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I
Am späten Vormittag eines drückend heißen Sommertages verebbte das Leben im Three Counties Hospital und verlief sich wie das Meer bei Niedrigwasser um eine vorgelagerte Insel. Außerhalb des Krankenhauses schwitzten die Einwohner von Burlington, Pennsylvania, bei einer Temperatur von dreiunddreißig Grad im Schatten und achtundsiebzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Unten bei den Stahlwerken und beim Güterbahnhof, wo es kaum Schatten und keine Thermometer gab, wären die Ablesungen - falls sich jemand die Mühe gemacht hätte - noch höher gewesen. In dem Krankenhaus war es kühler als draußen, wenn auch nicht sehr viel. Von den Patienten und dem Stab entgingen nur die Glücklichen oder die Einflußreichen in den Räumen mit Klimaanlagen der schlimmsten Hitze.
Die Aufnahmeabteilung im Erdgeschoß besaß keine Klimaanlage, und Madge Reynolds griff nach dem fünfzehnten Papiertaschentuch an diesem Morgen in ihren Schreibtisch, tupfte ihr Gesicht ab und entschied, daß es wieder Zeit sei, ihren Platz kurz zu verlassen, um sich durch ein desodorierendes Mittel zu erfrischen. Miss Reynolds war Leiterin der Aufnahme. Sie war achtunddreißig Jahre alt, und sie verfolgte aufmerksam die Anzeigen für Mittel zur Förderung der weiblichen Hygiene. Infolgedessen hatte sie einen Horror davor, nicht vollkommen gepflegt zu sein, und bei heißem Wetter unterhielt sie einen Pendelverkehr zwischen ihrem Schreibtisch und der Damentoilette am anderen Ende des Ganges. Zuerst allerdings, entschied sie, mußte sie vier Patienten benachrichtigen, die heute noch aufgenommen werden konnten.
Vor ein paar Minuten hatte sie von den Krankenstationen die Entlassungsscheine für diesen Tag erhalten. Daraus hatte Miss Reynolds ersehen, daß heute sechsundzwanzig Patienten nach Hause geschickt wurden, statt der vierundzwanzig, mit denen sie gerechnet hatte. Zusätzlich der beiden Todesfälle, die während der Nacht eingetreten waren, ergab sich daraus, daß sie aus der langen Warteliste des Krankenhauses vier weitere Namen zur sofortigen Aufnahme heraussuchen konnte. Irgendwo in vier Wohnungen in und um Burlington würde dann ein Quartett von Patienten, die entweder hoffnungsvoll oder furchtsam auf die Benachrichtigung warteten, einpacken, was ihnen unentbehrlich erschien, und sich der Medizin anvertrauen, wie sie im Three Counties Hospital praktiziert wurde. Mit ihrem sechzehnten Papiertaschentuch in der Hand schlug Miss Reynolds jetzt einen Aktendeckel auf, griff nach dem Telefon auf ihrem Schreibtisch und begann zu wählen.
Vom Glück begünstigter als die Angestellten in der Anmeldung waren bei der Hitze jene, die in den ambulanten Kliniken auf Behandlung warteten. Dort, im entgegengesetzten Flügel im Erdgeschoß, herrschte jetzt voller Betrieb. Die Patienten dort kamen wenigstens in den Genuß der Klimaanlagen, wenn sie an der Reihe waren, eines der sechs Sprechzimmer zu betreten, die an den allgemeinen Warteraum grenzten. In den Sprechzimmern standen sechs Fachärzte mit ihren besonderen Fähigkeiten jedem frei zur Verfügung, der sich die Honorare nicht leisten konnte, die diese Spezialisten von den Patienten in ihrer Privatpraxis im Medical Arts Building in der Stadt verlangten.
Der alte Rudy Hermant, der nur noch gelegentlich als Hilfsarbeiter arbeitete, wenn seine Familie ihn dazu zwang, lehnte sich in der komfortablen Kühle gelassen zurück, während Dr. McEwan, der Hals-, Nasen- und Ohrenspezialist, nach der Ursache für Rudys steigende Taubheit forschte. Im Grunde störte die Taubheit Rudy nicht sehr. Manchmal, wenn Vorarbeiter verlangten, daß er etwas anderes tun oder schneller arbeiten solle, fand er sie vorteilhaft. Aber Rudys ältester Sohn hatte entschieden, der alte Mann solle sich die Ohren untersuchen lassen, und folglich war er hier.
