175561.fb2 Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

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DER STILLE JUNGE UND DAS STUMME MÄDCHEN

Als Holmes und Conolly den Rauchsalon betraten, klimperte ein Mann am Klavier Irving Berlins Play a Simple Melody. Der Journalist bot Holmes eine seiner Bradley-Zigaretten an, der Detektiv revanchierte sich, indem er den Steward zwei Gläser Amontillado bringen ließ.

Einige Passagiere blickten durch die großen Fenster auf das Meer. An einem der Tische saß eine elegante Dame um die vierzig, mit einem Collier, an dem ein funkelnder dunkler Stein hing. Sie mischte Spielkarten.

Holmes trat an sie heran. »Mrs. Oldman-Smythe, wenn ich nicht irre. Mein Name ist Sherlock Holmes. Weiterhin möchte ich meinen Reisebegleiter vorstellen, Mr. Robert Conolly, ein Journalist.«

»Ihre Namen sind mir bekannt, meine Herren. Es ist mir eine große Ehre, Sie kennenzulernen. Nehmen Sie doch Platz, wenn Sie an einem Blick in die Zukunft interessiert sind.«

»Sie können in die Zukunft blicken, Mrs. Oldman-Smythe?«, fragte Holmes lächelnd.

»Meine Karten können das. Sie wussten auch Bescheid, was auf der letzten Reise geschehen würde.«

»Sie meinen die Reise mit der Titanic, Madam?«

»So ist es. Ich warnte die Menschen um mich herum.«

»Und nahmen dennoch selbst daran teil.«

»Die Karten«, meinte Mrs. Oldman, »warnten in erster Linie Männer.«

»Frauen und Kinder zuerst, nicht wahr?«

»Sie wollten nicht einmal einen dreizehnjährigen Jungen in das Rettungsboot zu seiner Mutter kommen lassen, weil sie ihn als Mann betrachteten. Dabei war das Boot erst halb voll.« Mrs. Oldman-Smythe bedeckte ihre Augen mit der rechten Hand, als ob sie dadurch die belastende Erinnerung ausblenden könnte.

»Was bringt Sie dazu, die Reise zu wiederholen?«

»Ein Grund ist, dass ich in die Staaten reisen muss. Und als ich in der Zeitung von der Gedenkreise las, war mir sofort klar, dass ich teilnehmen musste. Ich habe mit einigem, was damals geschah, noch nicht abgeschlossen. Aber nun zu den Karten. Was fragen wir sie?«

»Ich überlasse das ganz Ihnen, Madam«, meinte Holmes.

»Gut. Das ist sehr gut so.«

»Und Sie verraten uns Ihre Frage an das Spiel?«

»Nein. Das bleibt mein Geheimnis. Die Antwort aber betrifft auch Sie, meine Herren.«

Mrs. Oldman-Smythe begann acht Karten in Form eines X auf den Tisch zu legen. »Das Mahaf-Kreuz.«

»Mahaf, der Fährmann des Himmels, der die Seelen der Toten auf einem Boot aus Papyrus durch stürmische Gewässer in die Unterwelt führt«, ergänzte Holmes.

Mrs. Oldman-Smythe blickte überrascht von ihren Karten auf und sagte zu dem Detektiv: »Ich bewundere Männer mit Bildung. Eine ausgesprochene Rarität in unseren Tagen. Sie wissen natürlich auch, mit welchen Karten ich in unsere Zukunft blicke.«

Holmes nickte und die Frau, aus deren dunklem Haar vereinzelt weiße Strähnen leuchteten, fuhr fort: »Ich arbeite mit dem Pierpont-Morgan-Bergamo-Tarocchi, das auf das 15. Jahrhundert zurückgeht.«

»Pierpont Morgan. Der Name des amerikanischen Eigentümers der White Star Line«, wandte Holmes ein.

