177532.fb2 Tod bei Vollmond - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 8

Tod bei Vollmond - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 8

Kapitel 6

Alle in der Mühle waren starr vor Entsetzen.

Accobran fand als erster die Worte wieder.

»Das hast du noch nie zuvor ausgesagt, Brocc«, redete er vorwurfsvoll auf ihn ein. »Du hast nicht gesagt, daß du den Mörder wirklich gesehen hast.«

Der stämmige Mann blickte ihn herausfordernd an.

»Man hat mich vorher auch nicht danach gefragt, Tanist der Cinel na Äeda. Ich weiß, was ich weiß. Hast du gedacht, daß ich ganz ohne Grund auf die Abtei losmarschiert bin?«

»Andere sind gewiß davon ausgegangen«, erwiderte Fidelma ruhig. »Die meisten Leute glauben, daß du den Fremden gegenüber einfach nur voreingenommen bist. Das konnte man deinen Worten entnehmen. Jetzt sagst du zum erstenmal, daß du den Mörder gesehen hast.«

Broccs Schnauben reichte als Antwort darauf, was er von den anderen Leuten hielt.

»Beschreib uns also«, setzte Eadulf die Befragung fort, »beschreib uns den Mörder, und erzähl uns, warum du diesen wichtigen Beweis bisher verschwiegen hast. Du bist dem Mörder begegnet, hast deinen Bruder aber nach seiner verschwundenen Tochter suchen lassen. Man hat uns gesagt, daß Goll die Leiche fand. Das mußt du uns erklären, denn das verwirrt mich etwas.«

Fidelma blickte Eadulf anerkennend an. Die Widersprüchlichkeit zwischen Broccs Vorgehen und der Geschichte, die er ihnen auftischte, war offensichtlich.

»Ich sagte, ich sah den Mörder, nicht den Mord«, rechtfertigte er sich mit Nachdruck.

Eadulf schüttelte leicht den Kopf. »Was behauptest du da? Wie kannst du den einen ohne das andere sehen?«

»Erzähl uns deine Geschichte in allen Einzelheiten«, drängte ihn Fidelma. »Ganz einfach und verständlich. Sprich nicht in Rätseln.«

Broccs Blick verfinsterte sich. »Ich verstehe nicht, was du meinst.«

»Keine Wortklaubereien mehr. Entweder hast du den Mörder gesehen oder nicht. Was ist Fakt?« sagte Fidelma in strengem Ton.

»An dem Tag, als Escrach umgebracht wurde, hatte ich gerade aufwärts am Fluß Bride zu tun, nördlich von hier«, erwiderte Brocc. »Das kann mein Bruder bezeugen. Als ich zurückkehrte, war es schon Nacht. Ich kam gerade durch das Eberdickicht, und es war Vollmond.«

»Wohin wolltest du?« fragte Fidelma.

»Zu meiner Hütte, die sich am Rand der Lichtung dort befindet.«

»Wußtest du, daß Escrach ihre Tante besuchen und den gleichen Weg über den Hügel nehmen wollte?«

»Zu dem Zeitpunkt nicht«, erwiderte Brocc.

»Also bist du über den Hügel gegangen?«

»Mein Weg führte über den Sattel, von wo aus man die Abtei sieht.«

»Wie weit davon entfernt hat man Escrach gefunden?«

»Sie lag bei ein paar großen Felsblöcken, einem Steinkreis, der sich etwas höher befindet, auf der gleichen Hügelseite.«

Fidelma ermahnte ihn mit einer Geste, fortzufahren.

»Sonst gibt es kaum noch Nennenswertes. Ich kam über den Hügel und sah einen der Fremdlinge, einen von denen aus der Abtei.«

»Was hat er gemacht?« fragte Fidelma interessiert.

»Was der Fremdling tat? Nun, nichts. Er saß einfach nur beim Steinkreis der Wildschweine. Sein Gesicht war dem Mond zugewandt. Ich hätte wissen müssen, daß da etwas nicht stimmte. Als ich ihn grüßte, erwiderte er nichts darauf. Ihn umgab irgend etwas Düsteres - wie er da einfach so auf dem Hügel mitten im Mondlicht hockte, als wollte er sein Gesicht im Mondlicht baden.«

»Und was hast du dann gemacht?«

»Ich murmelte rasch ein Gebet und eilte heim zu meiner Hütte. Erst am nächsten Morgen erfuhr ich, daß man Escrachs Leiche entdeckt hatte.«

Nun herrschte Schweigen, Fidelma dachte über seine Worte nach.

