177535.fb2 Tod in der K?nigsburg - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 11

Tod in der K?nigsburg - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 11

Kapitel 9

Fidelma betrachtete Eadulf über den Tisch im Speisesaal hinweg, an dem sie ihr Frühstück einnahmen, mit einem leichten Lächeln.

»Dieses Geheimnis um Bruder Mochta beunruhigt dich anscheinend«, bemerkte sie und brach sich ein Stück Brot von dem Laib vor ihr ab.

Eadulf riß verblüfft die Augen auf. »Dich etwa nicht? Das grenzt doch an ein Wunder. Wie kann es denn derselbe Mann sein?«

»Beunruhigt bin ich nicht. Sagte nicht schon der Römer Tacitus, daß das Unbekannte immer für das Wunderbare gehalten wird? Sobald also diese Sache nicht mehr unbekannt ist, hört sie auch auf, wunderbar zu erscheinen.«

»Meinst du damit, daß es eine logische Erklärung für dieses Geheimnis geben muß?«

Fidelma sah ihn vorwurfsvoll an. »Gibt es die nicht immer?«

»Na, ich sehe keine«, erwiderte Eadulf und schob das Kinn vor. »Für mich riecht das nach Zauberei.«

»Zauberei!« spottete Fidelma. »Wir haben schon mit anderen Geheimnissen zu tun gehabt und keins dabei gefunden, das sich nicht von uns ergründen ließ. Denk daran, Eadulf, vincit quipatitur.«

Eadulf neigte den Kopf, um seinen Ärger zu verbergen. »Gewiß kommt man mit Geduld ans Ziel, aber wir haben noch nie vor solch einem Rätsel gestanden.« Er blickte auf und sah Bruder Madagan kommen. Leise sagte er: »Das ist der Bruder, der Alarm schlug, als Mochta verschwunden war. Er ist der Verwalter der Abtei, Bruder Madagan.«

Der hochgewachsene Mönch trat lächelnd zu ihnen.

»Ein schöner Morgen«, sagte er, setzte sich und stellte sich Fidelma vor. »Ich bin der rechtaire der Abtei und heiße Madagan. Ich habe schon viel von dir gehört, Fidelma von Cashel.«

Fidelma erwiderte den forschenden Blick des Mannes und stellte sofort fest, daß sie ihn nicht mochte, wenngleich sie nicht hätte sagen können, weshalb. Er hatte ein freundliches, etwas kantiges und hageres Gesicht, in dem nichts abstoßend wirkte. Auch seine Art war zuvorkommend. Sie konnte sich ihre Abneigung nicht erklären.

»Guten Morgen, Bruder Madagan.« Höflich neigte sie den Kopf. »Wie ich hörte, hast du als erster festgestellt, daß die heiligen Reliquien fehlten?«

»Ja, das war so.«

»Was waren die näheren Umstände dabei?«

»Es war der Feiertag des heiligen Ailbe, also stand ich früh auf, denn an dem Tag ...«

»Ich kenne die Ordnung des Feiertages«, unterbrach ihn Fidelma rasch.

Bruder Madagan blinzelte.

In dem Moment erkannte Fidelma, was ihn ihr unangenehm gemacht hatte. Wenn er blinzelte, senkten sich seine Augenlider schwer und bedächtig und blieben den Bruchteil einer Sekunde geschlossen, bevor sie sich wieder hoben. Es war, als verhüllten sie die Augen, wie bei einem Habicht. Ihr wurde klar, daß sie kalt waren trotz der Maske der Freundschaft. Die Persönlichkeit hinter diesem Gesicht blieb verborgen und war nur mit äußerstem Scharfblick zu durchschauen.

»Nun gut«, fuhr er fort, »es gab viel zu tun mit den Vorbereitungen .«

»Sag mir, wie du festgestellt hast, daß die heiligen Reliquien fort waren.«

Diesmal ließ sich Bruder Madagan von ihrem scharfen Einwurf nicht beirren.

»Ich ging zur der Kapelle, in der die heiligen Reliquien aufbewahrt wurden«, antwortete er ruhig.

»Du bist aber nicht der Bewahrer der Reliquien des heiligen Ailbe. Warum gingst du hin?« Ihre Stimme war sanft, aber die Frage bohrend.

»Weil ich Nachtwache hatte. Da gehörte es zu meinen Pflichten, die Runde zu machen und zu sehen, daß in der Abtei alles in Ordnung ist.«

»Ich nehme an, du fandest, daß alles in Ordnung war?«

»Anfangs schon .«

»Bis du zur Kapelle kamst?«

»Ja. Da fiel mir auf, daß das Reliquar nicht in seiner Nische stand.«

»Wann war das?«

»Ungefähr eine Stunde vor Sonnenaufgang.«

»Wann hatte man das Reliquar zuletzt an seinem Platz gesehen?«

»Beim Vespergebet. Da haben es alle gesehen. Bruder Mochta war auch da.«

Eadulf hüstelte leicht, bevor er fragte: »Was genau enthielt dieses Reliquar?«

Bruder Madagan machte eine weit ausholende Handbewegung. »Die Reliquien unseres geliebten heiligen Ailbe.«

»Nein, so meine ich das nicht. Was gehörte alles zu diesen Reliquien? Wir wissen nur, daß das Kruzifix, das er aus Rom mitbrachte, darunter war.«

