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Jetzt hob Pearson achtunggebietend seine Zigarre. »Ich empfehle«, sagte er zu den Schwestern, »ein paar Worte, die Sie an den Wänden vieler Obduktionsräume finden werden, Ihrer Aufmerksamkeit.« Ihre Blicke folgten seiner Hand zu einem gerahmten Spruch, der von einem geschäftstüchtigen Lieferanten für Laboratoriumsmaterial als Werbegabe geliefert worden war: Mortui vivos docent. Pearson las den lateinischen Text laut vor und übersetzte dann: »Die Toten lehren die Lebenden.« Er blickte wieder auf die Leiche hinunter. »Das wird jetzt geschehen. Dieser Mann starb dem Anschein nach« -er betonte die Worte »dem Anschein nach« - »an Herzthrombose. Die Obduktion wird feststellen, ob das stimmt.«

Damit zog Pearson tief an seiner Zigarre, und Seddons, der wußte, was kam, trat näher. Er selbst war vielleicht nicht mehr als ein Statist bei dieser Szene, aber er hatte nicht die Absicht, einen Auftritt zu verpassen. Als Pearson geräuschvoll eine blaue Rauchwolke von sich stieß, reichte er Seddons die Zigarre, der sie nahm und von dem Obduktionstisch entfernt niederlegte. Jetzt überprüfte Pearson die vor ihm ausgelegten Instrumente und wählte ein Messer. Mit den Augen schätzte er ab, wo er schneiden würde, setzte dann die scharfe Stahlklinge an und schnitt schnell, sauber und tief.

McNeil beobachtete verstohlen die Lernschwestern. Weiche und empfindsame Naturen sollten niemals gezwungen werden, an einer Obduktion teilzunehmen, dachte er. Aber selbst für Erfahrene ist der erste Einschnitt manchmal schwer zu ertragen. Bis zu diesem Punkt hatte die Leiche auf dem Tisch zumindest äußerlich Ähnlichkeit mit einem Lebenden gezeigt. Aber wenn das Messer erst einmal angesetzt wurde, dachte er, ist keine Illusion mehr möglich. Dies ist dann kein Mann, keine Frau, kein Kind mehr, nur noch Fleisch und Knochen, etwas, das einem lebenden Wesen ähnelte, aber kein Leben mehr war. Dies war die letzte Wahrheit, das Ende, das allen bevorstand. Dies war die Erfüllung des Alten Testaments: Aus Staub bist du geschaffen und zu Staub sollst du wieder werden.

Mit dem Können, der Übung und der Schnelligkeit langer Erfahrung begann Pearson die Obduktion mit einem tiefen >Y<Einschnitt. Mit zwei kräftigen Schnitten von jeder Schulter nach unten, die sich am Brustbein trafen, bildete er die obere Gabel des >Y<. Von diesem Punkt schnitt er nach unten und öffnete von der Brust bis zu dem Geschlechtsteil hinunter den Leib. Es gab ein zischendes, fast reißendes Geräusch, als er das Messer durch die Haut zog, sie teilte und die darunterliegende gelbliche Fettschicht bloßlegte.

McNeil, der ständig die Lernschwestern beobachtete, bemerkte, daß zwei totenblaß geworden waren. Eine dritte holte mit offenem Mund tief Luft und wendete sich ab. Die drei anderen sahen stoisch zu. Der Assistenzarzt behielt eine der Blaßgewordenen im Auge. Es war nicht ungewöhnlich, daß eine Schwester bei ihrer ersten Obduktion umkippte. Aber diese sechs sahen so aus, als ob sie durchhalten würden. Bei den zweien, die er beobachtete, kehrte langsam die Farbe zurück, und das dritte Mädchen hatte sich wieder umgedreht, obwohl sie ihr Taschentuch gegen den Mund drückte. Gleichmütig sagte McNeil zu den Schwestern: »Wenn eine von Ihnen für ein paar Augenblicke hinausgehen will, macht es nichts. Das erste Mal ist es immer etwas angreifend.« Sie sahen ihn dankbar an, aber keine rührte sich. McNeil war bekannt, daß manche Pathologen keine Schwestern zu einer Obduktion zuließen, ehe nicht die ersten Schnitte vollzogen waren. Pearson allerdings hielt nichts davon, jemand etwas ersparen zu wollen. Er war der Ansicht, die Lernschwestern sollten die Obduktion von Anfang an mit ansehen, und das war ein Punkt, in dem McNeil ihm zustimmte. Eine Krankenschwester mußte sich an vieles gewöhnen, das schwer zu ertragen war: Verletzungen, zerrissene Glieder, Verwesung, Operationen. Je früher sie lernten, sich mit dem Anblick und den Gerüchen der Medizin abzufinden, desto besser für alle Beteiligten, einschließlich ihrer selbst.

