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Holmes bewegte sich den Gang entlang und dann ein Stockwerk tiefer zu Kabine 37-B. Als er klopfte, rief eine vertraute Stimme: »Moment, ich bin schon im Schlafrock.«
Es dauerte einige Minuten, bis geöffnet wurde. Vor Holmes stand ein Mann mit sehr starker Brille und einem grauen Vollbart.
»Kommen Sie, Watson! Conolly geht es nicht gut. Er hat Anzeichen einer Quecksilbervergiftung und benötigt ärztliche Hilfe.«
»Sie irren, mein Herr. Wen immer Sie suchen, ich bin es nicht«, sagte eine tiefe Stimme.
»Schluss mit der Maskerade. Ich erkenne Ihre Art zu gehen unter Tausenden.«
»Also gut. Ihnen bleibt auch nichts verborgen. Ich wollte sehen, von welchem Abenteuer Sie mich fernhalten wollten. Und meine Frau meinte, etwas Abwechslung könne mir nicht schaden. Da benutzte ich meinen detektivischen Verstand und ...«
»Ihr detektivischer Verstand heißt Londoner Presse, mit Verlaub. Ich muss aber gestehen«, und bei diesen Worten drückte Holmes seinem Freund die Hand, »dass ich nicht unglücklich darüber bin, Sie an Bord der Olympic zu wissen.«
»Wie erkannten Sie mich? Wir trafen seit der Abfahrt in Southampton nicht aufeinander.«
»Ich sah Sie aus der Ferne und erkannte, wie gesagt, Ihren Gang. Die kleinen, schnellen Schritte, immer in Eile, immer voll Bedeutung und Wichtigkeit. Aber jetzt kommen Sie, Watson! Kümmern Sie sich um meinen erkrankten Reisebegleiter!«
Gegen acht Uhr am Morgen alarmierte Sherlock Holmes einen der Stewards mit der dringenden Bitte, den Schiffsarzt unverzüglich zu ihm zu schicken. Gemeinsam mit Joseph Bruce Ismay und Watson erwartete er Dr. Samuel Wren in seiner Suite.
Beim Frühstück teilte Holmes den Mitreisenden mit, dass sein Reisebegleiter, der Journalist Robert Maurice Conolly, in den frühen Morgenstunden verstorben sei. Er habe einen Blutsturz erlitten.
Zwei Plätze am Speisetisch blieben an diesem Morgen leer. Der von Mr. Conolly und der von Mrs. Oldman-Smythe. Watson hatte auf dem Stuhl des Journalisten Platz genommen. Linda Hornby, die nicht hatte schlafen können, hatte Mrs. Oldman-Smythe schon früh am Morgen auf dem Promenadendeck gesehen, mit einer Feldstaffelei, die nun etwas stärker bewegte See malend.
»Ich ahnte es! Welch ein Unglück! Eine Katastrophe!«, rief die aufgeregte Malerin, als sie verspätet zum Frühstück erschien. Da alle annahmen, sie meine den Tod des Journalisten, fragte sie niemand, was geschehen sei.
»Mein Diamant. Meine Kette. Ich hatte sie auf dem Nachttisch neben meinem Bett abgelegt. Und heute früh war sie verschwunden. Ich beauftrage Sie hiermit, Mr. Holmes, mir dieses kostbare Stück wieder herbeizuschaffen.«
»Wenden Sie sich bitte an den Kapitän. Ich beschäftige mich derzeit mit Wichtigerem«, entgegnete dieser kühl.
»Arroganter alter Mhmm ...«, verschluckte die Frau das letzte Wort und enteilte.
Die Olympic steuerte am zweiten Tag ihrer Fahrt, am Sonntag, dem 11. April, gegen Mittag den im Süden Irlands gelegenen Hafen Queenstown an, in dem hauptsächlich Passagiere der dritten Klasse zustiegen. Auswanderer, die ihr wirtschaftliches Glück in Amerika suchten.