»Ach so, ich verstehe.« Bruder Madagan lehnte sich nachdenklich zurück. »Außer dem Kruzifix gehörten dazu sein Bischofsring, sein Messer, ein von seiner eigenen Hand geschriebenes Exemplar des Gesetzes Ailbes und seine Sandalen. Ach, und dann natürlich sein Kelch.«

»Ist es hier üblich, daß die Leute wissen, was sich in einem Reliquar befindet?« fragte Eadulf plötzlich. »In vielen Kirchen, die Reliquien von Heiligen besitzen, ist das Reliquar geschlossen, damit niemand die Stük-ke sehen kann.«

Bruder Madagan lächelte. »In diesem Fall wissen die Leute, was im Reliquiar ist, Edler Wolf der Angelsachsen«, scherzte er. »Der Inhalt wird jedes Jahr bei der Feiertagszeremonie gezeigt und von der Kapelle zu Ailbes heiligen Brunnen getragen, wo er gesegnet wird, und von dort zu dem Stein, der sein Grab bezeichnet.«

»Ihr materieller Wert war nicht sehr hoch, von dem Kruzifix abgesehen?« forschte Eadulf.

»Das Kruzifix und der Ring sind ein Vermögen wert«, erwiderte Madagan. »Der Ring ist aus Gold und mit einem Edelstein besetzt, der Smaragd heißt, ein seltsamer grüner Stein, der in Ägypten gefunden wird und den die Chaldäer verarbeitet haben sollen. Dieser Ring war ein Geschenk von Zosimus an Ailbe, wie auch das Kruzifix. Das ist aus Silber, aber ebenfalls mit Smaragden besetzt.«

»Also war der materielle Wert doch hoch?« beharr-te Eadulf.

»Ziemlich hoch, aber gering im Vergleich zu dem symbolischen Wert dieser Reliquien für unsere Abtei und das Königreich Muman.«

»Diese Bedeutung der Reliquien habe ich Bruder Eadulf schon erklärt«, bestätigte Fidelma.

Bruder Madagan senkte den Kopf. »Dann wirst du verstehen, Edler Wolf, daß die Wiedererlangung des Reliquars und der heiligen Reliquien für das Wohl unseres Königreichs unerläßlich ist. Unsere Menschen glauben an Symbole. Deshalb befürchten sie, daß der Verlust der Reliquien Unheil über unser Land bringen würde.«

»War der Kelch wertvoll?« fragte Eadulf.

»Er ist aus Silber und mit Halbedelsteinen besetzt. Ja, er hat großen materiellen Wert.«

»Wer in der Abtei weiß vom Verschwinden der Reliquien?« erkundigte sich Fidelma.

»Vor denen, die in der Abtei wohnen, haben wir es leider nicht geheimhalten können. Schließlich war gestern der Tag, an dem sie den Brüdern hätten gezeigt werden sollen. Der Abt bemüht sich zwar, die Kunde nicht über die Mauern der Abtei hinausgelangen zu lassen, aber das wird nicht lange gelingen. Die Pilger brechen heute vormittag zur Küste auf. Sie werden zweifellos darüber reden. Dann ist da dieser Kaufmann aus Cashel mit seinen Gehilfen. Die halten auch nicht den Mund. Ich meine, in einer Woche wird es sich im ganzen Königreich herumgesprochen haben, vielleicht sogar in ganz Eireann. Eine gefährliche Zeit bricht an für unser Volk.«

Fidelma wußte sehr wohl, was das hieß. Es gab viele Neider, die den Sturz der Eoghanacht von Cashel begrüßen würden. Insbesondere, das mußte sie zugeben, Donennach von den Ui Fidgente. Ihm täte es nicht leid, wenn das Königreich zerfiele. Wenn das Volk durch den Verlust der Reliquien entmutigt wurde, sich in sein Schicksal ergab und keinen Willen zur Verteidigung aufbrachte, dann mußte Cashel mit Angriffen von außen und Umsturz im Innern rechnen. Plötzlich spürte sie die Last der Verantwortung auf ihren Schultern. Wenn sie dieses Rätsel nicht löste, und zwar bald löste, konnte das für Cashel zur Katastrophe führen.

»Als du nun sahst, daß das Reliquar fehlte, was tatest du da?« fragte sie.

»Ich ging sofort zum Abt und weckte ihn«, antwortete Bruder Madagan.

»Du wecktest sofort Abt Segdae? Warum?«

Bruder Madagan schaute sie verständnislos an. »Warum?« wiederholte er.

»Ja. Warum gingst du nicht Bruder Mochta wek-ken? Schließlich war er doch der Bewahrer der Reliquien?«

»Ach so! Im nachhinein erscheint die Frage logisch. Der Abt hat sie mir auch schon gestellt. Ich muß gestehen, daß ich unter dem Schock meiner Entdeckung nicht logisch gehandelt habe. Ich dachte, als ersten müßte ich den Abt benachrichtigen.«

»Nun gut. Was geschah dann?«

»Der Abt meinte, wir sollten Bruder Mochta holen. Wir gingen zu seiner Zelle und stellten fest, daß er verschwunden war. Die Zelle war durchwühlt, und wir sahen Blutflecke.«

Fidelma erhob sich mit einer Plötzlichkeit, die sowohl Bruder Madagan als auch Bruder Eadulf überraschte.