»Er, und nun sein Sohn, bewahren das Original dieses Spiels in ihrer Bibliothek in New York auf.«

»Sie kannten den Vater?«

»Nicht persönlich. Ich warnte ihn brieflich davor, die Titanic zu betreten.«

»Und er gehorchte Ihnen.«

»Zu seinem Glück und Wohl.«

»Er überlebte das Unglück nicht lange. John Pierpont Morgan starb 1913.«

»Das war damals noch nicht zu erkennen. Und jetzt bitte ich die Herren um absolute Ruhe. Ich muss mich konzentrieren.«

Mrs. Oldman-Smythe betrachtete schweigend die Karten, lange, dann begann sie unsicher: »Ich kann nichts erkennen. Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich spüre nichts. Eine lähmende Stille liegt über allem. Eine Stille, die alles Leben erstickt. Es ist kalt, sehr kalt. Still und kalt wie am 14. April 1912, als die Titanic sank und sich die Menschen schweigend ihrem Schicksal ergaben. Das Schweigen breitet sich als tödlicher Nebel aus, der in mich dringt, mir den Atem nimmt. Etwas greift nach mir, greift nach meinem Collier, greift nach meinem Leben. O Gott!«

Mrs. Oldman-Smythe begann hustend nach Luft zu ringen. »Entschuldigen Sie!« Mit heftigen Handbewegungen sammelte sie die Karten ein und verließ überstürzt den Raum.

»Sie trägt ein sehr wertvolles Schmuckstück. Einen schwarzen Diamanten aus Südafrika«, sagte Holmes zu Conolly, der ihn überrascht anschaute.

Eine Weile blickte der Detektiv versonnen vor sich hin. »Ich werde Mrs. Oldman-Smythe und eine Reihe anderer interessanter Passagiere zum Abendessen an unseren Tisch bitten.«

Der Speisesaal der ersten Klasse war spärlich besetzt. Wie auf der Titanic war die Halle mit Mahagoniholz getäfelt, das elfgängige Mahl wurde auf polnischem Porzellan serviert.

Holmes hatte sieben weitere Passagiere gebeten, das Abendessen mit ihm und Conolly einzunehmen. Conolly war auffallend bleich an diesem Abend. Der Journalist griff immer wieder zu einer Pillenschachtel.

»Ihr Magen rebelliert gegen die ungewohnte Bewegung des Schiffes?«, erkundigte sich Holmes bei ihm.

»Mit den Tabletten geht es einigermaßen. Ich werde mich aber davor hüten, allzu viel zu speisen«, erwiderte dieser und spülte eine weitere Pille mit Mineralwasser hinunter.

Mrs. Oldman-Smythe trug ihr Collier und ein Abendkleid aus dunkelblauem Brokat. Gegenüber von Joseph Bruce Ismay hatte Mrs. Hilda Farland Platz genommen, eine unscheinbare Frau Anfang Sechzig in einem dunkelgrauen Kostüm. Sie fixierte den Miteigentümer der White Star Line mit bösen, kalten Augen.

Mr. Ismay war aufgestanden, um Linda Hornby, die 22-jährige Schwester von John Pierpont Morgan jun., seinem amerikanischen Geschäftspartner, und ihren Mann Graham zu begrüßen. Die beiden hatten in der Vorwoche in London geheiratet und befanden sich nun auf der Hochzeitsreise nach New York.

»Ich hoffe, ich kann den Sohn des Konkurrenten mit unserer Olympic einigermaßen beeindrucken«, sagte Bruce Ismay an Graham Hornby gewandt.

»Mr. Hornbys Vater hat auch mit der Schifffahrt zu tun?«, erkundigte sich Sherlock Holmes interessiert.

»Ihm gehört die Northern Steamships Ltd. Mit der Hochzeit zwischen Pierpont Morgans Tochter und Hornbys Sohn haben sich nicht nur zwei wunderbare junge Menschen gefunden. Es sind sich damit auch zwei große Unternehmen näher gekommen.«

»Gewäsch! Elendes, verlogenes Gerede!«, unterbrach Mrs. Farland die Ansprache von Bruce Ismay, der verwundert aufblickte.

»Sie haben den Tod meines Mannes auf dem Gewissen, Sie, Mr. Ismay und all Ihre Verbündeten. Und das aus niedrigsten Beweggründen, wie ich den Zeitungen entnahm. Ich werde dafür sorgen, dass Sie auf diesem Schiff keine ruhige Minute haben.«

»Ich versichere Ihnen, dass Ihre Anschuldigung zu Unrecht erfolgt. Ich habe Mr. Holmes gebeten, zu ermitteln, ohne Rücksicht auf irgendjemanden. Und Sie werden eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages erkennen, dass ich von dem furchtbaren Ereignis mindestens so getroffen bin wie Sie, Madam. Ich verlor einige meiner engsten Mitarbeiter auf jener Reise.«

»Aber Sie selbst leben.«

»Ich mache mir das immer wieder zum Vorwurf. Es war ein merkwürdiger Zufall, dass ich in das Rettungsboot gelangte. Ich weiß …«

»Mit Verlaub, Mrs. Farland«, wandte sich Sherlock Holmes an die verbitterte Witwe, »ich denke, wir sollten niemandem die Tatsache, dass er nicht in den eisigen Fluten umgekommen ist, zum Vorwurf machen. Auch Sie leben noch.«

»Und das ist manchmal schwer genug. Sie entschuldigen mich bitte«, sagte Hilda Farland und verließ den Tisch.

