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Bell antwortete: »Ich bin kein Feind der Liebe. Bei uns zu Haus wird jedes Jahr einmal verkehrt. Ich bin nur ein todsicherer Schütze.«
Lucy Grainger stimmte in das ausbrechende Gelächter ein. Dann sagte sie: »Ralph, ich schicke Ihnen heute nachmittag eine Patientin. Sie heißt Vivian Loburton und ist eine unserer Lernschwestern.«
Das Gelächter war verklungen. »Was soll ich denn an ihr röntgen?« fragte Bell.
»Ich möchte ein paar Aufnahmen von ihrem linken Knie«, antwortete Lucy. Dann fügte sie hinzu: »Sie hat dort irgendeine Geschwulst, die mir gar nicht gefällt.«
Charles Dornberger rief Kent O' Donnell von seinem Zimmer aus an, um ihm über den Verlauf seines Gesprächs mit Pearson zu berichten. Zum Schluß sagte er dem Chef der Chirurgie: »Ich habe Joe über den Mann informiert, mit dem schon korrespondiert wurde.«
»Wie hat er es aufgenommen?« fragte O'Donnell.
»Ich möchte nicht behaupten, daß er begeistert war, aber ich glaube, wenn Sie wollen, daß der Mann - wie war sein Name noch? Coleman? -, wenn Sie also wollen, daß er hierherkommt, um sich vorzustellen, wird Joe keine Schwierigkeiten machen. Ich würde aber empfehlen, Joe über alles zu informieren, was Sie von jetzt an unternehmen. «
»Darauf können Sie sich verlassen«, antwortete O'Donnell, und dann fügte er hinzu: »Jedenfalls danke ich Ihnen sehr für Ihre Mühe, Charlie.«
Anschließend führte Dornberger ein zweites Telefongespräch. Diesmal mit Mrs. John Alexander, die am Vormittag angerufen und ihre Telefonnummer hinterlassen hatte. Ehe er anrief, sah er in seiner Patientenkartei nach und erinnerte sich, daß sie die Frau eines Laboranten in der Pathologie war, die ihm Joe Pearson empfohlen hatte. Von Mrs. Alexander erfuhr er, daß sie gerade erst in Burlington angekommen war. Sie vereinbarten einen Termin in der kommenden Woche, an dem sie Dornberger in seiner Privatsprechstunde in der Stadt aufsuchen solle.
Etwa zur gleichen Zeit, als Mrs. Alexander mit Dornberger sprach, wurde ihr Mann zum erstenmal von Dr. Joseph Pearson abgekanzelt. Das geschah auf folgende Weise.
Nach Pearsons Ausbruch an diesem Morgen über die schlechten Schnitte kam Bannister in das serologische Labor zurück, wo Alexander arbeitete, und berichtete ihm den ganzen Vorfall. Bannister kochte inzwischen selbst vor Wut und ließ später einen Teil seines Ärgers an den beiden Laborantinnen und ihrem Helfer aus, die im angrenzenden histologischen Labor arbeiteten. Alexander hörte durch die Tür, die Bannister hinter sich offenstehen ließ, alles mit an.
Ihm war es allerdings klar, daß die Schuld an den schlechten Präparaten nicht ausschließlich die Laboranten in der Histologie traf. Trotz der kurzen Zeit, die er in dem Krankenhaus war, hatte er schon erkannt, wo das wirkliche Problem lag. Darum sagte er nachher zu Bannister: »Wissen Sie, Carl, ich glaube nicht, daß es allein ihre Schuld ist. Ich finde, sie haben zuviel zu tun.«
Mürrisch antwortete Bannister: »Wir haben alle zuviel zu tun.« Und mit plumpem Hohn fügte er noch hinzu: »Aber wenn Sie schon soviel davon verstehen, können Sie ja vielleicht zu Ihrer eigenen Arbeit den anderen noch einen Teil abnehmen.«
Alexander ließ sich dadurch nicht provozieren. »Das ist kaum möglich. Ich glaube aber, daß alles viel besser ginge, wenn sie einen automatischen Einbettungs- und Schneidapparat benutzten, statt alles auf die altmodische Weise mit der Hand zu machen.«
»Kümmern Sie sich darum nicht, mein Junge. Das geht Sie gar nichts an«, antwortete Bannister hochmütig und herablassend. »Und außerdem ist hier alles, was mit Geldausgaben verbunden ist, von vornherein gestorben.«
Alexander sagte nichts weiter, war aber entschlossen, bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, die Frage Pearson gegenüber anzuschneiden.
