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»Sagen Sie Ihrem Mann, er soll vorsichtig fahren und vor jedem roten Licht halten. Wir haben noch viel Zeit. Sie werden es sehen.«
Selbst durch das Telefon konnte er spüren, daß es ihm gelungen war, sie zu beruhigen. Das gehörte zu den Dingen, die er oft tat, und er betrachtete es ebensosehr als einen Teil seiner Aufgabe, wie jede medizinische Maßnahme. Aber er spürte, wie sich seine Sinne unwillkürlich schärften. Jeder neue Fall übte diese Wirkung auf ihn aus. Logischerweise, dachte er, hätte ich dieses Gefühl schon lange verlieren müssen. Wenn man in der Medizin über lange Erfahrung verfugte, wurde von einem erwartet, daß man abgehärtet, mechanisch und unsentimental war. Das hatte auf ihn allerdings nie zugetroffen - vielleicht deshalb, weil er immer noch das tat, was er am meisten liebte.
Er griff nach der Pfeife, ließ sie dann liegen und nahm das Telefon ab. Er mußte seiner Station mitteilen, daß sich eine neue Patientin auf dem Weg ins Krankenhaus befand.
VIII
»Ich bin nicht einmal überzeugt, daß der Kampf gegen die Kinderlähmung gut oder notwendig ist.«
Der Sprecher war Eustace Swayne, der Gründer eines Warenhauskonzerns, steinreicher Philanthrop und Mitglied des Verwaltungsausschusses des Three Counties Hospitals. Der Ort war die düstere, eichengetäfelte Bibliothek in Swaynes altem, aber imposantem Haus, das für sich abgesondert in einem fünfzig Morgen großen Park am östlichen Stadtrand Burlingtons stand.
»Aber, aber! Das können Sie nicht ernst meinen«, entgegnete Orden Brown leichthin. Der Vorsitzende des Krankenhausausschusses lächelte den beiden Frauen in dem Raum zu; seiner eigenen Frau Amelia und Swaynes Tochter Denise Quantz.
Kent O'Donnell nahm einen kleinen Schluck von dem Kognak, den der lautlose Diener ihm gebracht hatte, und lehnte sich in dem tiefen Ledersessel zurück, in dem er Platz genommen hatte, als er nach dem Abendessen mit den anderen den Raum betrat. Ihm ging durch den Kopf, daß sie ein fast mittelalterliches Bild boten. Er sah sich in der gedämpft beleuchteten Bibliothek um, ließ seine Blicke über die Reihen ledergebundener Bücher schweifen, die sich bis unter die hohe, getäfelte Decke erstreckten, über die dunklen, schweren Eichenmöbel, über den großen, höhlenartigen Kamin, in dem Kloben für ein Feuer aufgeschichtet waren - sie brannten jetzt, an diesem warmen Juliabend, nicht, lagen aber bereit, jederzeit aufzuflammen, sobald ein Diener ein Streichholz daran hielt. O'Donnell gegenüber thronte Eustace Swayne wie ein König auf einem gradlehnigen, steifen, gepolsterten Lehnstuhl, während die anderen vier fast wie Höflinge einen Halbkreis vor dem alten Finanzhai bildeten.
»Das meine ich durchaus ernst.« Swayne stellte sein Kognakglas hin und beugte sich bei seinen nächsten Worten vor. »Ja, ich gebe zu, wenn man mir ein Kind mit geschienten Beinen zeigt, jammere ich wie alle anderen auch und greife nach meinem Scheckbuch. Aber ich spreche von dem großen Ganzen. Tatsache ist - und ich fordere jeden auf, mir zu widersprechen -, daß wir uns die größte Mühe geben, die menschliche Rasse zu verweichlichen.«
Das war ein bekanntes Argument. Höflich entgegnete O'Donnell: »Wollen Sie vorschlagen, daß wir die medizinische Forschung aufgeben, uns mit unseren gegenwärtigen medizinischen Kenntnissen und Techniken begnügen und nicht versuchen sollen, weitere Krankheiten zu besiegen?«
»Das könnte man gar nicht«, erwiderte Swayne. »Das können Sie so wenig, wie die Schweine von Gadara davon abzuhalten waren, sich von den Klippen zu stürzen.«
O'Donnell lachte. »Ich weiß nicht recht, ob mir dieses Bild gefällt. Aber wenn es so ist, wozu dann dagegen argumentieren?«
»Warum?« Swayne schlug mit der Faust auf die Armlehne seines Sessels. »Weil man immer noch etwas beklagen kann, selbst wenn man es auch mit aller Gewalt nicht ändern kann.«
»Ich verstehe.« O'Donnell war sich nicht sicher, ob ihm diese Diskussion sehr zusagte und er sie weiterführen sollte. Außerdem mochte sie nicht dazu beitragen, sein oder Orden Browns Verhältnis zu Swayne zu verbessern, was doch der wirkliche Grund seines Hierseins war. Er sah die anderen im Zimmer an. Amelia Brown, die er bei seinen Besuchen im Hause des Vorsitzenden recht gut kennenge lernt hatte, begegnete seinem Blick und lächelte. Als eine Frau, die an dem Leben ihres Mannes regen Anteil nahm, war sie über die Krankenhauspolitik gut informiert.