»Man kann von Glück reden, dass man das nicht miterleben musste«, sagte der achte Gast am Tisch. Es handelte sich dabei um den etwa 30-jährigen Assistenten von James R. Faber, um Mr. John Hatter, den Holmes bereits im Office der Royal-Maritime-Versicherung kennengelernt hatte.

»Mein Chef hat Interesse daran, dass ich das Ergebnis Ihrer Ermittlungen verfolge, Mr. Holmes. Zudem bedeutet die Reise eine willkommene Abwechslung in meinem Leben«, erklärte John Hatter dem Detektiv gegenüber seine Anwesenheit an Bord der Olympic.

Am Nebentisch fielen Holmes zwei kleine Mädchen auf. Die quirlige, etwa zehn Jahre alte Christine Reynolds und die im Gegensatz zu ihr stets ruhige und ernste Alice Harrison. Beide Mädchen und ihre Mütter hatten sich an Bord der Titanic befunden. Sie waren Halbwaisen, ihre Väter waren bei dem Unglück ums Leben gekommen. Mit Interesse beobachtete Holmes, auf welch merkwürdige Art sich Alice mit ihrer Mutter und deren Begleiter, einem Mann Anfang Vierzig, verständigte.

Alice nickte, wenn man mit ihr sprach, oder sie schüttelte verneinend den Kopf. Manchmal schrieb sie etwas auf einen Notizblock und reichte diesen den Erwachsenen, die mit ihr redeten. Sie selbst sprach kein einziges Wort.

»Die Mumie trägt Schuld am Fluch der Titanic. Ich weiß es aus den Karten«, beendete Mrs. Oldman-Smythe eine längere Erzählung.

»Sie erwähnten den Namen William Thomas Stead, Mrs. Smythe«, schaltete sich Robert Conolly in das Gespräch ein.

»Oldman-Smythe«, verbesserte ihn die Wahrsagerin.

Holmes, dem ein Dessertlöffel entglitten war und der sich unter den Tisch gebeugt hatte, um ihn aufzuheben, sah, dass Mrs. Oldman-Smythe körperlichen Kontakt mit dem Bräutigam von Pierpont Morgans Tochter hatte. Mit ihrem rechten Fuß berührte sie den linken Schuh von Graham Hornby. Linda Hornby bemerkte von alldem nichts, denn sie aß mit Genuss von der Gänsestopfleber und lauschte gebannt der Geschichte, welche die Wahrsagerin erzählte.

»Sie erwähnten den Namen William Thomas Stead, Madam«, wiederholte der Journalist. »Ich finde das so bemerkenswert, weil er ein Kollege von mir ist, beziehungsweise war. Er arbeitete wie ich für die Pall Mall Gazette und …«

»Das ist alles sehr interessant, junger Mann. Lassen Sie mich dennoch fortfahren«, unterbrach ihn Mrs. Oldman-Smythe, die nun ihre Stimme etwas verstärkt hatte, um sich gegen die Weisen durchzusetzen, die die Bordkapelle zur Unterhaltung der Speisenden angestimmt hatte. Das Orchester spielte in voller Lautstärke Elgars Land of Hope and Glory.

Holmes' spezielles Interesse galt der enormen Fingerfertigkeit des Mannes, der auf der Violine spielte, so dass er nicht ganz bei der Sache war, als Mrs. Oldman-Smythe ihre Geschichte vom Fluch der Titanic fortsetzte.

»Durch seine Rücksichtslosigkeit brachte der Mann den Fluch über die Passagiere der Titanic.«

»Ich möchte William Stead verteidigen. Auch wenn er tatsächlich die Mumie an Bord der Titanic gebracht hat«, sagte schließlich Mr. Conolly.