»Die Emigranten haben sich als die verlässlichste Einnahmequelle für unsere Gesellschaft erwiesen«, erklärte Joseph Bruce Ismay beim Dinner mit dem Kapitän, an dem auch Holmes und Watson teilnahmen. Die Herren speisten im Café de Paris und sahen durch eines der Fenster Vera Oldman-Smythe beim Malen auf dem Promenadendeck. Die Künstlerin trug einen grauen Seidenschal anstelle ihres wertvollen Colliers. Ein ausladender cremefarbener Hut schützte sie gegen die Strahlen der Sonne, die für Mitte April relativ kräftig schien.
»Schiffe wie die Titanic oder die Olympic machen nur Profit, wenn sie zu mindestens achtzig Prozent belegt sind«, führte Joseph B. Ismay weiter aus. »Wir haben, wie gesagt, keine Probleme mit der dritten Klasse, deren Passagiere trotz der geringen Ticketpreise auch am übrigen Luxus des Schiffes teilhaben. Sie können sowohl das Schwimmbad als auch die Trainingsräume benutzen. Die großen Suiten bleiben nahezu leer, und die Kabinen der ersten und zweiten Klasse lassen sich nicht einmal zur Hälfte füllen.«
»Das heißt, dass sich die White Star Line verschätzte, als sie die Olympic, die Titanic und die Britannic bauen ließ«, beteiligte sich Doktor Watson am Gespräch.
»Im Endeffekt ja. Aber niemand konnte das Unglück mit der Titanic voraussehen, und niemand konnte wissen, dass es zu diesem unseligen Krieg kommt, der die Passagiere dermaßen verunsichert und von Fahrten in die Vereinigten Staaten abhält. Als sich diese Entwicklung abzuzeichnen begann, hatten wir schon alles Geld in die großen Schiffe investiert, und die Konkurrenz, zu der ich vor allem Cunard und die Northern Steamships zähle, reagierte rasch mit kleineren Schiffen, die mit weniger Besatzung auskommen und daher billiger operieren können.«
»Graham Hornby, einer Ihrer Hauptkonkurrenten, befindet sich an Bord der Olympic«, stellte der Kapitän fest.
»Verheiratet mit der Tochter J. P. Morgans. Wie grotesk!«, stöhnte Bruce Ismay. »Im Übrigen bedaure ich es außerordentlich, dass Mr. Conolly nicht, wie vorgesehen, mit uns speist. Ich schätzte ihn, obwohl er in seinen Artikeln diese furchtbaren Anschuldigungen gegen mich und J. P. Morgan erhoben hatte. In anderen Worten: Ich bin zutiefst getroffen von seinem plötzlichen Ableben.«
»Auch ich bedaure das. Mr. Conolly war ein anregender Reisebegleiter«, sagte Holmes. »Und dann noch der Diebstahl von Mrs. Oldman-Smythes Kette. Die Dinge kommen in Bewegung.«
»Sie scheinen Gefallen an den Vorfällen zu finden, Mr. Holmes«, wunderte sich Bruce Ismay.
»Gefallen ist übertrieben. Wenn es um große Verbrechen geht, und ein solches vermute auch ich hinter dem Untergang der Titanic, kommt es zwangsläufig zu Begleiterscheinungen wie diesen, die es erst ermöglichen, wirklich in einen Fall zu blicken. Ich vergleiche Phänomene dieser Art mit Fieber, das auf eine tiefer liegende Erkrankung eines Organismus schließen lässt.«
»Sie meinen, Mr. Conolly wurde ermordet?«, fragte Mr. Ismay.
»Im weitesten Sinne, ja. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen.«
»Wenn Sie einen Verdacht bezüglich des Diebstahls der Kette von Mrs. Oldman-Smythe haben, Mr. Holmes, kann ich den Auftrag erteilen, die Kabinen zu durchsuchen«, meinte Kapitän Hayes.