Swaynes verheiratete Tochter, Denise Quantz, hatte sich vorgebeugt und hörte gespannt zu.
Bei dem Essen hatte O'Donnell sich verschiedentlich dabei ertappt, daß seine Blicke fast gegen seinen Willen auf Mrs. Quantz gerichtet waren. Es fiel ihm schwer zu glauben, daß sie die Tochter des schroffen, harten Mannes war, der am Kopfende des Tisches saß. Mit achtundsiebzig zeigte Eustace Swayne immer noch viel von der Zähigkeit, die er im Mahlstrom des Wettbewerbs zwischen den großen Einzelhandelsunternehmen erworben hatte. Manchmal nutzte er den Vorteil seines Alters aus, um seinen Gästen spitzige Bemerkungen hinzuwerfen, obwohl O'Donnell den Verdacht hegte, daß ihr Gastgeber in den meisten Fällen damit eine Diskussion herausfordern wollte. O'Donnell überraschte sich bei dem Gedanken, der alte Mann liebe immer noch den Kampf, selbst wenn er nur mit Worten geführt wird. Ebenso spürte er jetzt instinktiv, daß Swayne seine Ansichten über die Medizin bewußt überspitzt formulierte, wenn im Augenblick vielleicht auch nur, um hart und unabhängig zu erscheinen. Während ODonnell den alten Mann beobachtete, kam er auf die Vermutung, daß Gicht und Rheumatismus dabei eine Rolle spielen mochten.
Im Gegensatz zu ihrem Vater gab sich Denise Quantz sanft und freundlich. Sie hatte die Gabe, den Bemerkungen ihres Vaters die Schärfe zu nehmen, indem sie ein oder zwei Worte zu dem, was er sagte, hinzufügte. Sie ist zweifellos schön, dachte O'Donnell, sie hat die seltene reife Anmut, die Frauen um vierzig manchmal besitzen. Er erriet, daß sie bei Eustace Swayne zu Besuch war und recht häufig nach Burlington kam, wahrscheinlich um über ihren Vater zu wachen. Er wußte, daß Swaynes Frau vor vielen Jahren gestorben war. Aus der Unterhaltung wurde allerdings erkennbar, daß Denise Quantz meistens in New York lebte. Ein paarmal wurden Kinder erwähnt, aber mit keinem Wort ihr Mann. Er gewann den Eindruck, daß sie entweder von ihm getrennt lebte oder geschieden war. O'Donnell überraschte sich dabei, daß er Denise Quantz mit Lucy Grainger verglich. Zwischen diesen beiden Frauen liegt eine Welt, dachte er. Lucy Grainger, die in ihrem Beruf aufging, ihr medizinisches Fachgebiet beherrschte und sich im Krankenhaus sicher bewegte, die in der Lage war, ihm auf dem ihnen beiden vertrauten Gebiet gegenüberzutreten. Und dagegen Denise Quantz, eine Frau, die Zeit hatte und unabhängig war, die zweifellos in der Gesellschaft eine Rolle spielte und die dennoch - so empfand er ein Mensch war, der ein Heim mit Wärme und Heiterkeit erfüllen konnte. O'Donnell fragte sich, welche Art Frau für einen Mann besser sei: eine, die seiner Arbeit nahestand, oder eine andere unabhängige und gelöste, mit Interessen, die über seinen Alltag hinausgingen.
Seine Gedanken wurden von Denise unterbrochen. Zu ihm vorgebeugt sagte sie: »Sie werden es doch sicher nicht so schnell aufgeben, Dr. O'Donnell. Bitte lassen Sie das meinem Vater nicht durchgehen.«
Der alte Mann grollte: »Da gibt es nichts durchgehen zu lassen. Die Situation ist völlig klar. Jahrhundertelang hielt die Natur die Bevölkerung im Gleichgewicht. Wenn die Geburtsraten zu schnell anstiegen, sorgten Hungersnöte für den Ausgleich.«
Orden Brown warf ein: »Aber zum Teil wirkten dabei politische Gründe mit. Es war nicht immer nur die Natur.«
»Das will ich Ihnen in manchen Fällen zugestehen«, erwiderte Eustace Swayne mit einer lebhaften Handbewegung. »Aber die Ausmerzung der Schwachen hat nichts mit Politik zu tun.«
»Meinen Sie die Schwachen oder die Unglücklichen?« fragte O'Donnell. Schön, dachte er dabei, wenn Sie Gegenargumente hören wollen, sollen Sie sie haben.