Jetzt zog McNeil seine eigenen Handschuhe über und begann mit Pearson zu arbeiten. Inzwischen hatte der alte Mann mit schnellen Bewegungen die Haut von der Brust gelöst, mit einem größeren Messer von den Muskeln getrennt und die Rippen bloßgelegt. Als nächstes öffnete er mit der scharfen, kräftigen Rippenschere den Brustkorb und legte den Herzbeutel und die Lungen frei. Die Handschuhe, die Instrumente und der Tisch begannen sich jetzt mit Blut zu bedecken. Seddons, auch mit Handschuhen neben ihm am Tisch, durchtrennte die unteren Muskellappen und öffnete die Bauchhöhle. Er ging durch den Raum, um einen Eimer zu holen, und nahm den Magen und die Eingeweide heraus, die er, nachdem er sie kurz betrachtet hatte, in den Eimer legte. Der Gestank begann sich bemerkbar zu machen. Jetzt banden Pearson und Seddons gemeinsam die großen Arterien ab, schnitten sie heraus, damit der Leichenbestatter keine Schwierigkeiten bei der Einbalsamierung hatte. Seddons griff nach einem kleinen Schlauch oberhalb des Tisches, drehte einen Hahn an und begann, das in die Bauchhöhle ausgeflossene Blut abzusaugen, und nach einem Nicken Pearsons tat er das gleiche in der Brusthöhle.

Inzwischen hatte McNeil sich dem Kopf zugewandt. Als erstes vollzog er einen Schnitt um die Schädelbasis. Er setzte unmittelbar hinter dem einen Ohr an und schnitt oberhalb des Haaransatzes hintenherum zum anderen Ohr hinüber, so daß der Schnitt nicht sichtbar war, wenn die Familie des Toten den Verstorbenen zum letzten Mal betrachtete. Dann zog er unter Anwendung aller Kraft seiner Hände die Kopfhaut in einem Stück nach vorn über den Schädel, so daß sie sich über den oberen Teil des Gesichtes legte und die Augen bedeckte. Damit war der ganze Schädel freigelegt, und McNeil griff nach einer kleinen Motorsäge, deren Kabel bereits angeschlossen war. Ehe er den Strom einschaltete, blickte er kurz zu den Lernschwestern hinüber und bemerkte, daß sie ihn mit einer Mischung von ungläubigem Staunen und Entsetzen beobachteten. Immer mit der Ruhe, Kinderchen, dachte er, gleich werdet ihr alles sehen.

Pearson hob behutsam das Herz und die Lungen aus der Brusthöhle, während McNeil die Säge an dem Schädel ansetzte. Das metallische Knirschen, mit dem sich die Stahlzähne des rotierenden Sägeblatts durch den Knochen fraßen, schnitt grausig durch den stillen Raum. Als er aufblickte, sah er, wie das Mädchen mit dem Taschentuch zusammenzuckte. Wenn sie sich übergeben muß, tut sie es hoffentlich nicht hier drin, dachte er. Er schnitt mit der Säge weiter, bis die Schädeldecke ringsum durchtrennt war, legte sie dann fort. George Rinne würde später das Instrument säubern und das Blut davon abwaschen. Jetzt hob McNeil vorsichtig das Schädeldach ab und legte die weiche Hirnhaut frei, die das darunterliegende Gehirn bedeckte. Wieder sah er zu den Schwestern hinüber. Sie hielten tapfer stand. Wenn sie diesen Anblick ertrugen, konnten sie alles ertragen. Nachdem der knochige Teil des Kopfes entfernt war, nahm er eine scharfe Schere und öffnete die große Vene - den Sinus sagittalis superior -, die in der Mitte der Membrane von vorn nach hinten verlief. Das Blut schoß heraus, ergoß sich über die Schere und seine Hand. Es war flüssiges Blut, bemerkte er, zeigte kein Anzeichen einer Thrombose. Sorgfältig prüfte er die Hirnhaut, durchschnitt sie dann und löste sie ab, um die darunterliegende Gehirnmasse freizulegen. Mit einem Messer trennte er das Gehirn sorgfältig vom Rückenmark ab und hob es heraus. Seddons trat zu ihm, hielt ihm ein mit Formalin halb gefülltes Glasgefäß hin, und behutsam ließ McNeil das Gehirn hineingleiten.

