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Nach ein paar eiligen und vertraulichen Worten zu Hogarth unten in der Eingangshalle betrat ich das Musikzimmer und sah, daß alle in ihre gewohnte abendliche Routine, so wie Vi sie treffend beschrieben hatte, vertieft waren - außer Sir Charles, der nicht am Klavier, sondern auf einem seidenen rosaroten Sofa saß und müßig in einem Buch blätterte.
Obwohl sich alle Blicke auf mich richteten, als ich eintrat, war Violet die einzige, die so umsichtig war, mich bei meiner Ankunft zu begrüßen. »Da bist du ja, Liebes. Ich habe mich schon gefragt, was du so lange getan hast.«
Ihre Stimme schreckte den alten Colonel auf, der sich nach dem Dinner einem Nickerchen hingegeben hatte. Als ich an ihm vorbeiging, um meinen Platz neben Vi einzunehmen, blieb er lange genug wach, um sich nach der Gesundheit von Dr. Morley zu erkundigen.
»Er ruht«, antwortete ich lediglich und nur allzu wahrheitsgemäß.
»Ich hatte gehofft, es ginge ihm gut genug, um kurz zu erscheinen«, sagte der Squire und holte eine Zigarette aus dem Etui. »Wenn der Colonel weiter vor sich hin schlummert, werde ich später jemand anderen zum Kartenspiel brauchen.«
Der alte Soldat murmelte irgend etwas vor sich hin und schlief dann unmittelbar wieder ein.
»Ich hörte, Sie haben heute nachmittag Twillings einen Besuch abgestattet, Mrs. Hudson«, sagte Lady Margaret, ohne von der Nadel, die in ihrer Stickerei auf- und abschoß, aufzublicken.
»Twillings? Ja, in der Tat, ich war dort«, lautete meine verwirrte und gestotterte Antwort, während ich hoffte, daß es damit erledigt wäre.
Die Nadel erstarrte, während sich die Augen von Lady Margaret langsam mit einem fragenden Blick auf mich richteten und auf eine weitergehende Erläuterung warteten.
Was jetzt? Ich wußte, daß ich mit irgendeiner Geschichte aufwarten mußte. Ich konnte mich nicht immer darauf verlassen, daß Violet mir zur Hilfe kam - obwohl ich spürte, daß ihr angesichts der Situation ebenso unwohl zumute war wie mir, denn sie gab merkwürdige Laute von sich.
»Mein Schal«, stieß ich hervor.
»Ja?«
»Ah, ja, mein Schal«, wiederholte ich. »Ich brauche unbedingt einen neuen, dickeren. Ich dachte, ich entdecke vielleicht im Dorf etwas, aber kein Glück, leider.«
»Zu schade.«
Es wurde nichts weiter gesagt. Die Frau des Baronet hatte nicht ein einziges Wort von dem, was ich gesagt hatte, geglaubt. Ich kam mir recht lächerlich vor.
Jeder kehrte zu seinen eigenen Gedanken zurück, bis ich schließlich den Mut faßte und die folgende Bitte aussprach. »Ich hörte, Sie spielen Klavier, Sir Charles. Vielleicht würden Sie uns mit ein oder zwei Stücken beehren?«
»Ich fürchte, ich bin nicht. «
»Ach, komm schon, alter Junge«, mischte sich sein jüngerer Bruder ein, »du hast doch nur darauf gewartet, gebeten zu werden.«
»Etwas von Scarlatti wäre nett, Charles«, schlug die Dame des Hauses vor.
Sir Charles nahm seinen Platz am Klavier widerwillig ein. Während das glänzende Instrument aus Rosenholz die Melodie erklingen ließ, wurde dem Pianisten ebenso wie dem Klavier dank dreier Fenster, die vom Boden bis unter die Decke reichten, ein dramatischer Hintergrund verschafft. Draußen schob sich der Mond schüchtern hinter blaugraue Wolken und wieder aus ihnen hervor, wobei er in unregelmäßigen Abständen ein Publikum aus Ulmen erleuchtete, die sich im Nachtwind wie im Rhythmus zu der Musik wiegten.
Als die Kantate beendet war, folgte ein schmetternder Applaus, woraufhin der Baronet sich uns zuwandte und fragte: »Vielleicht möchten die Damen gerne etwas Moderneres hören?«
»Kennen Sie vielleicht >Lebe wohl, mein Seemann<?« fragte ich.