»Ich meine, was ich sage - die Schwachen.« Die Stimme des alten Mannes hatte einen schärferen Ton, aber O'Donnell spürte, daß er an der Auseinandersetzung Vergnügen empfand. »Wenn die Pest oder eine Seuche auftrat, waren es die Schwachen, die zugrunde gingen, und die Starken überlebten. Andere Krankheiten bewirkten das gleiche. Es wurde eine Norm aufrechterhalten - die Norm der Natur. Und deshalb waren es die Starken, die stets überlebten. Sie waren es, die die nächste Generation zeugten.«
»Glauben Sie wirklich, Eustace, daß die Menschheit heute so degeneriert ist?« Amelia Brown stellte diese Frage, und O'Donnell sah, daß sie lächelte. Sie weiß, daß Swayne diesen Wortstreit genießt, dachte er.
»Wir nähern uns der Degeneration«, antwortete der alte Mann, »zumindest in der westlichen Welt. Wir erhalten die Krüppel, die Schwächlinge, die von Krankheit Geschlagenen. Wir bürden der Gesellschaft Lasten auf, nichtproduzierende Geschöpfe - die Unfähigen, die nicht in der Lage sind, zum Allgemeinwohl beizutragen. Sagen Sie mir doch, welchem Zweck ein Sanatorium oder ein Heim für unheilbare Kranke dient? Ich sage Ihnen, die Medizin erhält heute Menschen, die man sterben lassen sollte. Aber wir helfen ihnen statt dessen, weiterzuleben, lassen sie Nachkommen haben und sich vermehren und ihre Nutzlosigkeit an ihre Kinder und Kindeskinder weitergeben.«
O'Donnell hielt ihm vor: »Die Beziehungen zwischen Krankheit und Vererbung sind bei weitem noch nicht geklärt.«
»Stärke liegt sowohl im Verstand als auch im Körper«, erwiderte Eustace Swayne heftig. »Erben Kinder nicht die geistigen Merkmale ihrer Eltern - samt ihren Schwächen?«
»Nicht immer.« Jetzt wurde die Diskussion zwischen dem alten Mann und O' Donnell geführt. Die anderen lehnten sich zurück und hörten zu.
»Aber doch sehr häufig. Oder etwa nicht?«
O'Donnell lächelte. »Gewisse Anzeichen sprechen dafür, ja.«
Swayne schnaufte verächtlich. »Das ist einer der Gründe, weshalb wir so viele Irrenhäuser haben. Und Patienten darin. Und Leute, die zum Psychiater laufen.«
»Der Grund dafür kann auch darin liegen, daß wir uns der geistigen Gesundheit bewußter geworden sind.«
Swayne imitierte ihn: »Der Grund kann auch darin liegen, daß wir mehr Menschen in die Welt setzen, die schwach sind. Schwach! Schwach! Schwach!«
Der alte Mann hatte die letzten Worte fast geschrien. Jetzt überkam ihn ein Hustenanfall. Es ist wohl besser, wenn ich vorsichtig bin, dachte O'Donnell, wahrscheinlich hat er einen hohen Blutdruck.