An diesem Nachmittag mußte er eine Reihe von Berichten Pearson zur Unterschrift in sein Büro bringen. Er traf den Pathologen an, wie er offensichtlich ungeduldig einen Stoß Post durchlas. Pearson blickte kurz zu Alexander auf, gab ihm dann einen Wink, die Papiere auf den Schreibtisch zu legen, und las weiter. Alexander zögerte und der alte Mann bellte ihn an: »Sonst noch was? Was gibt's denn?«
»Dr. Pearson, darf ich mir einen Vorschlag erlauben?«
»Muß das gerade jetzt sein?«
Ein Erfahrener hätte erkannt, daß sein Ton bedeutete: Laß mich in Ruhe. Alexander antwortete aber: »Ja, Sir.«
Seufzend sagte Pearson: »Also, was wollen Sie?«
Etwas nervös begann Alexander: »Es ist wegen der pathologischen Befunde, Doktor.« Als er pathologischen Befunde< sagte, legte Pearson seinen Brief hin und sah ihn scharf an. Alexander fuhr fort: »Ich frage mich, ob Sie schon einmal daran gedacht haben, einen automatischen Einbettungsund Schneidapparat anzuschaffen.«
»Was verstehen Sie vom Gewebepräparieren?« Pearsons Stimme hatte einen drohenden Klang. »Überhaupt, ich denke, Sie sind der serologischen Abteilung zugeteilt worden, oder nicht?«
»Ich habe auf der Laborantenschule auch einen vollen Kurs in Histologie absolviert, Doktor«, erinnerte Alexander. Darauf folgte eine Pause. Als Pearson nicht antwortete, fuhr Alexander fort: »Ich habe mit einem automatischen Apparat gearbeitet, und das ist eine gute Maschine, Sir. Wir würden bei der Anfertigung der Schnitte mindestens einen Tag einsparen. Statt das Gewebe mit der Hand in all den verschiedenen Lösungen vorzubereiten, schaltet man über Nacht den Apparat ein und hat am Morgen..«
Pearson unterbrach ihn scharf: »Ich weiß, wie sie arbeitet. Ich habe sie gesehen.« Alexander sagte: »Ich verstehe, Sir. Dann glauben Sie nicht.«
»Ich sagte, ich habe diese sogenannten automatischen Apparate gesehen und sie haben mich nicht beeindruckt.« Pearsons Ton war hart und ungnädig. »Die Schnitte haben nicht die gleiche Qualität, wie wenn sie mit der Hand angefertigt werden. Außerdem sind diese Maschinen teuer. Sehen Sie das hier?« Er wischte durch einen Stoß ausgefüllter Formulare in einem Korb auf seinem Schreibtisch.
»Ja, Sir.«
»Das sind Einkaufsanforderungen für Dinge, die ich in der Abteilung brauche. Und jedesmal, wenn ich sie weiterreiche, habe ich einen Kampf mit dem Verwaltungsdirektor. Er behauptet, wir geben zuviel Geld aus.«
Alexander hatte seinen ersten Fehler begangen, als er seinen Vorschlag zu einem Zeitpunkt vorbrachte, an dem Pearson ihn nicht hören wollte. Nun beging er seinen zweiten Fehler. Er mißverstand Pearsons Antwort als Aufforderung, das Gespräch fortzusetzen.
Er sagte besänftigend: »Aber wenn es doch einen ganzen Tag einsparen würde, vielleicht sogar zwei.« Sein Ton wurde eindringlicher. »Dr. Pearson, ich habe Schnitte gesehen, die mit dem Apparat angefertigt wurden, und die waren wirklich gut. Vielleicht wurde die Anlage, die Sie sahen, nicht richtig bedient.«
Jetzt erhob sich der alte Mann von seinem Stuhl. Worin Alexanders Provokation auch bestehen mochte, er hatte die Grenze zwischen Arzt und Laborant überschritten. Den Kopf vorgebeugt, schrie Pearson: »Nun reicht es mir. Ich habe gesagt, daß ich an diesem automatischen Apparat nicht interessiert bin und nicht beabsichtige, darüber zu diskutieren.« Er kam um seinen Schreibtisch, bis er unmittelbar vor Alexander stand, sein Gesicht dicht vor dem des jungen Mannes. »Und ich will Sie an noch etwas erinnern. Ich bin hier der Pathologe, und ich leite diese Abteilung. Ich habe nichts gegen Vorschläge, solange sie vernünftig sind. Aber halten Sie sich in Ihren Grenzen, verstanden?«
»Ja, Sir.« Gedemütigt und beschämt, aber ohne im geringsten zu verstehen, ging Alexander an seine Arbeit im Labor zurück.