»Vielen Dank, Bruder. Wir gehen jetzt zu Bruder Mochtas Zelle und sehen sie uns genauer an«, verkündete sie.

Bruder Madagan stand ebenfalls auf. »Der Abt hat mich gebeten, euch dorthin zu führen«, sagte er. Er hatte den Schlüssel mitgebracht und ging ihnen voran. Unterwegs unterhielt er sie mit unaufhörlichem Geplauder über die Sehenswürdigkeiten der Abtei, die er ihnen zeigte. Fidelma und Eadulf waren sich darüber einig, daß sein Redefluß sie wohl habe ablenken sollen.

Fidelma stand auf der Schwelle von Bruder Mochtas Zelle und betrachtete das Durcheinander darin. Ihren aufmerksamen Blicken entging nichts. Der Raum befand sich in völliger Unordnung. Kleidungsstücke waren auf dem Boden verstreut. Die Strohmatratze war halb von dem kleinen Holzbettgestell heruntergezerrt. Ein Kerzenstummel war in einer Talgpfütze auf dem Boden erloschen, der hölzerne Kerzenhalter stand daneben. Selbst ein paar persönliche Toilettenartikel lagen hier und da herum. Der Tisch neben dem Bett war seltsamerweise nicht umgestoßen. Auf ihm befand sich ein einziger Gegenstand, das hintere Ende eines Pfeils. Die Zeichen auf den Lenkfedern erkannte sie sofort. In einer Ecke lagen Schreibzeug und ein paar Blätter Pergament.

Bruder Madagan schaute ihr über die Schulter. »Dort, Schwester, da auf der Matratze. Das sind die Blutflecke, die der Pater Abt und ich bemerkten.«

»Ich sehe sie«, erwiderte Fidelma kurz. Sie ging nicht hin, sondern wandte sich an Bruder Madagan.

»Sag mal, die Zellen rechts und links von dieser -sind die bewohnt?«

Bruder Madagan nickte. »Ja, aber die Brüder, die darin schlafen, sind jetzt im Wald und sammeln Kräuter. Der eine ist unser Apotheker, der andere sein Gehilfe.«

»Heißt das, daß zu der Zeit, als Bruder Mochta aus diesem Raum verschwand, sich in den Zellen zu beiden Seiten jemand aufhielt?«

»Das stimmt.«

»Und dir oder dem Abt wurde nichts Ungewöhnliches gemeldet?« Ihr Blick streifte durch die verwüstete Zelle.

»Nichts.«

Fidelma schwieg einen Moment und sagte dann: »Wir möchten dich nicht länger von deinen Pflichten abhalten, Bruder Madagan. Wo finden wir dich, wenn wir hier fertig sind?«

Bruder Madagan bemühte sich, seine Enttäuschung über die plötzliche Verabschiedung zu verbergen. »Im Speisesaal. Wir sagen heute vormittag den Pilgern Lebewohl.«

»Sehr gut. Wir kommen bald nach.«

Eadulf schaute Bruder Madagan nach, bis er verschwunden war, und sah dann Fidelma fragend an. Sie blickte schweigend in die Zelle, und Eadulf wußte, daß er sie nicht in ihren Gedanken stören durfte. Nach einer Weile betrat sie den Raum und postierte sich neben der Tür.

»Komm, Eadulf, stell dich auf die Schwelle, wo ich gestanden habe. Was hast du für einen Eindruck?«

Verwundert tat Eadulf, wie sie ihm geheißen. Er ließ den Blick durch den verwüsteten Raum wandern. Das Chaos war nicht zu verkennen.

»So wie die Zelle aussieht, könnte man annehmen, daß Mochta nach heftiger Gegenwehr herausgeschleppt wurde.«

Fidelma neigte zustimmend den Kopf. »So wie die Zelle aussieht«, wiederholte sie leise. »Aber die Bewohner der Nachbarzellen haben nichts bemerkt.«

Eadulf sah sie rasch an und verstand, worauf sie hinauswollte. »Du meinst, man hat das ...« er suchte nach dem richtigen Ausdruck, »absichtlich so arrangiert?«

»Das meine ich. Sieh mal, wie alles im Raum verstreut liegt. Wie die Matratze und die Kleidung vom Bett gerissen wurden. Alles deutet auf eine tätliche Auseinandersetzung, die zwischen dem Vespergebet und der Zeit etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang stattgefunden haben muß. Wenn es wirklich so eine tätliche Auseinandersetzung gab, wie man uns hier glauben machen will, dann hätte der Lärm die Bewohner der Nebenzellen selbst aus dem tiefsten Schlaf reißen müssen. Doch niemand hat eine Störung gemeldet.«

»Wir sollten sichergehen und die Bewohner der Zellen befragen«, meinte Eadulf.