»>Lebe wohl.<?« Er schürzte einen Moment lang nachdenklich die Lippen. »Nein, ich glaube nicht, Mrs. Hudson.«
»Aber natürlich, Sir Charles«, stimmte Vi ein und stupste mich verschwörerisch in die Seite. »Ich habe doch selbst gehört, daß Sie es schon mehrere Male gespielt haben. Das geht so.« Woraufhin sie die Melodie trällerte.
»Oh, das! Klar, das kenne ich! Ist in London gerade ziemlich populär. Wußte nie genau, wie es hieß. Du mußt es auch schon gehört haben, Henry.«
Der Squire stellte sich mit dem Glas in der Hand neben das Klavier und stärkte sich mit einem Schluck, bevor er sagte: »Kann ich nicht behaupten, alter Junge.«
Kaum erklangen die ersten Takte, da hörte man aus dem vom Mond erhellten Garten eine Stimme, die das Klavier singend begleitete.
Während Charles weiterspielte, wenn auch zögernd, standen wir auf und gingen zum Fenster. Obwohl kein Wort gesprochen wurde, tauschten alle Anwesenden fragende, verwirrte und ängstliche Blicke aus.
Die Wolken hatten sich gelichtet, und das Mondlicht ließ im Garten die einsame, geisterhafte Gestalt einer jungen Frau sichtbar werden.
Sir Charles, der langsam ebenso die Nerven zu verlieren schien wie die anderen, verließ das Klavier und kam zu uns ans Fenster. Der Gesang ertönte weiterhin mit einer quälend klaren Stimme, während die schattenhafte Gestalt einer jungen Frau heranschwebte und uns einen erschreckenden Blick auf ihr blutverschmiertes Gesicht ermöglichte.
Lady Margaret fiel prompt in Ohnmacht.
Sowohl der Colonel als auch Sir Charles erstarrten auf der Stelle wie die Wachsfiguren von Madame Tussaud. Vi stolperte zurück und hielt sich am Klavier fest. Der Squire, dessen Gesicht vor Grauen und Un-glaube verzerrt war, warf sein schweres Kristallglas mit solch einer Gewalt gegen das Fenster, daß durch die Wucht Tausende von Fensterscherben nach draußen flogen.
»Es ist Nora! Es ist Nora!« schrie er immer wieder.
»Wie könnte es Nora sein?« fragte ich ihn. »Sie haben sie doch getötet!«
»Ja, aber Sie haben sie gesehen - wir alle haben sie gesehen!« ent-gegnete er heftig, bevor er sich über die Tragweite seines Eingeständnisses klar wurde.
Er ging zum Barschrank, wo seine zittrigen Hände mit mäßigem Erfolg versuchten, ein Whiskyglas zu füllen.
Ich drehte mich zu seinem Bruder um. »Sir Charles«, befahl ich ihm, »bitte kümmern Sie sich um Ihre Frau, sie ist ohnmächtig!«
Selbst noch in einem etwas benommenem Zustand hob der Baronet mit Hilfe des Colonels die Lady auf das Sofa.
»Emma Hudson, was ist hier eigentlich los?« schrie Vi, die offensichtlich nach allem, was sie gesehen hatte, recht aufgebracht war. »Zuerst singt da draußen ein verflixter Geist hübsche Lieder, dann gesteht der Squire den Mord. Ich dachte, wir wären hinter.« Sie richtete ihren Blick auf Sir Charles, hielt sich dann aber doch im Zaum.
»Ich denke, Henry muß hier etwas erklären«, antwortete der Baronet, während er sich über seine Frau beugte und versuchte, sie mit sanften Schlägen auf die Wange wieder zum Leben zu erwecken.
Die Augen von Lady Margaret öffneten sich langsam. »Was ist, Charles?« fragte sie. »Was ist geschehen?«
»Es scheint, mein Liebling, als habe Bruder Henry gerade allen Anwesenden gestanden, die junge Frau umgebracht zu haben, die man draußen gefunden hat.«
»Ach was!« fuhr ihn der jüngere Mann an und schüttete seinen Drink zurück. »Wer will mich den an den Galgen bringen? Du etwa, Charles? Du, Margaret? Wie sieht’s mit Ihnen aus, Colonel?«
»Was? Was? Also wirklich, alter Junge, das ist doch.« »Nein«, antwortete der Squire überheblich, »das kann ich mir kaum vorstellen! Und«, fügte er hinzu, wobei er sich Vi und mir zuwandte, »wer wird denn schon zwei närrischen alten Frauen glauben? Die Auferstehung Noras von den Toten wird die Absurdität der Behauptung nur verstärken. Aber machen Sie nur, Mrs. Hudson«, fuhr er mit einer gewissen Arroganz in der Stimme fort, »rennen Sie zu Ihrem Inspektor. Ich kann mir seine Reaktion auf Ihre Geschichte nur allzugut vorstellen.«
»Können Sie das tatsächlich, Sir?«
Alle Augen wandten sich Thackeray zu, der ohne Melone in das Zimmer schlenderte.