Mike Seddons war den ganzen Tag in Gedanken versunken gewesen. Ein paarmal mußte er sich zusammenreißen und sich bewußt zwingen, seine Gedanken auf die Arbeit zu richten, die er gerade vor sich hatte. Einmal, während einer Obduktion, mußte McNeil ihn warnen. »Sie haben Ihre Hand gerade unter dem Stück, das Sie schneiden. Wir legen Wert darauf, daß die Leute, die bei uns arbeiten, ihre Finger alle wieder gesund mitnehmen.«
Seddons änderte schnell seinen Griff. Es wäre nicht das erstemal, daß ein unerfahrener Assistent sich mit einem der rasiermesserscharfen Instrumente in der Pathologie einen Finger samt dem Handschuh abhackte.
Dennoch schweifte seine Aufmerksamkeit immer wieder ab und wandte sich der ständig auftauchenden Frage zu: Was versetzte ihn an Vivian so in Unruhe? Sie war anziehend und begehrenswert, und er war darauf versessen, so bald wie möglich mit ihr ins Bett zu gehen - darüber machte sich Mike Seddons keine Illusionen. Auch sie schien dazu bereit, wenn man annahm, daß der Schmerz in ihrem Knie am Abend vorher echt gewesen war. Und das glaubte er jetzt. Er hoffte, daß sie noch das gleiche wie gestern empfand, obwohl es dafür natürlich keine Garantie gab. Manche Mädchen waren so wankelmütig. An einem Tag waren sie für die exotischsten Intimitäten zu haben, und beim nächstenmal wiesen sie sogar die geringfügigste Annäherung zurück und taten so, als ob die frühere Begegnung nie stattgefunden habe.
Aber bei ihm und Vivian war mehr als lediglich Sex im Spiel. Mike Seddons begann sich zu wundern. Ganz gewiß hatte keine der früheren Episoden - und deren hatte es einige gegeben - ihn so gründlich zum Nachdenken veranlaßt, wie es jetzt der Fall war. Ein neuer Gedanke ging ihm durch den Kopf: Vielleicht wurde ihm alles andere klarer, wenn seine sexuellen Wünsche befriedigt waren. Er entschloß sich, Vivian um eine weitere Verabredung zu bitten, und der heutige Abend war, vorausgesetzt, daß sie Zeit hatte dazu, so geeignet wie jede andere Stunde.
Vivian fand Mike Seddons Brief, nachdem sie ihre letzte Unterrichtsstunde des Tages hinter sich hatte und in die Schwesternunterkunft zurückkam. Er war persönlich abgeliefert worden und wartete im Postregal unter dem Buchstaben L auf sie. Er bat sie, ihn an diesem Abend um neun Uhr fünfundvierzig im vierten Stock des Krankenhauses vor der Kinderabteilung zu treffen. Zunächst hatte sie nicht die Absicht, hinzugehen, weil sie keinen offiziellen Grund hatte, sich um diese Zeit im Krankenhaus aufzuhalten, und in Schwierigkeiten geraten konnte, wenn sie einer der Schulschwestern in die Hände lief. Aber dann stellte sie fest, daß sie doch gern gehen wollte, und um neun Uhr vierzig lief sie über den hölzernen Fußweg, der vom Schwesternheim zum Hauptgebäude des Krankenhauses führte.
Mike wartete auf sie. Er schlenderte dem Anschein nach in Gedanken versunken durch den Gang. Sobald er sie aber sah, winkte er sie zu einer Tür, und sie gingen hindurch. Hinter der Tür lag eine Treppe, die nach oben und nach unten führte. Zu dieser Nachtstunde war sie still und verlassen, und sie würden beizeiten gewarnt werden, falls jemand kam. Mike führte sie an der Hand die halbe Treppe bis zum nächsten Absatz hinunter. Dann drehte er sich um, und es erschien ihr das Natürlichste in der Welt, daß sie sich in seine Arme legte.