»Du sagst also, daß du diesen Fremden dort sitzen sahst. Escrach hast du nicht gesehen. Am nächsten Tag fand man ihre Leiche an jenem Ort. Ist das so richtig?«

»Ja.«

Fidelma seufzte. »Das wirft viele Fragen auf. Doch es beweist keinesfalls, daß dieser Mann und Escrach aufeinandertrafen, und noch weniger, daß er sie umgebracht hat. Das Gesetz verlangt Beweise und nicht nur vage Mutmaßungen. Und diese Geschichte hast du dann deinem Bruder erzählt, oder? Am gleichen Tag hast du die Leute noch nicht dazu aufgewiegelt, die Abtei zu stürmen, nicht wahr? Warum hast du dir einen Monat Zeit gelassen, bis ein weiterer Mord geschah?«

Brocc schüttelte den Kopf wie ein großer zotteliger Hund. »Ich habe es meinem Bruder nicht gleich erzählt. Erst nach Ballgels Tod in der vergangenen Woche wurde mir der Zusammenhang bewußt. Als Es-crach in der Nacht des Dachsmondes dran glauben mußte, war mir klar, daß unter uns jemand ist, der immer bei Vollmond mordet. Da erst begriff ich, was ich damals gesehen hatte. Der Fremdling auf dem Hügel, der im Mondlicht badete.«

»Bist du zur Abtei gegangen, um den Fremden damit zu konfrontieren?« fragte Fidelma, immer noch skeptisch.

Seachlann kam seinem Bruder zu Hilfe. »Nachdem mir Brocc berichtet hatte, was ihm in jener Nacht aufgefallen war, sind wir alle losmarschiert. Die Leute wollten, daß man ihnen die Fremden auslieferte.«

»Wurde Brocc an jenem Tag vom Pfeil verwundet?«

»Ja.«

»Warum verlangtest du, daß euch alle Fremden ausgeliefert werden? Warum hast du die drei nicht holen lassen und denjenigen herausgesucht, den du in der Mordnacht gesehen hattest, und auf einer Erklärung bestanden?«

»Die sind doch alle gleich«, fuhr Seachlann wütend dazwischen. »Die sind alle genauso schuldig.«

»Das klingt nicht gerade sehr vernünftig«, meinte Fidelma.

»Du kennst sie noch nicht.«

»Dann werden wir das umgehend nachholen«, versicherte ihm Fidelma. »Doch fest steht, du warst weder Augenzeuge von Escrachs Tod noch von den anderen Morden. Als du den Fremden im Mondschein beobachtet hast, war er allein.«

»Niemand ohne böse Absichten würde nachts bei Vollmond auf dem Hügel sitzen, einfach so, und in den Mond starren«, widersprach ihr Brocc.

»Es gibt viele Gründe, aus denen man bestimmte Sachen tut, die einem Außenstehenden merkwürdig vorkommen mögen«, wies ihn Eadulf zurecht. »Wäre es nicht besser gewesen, nach Erklärungen zu suchen, anstatt jenem Mann Gewalt zu unterstellen ... Ihm und seinen Gefährten, die du gar nicht gesehen hast? Möglicherweise hatte der Mann guten Grund, sich zu dieser Zeit dort aufzuhalten.«

»Was für einen Grund?« warf Brocc aufgebracht ein.

Eadulf lächelte ein wenig. »Richtig! Niemand von uns weiß, warum er dort saß. Aber ehe wir irgendwelche Schlußfolgerungen ziehen, sollten wir der Sache genauer nachgehen. Escrachs Leiche wurde an derselben Stelle gefunden, doch wo ist der Beweis, daß Es-crach zur selben Zeit wie der Fremde auf dem Hügel war?«

Seachlann schüttelte verärgert den Kopf. »Du sprichst wie alle Mönche. Mit honigsüßer Zunge lenkst du uns von den Dingen ab, wie sie wirklich sind.«

»Vor der Wahrheit solltest du dich nicht fürchten, Seachlann«, fuhr ihn Fidelma an. »Üble Nachrede bringt die Zeit sowieso an den Tag.«

