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»Das brauchen Sie nicht.« Swayne warf dem Ausschußvorsitzenden einen halb amüsierten, halb boshaften Blick zu. »Aber bei jeder Tätigkeit ist irgendwo eine Bremse erforderlich. Das bin ich gewesen - eine Bremse, eine stabilisierende Kraft. Und wenn ich nicht mehr da bin, werden Sie und Ihre Freunde vielleicht merken, daß Sie eine neue brauchen.«
»Sie reden Unsinn, Eustace, und Sie sind gegenüber Ihren eigenen Motiven ungerecht.« Orden Brown hatte sich offensichtlich entschlossen, ebenso offen zu sprechen. Er fuhr fort: »Sie haben in Burlington ebensoviel Gutes getan wie jeder andere, den ich kenne.«
Der alte Mann schien in seinem Sessel zusammenzusinken. Er murmelte: »Wer von uns kennt seine eigenen Motive wirklich?« Dann blickte er auf. »Ich nehme an, daß Sie von mir einen großen Beitrag für den neuen Erweiterungsbau erwarten.«
Orden Brown antwortete verbindlich: »Offen gesagt, hoffen wir, daß Sie es für richtig halten werden, Ihren im allgemeinen großzügigen Beitrag zu spenden.«
Leise sagte Eustace Swayne unerwartet: »Vermutlich dürften Sie eine Viertelmillion Dollars für angemessen halten.«
O'Donnell hörte, wie Orden Brown rasch einatmete. Eine derartige Spende war sehr freigebig, viel höher, als sie selbst in ihren optimistischsten Stunden erwartet hatten.
Brown erwiderte: »Ich kann mich nicht verstellen, Eustace. Ehrlich gesagt, ich bin überwältigt.«
»Dazu besteht kein Grund.« Der alte Mann machte eine Pause und drehte sein Glas am Stiel zwischen den Fingern. »Ich habe mich allerdings noch nicht entschlossen; ich erwäge es noch. In ein bis zwei Wochen werde ich es Ihnen mitteilen.« Unvermittelt wandte er sich an O'Donnell: »Spielen Sie Schach?«
O'Donnell schüttelte den Kopf. »Seit dem College nicht mehr.«
»Dr. Pearson und ich spielen oft zusammen Schach.« Er sah O'Donnell gerade an. »Sie kennen Joe Pearson natürlich.«
»Ja, sehr gut.«
»Ich kenne Dr. Pearson seit vielen Jahren«, sagte Swayne. »Im Three Counties Hospital und außerhalb.« Die Worte wurden langsam und überlegt ausgesprochen. Trugen sie einen warnenden Unterton? Es war schwer zu erkennen.
Swayne fuhr fort: »Meiner Meinung nach ist Dr. Pearson einer der qualifiziertesten Ärzte des Krankenhauses. Ich hoffe, daß er noch viele Jahre lang die Leitung seiner Abteilung beibehält. Ich achte seine Fähigkeiten und sein Urteil im höchsten Grad.«
Nun, das ist es, dachte O'Donnell. Jetzt liegt es offen und in klaren Worten vor. Ein Ultimatum an den Vorsitzenden des Krankenhausausschusses und an den Präsidenten des medizinischen Ausschusses. Eustace Swaynes Worte waren gleichbedeutend mit: Wenn Ihr meine Viertelmillion Dollars wollt - Hände weg von Joe Pearson!
Später fuhren Orden Brown, Amelia und O'Donnell gemeinsam auf dem Vordersitz von Browns Lincoln Cabriolet durch die Stadt zurück. Zunächst schwiegen sie. Dann sagte Amelia: »Glaubst du es wirklich? Eine Viertelmillion?«
Ihr Mann antwortete: »Es ist ihm zuzutrauen, daß er sie gibt, wenn er die Laune danach hat.«
O'Donnell fragte: »Haben Sie ihn verstanden?«
»Ja.« Browns Antwort kam ruhig und ohne Beschönigung und ohne, daß er versuchte, weiter über das Thema zu reden. O'Donnell dachte, dafür danke ich Ihnen. Er wußte, daß er sich mit diesem Problem herumschlagen mußte, nicht der Vorsitzende.
