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»Oh, Sie sind es, Mrs. Warner. Dachten wir uns doch, daß wir hier drinnen Stimmen gehört haben.«
Ein schlank gebauter Mann um die Vierzig mit leicht gekrümmtem Rücken und einer etwas geistesabwesenden Art betrat den Raum und wurde von einer Frau gefolgt, bei der es sich, wie ich annahm, um seine Gattin handelte.
»Verzeihen Sie, ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, sagte der Mann und wandte sich mir mit einem Tonfall zu, der ebenso ausdruckslos war wie sein Gesicht.
Violet antwortete, noch bevor ich die Gelegenheit hatte zu reagieren. »Oh, entschuldigen Sie, Sir Charles. Dies ist eine alte Freundin von mir, die aus London hergekommen ist - Mrs. Emma Hudson. Em, das hier sind Sir Charles und seine Frau Lady Margaret.«
Die tiefen, zusammengekniffenen Augen des Mannes, die neben einer vorstehenden Nase lagen, flogen gleichgültig über mich hinweg. Sein Haar war, abgesehen von den weiß gesprenkelten Koteletten, tiefschwarz, geglättet und in der Mitte gescheitelt. Ich fragte mich, warum er von der Möglichkeit der Männer, sich einen Bart wachsen zu lassen, keinen Gebrauch gemacht hatte. Die zusätzliche Verzierung hätte dazu dienen können, ein allzu weiches Kinn zu verdecken und die schnabelähnliche Nase auszugleichen. Alles in allem, so muß ich leider sagen, blieb bei mir der Eindruck eines Mannes zurück, der die Persönlichkeit eines Fussels hatte.
Lady Margaret dagegen war aus vollkommen anderem Holz geschnitzt. Scharfgeschnittene Gesichtszüge, hochgekämmtes kastanienbraunes Haar - eine sehr aristokratische Erscheinung. Kein hohles Profil in diesem Fall. Dies war, wenn ich mich nicht irrte, keine graue Eminenz, dies war Ihre Eminenz persönlich!
Bei all ihrem graziösen und würdevollen Verhalten war sie dennoch eine schöne Frau, wohl kaum mehr als ein oder zwei Jahre jünger als ihr Mann. Bei eingehender Betrachtung konnte man sich eine Zeit vorstellen, in der diese Augen die zahllosen Herren, mit denen sie auf vielen Bällen getanzt hatte, mit einem sprühenden und funkelnden Blick betörten. Die Augen glichen nun dem Stein auf ihrem Ring, einem Diamanten: kalt, hart und leuchtend blau. Sie stand links von ihrem Gatten und trug eine Haltung von Langeweile oder Verärgerung - oder beidem - zur Schau.
Ich nickte höflich. »Sir Charles, Lady Margaret.«
Mein Gruß wurde mit einem matten Lächeln von Sir Charles und einem kurzen Kopfnicken der aristokratischen Statue aufgenommen. Ein unangenehmes Schweigen folgte, bis Vi in die Bresche sprang.
»Ich habe Mrs. Hudson gebeten, ein paar Tage zu bleiben«, sagte sie, »wo ich doch so durcheinander bin, wegen des Ablebens Ihrer Ladyschaft und so. Sofern es Ihnen recht ist, Sir Charles.«
Während die zusammengekniffenen Augen wieder einmal über mich hinwegglitten, vernahm ich ein kaum hörbares, aber heftiges Einatmen von Lady Margaret. Sir Charles schaute kurz zu seiner Frau, die seinem Blick auswich, indem sie auf einen imaginären Punkt an der Decke starrte. Er nahm die Hand vor den Mund und hüstelte ein wenig nervös vor sich hin, bevor er antwortete.
»Nun. also. ja, natürlich, Mrs. Warner. Ich werde veranlassen, daß einer der Diener das Gepäck von Mrs. Hudson nach oben in das. äh, lassen Sie mich überlegen, ich denke, das Zimmer am Ende des oberen Flures wäre. «
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir Charles«, unterbrach ihn Vi. »Ich dachte, Em. Mrs. Hudson, meine ich, könnte doch bei mir, in meinem Zimmer, übernachten.«
Was soll das? fragte ich mich. Vi wollte, daß ich in ihrem Zimmer schlief? Hatte sie tatsächlich Angst um sich? Waren es die St. Clairs, vor denen sie glaubte, sich in acht nehmen zu müssen?