»Ich habe eine leise Ahnung«, erwiderte Holmes, »werde diese aber noch genaueren Überprüfungen unterziehen, bevor ich mich an Sie wende. Vielen Dank, Kapitän. Hatten Sie übrigens schon ein Gespräch mit den Brüdern Ihres Vorgängers?«
»Mit den Brüdern von Kapitän Smith? Noch nicht. Wir haben uns auf Ersuchen der Herren für den Nachmittag verabredet. Sie kennen meine Ansicht zu Smith und ich bedaure, dass ich den Herren nichts anderes sagen kann.«
»Welche Route nehmen wir auf unserer weiteren Fahrt, Kapitän?«, brachte Watson das Gespräch auf ein anderes Thema.
»Die Winterroute. Wir steuern einen Korrekturpunkt bei 42 Grad Nord und 47 Grad West an und drehen dann auf westlichen Kurs, bis wir New York erreichen. Die Strecke verläuft so weit südlich, um die kalten Gewässer des Labradorstroms mit ihren Eisbergen zu vermeiden.«
»Wir befahren eine andere Route als die Titanic?«, erkundigte sich Watson.
»Nein. Es ist der übliche Weg aller Passagierschiffe. Sie können aber beruhigt sein, meine Herren. Wir haben seit dem Unglück zusätzliche Rettungsboote an Bord.«
»Und zwei Eisbrecher fahren einige Meilen voraus, um jedes Risiko auszuschließen. Wir sind in ständigem Funkkontakt mit ihnen«, ergänzte Mr. Ismay. »Was natürlich die Kosten weiter in die Höhe treibt.«
»Sie geben also der White Star Line keine Zukunft«, resümierte Holmes.
»Es fällt mir schwer, dies im Beisein des sehr geschätzten Kapitäns Hayes sagen zu müssen: Ich bin im Augenblick in großer Sorge und hoffe, dass eine Rehabilitation unserer Linie durch Sie, Mr. Holmes, nach den katastrophalen Zeitungsartikeln die Wende zum Besseren bringen wird.«
»Der Tod eines Passagiers erleichtert meine Aufgabe keineswegs.«
»Mr. Holmes, Mr. Holmes, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen«, rief Mrs. Vera Oldman-Smythe dem Detektiv vom Promenadendeck entgegen. Als dieser nicht reagierte, ließ sie die Seelandschaft im Morgenlicht, an der sie gerade arbeitete, im Stich und lief dem Detektiv nach. »Ich entschuldige mich in aller Form für meine unbedachte Äußerung am frühen Morgen. Der Diebstahl meiner Kette brachte meine Nerven derart in Aufruhr, dass ich nicht mehr Herrin meiner selbst war.«
»Entschuldigung angenommen«, sagte Holmes knapp und wollte weitergehen.
»Ich habe einen Verdacht, Mr. Holmes. Heute Morgen fiel mir ein Mann auf, den ich vorher nie gesehen hatte. Er wirkte wie ein Schauspieler, irgendwie unecht. Ich vermute, er hat etwas mit dem Diebstahl zu schaffen.«
»Beschreiben Sie ihn bitte, Mrs. Oldman-Smythe.«
»Ich fertige eine Skizze an.« Die Malerin zeichnete mit wenigen Strichen die Gestalt eines Mannes auf ein Blatt Papier.
»Interessant. Sie sind wahrlich eine Meisterin Ihres Faches. Auch mir ist dieser Mann bereits begegnet. Ich teile Ihre Meinung, dass er nicht das ist, was er vorgibt zu sein.«
»Ich werde mich erkenntlich zeigen, wenn Sie mir die Kette wiederbeschaffen. Sie ist mir sehr wichtig.«
»Erzählen Sie mir die Geschichte des Colliers. Wie ist es zu Ihnen gekommen, wem gehörte es vorher?«
»Viel davon ist sehr privat und delikat. Ich kann nur so viel sagen, dass ich es für … wie soll ich sagen … für meine Diskretion erhielt.«
»Dafür dass Sie etwas, das Sie wissen, nicht an die Öffentlichkeit bringen?«, ließ der Detektiv nicht locker.