»Sie haben alles gehört, Inspektor?«
»In der Tat, Mrs. Hudson. Es tut mir leid, Squire, aber ich muß Sie offiziell des Mordes an Nora Adams anklagen.«
»Nora St. Clair, Inspektor«, korrigierte ich ihn.
Auf das verblüffte Schweigen folgten Laute des Erstaunens.
»St. Clair? Wie meinen Sie das?« fragte Thackeray.
Ich wandte mich an den Squire von Haddley. »Soll ich es ihnen erzählen, oder wollen Sie es tun?«
»Sie scheinen ja alle Antworten zu kennen«, erwiderte er bitter und sank in einen Sessel.
»Nun, ich möchte gerne wissen, woher du wußtest, daß es der Squire war«, schmollte Violet. »Und was soll das Ganze mit dieser Nora St. Clair, hä?«
»Zur Beantwortung deiner ersten Frage, Vi«, antwortete ich, »du erinnerst dich doch daran, daß du mir erzähltest, du hättest erfahren, daß der Baronet und seine Frau, ebenso wie der Squire, unerwartet auf das Gut zurückgekehrt seien?«
»Ja.«
»Sowohl Sir Charles als auch Lady Margaret wurden von Hogarth und den Bediensteten bei ihrer Ankunft gesehen. Nur die Rückkehr des Squires blieb bis zum nächsten Morgen unbemerkt. Er war der einzige, der Nora nach Haddley gebracht haben konnte, ohne daß es jemand bemerkte.«
»Warum? Zu welchem Zweck?« fragte Sir Charles.
»In der Tat, warum? Das war eine Frage, die ich mir auch immer wieder stellte. Die Idee, ein einfaches Mädchen von der Londoner Bühne für so etwas wie ein Tête-à-Tête hierher zu bringen, wäre verrückt gewesen. Obwohl er davon ausging, Sir Charles, daß sowohl Sie als auch Ihre Ladyschaft fort wären, so war doch Ihre Mutter noch immer hier und zu dem Zeitpunkt recht lebendig. Nein, es mußte die Idee des Mädchens gewesen sein. Lady Margaret«, fragte ich, »was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählte, daß Ihre Nichte eine Unterhaltungskünstlerin im Variete, ledig und guter Hoffnung war?«
»Gütiger Gott!«
»Ja.« Ich lächelte. »Genau das wäre auch die Antwort Ihrer Ladyschaft gewesen.«
»Dann muß es Erpressung gewesen sein!« rief Violet.
»Genau«, antwortete ich. »Was mich zu meiner ursprünglichen Annahme zurückbrachte, daß das tote Mädchen nur seine Tochter gewesen sein konnte. Zweifellos schickte sie dem Squire einen Brief, in dem sie ihm mitteilte, ihn sehen zu wollen. Als er nach London kam, verlangte sie Geld, um das, was aus ihr geworden war, nicht bekannt werden zu lassen. Liege ich soweit richtig, Squire?«
Sein Schweigen deutete ich als Bestätigung.
