passiert, dann stehen wir vor den fünf Königreichen von Eireann tatsächlich als die Schuldigen da.«
Colgü schaute unglücklich drein. »Ich bemühe mich mit allen Kräften darum, Fidelma. Doch ich fürchte . ja, wirklich . Ich weiß, wie hitzköpfig einige der jungen Adligen sind. Sie könnten das Recht mit ihren Schwertern erzwingen wollen und ins Land der Ui Fidgente einfallen, um Rache für die Zerstörung des großen Eibenbaums von Imleach zu nehmen.«
»Ich kann dir nur sagen, Bruder, daß mehr hinter dieser Sache steckt als nur das Mißtrauen zwischen den Eoghanacht und den Ui Fidgente. Sag mir, ich war ja eine ganze Zeit nicht in Cashel, gab es jemals eine Mißstimmung zwischen dir und Finguine von Cnoc Äine?«
Die Frage verwirrte Colgü sichtlich.
»Zwischen Finguine und mir? Unserem Vetter? Warum das?«
»Gab es Mißstimmungen oder nicht?« hakte Fidel-ma nach.
»Nicht, daß ich wüßte. Weshalb fragst du?«
»Als die derbfhine unserer Sippe zusammentraten, um einen Tanist für seinen Vater Cathal Cü cen Mathair zu bestimmen, kam es da zu einer Auseinandersetzung zwischen euch?«
Cathal war vor Colgü König von Cashel gewesen.
»Ich glaube nicht«, erwiderte ihr Bruder.
»Cathal hatte zwei Söhne«, gab sie zu bedenken, »Finguine, den jetzigen Fürsten von Cnoc Äine, und Ailill, den Fürsten von Glendamnach. Finguine war damals schon in einem Alter, in dem er zum Tanist hätte gewählt werden können. Sicherlich war er ge-kränkt, daß er nicht zum Nachfolger seines Vaters als König von Cashel bestimmt wurde?«
»Das waren auch viele andere der derbfhine, die ebenso dazu geeignet waren, Fidelma. Aber so regelt unser Gesetz die Nachfolge des Königs. Das war schon so, als unser Ahnherr Eber Fionn mit den Kindern Gaels dieses Land besiedelte, und so wird es auch bleiben, solange es noch edle gälische Familien in diesem Lande gibt. Unser jüngerer Bruder Fogartach hätte leicht mein Tanist werden können, wenn er gewollt hätte, aber er zieht es vor, sich aus der Politik herauszuhalten. Als Donndubhain zu meinem Nachfolger gewählt wurde, waren sicher viele unserer Vettern enttäuscht. Doch der Thronerbe wird immer von den derbfhine der Sippe gewählt, er wird von ihnen ernannt und bestätigt.«
Fidelma wußte selbst sehr gut, wie in den Königreichen von Eireann die Thronfolge geregelt wurde. Es gab kein automatisches Erbrecht des ältesten Sohnes wie in anderen Ländern. Bei den Nachkommen Gaels bildete die Sippe des Königs ein Wahlkollegium, und als Tanist oder Thronfolger wurde derjenige gewählt, der sich am besten zum König eignete; es konnte ein Sohn des Königs sein, aber ebensogut ein Bruder, Onkel oder einer seiner Vettern. Für gewöhnlich ernannte man einen männlichen Tanist, doch es hatte Fälle gegeben, in denen eine Frau gewählt wurde, allerdings nur für ihre Lebenszeit, denn ihre Nachkommen gehören zum Clan ihres Vaters und nicht zum Clan des Vaters ihrer Mutter.
»Also, weshalb fragst du mich so etwas?« erkundigte sich Colgü noch einmal.
»Aus reinem Interesse. Mir kam da eben ein Gedanke.«
»Nun, ich kann mich an keine Mißstimmung zwischen Finguine und mir erinnern, als ich zum Nachfolger Cathals bestimmt wurde, allerdings ...« Er hielt inne, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen.