»Ich bin keine Erpresserin.«
»Das habe ich damit auch nicht gemeint.«
»Dann lassen wir es gut sein. Ich bekam die Kette für, wie ich schon sagte, meine Diskretion.«
»Sie erzählten gestern Abend, als Sie uns die Karten legten, vom Fluch der Titanic, der den vormals hellen Diamanten dunkel verfärbte. Der Stein veränderte doch nicht tatsächlich die Farbe. Sie wollten jemandem an unserem Tisch oder in der Umgebung ein Zeichen geben. Verschlüsselt, symbolhaft.«
»Ihre Phantasie in Ehren, Mr. Holmes«, lachte die Wahrsagerin gekünstelt. »Ich werde mich nun wieder meiner eigenen Phantasie hingeben und an meinem Bild arbeiten.«
Es war früher Nachmittag, die Sonne schien noch immer und die See war bemerkenswert ruhig, als Holmes die Bibliothek in der vierten Etage der Olympic aufsuchte. Alice, ihre Mutter und deren Begleiter sowie Christine und deren Mutter hielten sich dort auf. Die Sonne schien mild in den Raum, auf dessen Teppichboden ausgestreckt die beiden Mädchen gemeinsam in einem Buch lasen.
»Entschuldigen Sie, meine Damen, mein Herr. Ich arbeite als Detektiv im Auftrag der White Star Line«, sprach Sherlock Holmes die drei Erwachsenen an, die an einem ausladenden Lesetisch saßen und in Zeitungen blätterten.
»Ich weiß, Mr. Holmes. Ich las darüber in der Presse«, sagte Mrs. Sarah Harrison.
»Darf ich Sie fragen, was der Grund für diese Reise ist?«, fuhr Sherlock Holmes fort und wurde mit einem Zischen von Seiten der Bibliothekarin bedacht, die einige Bücher in die Regale schichtete. Sie bekräftigte diesen Laut der Missbilligung, indem sie den rechten Zeigefinger an ihren dunkelrot geschminkten Mund führte und damit andeutete, dass in der Bibliothek nicht gesprochen werden dürfe.
»Ich lade Sie beide auf einen Drink in die Empfangshalle ein. Die Mädchen sind, so glaube ich, hier in besten Händen.«
Als Holmes in Begleitung des Ehepaares Harrison und Miss Reynolds sowie den beiden Mädchen den Raum verließ, nickte ihnen die für ihr Alter bemerkenswert attraktive Bibliothekarin freundlich zu.
»Ihre Frage nach dem Grund für die Reise ist nicht ganz leicht zu beantworten. Sie berührt ein Thema, das uns sehr beschäftigt, Mr. Harrison und mich. Ich verlor meinen ersten Mann beim Untergang der Titanic. Mit Raymond bin ich seit einem Jahr verheiratet. Er adoptierte Alice.«
»Das Mädchen ist stumm«, stellte Sherlock Holmes fest.
»Seit der Schiffskatastrophe spricht sie nicht mehr. Und wir … eigentlich war es die Idee meines Mannes … dachten …«
»Ich schlug Sarah vor, die Reise zu wiederholen, als ich von dieser Gedenkfahrt las«, sagte Mr. Harrison. »Vielleicht können Erinnerungen in Alice geweckt werden, die es uns ermöglichen, den Grund für ihre Aphasie zu verstehen und ihr zu helfen, sie zu überwinden.«
»Sie sind Arzt?«
»Nervenarzt. Es gelang mir auch, den Kontakt mit Miss Reynolds herzustellen, mit deren Tochter Christine unsere Alice während der Unglücksfahrt in ständigem, engem Kontakt gestanden hatte. Miss Reynolds war so freundlich, die Reise mit uns gemeinsam anzutreten, obwohl dadurch auch für sie unangenehme Erinnerungen geweckt werden.«
»Der Hauptgrund Ihrer Reise, Mrs. Reynolds, ist es also, Alice und ihren Eltern zu helfen?«, wandte sich Holmes an die Angesprochene.