»Aber«, mischte sich sein Bruder ein, »Henry hat überhaupt kein Vermögen. Wie könnte er. ?«
»Wenn Sie erlauben, möchte ich eine Vermutung anstellen: Ich glaube, er hoffte, das Geld von Ihrer Ladyschaft zu bekommen, indem er sich irgendeine Geschichte ausdachte, der zufolge er seine Spielschulden zurückzahlen mußte. Mit Sicherheit wollte er den wahren Grund nicht offenbaren. Die Tatsache, daß Nora ihn bereitwillig hierher begleitete - denn ich kann mir nicht vorstellen, daß er sie gewaltsam nach Haddley zerrte - deutet für mich darauf hin, daß die Tochter nur allzu gut wußte, daß sie wenig Hoffnung darauf haben durfte, ihr Vater würde ihr das Geld per Post zuschicken.« »Sie wollen also sagen, daß sie mit Henry zurückkam, um ihr Geld zu erhalten, anstatt in London auf das Versprochene zu warten«, sagte Lady Margaret in fragendem Tonfall. »Aber das ist unmöglich!« verkündete sie plötzlich und recht nachdrücklich. »Wir haben hier kein Mädchen gesehen.«
»Ein behelfsmäßig eingerichtetes Zimmer im oberen Stockwerk, Mylady«, antwortete der Inspektor. »Dort wohnte sie.«
»Ich verstehe«, antwortete sie leise, wobei ihre Worte mit einem mitleidsvollen Schütteln dieses aristokratischen Kopfes einhergingen. »Und deine Frau, Henry, was ist aus ihr geworden?« fragte sie.
»Starb vor fünf Jahren in Australien«, entgegnete der Squire barsch.
»Ich sage Ihnen«, verkündete der Colonel allen Anwesenden, »diese ganze Geschichte um eine Tochter, die ihren eigenen Vater erpreßt, wäre zu meiner Zeit nie vorgekommen!«
»Aber bedenken Sie, Colonel Wyndgate«, erinnerte ich ihn, »sie und ihre Mutter waren vom Vater verlassen worden und mußten sich im Ausland ihr eigenes Leben aufbauen. Die Bühne war sicher eine der wenigen Möglichkeiten, die ihr offenstanden, nachdem ihre Mutter gestorben war. Ohne Zweifel hat das Wissen, daß sie ein Kind erwartete, sie dazu veranlaßt, nach England zurückzukehren, damit das Kind finanziell abgesichert ist - auf die einzige Weise, die ihr blieb: durch Erpressung.«
»Nun, ich bezweifle doch sehr«, lautete Sir Charles’ Kommentar an seinen Bruder gerichtet, »daß es dir gelang, von Mutter Geld zu bekommen, alter Junge, aus welchem Grund auch immer.«
»Keinen Heller!« lautete die verbitterte Antwort.
»Nicht einmal nach dem - wie ich es mir vorstelle - leidenschaftlichen Appell Noras, als sie Ihrer Mutter einen Besuch in dem Schlafzimmer abstattete«, fügte ich hinzu.
Der Squire warf mir einen überaus überraschten Blick zu. »Woher wissen Sie das?«
»Nun, Em fand den Ohrring des Mädchens im Zimmer Ihrer Lady-schaft.« Vi strahlte vor Stolz. »Ist es nicht so, Liebes?« »Vi, bitte. Was sagten Sie doch gerade, Squire?«
»Ich ging nach oben zu Nora, nachdem ich von meiner Mutter abgewiesen worden war, und sagte ihr, sie müsse einfach noch Geduld haben. Ich würde ihr alles mir Mögliche zukommen lassen, sobald ich es hatte. Später in der Nacht erzählte sie mir, sie sei in das Zimmer Ihrer Ladyschaft eingedrungen, hätte die ganze Geschichte erzählt und Geld gefordert, damit sie schwieg. Das Ergebnis von all dem war, daß ich nun ganz aus dem Testament gestrichen werden sollte. Ob Mutter das gemacht hätte oder nicht, weiß ich nicht - aber das Risiko konnte ich nicht eingehen.«
»Und dann haben Sie Dr. Morley in diese leidige Angelegenheit hineingezogen«, unterbrach ich ihn, »mit dem Angebot, ihn zu bezahlen, wenn er Ihre Ladyschaft beseitigen würde.«
»Doch nicht Dr. Morley!« stieß meine alte Freundin aus.
»Es tut mir leid, Vi, aber es ist wahr. Der Doktor selbst hat es mir gegenüber ausgesagt.«
»Aber warum sollte der Squire Nora töten?« fragte sie. »Ich meine, wo doch Ihre Ladyschaft tot war, bevor sie das Testament ändern konnte und so.«
»Ich kann nur annehmen«, behauptete ich, »daß der Preis beträchtlich anstieg, nachdem die Tochter von dem Tod erfuhr.«
»Ihre Gier hat Nora umgebracht!« stieß der Squire plötzlich aus.