Fidelma sah ihn forschend an. »Was denn?«
»Ich erinnere mich, daß es einen Streit zwischen Finguine und Donndubhain gab, als dieser zu meinem Tanist gewählt wurde. Finguine galt als erster Anwärter, doch er scheint die Entscheidung akzeptiert zu haben. Damals war er zweifellos verärgert. Obwohl ich das nicht ganz verstehe. Finguine ist fast im selben Alter wie ich, und ich gedenke noch lange zu leben, also sind seine Aussichten, jemals König zu werden, ziemlich gering, auch wenn er mein Thronfolger wäre.« Colgü lächelte seine Schwester an: »Ich möchte noch lange König von Muman bleiben, allen Verschwörungen und Attentaten zum Trotz.«
»Dann«, meinte Fidelma ruhig, »habe ich noch viel zu tun, Bruder, damit das Urteil nicht gegen uns ausfällt.«
Nach der Mittagsmahlzeit suchte sie Eadulf auf, und beide machten einen Spaziergang auf der Palastmauer. Der Wind wehte kräftig von Süden, und es war kühl. Sie hatten sich in ihre Wollmäntel gehüllt und trotzten dem Eishauch des Winds auf den Zinnen.
»Anscheinend gibt es eine Menge Aufregung in Cashel«, bemerkte Eadulf, als sie auf die Stadt hinunterschauten. »Von allen Seiten strömen die Menschen herbei, um an der Gerichtsverhandlung teilzunehmen. Wie ich hörte, stehen viele den Ui Fidgente seit dem Überfall auf Imleach und der Zerstörung des Eibenbaums recht feindselig gegenüber.«
Fidelma sah ihn besorgt an. »Hast du jemals tomus gespielt?« fragte sie.
Eadulf schüttelte den Kopf. »Davon habe ich noch nie etwas gehört«, versicherte er.
»Das Wort bedeutet >heraussuchen< oder >abwägen<. Tomus nennen wir ein Spiel, bei dem man viele kleine Holzstücke so zusammensetzen muß, daß sie ein Bild ergeben.«
»Nein, dem bin ich noch nicht begegnet.«
»Macht nichts. Ich habe das Gefühl, daß alle Teile auf einem Tisch ausgebreitet vor mir liegen. Manche ergeben bereits ein Muster. Andere könnten hieroder dorthin passen. Ich brauche noch ein einziges Stück, das zu allen anderen paßt, damit ein klares Bild entsteht.«
»Damit meinst du, daß du der Lösung des Rätsels sehr nahe bist?«
Fidelma seufzte tief auf. »So nahe . und doch .«
»Fidelma!«
Sie wandten sich nach dem Rufer um und standen Finguine gegenüber, der ihnen nachgekommen war. Er hatte sich ebenfalls gegen den Wind gewappnet, der um den Felsen von Cashel heulte: sein dicker, ein-gefärbter Wollmantel wurde am Hals von seiner silbernen Spange mit dem von Granatsteinen gezierten Sonnensymbol zusammengehalten.
»Ich bin froh, daß du wohlbehalten zurück bist. Hätte ich gewußt, daß du Imleach fast zur selben Zeit verläßt wie ich, hätte ich dir meinen Schutz angeboten.«
Fidelma sah ihren hübschen Vetter nachdenklich an und versuchte in seinem lächelnden Gesicht zu lesen.
»Ich wäre wahrscheinlich keine passende Gesellschaft für Solam gewesen«, meinte sie.
Er lachte mit entwaffnender Offenheit. »Solam? Hätte ich dieses kleine Frettchen nicht unter meine Fittiche genommen, wäre er womöglich nie hier angekommen. Hast du schon gehört, welcher Zorn auf die Ui Fidgente sich hier anstaut? Die Nachricht von dem Überfall auf Imleach hat sich rasch verbreitet. Die Zerstörung des heiligen Eibenbaums werden die Menschen hier den Ui Fidgente niemals vergeben.«
»Also sind alle überzeugt, daß es die Ui Fidgente waren?« forschte Fidelma. »Ich weiß nur, daß Nion, der bo-aire von Imleach, fest daran glaubt.«
Finguine runzelte die Stirn. »Nion? Ja, er ist sich sicher, daß es eine Verschwörung gibt . und zwar hier in Cashel.«
»Hat er dich deshalb begleitet?« fragte Fidelma harmlos.