Dr. McEwan knurrte gereizt, als er das Otoskop aus dem Ohr des alten Rudy zurückzog. »Es wäre leichter für mich, wenn Sie sich den Dreck vorher herausgewaschen hätten«, bemerkte er bissig.
Diese Übellaunigkeit war für McEwan ungewöhnlich. Allerdings hatte seine Frau an diesem Morgen beim Frühstück eine Auseinandersetzung über die Haushaltskosten fortgesetzt, die sie am vorhergehenden Abend begonnen hatte, und dadurch war er so verärgert, daß er seinen neuen Oldsmobile ohne die nötige Vorsicht rückwärts aus der Garage fuhr und dabei den rechten hinteren Kotflügel verschrammte.
Rudy sah verständnislos zu ihm auf. »Was meinen Sie?« fragte er.
»Ich sagte, es wäre leichter... Ach, lassen Sie!« McEwan überlegte, ob das Leiden des alten Mannes eine Alterserscheinung oder ob es auf einen kleinen Tumor zurückzuführen sei. Es war ein interessanter Fall, und sein berufliches Interesse verdrängte bereits seine Gereiztheit.
»Ich habe nicht verstanden«, sagte der alte Mann wieder.
McEwan hob seine Stimme. »Es hat nichts zu bedeuten, lassen Sie nur.« In diesem Moment war er über die Taubheit des alten Rudy froh und schämte sich etwas über seinen eigenen Temperamentsausbruch.
In der Klinik für innere Medizin entzündete der wohlbeleibte Dr. Toynbee, ein Internist, eine neue Zigarette am Stummel der alten und sah den Patienten auf der anderen Seite seines Schreibtisches an. Während er den Fall überdachte, verspürte er ein leichtes Brennen im Magen und entschied, daß er für ein oder zwei Wochen auf chinesische Küche verzichten müsse. Doch das war in Anbetracht der zwei Diners, die ihm in dieser Woche noch bevorstanden, und des Gourmetclubs am nächsten Dienstag nicht allzu schwer zu ertragen. Während er seine Diagnose festlegte, sah er seinen Patienten an und sagte: »Sie sind zu dick, mein Lieber. Ich werde Ihnen eine Diät verordnen, und Sie müssen auch das Rauchen aufgeben.«
Etwa hundert Meter von dem Ort entfernt, wo die Spezialisten Hof hielten, eilte Miss Mildred, die Leiterin des Archivs im Three Counties Hospital, schweißüberströmt durch einen der belebten Gänge im Erdgeschoß. Doch Hitze und Unbehagen konnten sie nicht zurückhalten, und sie verfolgte ihr Wild, das sie gerade um die nächste Ecke verschwinden sah, noch schneller.
»Dr. Pearson! Dr. Pearson!«
Erst ab sie ihn einholte, blieb der alte Pathologe des Krankenhauses stehen. Er schob die große Zigarre, die er rauchte, in einen Mundwinkel und fragte gereizt: »Was gibt es? Was wollen Sie denn?«
Die kleine Miss Mildred, zweiundfünfzig, altjüngferlich und selbst mit ihren höchsten Absätzen gerade nur ein Meter fünfzig, zitterte vor Dr. Pearsons Stirnrunzeln, aber Akten, Formulare, Krankengeschichten waren ihr Lebensinhalt, und sie faßte Mut. »Diese Obduktionsbefunde müssen unterschrieben werden, Dr. Pearson. Das Gesundheitsamt hat Abschriften angefordert.«
»Ein andermal. Ich bin in Eile.« Joe Pearson war in denkbar ungnädiger Laune.
Miss Mildred ließ sich nicht einschüchtern. »Bitte, Doktor. Es dauert doch nur einen Augenblick. Seit drei Tagen versuche ich, Sie zu erreichen.«
Unwillig knurrend gab Pearson nach. Er nahm den Kugelschreiber und die Formulare, die Miss Mildred ihm reichte, trat an einen Schreibtisch und kritzelte brummend Unterschriften. »Ich weiß gar nicht, was ich hier unterschreibe.