»Nein, Squire«, erwiderte ich. »Sie haben sie umgebracht! Sie wollte mehr Geld. Es gab Streit. Sie schlugen ihr mit dem erstbesten Gegenstand, der Ihnen in die Hände fiel, auf den Kopf - eine kleine Marmorstatue.«
»Ich sollte vielleicht erwähnen«, ergänzte der Inspektor, »daß sich eben diese Statue, von der Mrs. Hudson spricht, nun in den Händen des Coroners befindet, um untersucht zu werden.«
»Und nachdem Sie sie getötet haben«, drängte ich weiter, »zogen Sie ihr den Mantel an und zerrten die Leiche nach draußen - in dem Glauben, daß man sie für ein Mädchen aus Twillings halten würde, wenn man sie findet. Als Sie die Stimmen von Will und Mary in dem Garten hörten, ließen Sie Ihr Opfer dort liegen und flohen eilig zurück ins Haus.«
Ich erhielt keine Antwort, zumal es ohnehin keiner bedurfte.
Ich zog den Inspektor beiseite und informierte ihn über den Selbstmord von Dr. Morley. Ich hielt es im Moment für das beste, seinen Tod vertraulich zu behandeln. Da sich Vi die Rolle des Doktors in dem Mord an Lady St. Clair zu Herzen genommen hatte, wünschte ich nicht, sie mit dieser zusätzlichen Offenbarung noch mehr aufzuregen.
»Also, Madam«, sagte der Colonel, während er seine massige Gestalt zu mir herüberschleppte, »wer zum Teufel sind Sie eigentlich? Irgend so eine Detektivin?«
»Mrs. Hudson«, antwortete der Inspektor an meiner Stelle, »ist eine Mitarbeiterin des berühmten Sherlock Holmes, Colonel Wyndgate.«
Der alte Soldat war einen Augenblick sprachlos. »Sherlock Holmes! Du liebe Güte.« Er schnappte nach Luft. »Inspektor! Sollten Sie die Frau nicht hinter Schloß und Riegel stecken?«
»Wovon um alles in der Welt reden Sie?« fragte ein von Grund auf verwirrter Thackeray.
»Ich meine«, stotterte er, »dieser, dieser Sherlock Holmes - ist das nicht der Kerl, der vor ein paar Jahren all diese armen Frauen ermordet hat?«
»Colonel Wyndgate!« Ich brach in schallendes Gelächter aus. »Ich glaube, Sie verwechseln Mr. Holmes mit Jack the Ripper!«
»Was? Wie? Ja, nun, Sherlock, Ripper, die beiden krieg’ ich immer durcheinander.«
Der Fauxpas des Colonels hob zumindest ein wenig die Stimmung, bis Lady Margaret langsam zu dem eingeworfenen Fenster ging und wehleidig die Frage in den Raum stellte: »Werden wir nun den Rest unseres Lebens von dem Geist von Nora St. Clair verfolgt?«
»Ich glaube, in dem Punkt brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Mylady«, antwortete ich. »Inspektor Thackeray?«
»Du kannst jetzt hereinkommen«, rief er und wandte sich der Tür zu.
Mary O’Connell trat ein.
Noch immer mit Noras Mantel bekleidet und mit über die Schultern hängendem Haar kam Mary nervös herein und wischte sich das »Blut« aus dem Gesicht.
»Aber das ist ja unsere Mary!« rief Vi aus.
»Guter Gott!« stieß Lady Margaret hervor. »Eine der Bediensteten!«
»Erklären Sie uns das, Sir!« verlangte Sir Charles vom Inspektor.
»Es scheint, alter Junge«, verkündete der Squire im Namen des Inspektors, »als wäre unser Geist nichts anderes als ein billiger, theatralischer Trick gewesen. Dennoch«, fügte er mit einer spöttischen Verbeugung hinzu, »mein Kompliment, Mrs. Hudson. Sie haben die Produktion inszeniert, nehme ich an?«
Ich antwortete mit einem Lächeln und einem Kopfnicken.
»Aber Mary«, schrie Violet und eilte zu dem Mädchen, »du hast ja überall Blut!«
»Das war nur die Tomatensoße von Cook«, antwortete sie mit einem schelmischen Grinsen.