»Du hast also Nion im Palast gesehen? Ja, deshalb ist er mitgekommen, damit er hier aussagen kann. Wenn er das tut, dann wird das denen, die Cashel an die Ui Fidgente verraten wollen, das Genick brechen.«
Fidelma wunderte sich über seinen eigenartigen Tonfall. Ihr schien, Finguine wolle ihr etwas andeuten.
»Bist du auch Nions Meinung?«
»Jeder ist das. Man erwartet von dir, daß du als dalaigh von Cashel in der Verhandlung den Fürsten der Ui Fidgente erledigst. Die Augen aller Adligen von Muman werden auf dir ruhen. Es wird eine beträchtliche Entschädigung gefordert, und durch diese Ersatzleistung stehen dann die Ui Fidgente für immer in unserer Schuld und können sich nicht mehr gegen uns erheben.«
»Das klingt eher nach Bestrafung als nach Entschädigung«, meinte Fidelma.
Finguines Stimme wurde hart. »Natürlich. Wir sollten jetzt den Samen der Vernichtung unter den Ui Fidgente ausstreuen. Zu lange schon haben sie die Eoghanacht von Muman gereizt. Wenn unsere Kinder in Frieden leben sollen, müssen wir dafür sorgen, daß sie so von unserem Zorn niedergedrückt werden, daß sie nie wieder ihre Augen erheben und neidische Blik-ke gegen Cashel richten können!«
»Im Brief an die Galater steht geschrieben: >Was der Mensch sät, das wird er ernten<«, erinnerte ihn Fidel-ma.
»Unsinn!« fauchte Finguine. »Soll das heißen, du trittst für die Ui Fidgente ein? Denke daran, daß du eine Verpflichtung gegenüber Cashel hast. Du stehst bei deinem Bruder in der Pflicht!«
Fidelma errötete. »Du brauchst mich nicht an mei-ne Pflicht zu erinnern, Fürst von Cnoc Äine«, erwiderte sie kühl.
»Dann denk an die Worte des Euripides, denn ich weiß, daß du gern die Autoren der Antike zitierst. Die Götter messen jedem sein Schicksal zu, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Den Ui Fidgente wird ihr Schicksal zugemessen, und die Zeit dafür ist nahe.«
Der Fürst von Cnoc Äine drehte sich um und schritt davon, sein Temperament war wohl mit ihm durchgegangen.
Eadulf schüttelte verwundert den Kopf. »Dieser junge Mann ist ein rechter Hitzkopf«, stellte er fest.
»Er wird Dornen säen und dann Rosen ernten wollen, wenn man ihn nicht davon abhält«, pflichtete ihm Fidelma ernst bei.
Der Wind hatte etwas nachgelassen, und sie erreichten eine schützende Zinne. Sie beugten sich vor und schauten auf die Stadt. Obwohl es schon spät war, schien sie voller Leben: Pferde, Reiter, Wagen und Menschen drängten sich in den Straßen.
»Wie Zuschauer, die auf den Beginn eines Schauspiels warten«, meinte Eadulf. »Es sieht aus wie an einem Markttag.«
Fidelma antwortete nicht. Sie wußte, daß ihr Vetter Finguine für viele von denen sprach, die sich dort unten versammelten. Doch wenn ihn ein solcher Zorn auf die Ui Fidgente erfüllte, wieso steckte er dann mit Solam zusammen? Sie konnte nicht recht glauben, daß er Solam lediglich aus Pflichtgefühl Geleitschutz nach Cashel gegeben hatte. Warum ritten er und Solam durch den Wald und suchten nach Bruder Mochta und den heiligen Reliquien? Was wußten sie davon? Nein, irgend etwas stimmte da nicht.
Ihr Blick fiel plötzlich auf das Dach des Lagerhauses auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes. Es war Samradans Lagerhaus.
»Samradans Lagerhaus«, sprach sie nachdenklich. »Ich glaube, ein Teil unserer Lösung ist dort zu finden.«
»Das verstehe ich nicht ganz«, erwiderte Eadulf und folgte ihrem Blick.
»Macht nichts. Heute abend, wenn es dunkel ist, werden wir Samradans Lagerhaus einen Besuch abstatten. Dort hat die ganze Geschichte begonnen. Ich habe plötzlich das Gefühl, daß wir von dort aus auch zur Lösung des Rätsels gelangen werden.«