Nach einer Pause des Nachdenkens sagte die Schauspielerin: »Es ist einer der Gründe, ja. Ich nutze die Reise aber auch beruflich. Ich habe ein zweimonatiges Engagement in New York.«
»Als Schauspielerin?«
»So ist es. Am Candler Theater. Ich reise gemeinsam mit einem Kollegen.«
»Wo hält sich Ihr Kollege auf, Mrs. Reynolds?«
»Eigentlich Miss Reynolds. Ich war nie verheiratet.« Nach einer Pause setzte sie fort: »Mein Kollege reist dritter Klasse. Mr. und Mrs. Harrison haben mir die Reise erster Klasse ermöglicht. Ich bin ihnen für die Unterstützung sehr dankbar.«
»Ich hoffe, dass alle Ihre Absichten für diese Reise, sofern sie nicht anderen Menschen schaden, in Erfüllung gehen«, schloss Sherlock Holmes das Gespräch.
Mr. und Mrs. Harrison bedankten sich für diesen Wunsch. Miss Reynolds jedoch war sehr ernst geworden und blickte lange forschend in seine unergründlichen grauen Augen.
Sie ist eine gute Schauspielerin, dachte Holmes. Sie beherrscht die Kunst des Timings, eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Schauspielkunst. Sie setzt verschiedene Geschwindigkeiten des Handelns und eine Abfolge von Reden und Schweigen durchaus wirkungsvoll ein.
Beim großen Abendessen um sieben Uhr waren wieder alle vollzählig versammelt. Mrs. Oldman-Smythe war etwas stiller an diesem Abend. Sie machte Holmes darauf aufmerksam, dass sie den merkwürdigen Fremden wieder gesehen hatte, wie er die Gänge entlang gehuscht sei, verstohlen wie ein Dieb.
»Auch ich habe ihn beobachtet«, sagte Sherlock Holmes.
»Und? Haben Sie ihn verhört, ihn festgenommen, seine Kabine durchsuchen lassen?«, fragte die Malerin und verschluckte sich beinahe an einem Stück Heilbutt in Fenchelsauce. Dr. Watson kam der voluminösen Frau zu Hilfe, indem er sie aufforderte, beide Arme in die Höhe zu strecken, und ihr dann leicht auf den Rücken klopfte. Ein warmer, dankbarer Blick der Malerin und Wahrsagerin streifte Watson. Den Detektiv strafte sie mit einem bösen Blick, als er ihr knapp mitteilte, er werde sich des Mannes annehmen.
»Und wenn das Collier nicht über Bord gegangen ist, werde ich es finden.«
Das Orchester spielte Melodien aus Mozarts Zauberflöte, jener Oper, in der das Schweigen von besonderer Bedeutung war. Am Ende des Mahls verkündete der Dirigent des kleinen Bordorchesters, man lade alle Musikinteressierten herzlich zu einer konzertanten Aufführung der Zauberflöte in die Empfangshalle ein.
»Nach einer kurzen Einführung in den Inhalt der Oper werden Ms. Valentina Cologna und Mr. Fredrick Frenton, zwei hervorragende Sänger, begleitet von den Herren des Orchesters, Arien aus dieser humorvollen Oper zum Besten geben. Zum Abschluss der Aufführung, gegen halb zwölf Uhr, wird Champagner gereicht. Ich hoffe in meinem Namen und im Namen der Sänger und Musiker, dass Sie Interesse an dieser Veranstaltung haben.«
Holmes, den die Musik Mozarts an eine Dame seiner Vergangenheit erinnerte, nämlich an die Opernsängerin Irene Adler, war fest entschlossen, durchzuhalten, obwohl ihm die Seeluft gehörig zusetzte und er schon ziemlich müde war.
Dr. Watson konnte ebenfalls die Augen kaum mehr offen halten, er folgte aber Sherlock Holmes und war gewillt, weiter an seiner Seite auszuharren.
»Mrs. Watson lässt Sie grüßen«, sagte er zu Holmes.