Fidelma lächelte. »Mein Mentor, der Brehon Mo-rann, sagte immer: >Wer nichts weiß, zweifelt an nichts.< Gut gesprochen, Eadulf. Wir müssen tatsächlich mit ihnen reden. Aber ich gehe davon aus, daß sie wahrscheinlich wirklich nichts gehört haben.«

Eadulf machte eine hilflose Geste. »Nehmen wir mal an, Bruder Mochta hat diese Unordnung absichtlich hinterlassen? Doch zu welchem Zweck?«

»Vielleicht war es auch jemand anderes. Noch wissen wir es nicht.«

»Wenn der tote Mönch in Cashel wirklich Bruder Mochta wäre, dann ergäbe das einen Sinn. Aber Bruder Madagan bleibt dabei, daß Mochta eure irische Tonsur trug und nicht die römische. Haar kann nicht an einem Tag so wachsen oder sich verändern. Außerdem sagte der Herbergswirt am Brunnen von Ara, daß der Mönch das Haar wachsen ließ, als er vor einer Woche dort vorbeikam.«

»Wohl wahr. Doch hast du eine Erklärung dafür, daß die Beschreibung des Leichnams in Cashel und die von Bruder Mochta so genau übereinstimmen, bis hin zu der Tätowierung auf dem Arm?« Fidelmas Augen funkelten einen Moment. »Das ist auch eine Sicherheit. Ganz sicher können wir nur der Dinge sein, die uns unverständlich sind.«

Eadulf verdrehte die Augen. »Zweifellos ein Ausspruch Brehon Moranns?« fragte er spöttisch.

Fidelma würdigte ihn keiner Antwort, sondern sah sich noch einmal im Raum um.

»Ich glaube, wer das hier getan hat, ob nun Bruder Mochta oder jemand anders, hat es sorgfältig getan. Schau mal, die Matratze wurde so hingelegt, daß nur ein Blinder den Blutfleck übersehen könnte. Zwar kann eine Matratze durchaus so verrutschen, aber es wirkt doch sehr gestellt. Und warum sollte man bei einer tätlichen Auseinandersetzung Kleidungsstücke aus dem Schrank nehmen und sie im Zimmer herumwerfen?«

Eadulf nickte begreifend.

»Hast du den Pfeil auf dem Tisch am Bett bemerkt?« fragte ihn Fidelma.

Eadulf stöhnte innerlich.

Er hatte ihn registriert, aber nur als Teil des allgemeinen Durcheinanders. Als er nun genauer hinsah, fiel ihm das Zeichen auf den Lenkfedern auf. Es war dieselbe Art von Pfeil, die der Bogenschütze bei dem Mordversuch in Cashel benutzt hatte, dieselbe Art von Pfeil, wie Fidelma sie im Beutel trug und die den Pfeilschmieden von Cnoc Äine zugeschrieben wurde.

»Ich sehe ihn«, antwortete er kurz.

»Und was hältst du davon?«

»Was ich davon halte? Es ist der Schaft eines entzweigebrochenen Pfeils, das hintere Ende mit den Lenkfedern, das auf den Tisch gefallen ist.«

»Gefallen?« Fidelma hob ungläubig ein wenig die Stimme. »Es liegt so offen da, daß es anscheinend jeder sehen soll. Wenn der Pfeil bei einer Auseinandersetzung zerbrochen sein soll, wo ist dann die andere Hälfte?«

Eadulf suchte mit dem Blick den ganzen Fußboden ab, sah aber nichts. »Was bedeutet das?«

»Das weißt du so gut wie ich«, erwiderte Fidelma gleichmütig. »Wenn der Raum sorgfältig für uns hergerichtet wurde . jedenfalls für den Betrachter hergerichtet wurde . Welchen Eindruck soll er dann vermitteln?«

Eadulf verschränkte die Arme, bevor er antwortete: »Bruder Mochta ist verschwunden. Wer das heute sieht, soll denken, er sei nach einem heftigen Kampf aus seiner Zelle geschleppt worden. Darauf verweisen der Blutfleck auf der Matratze und das Durcheinander. Dann liegt da ein zerbrochener Pfeil auf dem Tisch am Bett . Ach, das könnte heißen sollen, der Pfeil sei zerbrochen, als einer der Angreifer damit auf Mochta einstach. Der Teil mit der Spitze steckt noch in Mochta, während das Schwanzende mit den Lenk-federn abbrach und auf den Tisch geworfen wurde.« Er schaute Fidelma fragend an.

»Ausgezeichnet, Eadulf. Das ist genau das, was man uns glauben machen will. Doch da die Szene so sorgfältig gestellt wurde, müssen wir dahinter schauen und sehen, was der Raum wirklich aussagt.«

Schritt für Schritt suchte sie ihn nun ab. Dann nahm sie das Pfeilende und steckte es in ihr marsupium.

»Ich glaube nicht, daß er uns viel zu sagen hat, ehe wir nicht mehr Tatsachen in Erfahrung gebracht haben.«

Dann besah sie sich das Schreibgerät und die Pergamentblätter.

»Bruder Mochta schrieb eine schöne Handschrift. Anscheinend verfaßte er ein >Leben Ailbes<.« Sie las von einem der Pergamentblätter ab: »>Er wurde von Christus zur ewigen Ruhe abberufen im hundertsten Jahr seines Lebens, wie es in den Annalen von Imleach verzeichnet steht, die im Jahre des Herrn 522 begonnen wurden.<« Sie hielt inne. »Der Rest scheint zu fehlen. Aber hier gibt es noch ein Fragment.« Sie las erneut vor: »>Die Ruhestätte Ailbes ist von Schreibern des Nordens falsch angegeben worden, denn sie wollen nicht eingestehen, daß er früher in Muman war als Patrick von Armagh.<«

»Haben diese Aufzeichnungen irgendeine Bedeutung?« fragte Eadulf.