Während Seddons McNeil und seinen sicheren und geschickten Händen zusah, überraschte er sich bei der Frage, was im Kopf des Assistenzarztes vorgehen mochte. Er kannte McNeil seit zwei Jahren, zunächst als Kollegen, Assistenzarzt wie er selbst, wenn er auch im hierarchischen System des Krankenhauses dienstälter war, und lernte ihn später während der wenigen Monate, die er in der Pathologie arbeitete, näher kennen. Seddons interessierte sich für Pathologie. Trotzdem war er froh, daß er sie nicht als sein Spezialgebiet gewählt hatte. An seiner Entscheidung für die Chirurgie war ihm nie ein Zweifel gekommen, und er würde froh sein, wenn er in ein paar Wochen dorthin zurückkehrte. Im Gegensatz zu diesem Reich der Toten gehörte der Operationsraum zum Gebiet der Lebenden. Dort pulsierte das Leben, dort wurde jede Bewegung von einem Geist, einem Sinn für das Ziel, bestimmt, den er hier niemals finden konnte. Jedem das Seine, dachte er, und die Pathologie den Pathologen.

Es war noch etwas anderes an der Pathologie. Man konnte bei ihr den Sinn für die Wirklichkeit verlieren, das Bewußtsein, daß Medizin die Menschen betraf und ihnen diente. Und jetzt dieses Gehirn hier. Seddons wurde sich plötzlich deutlich bewußt, daß es vor wenigen Stunden noch das Gedankenzentrum eines Mannes gewesen war, der Koordinator seiner Sinne - des Fühlens, Riechens, Sehens, Schmeckens. Es hatte Gedanken entwickelt, Liebe gekannt, Angst und Triumphe. Gestern, vielleicht heute noch, hatte es den Augen befehlen können, zu weinen, dem Mund, zu schwatzen. Der Tote war Ingenieur gewesen, hatte er aus den Krankenpapieren ersehen. Dies war also ein Gehirn, das sich der Mathematik bedient hatte, das Spannungen und Drücke verstand, Konstruktionsmethoden erdachte, vielleicht Häuser gebaut hatte, eine Straße, ein Wasserwerk, eine Kathedrale - das Erbe dieses Gehirn für andere Menschen, die damit leben und es benutzen würden. Aber was war das Gehirn jetzt? Nicht mehr als eine Gewebemasse, die sterilisiert wurde und nur noch bestimmt war, zerschnitten, untersucht und dann verbrannt zu werden.