Die Antwort des Baronets von Haddley bestand lediglich aus einem Schulterzucken. »Wie Sie wünschen, Mrs. Warner«, erwiderte er, während er in die äußerste Ecke des Zimmers ging.
Wir sahen schweigend zu, wie er sich einen großen Brandy einschenkte. Auch wenn ich ein Mensch bin, der alkoholischen Getränken nicht frönt, jedenfalls nicht in allzu großem Ausmaße, so hätte ich einen Sherry nicht abgelehnt, wäre er mir angeboten worden. In diesem Moment ergriff das weibliche Oberhaupt des Gutes zum ersten Mal, seit sie das Arbeitszimmer betreten hatte, das Wort. »Sie sind sich darüber im klaren, Mrs. Warner, nicht wahr, daß Ihre Dienste nicht länger benötigt werden.«
Ihr beißender Tonfall und die Art, wie sie es beim Sprechen vermied, Vi direkt anzuschauen, hinterließen bei mir den Eindruck, daß Lady Margaret allein die Tatsache, unmittelbar mit einer »gesellschaftlich niedriger Stehenden« zu reden, als überaus unangenehm empfand.
»Sie können, falls Sie es wollen«, fuhr sie fort, »bis zum Ende der Woche bleiben, womit sie sicherlich genügend Zeit haben, um Ihre persönlichen Sachen zusammenzupacken, und, sofern Sie den Wunsch haben, dem Begräbnis Ihrer Ladyschaft beizuwohnen.«
Ich beobachtete beklommen, wie sich die Nackenmuskeln von Vi vor Zorn anspannten. Reiß dich zusammen, altes Mädchen, sagte ich in Gedanken. So wie ich meine alte Freundin kannte, wußte ich, daß sie wie ein Sturm mitten auf dem Atlantik aufbrausen konnte.
»Sie sind zu gütig, wirklich, Lady Margaret«, lautete indes die beherrschte Antwort.
Ich seufzte erleichtert auf. Und dennoch kam, wie weit entferntes Donnergrollen, ein Gefühl der Spannung im Raum auf. Ich beschloß, die sich nähernden Sturmwolken abzuwehren, indem ich meine Aufmerksamkeit Sir Charles zuwandte, der zu unserer kleinen Enklave zurückgekehrt war und den übriggebliebenen Inhalt seines Brandys im Glas schwenkte, während er gedankenverloren eine kleine Melodie vor sich hin summte. Ein scharfer Blick seiner Frau beendete das Lied abrupt.
»Bitte lassen Sie mich mein Beileid zum Ableben Ihrer Mutter aussprechen«, sagte ich.
»Was? Oh, ja«, antwortete er ein wenig verwirrt, da ihn meine Worte offensichtlich aus irgendwelchen Gedanken gerissen hatten. »Danke, Mrs. Hudson. Sie wird uns allen schrecklich fehlen, fürchte ich.«
»Und die Ursache, wenn ich so anmaßend sein darf, mich danach zu erkundigen?«
»Was?«
»Die Ursache. Die Todesursache«, wiederholte ich und fühlte, wie sich drei Augenpaare in mich hineinbohrten. Dennoch wollte ich wissen, welche Antwort ich von den St. Clairs auf meine Frage erhalten würde.
»Ach ja, die Ursache.« Während er seiner Frau einen Blick zuwarf, vernahm ich erneut einen nervösen Hustenanfall des Baronets.
»Unser Familienarzt führt den Tod auf nichts anderes als ein Herzversagen zurück«, warf Lady Margaret ein, um die Kontrolle über das Unbehagen, welches im Zimmer herrschte, zu erlangen. »So unangenehm es auch sein mag, Mrs. Hudson«, fuhr sie herablassend fort, »wir alle müssen uns mit der Tatsache abfinden, daß niemand ewig lebt. Ihre Ladyschaft war immerhin eine Frau in weit fortgeschrittenem Alter.«
»So verflucht fortgeschritten nun auch wieder nicht!« lautete der sarkastische Kommentar meiner alten Freundin.