»Vielleicht«, erwiderte sie, rollte die Blätter zusammen und steckte sie ebenfalls in ihr marsupium. Dann blickte sie sich noch einmal um. »Ich glaube, weitere Geheimnisse enthüllt uns diese Zelle nicht. Gehen wir.«

Sie verschlossen den Raum, nachdem sie ihn verlassen hatten; Bruder Madagan hatte den Schlüssel stek-kenlassen. Dann kehrten sie in den Speisesaal zurück. Davor hatte sich ein reichliches Dutzend Mönche und Nonnen versammelt. Sie waren in lange Mäntel gehüllt, und jeder trug ein Bündel und hielt einen Pilgerstab in der Hand. Abt Segdae stand vor ihnen, die rechte Hand erhoben, Daumen und Mittelfinger gegeneinander gelegt, so daß die drei anderen Finger auf irische Art die heilige Dreieinigkeit symbolisierten.

Er sprach den Segen über sie in Griechisch, das man für die Sprache der Evangelien hielt.

Dann schulterten die Pilger ihre Bündel und machten sich, immer zu zweit, auf den Weg zum offenen Tor der Abtei. Dabei erhoben sie ihre Stimmen zu einem freudigen Lobgesang.

Cantemus in omni die concinentes varie, conclamantes Deo dignum hymnum sanctae Mariae

»Wir wollen jeden Tag singen, gemeinsam in verschiedenen Melodien, und Gott eine würdige Hymne für die heilige Maria darbringen«, murmelte Eadulf die Übersetzung.

Bald hatte der singende Pilgerzug das Tor der Abtei passiert und setzte draußen seinen Weg fort. Langsam verklangen die Stimmen.

Sie schauten ihnen noch nach, als ein stämmiger Mann auf sie zukam. Er war mittelgroß, muskulös, kräftig gebaut mit ordentlichem, ergrauendem braunem Haar. Er trug ein Lederwams über seiner Arbeitskleidung und ein kurzes Schwert am Gürtel. Seine Augen waren hell und stechend. Er hatte ein gerötetes Gesicht, das ein wenig zu fleischig geworden war, als daß es das gute Aussehen seiner Jugend ganz bewahrt hätte. Er erweckte den Eindruck von erworbenem Reichtum; erworben, weil er ihn offen zur Schau trug. Sein Schmuck stach von seiner Kleidung ab. Wer solchen Reichtum von Hause aus besaß, hätte ihn nicht so geschmacklos gezeigt. Fidelma unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte plötzlich die Vorstellung, dieser Angeber trüge ein Schild um den Hals mit der Aufschrift Lucri bonus est odor - Geld riecht süß. Sie fragte sich, woher diese Zeile kam, und dann fiel ihr ein, daß sie aus Juvenals »Satiren« stammte. Sie war überzeugt, daß dieser Mann nichts gegen den Satz einzuwenden hätte.

»Bist du Lady Fidelma?« fragte er. Seine hellen Augen zogen sich leicht zusammen, als er sie musterte.

Fidelma neigte grüßend den Kopf. »Ich bin Fidelma von Cashel«, antwortete sie.

»Ich habe gehört, daß du nach mir gefragt hast. Mein Name ist Samradan von Cashel.«

Fidelma sah ihm fest in die blassen hellen Augen, bis der Kaufmann aus Cashel den Blick abwandte.

»Kann ich etwas für dich tun?« Samradan trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

Fidelma lächelte plötzlich entwaffnend. »Kanntest du Bruder Mochta?«

Der Kaufmann schüttelte den Kopf. »Den Mönch, der verschwunden ist? Alle reden davon hier in der Abtei. Nein, den kannte ich nicht. Ich mache nur mit Bruder Madagan, dem Verwalter, Geschäfte und natürlich mit dem Abt selbst. Bruder Mochta habe ich nicht kennengelernt, jedenfalls sagt mir der Name nichts, wenn ich ihm vielleicht auch in der Abtei begegnet bin.«

»Du hast ein Lagerhaus in Cashel?«

Der Kaufmann nickte vorsichtig. »Am Marktplatz, Lady. Mein Haus steht auch in der Stadt.«

»Vom Dach deines Lagerhauses aus wurde gestern früh ein Mordanschlag auf meinen Bruder, den König, und den Fürsten der Ui Fidgente verübt.«

Der Kaufmann erblaßte. »Ich bin seit mehreren Tagen hier in Imleach. Ich weiß nichts davon. Außerdem kann jeder auf das Dach meines Lagerhauses gelangen. Auf das flache Dach kommt man leicht.«

»Ich beschuldige dich auch gar nicht, Samradan«, verwies ihn Fidelma. »Aber es ist besser, wenn du das weißt.«

Der Kaufmann nickte eilig. »Natürlich ... ich dachte nur .«

»Treibst du auch Handel mit den Leuten von Cnoc Äine?«

»Nein, nur mit der Abtei hier.«

»Das begrenzt ja deinen Wirkungskreis sehr stark«, lächelte Fidelma. »Du mußt mit der Abtei hier große Geschäfte machen, wenn du so oft kommst und so lange bleibst.«

Samradan sah sie unsicher an.