Vor dem Eingang seines Appartement-Hotels setzten sie ihn ab. Als Amelia ihm gute Nacht sagte, fügte sie noch hinzu: »Oh, übrigens, Kent, Denise lebt von ihrem Mann getrennt, ist aber nicht geschieden. Ich glaube, da liegen irgendwelche Schwierigkeiten, obwohl wir nie darüber gesprochen haben. Sie hat zwei Kinder auf der Oberschule. Und sie ist neununddreißig Jahre alt.«
»Warum erzählst du ihm das alles?« fragte Orden Brown.
Amelia lächelte. »Weil er es wissen möchte.« Sie legte ihre Hand auf den Arm ihres Mannes. »Aus dir könnte man nie eine Frau machen, mein Lieber. Nicht mal durch eine Operation.«
Während O'Donnell dem Lincoln nachblickte, fragte er sich, wieso sie das wissen konnte. Vielleicht hatte sie gehört, wie er sich von Denise Quantz verabschiedete. Höflich hatte er gesagt, er hoffe, sie wiederzusehen, und sie hatte geantwortet: »Ich lebe mit meinen Kindern in New York. Warum besuchen Sie mich nicht, wenn Sie das nächste Mal dort sind?« Jetzt fragte sich O'Donnell, ob er nicht doch an dem Chirurgenkongreß in New York teilnehmen solle, obwohl er sich in der vergangenen Woche entschlossen hatte, nicht hinzufahren. Plötzlich wandten sich seine Gedanken Lucy Grainger zu, und völlig widersinnig hatte er einen Augenblick das Gefühl, ihr gegenüber treulos zu sein. Während er über den Bürgersteig zum Hauseingang ging, wurde er durch eine Stimme aus seinen Gedanken aufgeschreckt: »Guten Abend, Dr. O'Donnell.«
Er drehte sich um und erkannte einen der chirurgischen Assistenzärzte: Seddons. Er hatte ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen bei sich, dessen Gesicht ihm bekannt vorkam. Wahrscheinlich eine der Lernschwestern, dachte O'Donnell. Sie schien in dem Alter zu sein. Er lächelte beiden zu und antwortete: »Guten Abend.« Dann öffnete er mit dem Schlüssel die Glastür und ging durch die Halle zum Fahrstuhl.
»Er sieht aus, als ob er Sorgen habe«, meinte Vivian.
Seddons antwortete unbekümmert: »Das bezweifle ich, mein kluges Kind. Wenn man es so weit gebracht hat wie er, hat man die meisten Sorgen hinter sich.«
Das Theater war zu Ende, und sie befanden sich auf dem Rückweg zum Three Counties Hospital. Es war eine hübsche Aufführung gewesen, ein freimütiges, ausgelassenes Musical, in dem sie viel gelacht und sich an den Händen gehalten hatten.
Ein paarmal hatte Mike seinen Arm über die Rücklehne von Vivians Platz gelegt, ihn leicht auf ihren Nacken gesenkt und mit den Fingerspitzen ihre Schulter berührt. Mit keiner Bewegung hatte sie erkennen lassen, daß es ihr unangenehm war.
Während des Abendessens vor dem Theater hatten sie über sich selbst gesprochen. Vivian fragte Mike über seine Absichten aus, sich auf die Chirurgie zu spezialisieren, und er fragte sie, weshalb sie Krankenschwester werden wolle. »Ich weiß nicht, ob ich das erklären kann, Mike«, antwortete sie, »aber seit ich mich erinnern kann, interessiere ich mich für Krankenpflege, und ich will Schwester werden.« Sie erzählte ihm, daß ihre Eltern sich ihrer Absicht zunächst widersetzt, aber als sie dann erkannten, wie fest entschlossen sie war, nachgegeben hatten. »Ich glaube, der wirkliche Grund war, daß ich selbst etwas leisten wollte, und Krankenpflege zog mich am meisten an.«
»Und ist das noch so?« fragte Seddons.