Seddons glaubte nicht an Gott, und es war ihm schwer begreiflich, daß gebildete Menschen es konnten. Wissen, Wissenschaft, Denken - je weiter sie fortschritten, desto unglaubwürdiger wurde jede Religion. Er glaubte aber an etwas, das er, weil ihm bessere Worte fehlten, als >den Funken der Menschlichkeit, das Credo des Individuums < bezeichnete. Als Chirurg würde er es natürlich nicht immer mit Individuen zu tun haben. Er würde seine Patienten auch nicht immer kennen. Und selbst wenn, würde es seinem Bewußtsein entschwinden, wenn er sich auf die technischen Probleme seiner Arbeit konzentrierte. Aber schon vor langem hatte er sich vorgenommen, nie zu vergessen, daß hinter allem ein Patient, ein Individuum stand. Während seiner Studienzeit hatte Seddons beobachtet, wie sich bei anderen eine isolierende Schicht bildete, eine Schutzwand gegen den zu engen Kontakt mit dem einzelnen Patienten. Manchmal geschah es zur Abwehr, war es eine vorsätzliche Isolierung gegen persönliche Empfindungen und persönliche Anteilnahme. Indessen fühlte er sich stark genug, um ohne diese Isolierung auszukommen. Außerdem zwang er sich manchmal, über das, was er gerade tat, nachzudenken und Selbstgespräche zu führen, um sich zu vergewissern, daß die Isolierschicht nicht wuchs. Vielleicht hätte es einige seiner Freunde, die Mike Seddons nur als einen ungehemmten Extrovertierten kannten, überrascht, wenn sie manche seiner innersten Gedanken erfahren hätten - vielleicht aber auch nicht. Der Verstand, das Gehirn - oder wie man es sonst nennen wollte - ist eine unvorausberechenbare Maschine.

Wie war das bei McNeil? Empfand er etwas? Oder hatte sich auch um den Assistenzarzt der Pathologie eine Schale gebildet? Seddons wußte es nicht; er nahm es aber an. Und Pearson? Hier hatte er keinen Zweifel. Joe Pearson war durch und durch kalt und klinisch. Trotz seiner großen Szene war er während der Jahre in der Pathologie ausgeglüht. Seddons sah den alten Mann an. Er hatte das Herz aus der Leiche herausgenommen und untersuchte es sorgfältig. Jetzt wendete er sich an die Lernschwestern:

»Die Krankengeschichte dieses Mannes zeigt, daß er vor drei Jahren einen ersten Herzanfall erlitt und einen zweiten zu Beginn dieser Woche. Darum wollen wir als erstes die Herzkranzgefäße untersuchen.« Während die Schwestern gespannt zusahen, öffnete Pearson behutsam die Blutgefäße des Herzmuskels.

»Irgendwo hier sollten wir das Gebiet der Thrombose finden. Ja, da ist es.« Mit der Spitze einer Metallsonde deutete er darauf. Im Hauptzweig der linken koronaren Arterie, einen Zoll vor ihrem Anfang entfernt, hatte er ein halb Zoll großes Gerinnsel bloßgelegt. Er hielt das Herz hoch, damit die Mädchen es sehen konnten.

»Jetzt wollen wir das Herz selbst untersuchen.« Pearson legte das Organ auf ein Sektionsbrett und schnitt es in der Mitte der Länge nach auf. Er klappte die beiden Hälften nebeneinander auf, betrachtete sie und winkte dann die Lernschwestern näher heran. Zögernd traten sie näher.

»Sehen Sie dieses vernarbte Gebiet in dem Muskel?« Pearson deutete auf einige Streifen weißlichen, faserigen Gewebes in dem Herz, und die Schwestern reckten die Hälse über die klaffende, rote Körperhöhle, um besser zu sehen. »Das sind die Folgen des Herzanfalles von vor drei Jahren; ein alter Infarkt, der ausgeheilt ist.«

Nach einer Pause fuhr Pearson fort: »Die Anzeichen für den letzten Anfall haben wir hier in der linken Herzkammer. Beachten Sie das zentrale blasse Gebiet, das von einer stark durchbluteten Zone umgeben ist.« Er deutete auf einen kleinen, dunkelroten Fleck mit einem hellen Mittelpunkt, der sich von dem rotbraunen Gewebe des übrigen Herzmuskels abhob.

Pearson wandte sich an den chirurgischen Assistenten: »Stimmen Sie mit mir überein, Dr. Seddons, daß die Diagnose >Tod infolge Herzthrombose< damit glaubwürdig bestätigt ist?«

»Gewiß«, antwortete Seddons höflich. Daran besteht kein Zweifel, dachte er. Ein winziges Blutgerinnsel, nicht viel dicker als ein Stückchen Spaghetti. Das genügte für das Ende. Er beobachtete, wie der alte Pathologe das Herz beiseite legte.