»Ich meine, ich handele in dieser Gegend nur mit der Abtei. Ich treibe auch mit den Abteien in Cill Da-lua nördlich von hier und Lios Mhor im Süden Handel. In den letzten Monaten war ich sogar weit im Norden, in der Abtei Armagh. Das war eine mühselige Reise. Aber ich habe sie in den letzten zwei Monaten zweimal gemacht.«

»Mit was für Waren handelst du?«

»Hauptsächlich tauschen wir Getreide und Gerste gegen Wolle. In der Gegend von Cill Dalua gibt es ausgezeichnete Gerber und Lederarbeiter. Deshalb kaufen wir dort Jacken und Flaschen aus Leder, Schuhe und andere Lederwaren und verkaufen sie im Süden.«

»Wie interessant. Handelst du auch mit Metallwaren?«

Davon wollte Samradan nichts wissen. »Metallwaren zu transportieren ist zu mühsam für unsere Pferde. Sie sind schwer, und wir könnten nur langsam fahren. Gute Schmiede gibt es überall im Land.«

»Also handelst du auch nicht mit Silberwaren? Im Süden gibt es doch Bergwerke, die Silber und andere Edelmetalle fördern.«

Samradan schüttelte heftig den Kopf. »Mag der Handel gut oder schlecht sein, durch Erfahrung lernt man ihn«, antwortete er mit einem alten Sprichwort. »Ich bleibe bei dem, was ich kann. Von Silber verstehe ich nichts.«

»Da hast du recht«, stimmte ihm Fidelma freundlich zu. »Wenn man einen Handel nicht richtig gelernt hat, kann man mit ihm auch keinen Erfolg haben. Du wohnst wohl noch nicht sehr lange in Cashel?«

»Erst seit drei Jahren«, erwiderte Samradan.

»Und bevor du nach Cashel kamst, von wo aus hast du da dein Geschäft betrieben?«

Wurde der Blick des Kaufmanns etwas verschlagen? »Ich lebte im Land der Corco Baiscinn.«

»Stammst du dorther?« hakte Fidelma nach.

Samradan hob das Kinn mit einer unwillkürlichen Geste des Trotzes. »Ja.« Seine Bestätigung klang wie eine Herausforderung, doch Fidelma ging nicht darauf ein.

Als das Schweigen anhielt, räusperte sich der Kaufmann. »Ist das alles?«

Fidelma lächelte, als habe sie das schon angedeutet und er es nur nicht verstanden.

»Ja, natürlich. Wenn du nach Cashel zurückkommst, wirst du allerdings wohl noch zu diesem schrecklichen Ereignis befragt werden. Du kannst sagen, daß du schon mit mir gesprochen hast. Die Bre-hons in Cashel werden sicher deine Zeugenaussage verlangen.«

Samradan schien erschrocken. »Weshalb sollte ich befragt werden?« wollte er wissen.

»Aus dem Grund, den ich dir nannte: Die Attentäter benutzten dein Lagerhaus. Niemand beschuldigt dich, aber es ist klar, daß du deswegen befragt wirst. Sag ihnen dasselbe, was du mir gesagt hast, daß du nichts darüber weißt.«

Der Kaufmann schaute besorgt drein. »Ich werde in den nächsten Tagen nicht nach Cashel kommen, Lady«, murmelte er. »Ich muß vorher noch ins Gebiet der Arada Cliach fahren. Ich breche schon morgen früh auf.«

»Dann wünsche ich dir eine gute Reise.« Fidelma wandte sich ab und winkte Eadulf, ihr zu folgen.

»Was wolltest du von ihm wissen?« fragte er, als sie außer Hörweite waren.

Fidelma sah ihn mit leisem Vorwurf an. »Nicht mehr, als es den Anschein hatte«, antwortete sie. »Ich wollte nur sehen, wer dieser Samradan ist.«

»Hast du festgestellt, daß er nicht mehr ist, als er zu sein scheint?«

»Nein.«

Diese rätselhafte Antwort verblüffte Eadulf.

Fidelma bemerkte seinen fragenden Blick. »Samra-dan mag schon der sein, als der er sich darstellt, aber er gibt zu, daß er zu den Corco Baiscinn gehört.«

»Ich kenne diese Leute nicht«, erwiderte Eadulf. »Hat das etwas zu bedeuten?«

»Sie sind eins der Völker, über die die Ui Fidgente herrschen. Sie behaupten auch, von Cas abzustammen.«

»Dann könnte er durchaus in eine Verschwörung verwickelt sein?« meinte Eadulf.

»Ich traue ihm nicht«, erwiderte Fidelma. »Wenn er sich aber an einer Verschwörung beteiligt, dann wohl kaum zusammen mit den Ui Fidgente. Er hätte nicht sofort zugegeben, daß er zu den Corco Baiscinn gehört. Doch es ist besser, Leuten zu mißtrauen, als leichtgläubig zu sein.«

Eadulf erwiderte nichts.

Sie trafen Bruder Madagan am Tor der Abtei im Gespräch mit dem Abt.

»Seid ihr schon zu irgendwelchen Ergebnissen gelangt?« erkundigte sich Abt Segdae eifrig.