Eadulf nickte rasch. »Darf ich etwas vorschlagen? Vielleicht möchte Brocc uns zur Abtei begleiten. Es ist höchste Zeit, daß wir mit den Fremden sprechen, denen so viel Mißtrauen entgegenschlägt. Brocc kann dann im Beisein jener Leute erklären, was er sah, und derjenige, der auf dem Hügel war, kann seine Gründe dafür vorbringen, falls er welche hat. Ist das nicht besser und zivilisierter, als bewaffnet auf die Abtei loszuziehen und blutrünstig nach Rache zu schreien?«

Accobran, der lange Zeit nur zugehört hatte, stand zuversichtlich lächelnd auf. »Gut gesagt, sächsischer Bruder. Klingt alles ganz ausgezeichnet. Hast du irgendwelche Einwände, Brocc?«

Der Bruder des Müllers zögerte etwas und scharrte mit dem Fuß auf dem Boden herum.

»Nun, wenn es der Wahrheit dient«, brummte er gereizt. Fidelma wirkte erleichtert.

»Wir wollen nichts anderes als die Wahrheit herausfinden, Brocc«, sagte sie leise, aber entschlossen.

Die Abtei des heiligen Finnbarr lag im Schutze jenes Hügels, von dem bisher schon einige Male die Rede war. Dicke Holzwände oder Palisaden umgaben einige wenige Gebäude, von denen eine Holzkapelle herausragte. Das Tor war geschlossen, zwei finster dreinblickende Mönche standen auf einem Wachturm und hielten Ausschau. Erst als sie Accobran erkannten, rief einer von ihnen zum Tor hinüber, daß man öffnen solle.

Ein junger, besorgt aussehender blonder Mönch trat heraus, um sie zu begrüßen. Er sah Brocc, und seine Miene verdüsterte sich sofort. Brocc stellte sich hinter Accobran, als wolle er Schutz suchen. Der drahtige junge Mönch betrachtete die Ankömmlinge der Reihe nach und wandte sich an den Tanist.

»Deus tecum, Accobran. Was führt dich hierher -und ausgerechnet in Begleitung dieses Mannes?« Er deutete auf Brocc.

»Gott sei mit dir, Bruder Solam. Ich bringe die dalaigh aus Cashel her«, erklärte er. »Das ist Fidelma von Cashel und ihr Gefährte, Bruder Eadulf.«

Der junge Mann drehte sich zu Fidelma und Eadulf um und warf ihnen ein schüchternes Willkommenslächeln zu. »Fidelma von Cashel?« In seiner Nervosität stotterte er beinahe.

»Das ist Bruder Solam, der Verwalter der Abtei«, verkündete Accobran.

Bruder Solam verneigte sich vor Fidelma. »Fidelma von Cashel.« Ihm stockte fast der Atem. »Wer hat nicht von dir gehört.«

Fidelma machte seine devote Haltung ein wenig verlegen.

»Ich könnte mir vorstellen, daß es eine ganze Reihe von Leuten gibt, die noch nicht von mir gehört haben«, erwiderte sie, wenn auch ihre Augen dabei funkelten. »Wir wollen Abt Brogan sprechen.«

»Ich werde ihn sofort von deiner Ankunft unterrichten, Lady. Bitte tretet ein. Wer steht dafür ein, daß sich dieser Mann hier anständig benimmt?« fragte er Accobran und deutete dabei auf Brocc.

»Ich«, erwiderte der junge Tanist und fuhr mit der Hand demonstrativ zum Griff seines Schwertes. »Solange ich hier bin, haben die Brüder nichts zu befürchten.«

Sie folgten Bruder Solam auf den Hof, und das Tor schloß sich hinter ihnen.

»Bitte wartet einen Augenblick hier, ich werde den Abt benachrichtigen«, sagte Bruder Solam nun.

»Zunächst möchten Bruder Eadulf und ich den Abt gern allein sprechen«, erklärte ihm Fidelma. »Accobran und Brocc können hier warten.«

»Bei der Schmiede ist es warm und bequemer«, meinte der Mönch und wies über den Hof.

»Nun gut«, stimmte ihm Accobran zu. »Gib mir Bescheid, wann du uns zu sehen wünschst, dalaigh.«

Ein paar Minuten später führte Bruder Solam sie zu Abt Brogan.

Der Abt war trotz seines hohen Alters immer noch ein schöner Mann. Er begrüßte sie höflich lächelnd.

»Welch große Ehre, Schwester Fidelma. Deine Taten sind dir vorausgeeilt. Man hat mir berichtet, daß man deinen Namen sogar in Tara kennt.«

»Ich habe dem Großkönig einen kleinen Dienst erwiesen«, gestand Fidelma, als der Abt Eadulf die Hand entgegenstreckte.