Ihre Bemerkung schlug ein wie eine Bombe. Während Sir Charles einfach nur unruhig dastand und einen peinlich berührten Eindruck machte, wurde seine Frau fuchsteufelswild. Ihr Sinn für gesellschaftliche Etikette war verschwunden, als ihre Stimme vor Erregung bebte.
»Es gibt einige Menschen, Mrs. Hudson«, und obwohl sich die Augen Lady Margarets in Vis brannten, waren die gefauchten Worte an mich gerichtet, »die eher ihren eifrigen Phantasien glauben als dem Bericht des Arztes!«
Ich war angesichts dieses plötzlichen Ausbruches sprachlos. Es schien, als schwele unter dem frostigen Äußeren der Eiskönigin ein feuriger Zorn. In dieser Situation hielt ich es für das beste, uns zu verabschieden.
»Vi«, sagte ich, »wir sollten vielleicht.«
»Ja, da hast du recht«, antwortete sie, stützte sich mit den Händen auf den Armlehnen des Sessel ab und erhob sich. »Wir ziehen uns am besten für heute abend zurück. Du hast doch schon gegessen, nicht wahr, meine Liebe?«
»Ja, in der Tat. Ich war in einer Teestube im Dorf.«
»Gut. Sie brauchen die Diener nicht zu bemühen, Sir Charles; ich kümmere mich um das Gepäck von Mrs. Hudson.«
Ich teilte Vi mit, daß ich lediglich mit einem kleinen Koffer gekommen wäre, da ich keine Ahnung von der Dauer meines Aufenthaltes gehabt hätte. »Sie entschuldigen uns also, Lady Margaret?« fragte ich.
Keine Antwort.
»Sir Charles?«
»Ja, ähm, gute Nacht, Mrs. Hudson, Mrs. Warner«, antwortete er und stellte sein Glas auf den Teewagen, ohne auch nur eine von uns anzuschauen.
Draußen in der Eingangshalle war Violet so freundlich und holte meinen Koffer von dort hervor, wohin er gestellt worden war. Ich hielt am Fuße der Treppe inne, faßte an das dunkle Geländer aus Walnuß und schaute nach oben: Für jemanden in meinem Alter erschien es mir als ein so gewaltiger Aufstieg wie die Spanische Treppe von Rom.
Violet bemerkte mein Zögern, als ich mich tief durchatmend auf den Versuch des Erklimmens vorbereitete.
»Na komm«, verkündete sie kichernd, »so schlimm, wie es aussieht, ist es nicht.«
Sie reichte mir ihren Arm.
»Warte«, sagte ich. »Hör mal.«
In unserer Eile, den Raum zu verlassen, hatte ich die Tür etwas offen gelassen. Wir standen schweigend auf der untersten Stufe und hörten der kaum vernehmbaren, aber äußerst lebhaften Unterhaltung der St. Clairs zu - lebhaft zumindest, was Lady Margaret betraf.
»Warte hier«, befahl ich Vi und schlich auf Zehenspitzen zurück zum Arbeitszimmer.
»Was soll denn das werden? Heimlich lauschen, hä? Oh, das würde ich an deiner Stelle nicht tun.«
Doch trotz ihrer Einwände folgte Vi mir rasch und lautlos. Gemeinsam lauschten wir an der Tür.
»Und noch etwas, Charles. Du sprichst mit diesen Leuten, als wären sie unseresgleichen!«
Wir sahen schweigend zu, wie seine Frau auf und ab ging und dadurch in unterschiedlichen Abständen immer wieder aus unserem Sichtfeld verschwand. Mir kam der Gedanke, die Tür noch ein klein wenig weiter aufzuschieben, was ich dann aber doch lieber unterließ.