»Für Ergebnisse ist es noch viel zu früh«, antwortete Fidelma und gab Bruder Madagan den Schlüssel von Bruder Mochtas Zelle zurück. »Sobald ich etwas Sicheres erfahre, lasse ich es dich wissen.«

»Ich habe wohl auf ein Wunder gehofft«, stellte Abt Segdae bekümmert fest. »Wenigstens ist von den heiligen Reliquien das Kruzifix Ailbes wieder in Sicherheit.«

Fidelma legte dem alten Mann beruhigend die Hand auf den Arm. Sie wünschte, sie könnte mehr tun, um diesem alten Freund und Anhänger ihrer Familie Mut zu machen.

»Sorg dich nicht unnötig, Segdae. Wenn es eine Lösung für das Rätsel gibt, dann finden wir sie.«

»Kann ich sonst noch etwas für euch tun, ehe ich wieder an meine anderen Aufgaben gehe?« fragte Bruder Madagan.

»Vielen Dank, aber im Augenblick nicht. Bruder Eadulf und ich gehen in die Stadt und kommen viel-leicht erst spät zurück.« Sie zögerte. »Ach, du erwähntest, daß die Zellen neben der Mochtas bewohnt sind. Wo findet man ihre Bewohner?«

Bruder Madagan schaute über Fidelmas Schulter zum offenen Tor der Abtei. »Du hast Glück, da kommen die beiden Brüder gerade zurück.«

Fidelma und Eadulf wandten sich um und erblickten zwei Mönche, die dem Tor zustrebten. Der eine schob eine Schubkarre mit Kräutern und anderen Pflanzen, die sie offensichtlich an dem Vormittag gesammelt hatten.

Als Fidelma und Eadulf ihnen entgegengingen, sagte Eadulf leise: »Hätten wir ihnen nicht einen Gefallen getan, wenn wir ihnen unsere bisherigen Schlußfolgerungen mitgeteilt hätten?«

Fidelma zog die Brauen hoch. »Unsere Schlußfolgerungen? Ich glaube nicht, daß wir schon welche gezogen haben.«

Eadulf drückte seine Verwirrung mit einer Handbewegung aus. »Ich dachte, wir wären uns einig, daß Bruder Mochta seine Zelle absichtlich in Unordnung gebracht hat, um die anderen irrezuführen?«

Fidelma sah ihn vorwurfsvoll an. »Was wir entdeckt haben, bleibt unter uns, bis wir es einigermaßen erklären können. Was hat es für einen Zweck, unser Wissen preiszugeben? Möglicherweise gelangt es dann zu den Verschwörern - wer sie auch sein mögen - und hilft ihnen, ihre Spuren zu verwischen. Wir reden nicht darüber, bis die rechte Zeit dafür gekommen ist.«

Sie rief die beiden Männer an. »Guten Morgen, Brüder. Ich bin Fidelma von Cashel.«

Ihre Antwort verriet, daß beide schon von ihr gehört hatten. Die Kunde von ihrer Ankunft in der Abtei mußte sich schnell verbreitet haben.

»Ich habe gehört, ihr schlaft in den Zellen zu beiden Seiten von Bruder Mochtas Raum.«

Der ältere der beiden Mönche war nur wenig älter als Fidelma, der andere noch keine zwanzig Jahre alt, ein blonder Jüngling mit frischem Gesicht. Er hatte wohl gerade erst das »Alter der Wahl« erreicht. Sie wechselten unsichere Blicke.

»Gibt es eine Nachricht von Bruder Mochta?« fragte der Jüngere. »Die ganze Abtei weiß, daß er samt den heiligen Reliquien verschwunden ist.«

»Es gibt keine Nachricht, Bruder ...?«

»Ich heiße Daig, und dies ist Bruder Bardan, unser Apotheker und Bestatter.« Der junge Mann sagte das mit einem Stolz, als stelle er jemanden vor, der würdiger sei als er selbst. Eifrig fuhr er fort: »Alle in der Abtei haben von deiner Ankunft geredet, Lady.«

»Schwester«, verbesserte ihn Fidelma sanft.

»Womit können wir dir helfen?« unterbrach ihn der ältere Mönch mit geringerem Eifer.

»Ihr wißt, daß Bruder Mochta irgendwann in der Zeit nach dem Vespergebet und vor dem Morgengrauen des Feiertags des heiligen Ailbe aus seiner Zelle verschwunden ist?«

»Das wissen wir«, erklärte Bruder Bardan kurz und schien Fidelma mißtrauisch zu mustern. Er hatte einen dunklen Teint und rabenschwarzes Haar mit einem bläulichen Schimmer. Seine Augen fuhren rasch und unruhig hin und her wie auf der Suche nach verborgenen Feinden. Er war glattrasiert, doch der Bartansatz ließ seine untere Gesichtspartie dunkler erscheinen als seine hellen Wangen.

»Habt ihr in der Nacht in euren Zellen geschlafen? Ich meine die Nacht, in der Mochta verschwand.«

»Ja.«

»Und ihr habt in der Nacht nichts gehört?«

»Ich schlafe fest, Schwester«, antwortete Bruder Bardan. »Ich glaube nicht, daß mich irgend etwas wecken würde. Ich habe nichts gehört.«

»Nun, ich wurde gestört«, erklärte Bruder Daig.