»Soso. Und über welches technische Medium soll ihr das gelungen sein?« Holmes gab sich skeptisch.
»Über Funk natürlich. Per Telegramm. Zuerst von mir, dann die Antwort von Elsa. Der Funker, vor dessen Arbeitsplatz übrigens eine lange Schlange von Passagieren wartete, erzählte mir von den großen Fortschritten in der Nachrichtentechnik seit dem Jahr 1912. Die Grußbotschaften der Passagiere behinderten damals die eingehenden Warnungen vor Eisbergen. Der Funker versicherte mir, dass diese Fehlerquelle nun ausgeschaltet sei und dass es auf der Olympic ein eigenes System für die Passagiere gebe.«
»Lassen Sie Mrs. Watson von mir grüßen. Ich freue mich auf ein Wiedersehen auf meiner Heimfahrt in die South Downs. Falls ich diese je antreten werde.«
»Was meinen Sie damit, Holmes?«, erkundigte sich Watson erschrocken.
»Unsere Gegner werden sich soeben ihrer schwierigen, wenn nicht gar aussichtslosen Lage bewusst. Sie spüren den Bluthund, … ach entschuldigen Sie, Watson, die beiden Bluthunde, auf ihrer Spur und werden alles unternehmen, uns auszuschalten. Aber wir sind besser als die Gegner und werden triumphieren. Nicht wahr, Doktor?«
»Das hoffe ich doch sehr.«
Bald prangt, den Morgen zu verkünden,
Die Sonn' auf goldner Bahn –
Bald soll der finstre Irrwahn schwinden,
Bald siegt der weise Mann. –
O holde Ruhe, steig hernieder;
Kehr in der Menschen Herzen wieder;
Dann ist die Erd' ein Himmelreich,
Und Sterbliche den Göttern gleich. –
Als das Konzert gegen Mitternacht endete und John Watson sich in seine Kabine zurückgezogen hatte, begab sich Holmes noch auf das Promenadendeck. Der Himmel war klar, die Sterne leuchteten, der Mond nahm zu. Das Meer war so ruhig, dass sich das Licht des Mondes und der größeren Sterne darin spiegelte, in einer riesigen grauschwarzen, schimmernden Fläche, die den Detektiv an den Glanz von Mrs. Oldman-Smythes Diamanten erinnerte.
Ein Schrei, ein fürchterlicher Schrei, riss Holmes aus seiner Betrachtung. Mrs. Farland, die Witwe, die Bruce Ismay mit ihrem Zorn verfolgte, stürmte auf den Detektiv zu.
»Ich habe … ich habe einen Geist gesehen! Und sagen Sie nicht, dass ich wahnsinnig werde. Er stand vor mir so wie Sie jetzt, Mr. Holmes.«
»Beschreiben Sie die Erscheinung, Mrs. Farland.«
»Was gibt es da zu beschreiben. Er war es!«
»Wer?«
»Der Journalist. Mr. Conolly. Er kam mir entgegen, als ich meine Kabine aufsuchen wollte.«
»Glauben Sie an Geister, an Wesen, die noch nicht ins Jenseits eingegangen sind, die in einer Zwischenwelt hausen, bis Sie Ruhe finden?«
»Bisher nicht, Mr. Holmes. Obwohl …«
»Ja, Mrs. Farland?«
»Obwohl mir, seitdem ich mich auf diesem Schiff befinde, immer wieder mein Mann erscheint. Im Traum, als ob er leben würde. Ich bin so glücklich, ihn zu sehen. Und dann erwache ich und bin allein. Allein mit meinem Kummer und dem Hass auf mich selbst, dass es mir nicht gelungen ist, ihn an Bord des Rettungsbootes zu bringen, oder dieses zu verlassen und mit ihm gemeinsam zu sterben.«
»Wir alle sind keine Götter, die in jedem Augenblick ihres Lebens das Richtige tun«, sagte Holmes. »Und wenn wir die Unvollkommenheit der Welt betrachten, kommen uns selbst in Bezug der Unfehlbarkeit der Götter Zweifel. Erhebliche Zweifel.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Holmes. Ihre Worte trösten. Es ist nicht leicht, alles allein bewältigen zu müssen.«
»Sehen Sie, Mrs. Farland, genau das ist es, was Ihnen diese Reise aufzeigt.«
»Was, Mr. Holmes?«
»Ich wiederhole Ihre Worte: Es ist nicht leicht, alles allein bewältigen zu müssen. Ich füge hinzu: Es ist nicht gut. Und es ist nicht gut, wenn Wut und Zorn die einzigen Gefühle im Leben einer Frau sind.«
»Ich werde darüber nachdenken. Danke!«, verabschiedete sich die trotz ihrer neunundfünfzig Jahre noch jugendlich wirkende Frau.