Vivian war jetzt gefaßter. Sie glaubte, sich fest in der Hand zu haben. Am Anfang, als sie sah, wie die Säge in den Schädel des toten Mannes schnitt, hatte sie bemerkt, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich, wie ihr Bewußtsein verschwamm. Sie spürte, daß sie dicht vor einer Ohnmacht stand, war aber fest entschlossen, nicht schwach zu werden. Ohne jeden Grund erinnerte sie sich plötzlich an ein Erlebnis aus ihrer Kindheit. In den Ferien war ihr Vater tief in den Wäldern Oregons in ein offenes Jagdmesser gefallen und hatte sich am Bein schwer verletzt. Überraschenderweise erlitt der kräftige Mann bei dem Anblick seines eigenen, hervorquellenden Blutes einen Schwächeanfall, und ihre Mutter, die sich in ihrem Wohnzimmer im allgemeinen sicherer und heimischer fühlte als im Wald, zeigte plötzlich eine unerwartete Stärke. Sie hatte am Bein abgebunden, den Blutstrom gestillt und Vivian schnell fortgeschickt, um Hilfe zu holen. Während Vivians Vater dann auf einer improvisierten Bahre aus Zweigen durch den Wald getragen wurde, lockerte sie alle halbe Stunde die Bandage, um die Durchblutung des Beines im Gang zu halten, zog sie dann wieder fest an, um die Blutung zu stillen. Später hatten die Ärzte gesagt, dadurch habe sie das Bein vor der Amputation gerettet. Vivian hatte dieses Erlebnis längst vergessen, aber als sie sich jetzt daran erinnerte, empfand sie neue Kraft. Nun war sie sicher, daß es für sie kein Problem mehr sei, bei einer Obduktion zuzusehen.

»Irgendeine Frage?« kam es von Dr. Pearson.

Vivian hatte eine. »Die Organe, die Sie aus dem Körper entfernen, was geschieht später mit ihnen, bitte?«

»Wir bewahren sie auf. Voraussichtlich für eine Woche. Das gilt für Herz, Lungen, Magen, Nieren, Leber, Bauchspeicheldrüse, Milz und das Gehirn. Dann nehmen wir eine Gesamtuntersuchung vor, deren Ergebnisse in allen Einzelheiten festgehalten werden. Gleichzeitig untersuchen wir auch die Organe, die bei anderen Obduktionen zurückbehalten wurden. Im allgemeinen sind es sechs bis zwölf Fälle.«

Das klingt so kalt und unpersönlich, dachte Vivian. Aber vielleicht mußte man so werden, wenn man das ständig tat. Unwillkürlich schauderte sie. Mike Seddons' Blick traf den ihren, und er lächelte ein wenig. Sie fragte sich, ob er sich über sie amüsiere oder Mitgefühl zeigen wolle. Sie war sich nicht sicher. Dann stellte ein anderes Mädchen eine Frage. Sie sprach sie zögernd aus, fast ab ob sie sich fürchte. »Der Tote, wie wird er begraben. nur so, wie er jetzt ist?«

Das war eine bekannte Frage. Pearson antwortete: »Das hängt davon ab. Lehrstätten wie unser Krankenhaus führen im allgemeinen gründlichere Studien durch, als es an Krankenhäusern geschieht, die keine Ärzte und Schwestern ausbilden. In unserem Krankenhaus wird nur die äußere Hülle der Leiche an den Bestatter übergeben.« Dann fügte er noch erläuternd hinzu: »Er würde es uns übrigens nicht danken, wenn wir die Organe wieder in den Körper hineinlegten. Er hätte dadurch nur Schwierigkeiten, wenn er die Leiche einsargt.«

Das ist richtig, dachte McNeil. Vielleicht ist es so nicht in der taktvollsten Weise ausgedrückt, aber es stimmt trotzdem. Er hatte sich selbst manchmal gefragt, ob die Hinterbliebenen und andere, die von einem Toten Abschied nehmen, wußten, wie wenig nach einer Obduktion von einer Leiche übrig war. Nach einer Obduktion wie der hier, und je nachdem, wie beschäftigt die pathologische Abteilung war, konnte es Wochen dauern, bis die inneren Organe endgültig beseitigt wurden. Und selbst dann wurden kleine Proben noch unendlich lange aufbewahrt.