»Daran besteht wohl kein Zweifel. Er hatte den mumifizierten Körper der Prinzessin Amen-Ra in seinem Kraftwagen verborgen, der im Laderaum des Schiffes untergebracht war. Das British Museum war froh, das gespenstische Objekt, in dessen Venen sich noch Blut befand, endlich loszuwerden. Menschen, die längere Zeit in dem Raum des Museums verweilten, in dem die Mumie ausgestellt war, begannen unter mysteriösen gesundheitlichen Problemen zu leiden. Sie bluteten aus Mund und Nase.«

»Wie alt, sagten Sie, war diese Prinzessin?«, fragte Holmes.

»Ich erwähnte ihr Alter bisher noch nicht.«

Dazu, dachte Holmes, war Madame wohl zu sehr beschäftigt.

Immerhin hatte Graham Hornbys Kopf mittlerweile eine ungesunde rote Färbung angenommen. Ein Umstand, der auch John Hatter nicht entgangen war. Auch Mr. Hatter war, als ihm eine Serviette heruntergefallen war, kurz unter die Tischdecke abgetaucht. Das Orchester spielte ein Medley fröhlicher Shanties, als der nächste Gang des Abendessens, gebratene Wildmedaillons in Cranberry Sauce mit Kartoffelkroketten, aufgetragen wurde.

»Die Mumie stammte, eigentlich stammt, aus dem 11. Jahrhundert vor Christi Geburt.« »Sie ist nicht mit ihrem Eigentümer und dessen Auto untergegangen?«, fragte Holmes.

»Nein. Und das ist das Erschreckende«, flüsterte Mrs. Oldman-Smythe. »Ich sah sie vom Rettungsboot aus, auf dem Wasser treibend, umgeben von einer roten Flüssigkeit, die wie Blut wirkte.«

Robert Conolly war der Nächste, der sich entschuldigte und den Tisch verließ. Ihm schienen seine Tabletten gegen Reisekrankheit nicht mehr zu helfen. Er war sehr bleich geworden.

»Von einer Mumie, die angeblich Unglück über das Schiff brachte, ist uns nichts bekannt«, meldete sich Bruce Ismay zu Wort. »Die RMS Titanic transportierte eine Fracht von beinahe 600 Tonnen, darunter die Verpflegung für die Passagiere. Und natürlich Briefe, Pakete. RMS steht ja für Royal-Mail-Ship. Zudem wurden für diverse Firmen Maschinen, Tücher, Filme, Bücher und Zeitschriften transportiert, in einem Gesamtwert von 420.000 US-Dollars.« »Also keine Mumie?«, versicherte sich Holmes.

»Definitiv nicht. Richtig ist, dass der Journalist einen Wagen an Bord hatte, einen Albion 15.«

»Sehen Sie«, meldete sich die Wahrsagerin zu Wort. »Sie sagen es selbst. In diesem Wagen war die Mumie verborgen. Ich habe den Fluch sozusagen am eigenen Leib verspürt. Mein Diamant, ursprünglich weiß, wurde schwarz, nachdem ich die blutende Schreckensgestalt auf der See treiben sah.«

»Eine interessante Geschichte«, meinte John Hatter etwas skeptisch. »Durch den Fluch wurde also das Collier um einiges wertvoller.«

»Sie sagen es. Aber nun muss ich mich wirklich zurückziehen. Die Pflicht ruft. Und die heißt bei mir Kunst.«

»Sie sind Malerin, Mrs. Oldman-Smythe«, stellte Holmes fest.

»Endlich jemand, dem mein Name ein Begriff ist. Sie sind ein gebildeter Mann, Mr. Holmes.«

Dieser lächelte still vor sich hin. Er hatte von den Farbresten unter Mrs. Oldman-Smythes' ansonsten perfekt gepflegten Fingernägeln auf ihre Beschäftigung geschlossen.

»Ich male Stimmungen der See. Das war auch der Grund, warum ich mich auf der Titanic befand. Leider sind alle Bilder, die ich damals schuf, ein Raub der See geworden. Ich hoffe doch sehr, dass die Reise dieses Mal anders verläuft. Ich werde jedenfalls früh aufstehen. Morgenstimmungen, wenn die ersten Sonnenstrahlen auf dem Meer auftreffen, gehören zu den ergreifendsten Momenten eines Künstlerlebens.«

Nach dem Abgang der Malerin war es beinahe still an der Tafel.