Was ist denn das?«
»Der Fall Howden, Dr. Pearson.«
Pearson war immer noch ungehalten. »Howden! Howden! Ich kann doch nicht jeden Fall im Kopf haben.«
Geduldig erklärte Miss Mildred: »Das war der Arbeiter, der an den Folgen eines Sturzes von einem hohen Laufsteg starb. Sie erinnern sich bestimmt noch. Seine Firma behauptet, der Unfall sei durch einen Herzanfall verursacht worden, denn andernfalls hätten ihre Sicherheitsvorrichtungen den Sturz verhindert.«
Pearson grunzte: »Ah ja.« Während er weiter unterschrieb, fuhr Miss Mildred mit ihrer Zusammenfassung fort; denn wenn sie etwas anfing, führte sie es auch richtig und ordnungsgemäß zu Ende. »Die Obduktion ergab jedoch, daß der Mann ein gesundes Herz hatte und auch keine anderen Symptome aufwies, die einen Unfall veranlaßt haben könnten.«
Pearson schnitt ihr das Wort ab: »Das weiß ich alles.«
»Verzeihung, Doktor, ich dachte.«
»Es war ein Unfall. Die Firma wird der Witwe eine Pension bezahlen müssen«, knurrte Pearson dazwischen, schob seine Zigarre im Mund zurecht und kritzelte eine weitere Unterschrift, wobei er fast das Papier zerriß. Es ist beinahe noch mehr Ei als gewöhnlich auf seiner Krawatte, dachte Miss Mildred, und sie fragte sich, vor wie vielen Tagen der Pathologe sein graues, störrisches Haar zum letztenmal gebürstet haben mochte. Im Three Counties Hospital war man sich nicht einig, ob Joe Pearsons äußere Erscheinung als Witz oder als Skandal angesehen werden sollte. Seit seine Frau vor etwas über zehn Jahren gestorben war und er allein lebte, war er äußerlich immer mehr verlottert. Jetzt, mit Sechsundsechzig, ließ seine Erscheinung manchmal eher an einen Landstreicher denken als an den Leiter einer Hauptabteilung des Krankenhauses. Unter dem offenstehenden Ärztemantel bemerkte Miss Mildred eine gestrickte Wollweste mit ausgefransten Knopflöchern und zwei weiteren Löchern, die wahrscheinlich von Säure gefressen worden waren. Seine graue, ungebügelte Hose fiel über ausgetretene Schuhe, die dringend hätten geputzt werden müssen.
Joe Pearson unterzeichnete das letzte Papier und schob den Stoß mit einer fast wilden Bewegung der kleinen Miss Mildred hin. »Vielleicht darf ich jetzt mit meiner wirklichen Arbeit weitermachen, wie?« Seine Zigarre wippte auf und ab und verstreute Asche, zum Teil auf ihn selbst, zum Teil auf den glänzenden Linoleumboden. Pearson war so lange im Three Counties Hospital, daß er sich Grobheiten erlauben konnte, die bei einem jüngeren Mann nie geduldet worden wären, und auch die Schilder >Nicht rauchen< zu ignorieren, die in Abständen gut sichtbar in den Krankenhausgängen hingen.
»Danke, Doktor. Danke vielmals.«
Er nickte kurz und ging weiter zur Haupthalle, um mit dem Fahrstuhl in das Souterrain zu fahren. Aber beide Fahrstühle befanden sich in den oberen Stockwerken. Mit einem unmutigen Brummen eilte er die Treppe hinunter, die zu seiner eigenen Abteilung führte.
In der chirurgischen Abteilung, drei Etagen höher, war die Atmosphäre ausgeglichener. In der gesamten Operationsabteilung wurden Temperatur und Luftfeuchtigkeit sorgfältig kontrolliert, damit die Chirurgen des Krankenhauses, die Assistenten und die Schwestern, die unter ihren grünen Operationsanzügen nur ihre Unterwäsche trugen, unbeeinträchtigt arbeiten konnten. Manche der Chirurgen hatten ihre ersten Operationen an diesem Morgen bereits hinter sich und schlenderten für eine Tasse Kaffee zu dem Aufenthaltsraum, ehe sie zu ihrem nächsten Fall übergingen. Aus den Operationsräumen zu beiden Seiten des Ganges, der vom übrigen Teil des Krankenhauses aseptisch abgeschlossen war, schoben Schwestern Patienten, die noch in der Narkose lagen, in eines der beiden Zimmer, wo die Patienten unter Beobachtung blieben, bis sie wieder zu sich gekommen waren und in die ihnen zugeteilten Krankenbetten gebracht werden konnten.