»Gibt es dabei keine Ausnahme?« Die Lernschwester, die diese Frage stellte, schien hartnäckig zu sein. Pearson hatte aber offenbar nichts dagege n einzuwenden. Dem Anschein nach hat er heute seinen geduldigen Tag, dachte McNeil. Gelegentlich gab es das bei dem alten Mann.

»Doch, das kommt vor«, antwortete Pearson. »Ehe wir eine Obduktion vornehmen können, müssen wir die Genehmigung der Familie des Verstorbenen haben. Manchmal wird diese Genehmigung vorbehaltlos erteilt, wie in dem vorliegenden Fall, und dann können wir den ganzen Körper und den Kopf untersuchen. In anderen Fällen sind mit der Genehmigung Einschränkungen verbunden. Beispielsweise kann eine Familie verlangen, daß der Schädel unberührt bleibt. In unserem Krankenhaus werden diese Wünsche stets respektiert.«

»Danke, Doktor.« Anscheinend war das Mädchen zufrieden, aus welchen Gründen sie auch gefragt haben mochte.

Aber Pearson war noch nic ht zu Ende.

»Man stößt auf Fälle, bei denen aus religiösen Gründen verlangt wird, daß die Organe mit der Leiche bestattet werden. Selbstverständlich fügen wir uns diesem Verlangen.«

»Wie ist es bei Katholiken?« Diese Frage stellte ein anderes Mädchen. »Bestehen sie darauf?«

»Die meisten nicht. Aber es gibt katholische Krankenhäuser, in denen es geschieht. Das erschwert uns Pathologen die Arbeit. Im allgemeinen wenigstens.«

Bei seinen letzten Worten warf Pearson einen hämischen Blick zu McNeil hinüber. Beide wußten, woran Pearson dachte. In einem der großen katholischen Krankenhäuser auf der anderen Seite der Stadt bestand die strenge Bestimmung, daß nach einer Obduktion alle Organe zur Bestattung in die Leiche zurückgelegt wurden. Aber manchmal half man sich dort mit einem kleinen Trick. Die vielbeschäftigte pathologische Abteilung des Krankenhauses bewahrte sich häufig Organe zur Reserve auf. Wenn also eine neue Obduktion vorgenommen wurde, ersetzte man die entfernten Organe aus der Reserve, so daß die Leiche vorschriftsmäßig zur Bestattung übergeben wurde und die entnommenen Organe trotzdem in aller Ruhe untersucht werden konnten. Diese Organe wurden dann ihrerseits in die nächste Leiche gelegt. Dadurch hatten die Pathologen immer einen Vorsprung.

McNeil wußte, daß Pearson diese Praxis mißbilligte, obwohl er kein Katholik war. Und was man auch sonst über den alten Mann sagen konnte, er bestand immer darauf, daß die Genehmigung zu einer Obduktion dem Buchstaben und dem Geist nach streng befolgt wurde. Das offizielle Formular für die Genehmigung enthielt einen Satz, der lautete: »Obduktion auf die Öffnung der Bauchhöhle beschränkt.« Manche Pathologen, die er kannte, führten eine vollständige Obduktion mit einem einzigen Bauchschnitt durch. Er hatte gehört, wie einer das einmal formulierte: »Wenn man will, kann man mit einem Bauchschnitt nach oben alles, einschließlich der Zunge, erreichen und herausnehmen.« Zu Pearsons Gunsten muß gesagt werden, dachte McNeil, daß er das nie zuläßt. Im Three Counties Hospital bedeutete die Genehmigung zur Öffnung der Bauchhöhle ausschließlich die Untersuchung der dort gelegenen Organe.

Pearson hatte seine Aufmerksamkeit wieder der Leiche zugewandt.

»Wir wollen jetzt mit der Untersuchung fortfahren...« Er brach ab und blickte scharf hinunter, griff nach einem Skalpell und sondierte behutsam. Dann stieß er ein überraschtes Knurren aus.