Im Anschluss an das Mahl lauschte der Detektiv bei einem Glas Whisky den Klängen der Bordmusiker.

Christine, das Mädchen vom Nebentisch, kam in den Saal gelaufen und rief ihrer Mutter zu: »Kabine 23-C. Sie wohnt auf 23-C.«

»Nicht so laut, Kleines! Ich denke, es ist Zeit, dass du ins Bett kommst. Du bist selten so lange auf.«

»Ja, sonst«, erwiderte Christine. »Alice ist auch noch auf. Und die ist um ein Jahr jünger als ich.«

»Mit Alice ist das etwas anderes. Sie ist krank«, entgegnete ihre Mutter und erhob sich vom Tisch. »Du kannst noch bei ihr bleiben. In einer halben Stunde aber kommst du in unsere Kabine. Du kennst den Weg.«

Zurück blieben die blonde Christine, die dunkelhaarige Alice mit ihrer Mutter und deren Begleiter.

Die Mädchen zogen sich an einen leer gewordenen Tisch zurück, wo sie in einem Buch lasen. Christine las Alice aus A. E. Learys Der stille Junge vor.

Peter war durchaus kein stiller Junge in jenen Tagen, in denen unsere Erzählung beginnt. Er tollte mit seinen Freunden und Freundinnen durch den großen Garten, der dem mächtigen Herrn gehörte, den sie noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten. Immer nur hörten oder lasen sie von ihm. Und was sie von ihm hörten oder lasen, war gut. Der Herr, dem all das gehörte, war nicht nur sehr mächtig, er war auch gütig und weise.

Die Kinder glaubten das, denn es fehlte ihnen an nichts in diesem Garten. Es gab genug zu essen, sie konnten schreiben, lesen und rechnen, obwohl es keine Schule gab, sie spielten den ganzen Tag. Eigentlich war ihnen alles erlaubt. Mit einer Ausnahme. Sie durften sich der alten Eiche in der Mitte des Gartens nicht nähern. Das hatte ihnen zwar niemand ausdrücklich verboten, denn es gab keine Verbote im Garten des mächtigen Mannes, doch hatten sie davon gehört und gelesen. In der alten Eiche, die so alt sein mochte wie der Garten selbst, hause ein böser Geist, hieß es. Und dieser Geist dürfe nicht geweckt werden. An manchen Tagen entfernte sich Peter von den anderen Kindern, näherte sich der Eiche und betrachtete ihr schütteres Laubwerk, durch das alte, abgestorbene Äste zu erkennen waren.

Der Baum war nicht böse, dachte Peter, er war nur alt. Sehr alt. So wie der Herr, dem dieser Garten gehörte.

Und er beschloss, eines Tages auf den Baum zu klettern und ihn zu befragen.

Die Weisen, die das Bordorchester spielte, vermischten sich mit der hellen Stimme des Mädchens, das vorlas.

Der Detektiv betrachtete die beiden in das Buch vertieften Mädchen und lächelte. Eine merkwürdige Erzählung, die die Mädchen da lesen, fand er.

Er hörte, wie Mrs. Harrison zu ihrem Begleiter sagte: »Alice ist glücklich, wieder bei Christine zu sein.«

»Die Wiederholung der Reise im bekannten Umfeld ist wichtig für sie«, meinte dieser.

»Du denkst, sie wird wieder reden können?«

»Eines Tages sicherlich. Mir ist noch nicht klar, was die Ursache für den Sprachverlust war.«

»Im Rettungsboot hörte sie zu reden auf. Das Chaos muss sie so mitgenommen haben.«

Als sich der Speisesaal geleert hatte und die Kellner die Tische abzuräumen begannen, stellte auch das Orchester mit einem abschließenden Tusch seine Tätigkeit ein. Holmes war angetan von der Qualität der Musiker, besonders vom Talent des Geigers, eines schlanken jungen Mannes, der in einem etwas zu kleinen dunklen Anzug steckte.

Etwas später am Abend hatte man die Aufführung des ersten und bisher einzigen Spielfilms über das Titanic-Unglück angesetzt. In der Bar für die erste Klasse im 6. Geschoss der Olympic zeigte man Gerettet von der Titanic.