»Sei auch du willkommen, Bruder. Verzeih, es fällt mir schwer, sächsische Namen richtig auszusprechen. Es klingt so kompliziert. Doch auch von dir habe ich schon gehört. Du hast im Jahr 664 an dem großen Konzil von Whitby teilgenommen, oder irre ich mich?«

»Du bist sehr gut im Bilde, Abt«, sagte Eadulf.

»Nun, es freut mich sehr, daß ihr beide Beccs Ansinnen gefolgt und nach Rath Raithlen gekommen seid. Böse Dinge geschehen hier. Und unsere Mitmenschen leben so in Angst und Schrecken, daß sie jedes Maß für die Wirklichkeit verloren haben und sogar uns angreifen, uns Mönche.«

»Bruder Solam hat es dir wahrscheinlich bereits mitgeteilt - wir haben Brocc, den Bruder des Müllers, mitgebracht.«

Der Abt senkte den Kopf. »Ja. Und er hat mir gesagt, daß Accobran ihn mit gezogenem Schwert bewacht. Wir sind also keineswegs besorgt.« Er hieß sie Platz zu nehmen und bat Bruder Solam, Wein und Met zu holen.

»Ich habe gehört, diese Klostergemeinschaft beherbergt drei Fremde, und die Leute aus dem Ort wollten die Abtei stürmen«, fing Fidelma an.

»Leider Gottes fürchten die Menschen stets das Unbekannte, und diese Angst nährt Haß«, fuhr Abt Brogan fort, nachdem Bruder Solam die Getränke gereicht hatte.

»So ist es wohl«, meinte Fidelma. »Wir sind gekommen, um uns zu vergewissern, daß es keinen Anlaß gibt, deine drei Gäste der Mitverantwortung an den Morden zu verdächtigen.«

Abt Brogan blickte sie überrascht an. »Du wünschst sicher, daß ich sie holen lasse, damit du sie befragen kannst, nicht wahr?«

»Das wäre das beste«, erwiderte Fidelma leise.

Der Abt wandte sich an seinen Verwalter und erteilte ihm eine entsprechende Anweisung.

»Wie lange kennst du diese Männer?« fragte Eadulf.

»Sie sind vor zwei Monaten hier eingetroffen«, antwortete der Abt. »Ich weiß nicht, ob ich behaupten könnte, auch nur einen von ihnen wirklich zu kennen. Sie kamen vom Kloster Molaga an der Küste her, wo sie nach einem Schiffbruch gestrandet waren. Inzwischen haben sie sich erholt und den Wunsch geäußert, hier zu studieren. Wir verfügen über eine Bibliothek, um die uns viele beneiden.« Er lächelte, als er Fidelmas Erstaunen bemerkte. »Es stimmt schon, unsere Klostergemeinschaft ist recht klein, nicht mehr als zwanzig Mönche leben hier. Doch wir haben viele Ogham-Schriften auf Holzstäben und Handschriften gerettet, die unseren Reichtum darstellen und unsere Bedeutung unter den größeren Klöstern ausmachen.«

»Diese Fremden kamen also übers große Meer?«

»Das werdet ihr gleich selbst feststellen können.«

Genau in dem Augenblick erschien Bruder Solam wieder und hielt die Tür auf.

»Unsere drei Gäste sind hier, Abt«, verkündete er feierlich.

Drei hochgewachsene Männer betraten den Raum. Die anderen Anwesenden wirkten regelrecht klein gegen sie. Sie waren schlank und kräftig und trugen ihre ungefärbten wollenen weißen Gewänder mit großer Eleganz, als seien es königliche Kleider. Jeder von ihnen besaß ein verziertes Silberkreuz an einer auffallenden Kette. Einen derartigen Schmuck hatte Fidelma noch nie zuvor gesehen, nicht einmal in Rom. Die Männer hatten bemerkenswert schöne Gesichter, ihre Augen blickten wachsam um sich. Fidelma fiel jedoch auf, daß ihre Mienen seltsam unergründlich waren, als hätten sie bewußt jedes Gefühl daraus verbannt. Sie standen in einer Reihe vor dem Abt und neigten wie auf ein geheimes Zeichen hin gleichzeitig mit einer knappen Bewegung ehrerbietig die Köpfe. Ihre äußere Erscheinung wirkte einschüchternd, und Fidelma und Eadulf konnten nicht verbergen, wie überrascht sie von dem ebenholzfarbenen Schwarz ihrer Haut waren, die sich von dem Weiß und Silber ihrer Tracht stark abhob.