Während sie sich küßten, spürte sie, wie Mike sie fester umschlang, und plötzlich überfiel sie der Zauber des gestrigen Abends wieder. In diesem Augenblick wußte sie, warum sie so sehr gewünscht hatte, hierherzukommen. Dieser Mann mit dem ungebärdigen roten Haar war ihr plötzlich unentbehrlich geworden. Sie wünschte ihn in jeder Weise, wünschte bei ihm zu sein, mit ihm zu sprechen, mit ihm zu lieben. Es war ein elektrisierendes, erregendes Gefühl, das sie früher nicht gekannt hatte. Er küßte jetzt ihre Wangen, ihre Augen, ihre Ohren. Das Gesicht in ihrem Haar, flüsterte er: »Vivian, Liebling, ich habe den ganzen Tag an dich gedacht. Ich konnte nichts anderes tun.« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und sah sie an. »Weißt du, was du tust?« Sie schüttelte den Kopf. »Du unterminierst mich.« Sie legte wieder ihre Arme um ihn. »Oh, Mike, Liebling.«
Es war heiß in dem Treppenhaus. Vivian spürte die Wärme seines Körpers trotz ihrer eigenen Glut. Nun tasteten seine Hände suchend. Mit zitternder Stimme flüsterte sie: »Mike, können wir nicht woanders hingehen?«
Sie spürte, wie seine Hände innehielten, und mußte darüber lächeln. Er sagte: »Ich wohne zusammen mit Frank Worth in einem Zimmer. Aber heute abend ist er fort und kommt erst spät zurück. Willst du es riskieren und mit dorthinkommen?« Sie zögerte. »Was passiert, wenn wir erwischt werden?«
»Wir werden beide aus dem Krankenhaus hinausgeworfen.« Er küßte sie wieder. »Im Augenblick ist mir das egal.« Er ergriff ihre Hand. »Komm mit.«
Sie gingen eine Etage tiefer und durch einen Gang. Sie begegneten einem anderen Assistenzarzt, der zwar grinste, als er die beiden sah, aber nichts sagte. Dann über eine weitere Treppe in einen weiteren Gang. Dieses Mal trat kurz vor ihnen eine weiße Gestalt aus einer Tür. Vivians Herz setzte aus, als sie die Oberschwester erkannte. Aber die Oberschwester drehte sich nicht um und verschwand hinter einer anderen Tür, ehe sie an ihr vorbeikamen. Dann gelangten sie in einen engeren, stilleren Korridor mit geschlossenen Türen zu beiden Seiten. Unter manchen Türen schimmerte Licht hindurch, und hinter einer konnten sie Musik hören. Vivian erkannte Chopins e-moll-Konzert. Das Burlingtoner Symphonieorchester hatte es vor ein oder zwei Monaten gespielt.
»Hier herein.« Mike hatte eine Tür geöffnet, und sie traten schnell ein. Es war dunkel, aber sie konnte die Umrisse von Feldbetten und einem Sessel erkennen. Hinter sich hörte sie das Schloß zuschnappen, als Mike den Schlüssel umdrehte.
Gierig, fordernd griffen sie nacheinander. Seine Finger waren an den Knöpfen ihrer Schwesternuniform. Als sie zögerten, half sie ihm. Nun stand sie im Unterrock da. Einen Augenblick hielt er sie fest umfaßt. Gemeinsam genossen sie die Qual des Hinauszögerns. Dann bewegten sich seine Hände, hoben ihr sanft, zärtlich und mit köstlicher Verheißung das Unterkleid über den Kopf. Während sie zu dem Bett trat, streifte sie ihre Schuhe ab. Hinter ihr war eine schnelle Bewegung, und dann war er bei ihr, halfen seine Hände ihr wieder. »Vivian, Liebling. Vivian.«
Sie hörte ihn kaum. »Warte nicht, Mike, bitte warte nicht länger.« Sie spürte seinen Körper, der sich wild, verlangend gegen sie preßte. Sie erwiderte ungezügelt, kämpfte leidenschaftlich, um ihn fester, näher, tiefer an sich zu bringen.
Dann gab es plötzlich nichts mehr in der Welt, nichts, als einen Gipfel stürmischer Ekstase, rasend, sengend, schneidend, der näher, näher, näher kam.
Als sie nachher still nebeneinanderlagen, konnte Vivian die Musik wieder hören, die schwach über den Gang klang. Es war wieder Chopin, diesmal die Etüde in E-dur. Es erschien ihr seltsam, daß sie sich in diesem Augenblick bemühte, eine Komposition wiederzuerkennen, aber die fließende, packende Melodie, die sie gedämpft im Dunkeln hörte, entsprach ihrer Stimmung in diesem Augenblick der Erfüllung.
Mike beugte sich über sie und küßte sie sanft. »Vivian, Liebling, ich will dich heiraten.«