Fidelma wandte sich ihm zu. Diese Antwort hatte sie nicht erwartet. Aus dem Augenwinkel sah sie, daß Bruder Bardans Miene zornig wurde und er seinen Gefährten anblickte. Er öffnete den Mund, und sie glaubte, er werde den Jungen anfahren, doch er schwieg.

»Hast du das gemeldet?« wollte sie wissen.

»Ach, so schlimm war es nicht«, erwiderte der Jüngling.

»Wie war es dann?«

»Ich schlafe leicht und erinnere mich, daß ich nachts wach wurde, weil eine Tür zufiel. Ich glaubte, es sei der Wind gewesen, denn kein Bruder schließt auf diese Art eine Tür. Sie knallte zu.«

»Was geschah dann?« fragte Fidelma.

»Nichts«, gestand Bruder Daig. »Ich drehte mich um und schlief wieder ein.«

Fidelma war enttäuscht. »Du weißt nicht, welche Tür zuknallte?« drang sie in ihn.

»Nein, aber eins weiß ich: Es soll um diese Zeit in Mochtas Zelle einen Kampf gegeben haben. Ich sage, das ist unmöglich.«

»Ja?« ermunterte Fidelma ihn, fortzufahren.

»Wenn es einen solchen Kampf gegeben hätte, dann hätte ich es bestimmt gehört. Ich wäre wach geworden. Außer dem Zuschlagen der Tür hat mich in der Nacht nichts geweckt.«

Bruder Bardan lächelte skeptisch. »Ach, Daig, man weiß doch, daß junge Menschen manchmal große Ereignisse verschlafen. Wie willst du so sicher sein, daß in der Nacht nichts Schlimmes in Mochtas Zelle geschehen ist? Nach dem, was wir gehört haben, beweist der Zustand der Zelle das Gegenteil.«

»Von solch einem Kampf wäre ich wach geworden«, erklärte Daig empört. »Ich wurde aber nur vom Türenknallen geweckt.«

»Na, ich muß zugeben, ich habe nichts gehört«, versicherte Bardan.

Fidelma dankte beiden, ließ sie am Tor der Abtei stehen und ging, von Eadulf gefolgt, über den Platz auf die Stadt zu. Nach einigen Schritten schaute sie rasch über die Schulter zurück. Bruder Bardan stand noch an derselben Stelle und redete lebhaft auf den jüngeren Mönch ein. Anscheinend machte er ihm heftige Vorwürfe.

Eadulf hatte das nicht bemerkt und sagte im Weitergehen: »Na, beweist das nicht deine Theorie? Es gab keine Auseinandersetzung in Mochtas Zelle.«

»Aber hilft uns das weiter?« überlegte Fidelma, als sie an der großen Eibe vorbeigingen.

»Wie meinst du das?« fragte Eadulf.

»Es würde uns weiterhelfen, wenn wir mit Sicherheit wüßten, daß Bruder Mochta derselbe Mann ist, der in Cashel getötet wurde. Doch nach Madagan und den anderen hier beschreiben wir zwar denselben Mann, aber mit einem Unterschied, der nicht zu erklären ist.«

Eadulf breitete die Hände aus. »Ich weiß. Die Tonsur. Ich habe immer wieder versucht, eine vernünftige Erklärung dafür zu finden, aber es gibt keine. Bruder Mochta wurde hier zuletzt vor weniger als achtundvierzig Stunden gesehen mit einer frisch geschorenen Tonsur des heiligen Johannes. Der Mann, den wir für Mochta hielten, wurde vor vierundzwanzig Stunden in Cashel gefunden mit einer Tonsur des heiligen Petrus, aber mit einem Haarwuchs von einigen Wochen auf dem Schädel. Wie paßt das zusammen?«

»Du hast noch etwas übersehen«, ergänzte Fidelma.

»Nämlich?«

»Aona sah den Mann mit der Tonsur des heiligen Petrus vor einer Woche am Brunnen von Ara. Segdae sagte, Mochta habe die Abtei kaum jemals verlassen. Auch das spricht dagegen, daß der Tote in Cashel Mochta ist.«

Eadulf schüttelte verärgert den Kopf.

»Ich finde keine vernünftige Erklärung dafür.«

»Verstehst du jetzt, warum es zwecklos wäre, Abt Segdae unsere Vermutungen mitzuteilen? Ehe wir nicht ein paar Antworten haben, sind es Vermutungen und keine Schlußfolgerungen.«

Das sah Eadulf ein.

Sie hatten den Platz überquert und erreichten die Gruppe von Häusern, Scheunen und anderen Gebäuden, die das Städtchen Imleach bildeten. Es war in den letzten hundert Jahren im Schatten der Abtei und ihres Bischofssitzes entstanden. Vorher war es einfach der Versammlungsplatz um den heiligen Eibenbaum gewesen, zu dem die Eoghanacht-Könige kamen, um ihren Eid abzulegen und ihr Amt anzutreten. Die Abtei hatte Kaufleute, Baumeister und andere angelockt, und nun gab es eine Ansiedlung von mehreren hundert Menschen vor den Mauern der Abtei.

Fidelma blieb stehen und sah sich um.

»Wohin gehen wir jetzt?« fragte Eadulf.

»Wir suchen einen Schmied«, antwortete Fidelma kurz. »Was sonst?«