»Du hast uns rufen lassen, Abt?«

Der in der Mitte stehende Mann hatte gesprochen. Er drückte sich in der Sprache von Eireann aus, wenn auch mit starkem Akzent.

»Ja. Das ist Fidelma von Cashel, Schwester unseres Königs Colgü. Sie ist eine dalaigh, wie wir hier sagen - eine Richterin.«

Fidelma wollte schon seine Erläuterung etwas präzisieren, merkte aber, daß der Abt bewußt einfach sprach, damit die Ausländer ihn gut verstehen konnten.

Der große Fremde sagte schnell etwas zu seinen Begleitern, und alle drei sahen Fidelma an. Diesmal legten sie eine Hand an die Brust und verneigten sich gleichzeitig vor ihr. Sie fühlte sich ein wenig beschämt, erhob sich jedoch und erwiderte etwas auf ihren Gruß.

»Das ist mein Gefährte, Bruder Eadulf von Seax-mund’s Ham«, sagte sie dann, und damit waren alle einander vorgestellt.

Wieder verneigten sich die Gäste, doch diesmal legten sie nicht die Hand an die Brust.

»Wir wollen uns setzen«, schlug sie vor.

Daraufhin brachte man den Fremden Stühle. Als sie Platz genommen hatten, blickte Fidelma Abt Brogan an.

»Habe ich die Erlaubnis fortzufahren?«

Der Abt stimmte ihr zu.

Fidelma wandte sich an den Sprecher unter den Fremden.

»Sprecht ihr alle die Sprache meines Volkes?« fragte sie.

Der Gesichtsausdruck des Mannes veränderte sich nicht. »Ich habe nur wenig von eurer Sprache gelernt. Meine Kenntnisse sind begrenzt. Meine Gefährten beherrschen sie gar nicht.«

»Welche Sprache sprecht ihr?«

»Unsere Sprache heißt Ge’ez und ist die Sprache des Königreiches Aksum.«

Das verkündete er mit einem gewissen Stolz. Fidelma mußte sich eingestehen, daß sie noch nie von jener Sprache und jenem Land gehört hatte. Der Fremde bemerkte ihre Verwirrung und sagte, ohne eine Miene zu verziehen: »Ich beherrsche zwar die Sprache deines Volkes nur begrenzt, aber wir alle können Griechisch und ein wenig Latein wie auch mehrere Sprachen unserer Nachbarländer.«

Fidelma war erleichtert. Griechisch war ursprünglich die Sprache der Weiterverbreitung des christlichen Glaubens, die Sprache der Bibel. Sie hatte mehrere Jahre lang Griechisch gelernt und las gern die antiken Philosophen im Original. Sie wußte, daß Eadulf diese Sprache auch beherrschte, und blickte nun fragend den Abt an.

»Spricht etwas dagegen, die Unterhaltung auf griechisch fortzuführen, damit wir mit der Befragung rasch vorankommen?«

Der Abt rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Meine Griechischkenntnisse beschränken sich auf die Heilige Schrift und werden kaum ausreichen, solch einem Gespräch zu folgen. Trotzdem bin ich einverstanden, die Unterhaltung so fortzusetzen, wie du es wünschst, Fidelma von Cashel.«

Fidelma lehnte sich zurück und blickte kurz zu Eadulf hinüber, um zu sehen, ob er etwas dagegen hatte.

»Das ist gut«, sagte sie nun auf griechisch. »So wollen wir uns richtig vorstellen.«

Der Sprecher der drei Fremden neigte den Kopf. »Ich bin Bruder Dangila, und meine Begleiter sind Bruder Nakfa zu meiner Linken und Bruder Gambela zu meiner Rechten.«

»Und ihr stammt alle aus dem Königreich Aksum?«

»Ja.«

»Wo liegt dieses Königreich?«

»Hinter Ägypten, zwischen dem Roten Meer und dem Fluß Atbara. Hast du noch nicht von der großen Hafenstadt Adulis mit ihren Kirchen und Palästen gehört? Aus Adulis wird die Welt mit Gold, Smaragden, Obsidian, Elfenbein und Gewürzen versorgt.«

Langsam schüttelte Fidelma den Kopf. »Die Gebiete hinter Ägypten sind mir unbekannt. Von Aksum habe ich noch nie zuvor gehört. Gibt es in deinem Land Christen?«

Zum erstenmal blickten die drei schönen Gesichter vor ihr freundlich, ja, die Männer lächelten beinahe.