Zwischen Schlückchen von siedendheißem Kaffee verteidigte Lucy Grainger, eine orthopädische Chirurgin, die Anschaffung eines Volkswagens, den sie sich am Tage vorher gekauft hatte.
»Sie müssen entschuldigen, Lucy«, sagte Dr. Bartlett, »aber ich fürchte, ich bin auf dem Parkplatz versehentlich draufgetreten.«
»Macht nichts, Gil«, antwortete sie. »Aber für Sie ist die körperliche Bewegung nur gesund, wenn Sie um Ihr Ungeheuer aus Detroit herumlaufen müssen.«
Gil Bartlett, einer der allgemeinen Chirurgen des Krankenhauses, war als Besitzer eines cremefarbenen Cadillacs bekannt, den man selten anders als in fleckenlosem Glanz strahlend sah. Im Grunde war der Wagen ein Ausdruck der peinlichen Sorgfalt seines Besitzers, der unbestreitbar einer der bestangezogenen Ärzte am Three Counties Hospital war. Bartlett war auch der einzige Arzt, der sich mit einem Bart präsentierte, einen immer sauber gestutzten van Dyck, der beim Sprechen auf- und abwippte, ein Vorgang, den Lucy faszinierend zu beobachten fand.
Kent O'Donnell kam zu ihnen herübergeschlendert. O'Donnell war Chef der Chirurgie und gleichzeitig Präsident des medizinischen Ausschusses des Krankenhauses. Bartlett begrüßte ihn.
»Sie habe ich gesucht, Kent. Ich halte vor den Schwestern nächste Woche einen Vortrag über Mandeloperationen bei Erwachsenen. Haben Sie ein paar Farbdias von Luftröhrenentzündungen und durch Aspiration verursachte Lungenentzündungen?«
O'Donnell überflog in Gedanken seine Sammlung von Farbfotos für Lehrzwecke. Er wußte, was Bartlett meinte. Er bezog sich auf eine der weniger bekannten Komplikationen, die manchmal nach der Ausschälung der Rachenmandeln bei Erwachsenen auftritt. Wie den meisten Chirurgen war O'Donnell bekannt, daß selbst bei der größten Sorgfalt während der Operation gelegentlich ein winziges Stück der Mandel der Pinzette des Operateurs entging und von dem Patienten in die Lunge eingeatmet wurde, wo es eine Infektion verursachte. Er erinnerte sich, daß er eine Serie von Bildern der Luftröhre und der Lungen besaß, die einen derartigen Fall zeigten. Sie waren während einer Obduktion aufgenommen worden. »Ich glaube ja«, antwortete er. »Ich werde sie heute abend heraussuchen.«
»Wenn Sie keines von der Luftröhre haben, dann geben Sie ihm eins vom Dickdarm«, riet Lucy Grainger. »Er kann es doch nicht unterscheiden.« Gelächter lief durch das Ärztezimmer.
Auch O'Donnell lächelte. Er und Lucy waren alte Freunde, und manchmal fragte er sich, ob sie nicht mehr werden könnten, wenn ihnen Zeit und Gelegenheit gegeben würden. Er hatte Lucy aus vielen Gründen gern, nicht zuletzt wegen der Art und Weise, in der sie sich in einer Umgebung behauptete, die manchmal als eine Männerwelt angesehen wird, und in der sie dennoch niemals ihre Fraulichkeit verlor.
Der Operationsanzug, den sie jetzt trug, ließ sie formlos wie alle anderen, fast anonym, erscheinen. Er wußte aber, daß sich darunter eine hübsche, schlanke Figur verbarg, die im allgemeinen dezent, elegant und modisch angezogen war.
Seine Gedanken wurden von einer Krankenschwester unterbrochen, die geklopft hatte und unbemerkt eingetreten war.
»Dr. O'Donnell. Die Familie Ihres Patienten wartet draußen.«
»Sagen Sie bitte, ich käme sofort.« Er trat in das Umkleidezimmer und begann, seinen Operationsanzug abzustreifen. Auf seinem Programm für heute stand nur eine Operation, die er bereits beendet hatte. Wenn er die Familie draußen getröstet und ihr Mut zugesprochen hatte - gerade hatte er dem Patienten erfolgreich Gallensteine entfernt -, war seine nächste Aufgabe ein Besuch beim Verwaltungsdirektor.