Miss Gloria Reynolds, im rosa Abendkleid, mit einer Kette aus falschen weißen Perlen geschmückt, begrüßte aufgeregt die Besucher der Vorführung und drückte jedem einzelnen von ihnen die Hand.

»Sie müssen wissen, dass ich an den Dreharbeiten mitwirken durfte«, flüsterte sie Sherlock Holmes zu. »Meine erste Rolle in einem Film. Weil ich wie die Hauptdarstellerin auf der Titanic war. Auch Christine ist zu sehen. Kurz.«

Als alle Besucher Platz genommen hatten, begrüßte der Zweite Offizier, Mr. Charles Farrard, die anwesende Künstlerin und die sehr geehrten Gäste.

»Mr. Roger Baudry, Student des Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Paris, wird das Geschehen, das in Gerettet von der Titanic gezeigt wird, mit seinem Geigenspiel begleiten. Alle wesentlichen Hinweise sind den Zwischentiteln zu entnehmen, die am Ende der Szenen eingeblendet werden. Die Vorführung dauert etwa zwanzig Minuten. Mrs. Reynolds, die in dem Film eine Freundin der Hauptdarstellerin mimt, war ebenso wie diese selbst Passagier der Titanic. Dasselbe trifft auf ihre Tochter Christine zu, die wegen der vorgerückten Stunde leider nicht anwesend sein kann. Sie hält sich schlafend in der Kabine auf. Die Hauptrolle in diesem teilweise in Farbe gedrehten Film spielt die amerikanische Schauspielerin Dorothy Gibson, der es ein persönliches Anliegen war, dass der Film auf dieser Gedenkfahrt vorgeführt wird. Sie lässt alle Damen und Herren, die sich hier eingefunden haben, grüßen. Ich wünsche Ihnen im Namen des Kapitäns und der gesamten Mannschaft interessante zwanzig Minuten.«

Das Licht erlosch, und auf der Leinwand erschien das ernste Gesicht einer jungen Frau in Großaufnahme. Sie bewegte unablässig den Mund, die Augen waren vor Schreck geweitet. Die eingeblendete Schrift verdeutlichte, dass Miss Dorothy ihrem Verlobten und ihren Eltern vom Untergang der Titanic erzählte, dem sie entronnen war.

Zum Glück, wie Holmes fand, kümmerte sich Monsieur Baudry kaum um das turbulente Geschehen auf der Leinwand. Er spielte in aller Ruhe Johann Sebastian Bachs Sonate No. 1 in g-Moll für Violine solo. Eine Rückblende zeigte die Heldin an Bord des Schiffes inmitten aufgeregter, Hände ringender Menschen. Ein leeres Rettungsboot wartete auf sie und weitere Passagiere. Aber keiner wollte es betreten.

Die Dramatik des Geschehens steigerte sich. Die Titanic geriet immer mehr in Schräglage, Miss Gibson wurde gegen die Reling gedrückt und sprang schließlich in das Letzte der Rettungsboote, die zu Wasser gelassen wurden. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin, dargestellt von Gloria Reynolds, die von ihrer kleinen Tochter Christine begleitet wurde. Das Boot glitt in die dunkle Weite des Ozeans.

Dann war die Schauspielerin wieder im Kreise ihrer Familie zu sehen. Vater und Mutter redeten heftig auf die Tochter ein. Die eingeblendeten Schrifttafeln zeigten, was sie ihr mitteilen wollten: »Du darfst diesen Mann nicht heiraten. Er ist ein Seemann. Sein Beruf ist zu gefährlich. Zu tückisch ist das Meer.«

»Ich werde ihn heiraten, trotz allem und ihm eine gute Frau sein. Ich liebe ihn und er liebt mich«, sagte die Schauspielerin am Schluss und fiel ihrem bärtigen Verlobten um den Hals.

Holmes, der die gesamte Filmvorführung unter der schlechten technischen und schauspielerischen Qualität des Streifens Qualen litt, hatte bereits nach der ersten Szene die Augen geschlossen und sich auf die Musik Bachs konzentriert.

Wenn er eine Vorhersage mit Sicherheit machen konnte, dachte der Detektiv, so war es diejenige, dass wohl dieser Kuriosität, die sich Film nannte, keine nennenswerte Zukunft beschieden sein würde. Eine Zumutung der Sonderklasse, so etwas!