»McNeil, Seddons, sehen Sie sich das an.«

Pearson trat zur Seite, und sein Assistenzarzt beugte sich über das Gebiet, das Pearson untersucht hatte. Er nickte. Das Rippenfell, im allgemeinen eine durchsichtige, schimmernde Membrane, die die Lungen bedeckt, zeigte einen dicken, narbigen Überzug aus dichtem, weißem, faserigem Gewebe. Es war ein Anzeichen für Tuberkulose. Ob alt oder aus jüngerer Zeit, würden sie gleich wissen. Er machte Seddons Platz.

»Tasten Sie die Lungen ab, Seddons«, sagte Pearson. »Ich vermute, Sie werden weitere Anzeichen finden.«

Der chirurgische Assistent nahm die Lungen, drückte sie mit den Fingern ab. Er fand sofort die Kavernen unter ihrer Oberfläche. Er sah zu Pearson auf und nickte. McNeil hatte sich der Krankengeschichte zugewandt. Um die Blätter nicht zu beschmutzen, blätterte er sie mit einem sauberen Skalpell um.

»Wurde bei der Aufnahme die Brust durchleuchtet?« fragte Pearson.

Der Assistenzarzt schüttelte den Kopf. »Der Patient befand sich im Schock. Hier steht vermerkt, daß er nicht geröntgt wurde.«

»Wir wollen einen senkrechten Schnitt machen, um festzustellen, was zu sehen ist.« Pearson sprach wieder zu den Schwestern, als er an den Tisch trat. Er nahm die Lunge heraus und durchtrennte mit einem glatten Schnitt einen Flügel in der Mitte. Da war es unverkennbar - tuberkeldurchsetztes Gewebe im fortgeschrittenen Stadium. Die Lunge wies bis zur Mitte des Flügels eine wabenartige Struktur auf, fast wie zusammengeklebte Pingpongbälle; ein schwärender, fortschreitender Verfall, dem der Herzanfall nur zuvorgekommen war, um den Tod herbeizuführen.

»Können Sie es sehen?«

Seddons antwortete auf Pearsons Frage: »Es sieht aus, als sei der Tuberkulose durch Zufall der Herzinfarkt gerade noch zuvorgekommen,«

»Es ist immer ein Glücksspiel, woran wir sterben.« Pearson sah zu den Schwestern hinüber. »Dieser Mann litt an einer weit fortgeschrittenen Tuberkulose. Wie Dr. Seddons bemerkte, wäre er sehr bald daran gestorben. Vermutlich war weder ihm selbst noch seinem Arzt seine Erkrankung bekannt.«

Jetzt streifte Pearson seine Handschuhe ab und begann, seinen Kittel auszuziehen. Die Vorstellung ist vorüber, dachte Seddons. Die Statisten und die Bühnenarbeiter werden anschließend aufräumen. McNeil und er würden die wichtigen Organe in einen Eimer legen und ihn mit der Krankennummer des Verstorbenen versehen. Das andere würde in den Körper zurückgelegt werden, die leere Höhlung, wo erforderlich, mit Watte ausgestopft und dann mit großen, weitgesetzten Stichen -hinein, hinaus - geschlossen, da der Teil des Körpers, den sie aufgeschnitten hatten, im Sarg durch die Bekleidung der Leiche verhüllt wurde. Und wenn sie damit fertig waren, kam die Leiche in den Kühlraum, bis sie von dem Leichenbestatter abgeholt wurde.

Pearson hatte den weißen Ärztekittel wieder angezogen, in dem er den Obduktionsraum betreten hatte, und entzündete eine frische Zigarre. Es war typisch für ihn, daß er auf seinen Wegen durch das Krankenhaus eine Fährte von halbgerauchten Zigarren hinter sich zurückließ, und anderen blieb es überlassen, diese Reste in einen Aschenbecher zu legen. Er wandte sich an die Schwestern:

»Im Verlauf Ihrer Tätigkeit«, sagte er, »werden Sie auch Patienten pflegen, die sterben werden. Dann ist es notwendig, von den nächsten Verwandten die Genehmigung zur Obduktion zu erhalten. Diese Aufgabe fällt manchmal dem Arzt zu, manchmal aber auch Ihnen. Dabei werden Sie gelegentlich auf Widerstand stoßen. Es fällt jedem schwer - selbst nach dem Tode -, der Verstümmelung eines Menschen zuzustimmen, den man geliebt hat. Das ist nur verständlich.«