»Wisse, Fidelma von Cashel, vor gut vierhundert Jahren christianisierte unser König Esana unser Land Aksum. Frumentius von Syrien lehrte Esana den Glauben und brachte uns das Licht, denn wir sind die wahren Nachfahren der Hebräer, und David war unser König. Bei uns befindet sich die Bundeslade, in der der Dekalog aufbewahrt wird.«

Fidelma mußte sich schon sehr bemühen, nicht vor Staunen die Fassung zu verlieren. Dort bewahrte man also so etwas Bedeutendes wie die Zehn Gebote auf, die Moses von Gott auf dem Berg Sinai empfing.

»Dein Königreich erweckt meine Neugier, und bei anderer Gelegenheit würde ich gern mehr darüber erfahren. Doch heute bin ich in Ausübung meines Amtes hier«, sagte sie bedauernd.

Bruder Dangila senkte den Kopf. »Wenn ich richtig verstanden habe, bist du Richterin und gleichzeitig die Schwester des Königs dieses Landes, nicht wahr?«

»So ist es. Werden die Gesetze dieses Königreiches verletzt, untersuche ich das und spüre den Schuldigen auf.«

»Wir verstehen.«

»Wie ihr wohl erfahren habt, wurden in der Nähe der Abtei drei junge Frauen grausam getötet.«

»Wir hörten davon«, erwiderte Bruder Dangila. »Draußen meinen die Leute, wir seien die Ursache dieser unglücklichen Vorfälle. Wir können von Glück sagen, daß Abt Brogan uns innerhalb dieses Klosters Schutz bietet.«

»Warum glauben eurer Meinung nach die Leute hier, daß ihr für die Morde verantwortlich seid?«

Zum erstenmal lächelte Bruder Dangila sie richtig an. »Denk an unser Aussehen, Fidelma von Cashel. Darin liegt die Ursache.«

»Das mußt du mir erklären.«

»Ich hätte gedacht, das erübrigt sich. Sind wir nicht äußerlich grundverschieden von deinem Volk?«

»Nun, das kann ich nicht abstreiten. Aber warum sollte euch das verdächtig machen?«

»Komm, laß die Diplomatie. Selbst Hunde bellen Leute an, die ihnen fremd sind.«

»Also du sagst, daß man euch beschuldigt, weil ihr ganz offensichtlich Fremde seid?«

Bruder Dangila streckte einen Arm vor, zog den Ärmel seines Gewandes hoch und zeigte seine nackte Haut.

»Streck deinen Arm aus, Fidelma von Cashel, und halte ihn daneben.«

Sie folgte der Aufforderung und streifte ebenfalls den Ärmel hoch.

Das Schwarz und das Weiß ihrer Haut lagen nun dicht an dicht.

»Genügt das nicht? Aus Unwissenheit entstehen leicht Vorurteile, Vorurteile wecken Furcht, und Furcht nährt Haß.«

Fidelma nahm ihren Arm zurück.

»Ja, so ist der Mensch leider«, pflichtete sie ihm bei. »Dennoch zwingt mich das Gesetz, die drei Mordfälle genauestens zu untersuchen, bis ich Beweise habe, die über Schuld oder Nicht-Schuld entscheiden. Mein Volk hat ein altes Sprichwort - die Lüge vergeht, doch die Wahrheit besteht.«

Bruder Dangila nahm wieder Platz. »Dann stell uns deine Fragen.«

»Fangen wir mit der Tatzeit an. Das Mädchen Ballgel wurde während des letzten Vollmondes ermordet. Wo waren deine Begleiter und du in jener Nacht?«

»Hier im Kloster«, erfolgte rasch die Antwort.

Bruder Dangila blickte zu seinen Gefährten und sah dann wieder Fidelma in der gewohnten unergründlichen Weise an.

»Wir waren im Schlafraum für Gäste. Wir hatten uns nach dem Angelusgebet gegen Mitternacht zurückgezogen. Und bis zum nächsten Angelusläuten am Morgen haben wir uns nicht fortgerührt«, sagte er.

»Das stimmt nicht ganz.«

Zum erstenmal meldete sich Bruder Gambela zu Wort. Er hatte eine weiche, fast weibliche Stimme. Bruder Dangila schien leicht verärgert.