»Aber ja«, antwortete sie. »Gewiß fragt man sich hin und wieder, manchmal, wenn man müde ist und wenn man das alles im Krankenhaus sieht und an zu Hause denkt, ob es sich wirklich lohnt, ob es nicht etwas Leichteres gibt. Doch das geht wohl jedem so. Trotzdem, meistens bin ich meiner Sache ganz sicher.« Sie lächelte und fügte hinzu: »Ich bin eine sehr entschlossene Person und habe mich wirklich entschlossen, Krankenschwester zu werden.«
Ja, dachte er, du weißt, was du willst, das glaube ich auch. Während sie sich unterhielten und er Vivian verstohlen beobachtete, spürte er ihre innere Stärke, ihre Charakterfestigkeit unter der Oberfläche, die zunächst nur weibliche Sanftheit erkennen ließ. Wie schon vor ein oder zwei Tagen empfand Mike Seddons, daß sein Interesse für Vivian wuchs, aber wieder hielt er sich warnend vor: Keine Bindungen! Vergiß nicht: alles, was du fühlst, ist im Grunde biologisch bedingt.
Jetzt war es kurz vor Mitternacht, aber Vivian hatte sich verlängerten Ausgang geben lassen, und es bestand für sie kein Grund, sich zu beeilen. Manche der älteren Pflegerinnen, die ihre Ausbildung unter einem streng spartanischen Regiment erhalten hatten, waren der Meinung, den Lernschwestern würden heutzutage zu viele Freiheiten eingeräumt. Aber praktisch wurden sie selten mißbraucht.
Mike faßte sie am Arm. »Wollen wir durch den Park gehen?«
Vivian lachte. »Das ist ein alter Vorschlag, den ich schon oft gehört habe.« Sie widersetzte sich aber nicht, als er sie durch ein Tor in den Park führte. In der Dunkelheit erkannte sie Pappelreihen zu beiden Seiten und spürte weiches Gras unter ihren Füßen.
»Ich habe ein ganzes Repertoire alter Vorschläge. Sie sind meine Spezialität.« Er ergriff sie an der Hand. »Wollen Sie noch einen kennenlernen?«
»Welchen zum Beispiel?« Trotz ihrer Selbstsicherheit zitterte ihre Stimme leicht.
»Den zum Beispiel.« Mike blieb stehen, legte einen Arm um ihre Schultern und hob ihr Gesicht zu sich auf. Dann küßte er sie mitten auf die Lippen.
Vivian spürte, wie ihr Herz schneller schlug, aber nicht so stark, daß sie die Situation nicht noch klar beurteilen konnte. Sollte sie sofort die Grenze ziehen oder ihn gewähren lassen?
Sie war sich durchaus bewußt, daß es später nicht mehr so leicht sein mochte, wenn sie jetzt nichts unternahm.
Vivian wußte schon, daß sie Mike Seddons gern hatte und glaubte, daß sie ihn bald noch viel lieber haben würde. Er war körperlich anziehend, und sie waren beide jung. Sie spürte, wie ihre Sinne sich begehrlich regten. Sie küßten sich wieder, und sie erwiderte den Druck seiner Lippen. Die Spitze seiner Zunge schob sich leicht zwischen ihre Lippen. Sie begegnete ihr mit der eigenen, und die Berührung versetzte sie in Verzückung. Mike schloß seine Arme enger um sie, und durch ihr dünnes Sommerkleid spürte sie den festen Druck seiner Oberschenkel. Seine Hände strichen ihr über den Rücken. Die rechte glitt tiefer, streichelte sanft über ihren Rock, dann immer kräftiger, zog sie mit jedem Streicheln fester an sich. Sie wußte deutlich, wie durch ein zweites Ich, daß jetzt der Augenblick gekommen war, sich loszureißen, falls sie noch zurück wollte. Nur einen Augenblick noch, dachte sie, nur einen einzigen Augenblick länger.