»Es ist schon schlimm genug«, fuhr sie fort, »daß wir diese Warner jeden Abend beim Dinner erdulden müssen. Ich gehe davon aus, daß wir jetzt sogar noch einen Stuhl für diese Person - Hodgeson, oder wie immer sie heißt - dazustellen müssen.«
»Wie bitte?« stieß Violet hervor. »Sie muß mich erdulden? Pah, das gefällt mir!«
Ich legte einen Finger auf die Lippen und hoffte, sie zum Schweigen veranlassen zu können, während ich beobachtete, wie Sir Charles den temperamentvollen Ausbruch seiner Frau anscheinend amüsiert hinnahm.
»Hudson.« Er lächelte.
»Was?«
»Hudson«, antwortete er und ging zur Bar hinüber. »Die Frau heißt Hudson. Und was Mrs. Warner betrifft«, fügte er hinzu und füllte sein Glas erneut, bevor er weiterredete, »du weißt sehr wohl, daß es Mut-ters Wunsch war, sie wie ein Familienmitglied zu behandeln.«
Er stürzte seinen Drink hinunter, als wolle er sich gegen den nächsten Angriff wappnen. Und der ließ nicht lange auf sich warten.
»Aber deine Mutter weilt nicht mehr unter uns, nicht wahr?« Sie schleuderte ihm die Worte entgegen. »Und jetzt haben wir diese. diese Hudson hier. Wer weiß, wer morgen an unsere Tür klopft!«
Der Baronet blieb nun in unserem Blickfeld stehen.
»Wirklich, Margaret«, antwortete er besänftigend, »es gibt keinen Grund, daß du dich so aufregst. Immerhin sind sie bis Ende der Woche fort. Wenn ich mich recht entsinne, hast du den beiden das sehr deutlich zu verstehen gegeben.«
»Und das war auch verdammt gut so!« rief sie wütend aus. »Was genau hat diese Mrs. Hudson eigentlich hier verloren? Das gefällt mir nicht, Charles. Du erinnerst dich doch an den Aufstand, den Mrs. Warner machte, als sie herausfand, daß deine Mutter. äh.«
»Dahingeschieden war?«
Sie griff seine Worte auf. »Ja, genau, dahingeschieden war.«
»Dahingeschieden, daß ich nicht lache!« stieß meine Freundin hervor und verpaßte mir einen wütenden Ellbogenstoß in die Rippen.
»Und jetzt«, fuhr die Dame des Hauses fort, »steht diese Frau aus London bei uns auf der Schwelle. Warum?«
»Komm schon, Liebling. Du hörst dich an, als sei sie eine Geheimagentin für Scotland Yard.«
Sie drehte sich abrupt um und starrte ihn an. »Warum erwähnst du Scotland Yard?«
»Ich hatte den Eindruck«, antwortete er lässig, »daß sich dein Gedankengang auch in diese Richtung bewegte.«
»Nein, warum sollte er?« Sie schien recht beunruhigt, und zum ersten Mal, seit wir unsere Stellung draußen an der Tür bezogen hatten, verfiel die Stimme von Lady Margaret in ein Flüstern. Sie ließ sich in einen Sessel fallen und enthielt uns so ihren Anblick teilweise vor. »Charles, wir müssen uns einfach einmal vernünftig darüber unterhalten, was genau im Schlafzimmer deiner Mutter passiert ist.«
Bei dieser Bemerkung erhielt ich einen weiteren Rippenstoß.
»Wenn du es wirklich für notwendig hältst, Liebling. Aber heute abend bitte nicht. Du siehst müde aus. Warum gehen wir nicht zu Bett? Außerdem müssen wir morgen Mutters Begräbnis beiwohnen. Aber.!«
»Was ist? Was ist los?«
»Die Tür zum Arbeitszimmer. Sie ist gar nicht richtig zu.«
»Diese Hudson hat sie wahrscheinlich offen gelassen«, antwortete sie verärgert. »Du schließt sie besser, Charles.«
Es war an der Zeit, eilig das Feld zu räumen. Die Treppe erschien nun nicht mehr unüberwindbar. Ich erklomm die Stufen wie beflügelt, und Violet folgte dicht hinter mir.
Wir liefen den Flur entlang und erreichten die Schlafzimmertür, die Vi, nachdem wir eilig den Raum betreten hatten, schnell von innen abschloß.