»Wieso stimmt das nicht ganz?« wollte Fidelma wissen. »Erklär das doch bitte, Bruder Gambela.«

»Ich konnte nicht gleich einschlafen, kann aber demzufolge bezeugen, daß meine beiden Gefährten sofort zur Ruhe kamen. Mein Mund fühlte sich trok-ken an, also ging ich in die Küche mir Wasser holen.«

»Wie spät war es da etwa? Hat dich jemand gesehen?«

»Das weiß ich nicht. Es war vielleicht eine knappe halbe Stunde nach Mitternacht. Aber ja, mich hat jemand gesehen!«

»Wer?«

»Ich.« Abt Brogan hatte das eingeworfen. »Irgend-wann nach Mitternacht kehrte ich von dem Fest bei Becc zurück. Ich glaube, ich habe die Burg des Fürsten kurz nach Mitternacht verlassen und bestimmt nicht mehr als eine halbe bis eine dreiviertel Stunde für den Rückweg gebraucht. Als ich eintrat, sah ich Bruder Gambela aus Richtung der Küche kommen. Wir sagten uns gute Nacht.«

»Im vorletzten Monat wurde das Mädchen Escrach zur Zeit des Vollmondes ermordet. Wo wart ihr da alle?«

»In jener Nacht waren wir ebenfalls alle hier«, erwiderte Bruder Dangila.

Fidelma schwieg einen Moment. Ihr Blick wanderte von einem ausdruckslosen Gesicht zum nächsten.

»Stimmt das wirklich?« erkundigte sie sich leise.

»Bezweifelst du es?« fragte Bruder Gambela zurück.

»Wie wäre eure Antwort, wenn ich euch sagte, daß jemand in der Mordnacht einen von euch auf dem Hügel hinter dem Kloster gesehen hat? Er saß da und starrte zum Vollmond hoch.«

Die Gesichter der drei blieben ohne jede Regung. Einen Moment lang meinte Fidelma, sie würde keine Antwort erhalten. Doch dann sagte Bruder Dangila leise: »Wer ist derjenige, der so etwas behauptet, und wen von uns will er gesehen haben? Selbst wenn dem so wäre, seit wann ist das Sitzen auf einem Hügel und die Betrachtung des Laufs der Gestirne ein Verbrechen? Sagt derjenige auch, daß er das ermordete Mädchen zusammen mit dem, der auf dem Hügel saß, gesehen hat?«

»Deine Antwort ist einleuchtend«, erklärte Fidelma. Der Fremde war offenbar ziemlich scharfsinnig. An den Abt gerichtet, sagte sie: »Accobran soll Brocc hereinholen.«

Der Abt läutete mit seiner Silberglocke.

Accobran besprach kurz etwas mit Bruder Solam und führte dann Brocc herein, der mürrisch und beleidigt wirkte und die Fremden zornig anfunkelte.

»So, Brocc, nun wiederhole noch einmal deine Geschichte im Beisein der Fremden«, ordnete Fidelma an und wandte sich anschließend auf griechisch an die drei Männer: »Wenn ihr etwas nicht versteht, werde ich euch helfen.«

Die drei saßen reglos da, während Brocc seine Version noch einmal darbot. Eigenartigerweise schien er all seine Angriffslust und sein prahlerisches Verhalten angesichts der stillen, würdevollen Ausstrahlung der Fremden abgelegt zu haben. Seine Stimme war weich, beinahe höflich.

»Im letzten Monat kehrte ich von einem Geschäft mit einem Händler vom Fluß Bride zurück. Es war Mitternacht, als ich über die Hügel nach Rath Raithlen lief und das Eberdickicht durchquerte. Es herrschte Vollmond, und es war sehr hell. Plötzlich entdeckte ich eine Gestalt bei dem alten Steinkreis an meinem Weg. Es war ein hochgewachsener Mann, der auf einem Felsen saß. Mich sah er nicht. Er blickte mit einem ganz ungewöhnlichen Gesichtsausdruck zum Mond hinauf.«

»Hast du ihn angesprochen?«

»Ja. >Was tust du hier, Fremder?< fragte ich. Ich nannte ihn >Fremder<, weil er das wirklich für mich war.«

»Hat er darauf geantwortet?«

»Nein, und ich bezweifle, daß er meine Worte überhaupt verstanden hat, denn er war einer dieser finster aussehenden Fremden, die hinter den großen Meeren leben und deren Haut schwarz ist. Er gehörte ganz sicher nicht zu unseren Leuten.«

»War er allein oder in Gesellschaft?«

»Er schien allein zu sein.«

»Sonst war niemand weiter bei ihm? Bist du sicher?« fragte Fidelma eindringlich.