Dann schien ihr plötzlich, als ob das ein Zwischenspiel sei, ein Sichloslösen von allem anderen um sie herum. Mit geschlossenen Augen kostete sie die Sekunden der Wärme und Weichheit aus. In den letzten Monaten waren sie so selten gewesen. Seit sie ins Three Counties Hospital gekommen war, hatte sie so häufig Selbstbeherrschung und Selbstzucht üben müssen, ihre Gefühle unterdrückt, ihre Tränen zurückgedrängt. Wenn man jung und unerfahren und ein bißchen verängstigt ist, fällt das manchmal schwer. So vieles war aufgetaucht - die Schocks bei der Begegnung mit Schmerz, Krankheit, Tod, die Obduktion -, und kein Sicherheitsventil hatte sich geöffnet, um den anwachsenden Druck abzulassen. Eine Krankenschwester, selbst eine Lernschwester, mußte viele Leiden ansehen und ständig bereit sein, zu helfen und Anteil zu nehmen. War es also unrecht, wenn sie nach diesem Augenblick der Zärtlichkeit für sich selbst griff? Einen Augenblick lang spürte sie, während Mike sie umfaßt hielt, den gleichen Trost und die gleiche Erleichterung wie damals, als sie sich vor vielen Jahren als kleines Mädchen in die Arme ihrer Mutter warf. Mike hatte seine Umarmung jetzt gelockert und hielt sie etwas von sich ab. »Du bist schön«, sagte er. Impulsiv vergrub sie ihr Gesicht an seiner Schulter. Dann legte er seine Hand unter ihr Kinn, und ihre Lippen begegneten sich wieder. Sie fühlte, wie er seine Hand sinken ließ und außen über dem Kleid über ihre Brüste strich. Durch ihren ganzen Körper wallte der Wunsch zu lieben und geliebt zu werden, leidenschaftlich, ununterdrückbar.
Seine Hand tastete am Halsausschnitt ihres Kleides. Es ließ sich vorn öffnen; ein Haken und eine Öse hielt es oben zusammen. Er tastete danach. Sie wehrte ab, atemlos. »Nicht, Mike! Bitte! Nicht!« Sie konnte sich nicht einmal selbst überzeugen. Ihre Arme hielten ihn fest umschlungen. Er hatte das Kleid jetzt etwas geöffnet, und sie spürte, wie seine Hand sich vortastete, atmete dann unter der Berührung tief auf, als sie sich über ihre junge, weiche Haut legte. Ein Schauder der Ekstase durchlief sie. Jetzt wußte sie: es war zu spät, aufzuhören. Sie wünschte ihn, begehrte ihn verzweifelt. Die Lippen an seinem Ohr, murmelte sie: »Mike, o Mike.«
»Liebling, Liebling, Vivian.« Er war ebenso erregt wie sie. Sie erkannte es an seinem atemlosen Flüstern.
Einen Augenblick brach ihr gesunder Menschenverstand durch. »Mike, hier kommen Leute.«
»Gehen wir unter die Bäume.« Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich.
Sie erreichten eine kleine, von Bäumen und Büschen umsäumte Lichtung. Mike küßte sie wieder, und leidenschaftlich erwiderte sie seine Küsse.
Plötzlich spürte sie einen reißenden Schmerz. Er war zuerst so scharf, daß sie nicht sicher war, woher er kam. Dann spürte sie: er saß im linken Knie. Unwillkürlich schrie sie auf.
»Was ist, Vivian? Was hast du?« Sie konnte erkennen, daß er überrascht war und nicht wußte, was er von ihrem Aufschrei halten sollte. Wahrscheinlich hält er es für einen Trick, dachte sie. Mädchen tun so etwas, um sich aus dieser Situation herauszuwinden.
Die erste Schärfe des Schmerzes hatte etwas nachgelassen, aber in Wellen trat er wieder auf. Sie sagte: »Es tut mir leid, es ist mein Knie, Mike. Ist hier irgendwo eine Bank?« Sie zuckte wieder unter dem Schmerz zusammen.