Als sich am Ende der Vorstellung Mrs. Reynolds vor den Zuschauern verbeugte, verzichtete er auf Applaus, den er dem begleitenden Musiker umso begeisterter spendete. Schließlich ging er auf den jungen Violinspieler zu und stellte sich vor.

»Ich habe eine ungewöhnliche Bitte an Sie, Monsieur«, sagte der Detektiv. »Ich selbst bin leidenschaftlicher Geigenspieler. Wäre es möglich, mir heute Abend, gegen eine entsprechende Entschädigung, Ihr Musikinstrument leihweise zu überlassen?«

»Kein Problem. Das lässt sich machen.«

Holmes drückte dem anfangs widerstrebenden Mann eine Fünf-Pfund-Note in die Hand und ging, um mit seinem Spiel niemanden in der Nachtruhe zu stören, die Treppen hoch auf das offene Deck der Olympic. Er stellte sich an die Reling und blickte in die Dunkelheit des späten Abends, während er auf dem Musikinstrument improvisierte. Allmählich fand er die Ruhe, die er schon die ganze Zeit, da er sich an Bord dieses Schiffes befand, fast schmerzhaft herbeigesehnt hatte. Seine Gedanken ordneten sich, er hörte auf zu spielen und blickte nur mehr in die undurchdringlich dunkle Nacht. Kein Laut, nicht der Hauch eines Lautes, war zu vernehmen. Holmes trank die Stille wie kostbaren Wein.

Bei der Rückkehr in seine Suite bemerkte der Detektiv noch Licht im Nebenzimmer, das Robert M. Conolly bewohnte. Holmes klopfte an die Tür und vernahm eine ächzende Antwort. »Es geht mir nicht gut.«

»Die Seekrankheit?«

»Es ist mehr als das«, sagte der Journalist schwach.

»Was fehlt Ihnen, Conolly?«

»Ich fühle mich elend, schwach, zittrig, dem Tod nahe. Ich blute aus Mund und Nase …«

»Sie geben mir alle Tabletten, die Sie bei sich haben und legen sich sofort hin. Ich werde das Zeug untersuchen.«

»Sie meinen …«

»Ich vermute, dass man Sie wie Morgan Robertson und Ihren Kollegen Evans beseitigen will. Und ich habe eine leise Ahnung, auf welche Weise.«

Holmes nahm zwei Pillenschachteln entgegen.

»Ich habe die Tabletten von Miriam, meiner Freundin. Die sind in Ordnung«, sagte der Journalist. »Ich brauche dringend ein Mittel gegen die Seekrankheit, sonst …«

»Es ist gut, wenn Sie sich übergeben. Das Gift muss Ihren Körper verlassen.«

Conolly verschloss seinen Mund mit der rechten Hand und eilte in den Waschraum.

Holmes kehrte in sein Zimmer zurück, ließ aber die Tür zum Nebenraum offen, um den Zustand des Journalisten zu überwachen. Er entnahm einem seiner Koffer die Ausrüstung für ein provisorisches Laboratorium und platzierte die Tiegel, Gläser und den Brenner auf dem Tisch. Die Analyse des Inhalts der ersten Schachtel ergab einen leichten, ungefährlichen Anteil von Quecksilbersalz, wie es in vielen Mitteln, besonders solchen, die der Stärkung der Patienten dienten, durchaus üblich war. Die Pillen der zweiten Schachtel enthielten neben Stärke und Zucker eine wesentlich kräftigere Dosis, die aber noch keine gefährlichen Ausmaße annahm.

Quecksilber, überlegte Holmes, hat die Eigenschaft, sich im Körper zu speichern, anzureichern, so dass, wenn man diese Medikamente über einen längeren Zeitraum einnimmt, eines Tages die gefährliche Konzentration erreicht, die zu Blutungen führen kann. Eine sehr geschickte Methode, jemanden umzubringen. Niemand würde Verdacht schöpfen, weil die Werte der Medikamente normal waren.

»Die Gefahr liegt in der Regelmäßigkeit der Einnahme dieser Tabletten«, sagte Holmes zu Conolly, der sich in sein Bett gelegt hatte. »Wie geht es Ihnen jetzt?«

»Etwas besser. Ich fühle mich allerdings immer noch sehr schwach.«

»Ich werde einen Arzt kommen lassen, einen verlässlichen Mann, der alles Nötige veranlassen wird.« Bei diesen Worten setzte der Detektiv ein beinahe diabolisches Lächeln auf.