Den Vormittag des dritten Tages an Bord der Olympic verbrachte Holmes wieder in der Bibliothek, beschäftigt mit der Lektüre der Bordzeitung, die täglich neu gedruckt wurde.
Sie enthielt einen Überblick über das Weltgeschehen und Berichte über vergangene und künftige Ereignisse an Bord des Schiffes. Der Tod von Robert Conolly und der Verlust von Mrs. Oldman-Smythes Collier wurden nicht erwähnt. Sehr wohl aber enthielt die Zeitung eine Aufstellung der Passagiere, die an diesem Montag, dem 12. April, Geburtstag hatten, ohne Erwähnung des Alters, versteht sich.
Für den Nachmittag war eine Vernissage mit dem Titel Stimmungen der See von Mrs. Oldman-Smythe angekündigt, die um 15 Uhr vom Kapitän persönlich im Rauchsalon eröffnet werden sollte. Die Bibliothek war wiederum nur spärlich besucht. Außer Holmes waren noch drei Männer und zwei Frauen anwesend, und die beiden Mädchen Alice und Christine, dieses Mal ohne ihre Mütter. Sie saßen an einem der Tische, jede in ein Buch vertieft. Dicke Tränen liefen über Alices Wangen.
Holmes erhob sich aus seinem Ledersessel und begab sich zu der attraktiven Miss Ronstead, der etwa 60-jährigen Bibliothekarin mit den dunkelrot gemalten Lippen.
»Es ist nötig, mit den Mädchen zu sprechen. Aus verschiedenen Gründen. Ich werde flüstern und ersuche Sie höflich, nicht einzugreifen.«
Miss Ronstead schaute Holmes erstaunt an. »In diesem Fall werde ich mich für einige Zeit entfernen. Was Sie in dieser Viertelstunde hier machen, soll mein Problem nicht sein.«
»Ich danke Ihnen sehr.«
»Keine Ursache. Ich habe erfahren, wer Sie sind und dass Sie von Ihrem Biographen John Watson begleitet werden. Ich liebe seine Bücher, die über Ihre Fälle berichten. Ich habe alle in der Bibliothek aufgestellt. Denken Sie, es ist möglich, einen Leseabend zu veranstalten, bei dem Dr. Watson oder Sie, Mr. Holmes, aus den Büchern vorlesen?«
»Auf der Rückreise, Miss Ronstead, falls es uns vergönnt ist, diese anzutreten.«
»Ihr Wort?«
»Mein Wort.«
»Gut, dann überlasse ich Ihnen mein Reich für einige Zeit zu treuen Händen.«
Holmes begab sich zu den beiden Mädchen und stellte sich als der Detektiv Sherlock Holmes vor.
»Wenn ihr Sorgen oder Wünsche habt, wenn ihr ein Rätsel gelöst haben wollt, wendet euch an mich. Ich arbeite kostenlos für euch.«
Alice Harrison hob stumm ihren Kopf und wischte sich die Tränen von den Augen.
»Wer hat die Kette der komischen Malerin gestohlen?«, fragte Christine Reynolds.
»Ich bin der Täterin, oder dem Täter, auf der Spur. Ich glaube, dieses Rätsel wird bald gelöst.«