Eustace Swayne starrte ihn an, als ob er die Worte laut ausgesprochen hätte. Der alte Mann nahm ein Schlückchen von seinem Kognak. Dann sagte er fast boshaft: »Schonen Sie mich nicht, mein junger ärztlicher Freund. Ich werde mit allen Ihren Argumenten fertig, und noch mehr.«
O'Donnell entschloß sich, die Diskussion weiterzuführen, aber gemäßigter. Ruhig und gelassen entgegnete er: »Ich glaube, daß Sie eines übersehen, Mr. Swayne. Sie sagen, daß Krankheit und Gebrechen ausgleichende Kräfte der Natur sind. Aber viele dieser Leiden sind nicht durch die natürliche Entwicklung, durch die Natur über uns gekommen. Sie sind Ergebnisse der Umgebung des Menschen, der Bedingungen, die er geschaffen hat: schlechte Gesundheitspflege, mangelnde Hygiene, Elendsviertel, verpestete Luft. Das alles sind keine natürlichen Erscheinungen. Es sind Schöpfungen des Menschen.«
»Sie sind ein Teil der Entwicklung, und die Entwicklung ist ein Teil der Natur. Alles zusammen schafft den Ausgleichsprozeß.«
Bewundernd dachte O'Donnell, man kann den alten Burschen nicht leicht erschüttern. Aber er erkannte den schwachen Punkt in dessen Beweisführung. Er antwortete: »Wenn Sie recht haben, dann ist die Medizin auch ein Teil des Ausgleichsprozesses.«
Swayne schnappte zurück: »Wie wollen Sie das begründen?«
»Weil die Medizin ein Teil der Entwicklung ist.« Trotz seiner guten Vorsätze spürte O'Donnell seinen Ton schärfer werden. »Weil jede Veränderung in der Umgebung, die der Mensch herbeiführte, neue Probleme schuf, denen die Medizin gegenübertreten und die sie zu lösen versuchen muß. Wir lösen sie niemals vollständig. Die Medizin hinkt immer etwas hinterher. Und wenn wir ein Problem gelöst haben, ist inzwischen ein neues aufgetaucht.«
»Aber das sind Probleme der Medizin, nicht der Natur.« Swaynes Augen hatten einen bösartigen Schimmer angenommen. »Wenn man die Natur sich selbst überließe, würde sie ihre Probleme lösen, ehe sie entstehen. Durch die natürliche Auswahl der Stärksten.«
»Sie irren sich, und ich will Ihnen sagen, warum.« O'Donnell kümmerte sich nicht mehr um die Wirkung seiner Worte. Er empfand, daß hier ein Punkt lag, den er aussprechen mußte, für sich selbst sosehr wie für die anderen. »Die Medizin kennt nur ein wirkliches Problem. Es war immer das gleiche und wird immer das gleiche bleiben. Es ist das Problem des Überlebens des einzelnen Individuums.« Er machte eine Pause. »Und Überleben ist das älteste Naturgesetz.«
»Bravo!« Impulsiv klatschte Amelia Brown die Hände zusammen. Aber O'Donnell war noch nicht ganz zu Ende.
»Deshalb bekämpfen wir die Kinderlähmung, Mr. Swayne, und deshalb bekämpften wir die schwarze Pest und die Pocken und den Typhus und die Syphilis. Und deshalb bekämpfen wir immer noch den Krebs und die Tuberkulose und alles andere. Das ist der Grund, weshalb wir die Heime haben, von denen Sie sprachen - die Sanatorien, die Pflegestätten für Unheilbare. Das ist der Grund, warum wir Menschenleben erhalten - alle Menschenleben, die wir erhalten können, die der Schwachen so gut wie die der Starken. Weil hinter all dem ein Nenner steht: Überleben! Das ist das Gesetz der Medizin, das einzige, das sie überhaupt haben kann.«
Einen Augenblick erwartete er, Swayne würde wie zuvor zurückschlagen. Aber der alte Mann verharrte schweigend. Dann sah er zu seiner Tochter hinüber. »Gieße Dr. O' Donnell noch etwas Kognak ein, Denise.«
O'Donnell hielt ihr sein Glas hin, als sie mit der Karaffe vor ihn trat. Ihr Kleid rauschte leise, und als sie sich zu ihm beugte, nahm er den schwachen, anregenden Duft ihres Parfüms wahr. Einen Augenblick empfand er den absurden, jugendlichen Impuls, seine Hand auszustrecken und über ihr weiches, dunkles Haar zu streichen. Er unterdrückte ihn, und sie ging zu ihrem Vater hinüber.
Während sie das Glas des alten Mannes füllte, sagte sie: »Wenn du wirklich der Ansicht bist, die du gerade ausgesprochen hast, Vater, was hast du dann im Krankenhausausschuß zu suchen?«
Eustace Swayne lachte verhalten. »Hauptsächlich bin ich noch darin, weil Orden und ein paar andere hoffen, daß ich mein Testament nicht mehr ändere.« Er sah zu Orden Brown hinüber. »Sie rechnen auf jeden Fall damit, daß sie nicht mehr lange zu warten brauchen.«
»Sie tun Ihren Freunden unrecht, Eustace«, sagte Brown. Sein Ton wies die richtige Mischung von Scherz und Ernst auf.
»Und Sie sind ein Schwindler.« Der alte Mann war wieder in guter Stimmung. Er fuhr fort: »Du hast mich etwas gefragt, Denise. Nun, ich will dir antworten. Ich bin im Krankenhausausschuß, weil ich ein praktischer Mann bin. Die Welt ist so wie sie ist, und ich kann sie nicht ändern, obwohl ich sehe, was falsch daran ist. Aber was jemand wie ich tun kann ist, als ausgleichende Kraft wirken. Oh, ich weiß genau, wofür manche mich halten: Für einen Obstruktionisten.«