Ein Stockwerk über der chirurgischen Abteilung, in dem Krankenzimmer für Privatpatienten Nr. 28, hatte George Andrew Dunton die Fähigkeit verloren, Wärme oder Kälte wahrzunehmen, und stand fünfzehn Sekunden vor dem Tod. Während Dr. McMahon das Handgelenk seines Patienten hielt und darauf wartete, daß der Puls aussetzte, stellte Schwester Penfield den Ventilator am Fenster auf stark, weil durch die Anwesenheit der Angehörigen die Luft im Zimmer unbehaglich stickig geworden war. Das ist eine ordentliche Familie, dachte sie, die Frau, der erwachsene Sohn, die jüngere Tochter. Die Frau schluchzte leise vor sich hin, die Tochter weinte tonlos, wobei ihr die Tränen über die Wangen liefen, der Sohn hatte sich abgewendet, aber seine Schultern zuckten. Wenn ich einmal sterbe, dachte Elaine Penfield, hoffe ich, daß auch um mich jemand weint. Tränen sind der beste Nachruf, den es gibt.
Jetzt ließ Dr. McMahon das Handgelenk seines Patienten sinken und sah zu den anderen hinüber. Es waren keine Worte erforderlich, und methodisch notierte Schwester Penfield die Todeszeit: zehn Uhr zweiundfünfzig.
In den Krankensälen und den Zimmern der Privatpatienten an diesem Gang gehörte diese Zeit zu den stillen Stunden des Tages. Die Morgenmedikamente waren ausgegeben, die Visiten beendet, und es herrschte vorübergehend Stille, bis die Essenszeit wieder einen Höhepunkt der Betriebsamkeit brachte. Manche der Schwestern waren zur Kantine Kaffee trinken gegangen, andere, die zurückgeblieben waren, füllten ihre Krankenblätter aus. »Klagt über fortgesetzte Leibschmerzen«, hatte Schwester Wilding auf dem Krankenblatt einer Patientin notiert. Sie war im Begriff, eine weitere Bemerkung hinzuzufügen, unterbrach sich aber.
Zum zweiten Male an diesem Morgen griff Schwester Wilding, grauhaarig und mit sechsundfünfzig Jahren eine der ältesten Pflegerinnen des Krankenhauses, in ihre Schwesternuniform und zog den Brief heraus, den sie bereits zweimal gelesen hatte, seit er zusammen mit der Post ihrer Patienten auf ihren Schreibtisch gelegt worden war. Das Foto eines jungen Marineleutnants mit einem hübschen Mädchen am Arm fiel heraus, als sie ihn auseinanderfaltete, und sie betrachtete einen Augenblick lang das Bild, ehe sie den Brief noch einmal las. »Liebe Mutter«, begann er, »es wird dich sicher sehr überraschen, aber ich habe hier in San Franzisko ein Mädchen kennengelernt, und gestern haben wir geheiratet. Ich weiß, daß das für dich in mancher Weise eine große Enttäuschung bedeutet, da du immer gesagt hast, du wolltest an meiner Hochzeit teilnehmen. Aber ich bin überzeugt, du wirst es verstehen, wenn ich dir sage...«
Schwester Wilding ließ ihre Augen von dem Brief abschweifen und dachte an den Jungen, den sie in Erinnerung und den sie so selten gesehen hatte. Nach der Scheidung hatte sie für Adam gesorgt, bis er aufs College ging. Dann war Annapolis gefolgt, mit ein paar Wochenendbesuchen und kurzen Ferien. Danach kam die Marine. Und jetzt war er ein Mann, der einer anderen gehörte. Sie durfte nicht vergessen, nachher ein Telegramm mit vielen lieben und guten Wünschen an sie aufzugeben. Vor Jahren hatte sie immer gesagt, daß sie ihren Beruf aufgeben werde, sobald Adam auf eigenen Füßen stehen und sich selbst erhalten könne, aber sie hatte es dann doch nicht getan, und jetzt würde die Pensionierung schnell genug kommen, ohne daß sie etwas dazu tat. Sie schob Brief und Foto in die Tasche zurück und griff nach der Feder, die sie niedergelegt hatte. Dann fügte sie in sorgfältigen Buchstaben auf dem Krankenblatt hinzu: »Leichtes Erbrechen und Durchfall.