Brocc machte eine bejahende Geste. »Niemand.«

»Das müssen wir ganz genau wissen, damit derjenige den du beschuldigst, sich auch verteidigen kann.«

»Ich habe niemanden bei dem Fremden gesehen«, meinte Brocc verdrießlich. »Aber ich glaube, daß er nicht allein war.«

»Der Fremde muß nur über das Rechenschaft ablegen was du gesehen hast, und nicht über das, was du zu sehen geglaubt hast«, machte ihm Fidelma unmißverständlich klar. »Nun, du hast gesagt, daß du ihn angesprochen hast und er nichts darauf erwiderte. Was hast du dann gemacht?«

Brocc holte nervös Luft. »Mir wurde ganz angst und bange«, gestand er. »Ich befürchtete, er sei ein Geist, die Ausgeburt des Teufels. Er sagte nichts, der Mond schien auf sein Gesicht, so daß es ganz grau und schrecklich wirkte. Langsam wandte er sich um, und seine Augen funkelten mich wütend an. Da rannte ich davon, so schnell ich konnte. Am nächsten Morgen erfuhr ich von dem Mord an Escrach. Wie ihr wißt, ist mir erst, als auch Ballgel umgebracht wurde, klargeworden, welche Bedeutung diese Begegnung eigentlich hatte. Also versuchte ich, die Leute vor den Fremdlingen zu warnen.«

»Du hast mir gegenüber behauptet, daß die Person auf dem Hügel einer dieser Fremden war. Hältst du immer noch an dieser Aussage fest?«

»Aber sicher.« Etwas von seiner alten Aggressivität kehrte zurück.

»So, du hast die drei Fremden nun vor dir. Welcher von ihnen hat damals im Mondschein auf dem Hügel gesessen?«

Die drei rührten sich nicht auf ihren Plätzen und blickten zu Brocc hinüber.

Brocc hielt es kaum für notwendig, sie genau anzuschauen. Er sagte unverblümt: »Ich kann ihre schwarzen Gesichter nicht voneinander unterscheiden. Für mich sehen sie alle gleich aus. Keine Ahnung, wer es war. Es ist deine Aufgabe, sie zu einem Geständnis zu bewegen.«

Fidelma schnaubte verärgert. »Da irrst du dich gewaltig, Brocc. Meine Pflicht besteht darin, das Gesetz auszulegen. Das Berrad Airechta, das Gesetz der Zeugen, ist ziemlich genau. Du stehst hier vor mir als ein fiadu, das bedeutet >einer, der sieht<. Du kannst nur etwas bezeugen, das du gesehen oder gehört hast. Und du mußt einen Eid schwören, um deine Aussage zu untermauern. Du sagst nun, da war ein Mann. Du behauptest, es war einer der drei vor dir sitzenden Männer. Aber welcher? Das kannst du nicht sagen. Die Fremden hier müssen deine Anschuldigungen nicht widerlegen, nein, vielmehr mußt du sie beweisen. Also, Brocc, beschuldigst du einen dieser Männer des Mordes, und wenn dem so ist, um wen handelt es sich? Sprich!«

Brocc zuckte mit seinen kräftigen Schultern. »Ich kann sie nicht voneinander unterscheiden. Aber einen von ihnen habe ich gesehen. Mehr kann ich nicht sagen.«

Fidelma atmete leise aus.

»Accobran, würdest du Brocc bitte wieder hinausführen. Warte draußen auf uns.«

Brocc wurde wütend.

»Ha, alle Mönche und Nonnen sind gleich! Du ziehst ihre Worte meinen vor?« rief er.

Fidelma erwiderte seinen zornigen Blick nicht.

»Vor dem Gesetz, Brocc, hat deine Aussage kein Gewicht. Deine Anschuldigungen entbehren jeder gesetzlichen Grundlage. Ich bin hier, um Tatsachen auszuwerten und nicht grundlose Anschuldigungen.« Fidelma entließ ihn mit einem Wink, und ohne ein Wort zu verlieren, beförderte Accobran Brocc ziemlich unsanft aus dem Raum.