»Du wurdest doch nicht durch die Scherben verletzt, oder?« fragte ich. »Das war leider etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte.«
»Das hat mich mehr in Angst versetzt als alles andere, Mrs. Hudson.«
»Nun, du hast das aber sehr gut gemacht, Mary«, sagte Thackeray lächelnd. »Du gehst jetzt wohl besser und säuberst dich.«
»Und Mary«, fügte ich hinzu, »mach dir über einen möglichen Verlust deiner Anstellung keine Sorgen. Mr. Holmes hat viele einflußreiche Freunde. Ich bin sicher, da kann man etwas für dich und Will arrangieren.«
Sie ergriff meine beiden Hände und wollte etwas sagen. Als befürchtete sie jedoch, zu emotional zu werden, eilte sie dann aber aus dem Zimmer.
Am Vormittag des nächsten Tages waren Mrs. Warner und ich im Zug auf dem Weg zurück nach London.
»Also, du kannst wirklich stolz auf dich sein, Emma Hudson«, meinte meine Kameradin lächelnd, als wir einander gegenüber unsere Plätze einnahmen.
»Du solltest deinen eigenen Beitrag nicht übereilt mindern«, erwiderte ich lächelnd.
»Ja«, sprudelte sie mit mädchenhafter Begeisterung hervor, »wir zwei geben schon ein tolles Paar ab, oder? Ich kann’s kaum abwarten, deinem Mr. Holmes alles zu erzählen.«
»Oh.«
»Wieso, was ist los, Liebes?«
»Es ist nur, nun, wenn ich du wäre, würde ich Mr. Holmes oder auch Dr. Watson nichts von deiner Fähigkeit zu.«
»Abzuheben?«
»Ja«, kicherte ich, »abzuheben. Eigentlich«, fügte ich hinzu, »ist es wohl am besten, wenn wir diesen gesamten Aspekt für uns behalten.«
»Was sie nicht wissen, kann sie nicht stören, ist es das?«
»So ungefähr.«
Stahlräder klickten durch eine unendliche ländliche Gegend, in der ein leicht gepuderter Schnee sein Bestes tat, um die nackten Novemberfelder zu bedecken. An einem Bahnübergang wedelte ein kleiner Junge fröhlich winkend mit den Armen, als wir vorbeirauschten. Hinter dem verdreckten Fenster erwiderte ich das Winken mit einem Lächeln.
»Was hast du eigentlich für Pläne, wenn wir nach London zurückkommen?«
»Wie?«
»Entschuldigung, Liebes. Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Nein, das ist schon in Ordnung«, antwortete ich. »Hab’ nur vor mich hin geträumt. Was ich für Pläne habe?« nahm ich dann ihre Frage wieder auf. »Wie meinst du das?«
»Nun, ich dachte, vielleicht könnten wir uns selbständig machen, im Detektivgeschäft. «
»Möchtest du, daß ich Mr. Holmes und Dr. Watson kündige?« erwiderte ich heiter.
»Nein, das nicht«, antwortete sie recht ernsthaft. »Wir könnten es aber doch zeitweise wirklich machen. Ich bezweifle, daß wir sehr viel zu tun hätten. Vielleicht die merkwürdigen Fälle, für die dein Mr. Holmes keine Zeit hat.«
Für Vi war es anscheinend immer noch »mein« Mr. Holmes.
Obwohl ich es ihr gegenüber nie zugab, hatte ich selbst schon mit der Idee, als eine Privatdetektivin weiterzuarbeiten, gespielt. Die Frage stellte sich nur, ob man einen Beruf annehmen sollte, der einen gewissen Aspekt der Gefahr in sich barg, oder sich mit dem Los zufriedengeben sollte, einfachen Haushaltspflichten nachzugehen.
»Darüber könnte man nachdenken«, lautete meine unverbindliche Antwort, woraufhin ich meinen Blick wieder zum Fenster hinaus richtete.
»Wegen Mary«, sagte Vi, womit sie meine Träumerei erneut unterbrach, »woher hatte sie Noras Mantel?«
»Immer noch mit den Gedanken dort, nicht wahr?« fragte ich lächelnd.
»Nun, es ist so, wie du sagst. Ich möchte nur all die losen Enden in meinem Kopf zusammenfügen.«
»Von dem Inspektor«, antwortete ich. »Nachdem ich mit Will nach Twillings zurückgekehrt war, arbeitete ich für den Inspektor die Szene aus, die Mary spielen sollte. Nach einer sanften Überzeugungsarbeit meinerseits erklärte er sich mit der Idee einverstanden. Wenn ich sie aber als den Geist des toten Mädchens erscheinen lassen wollte, brauchte ich Noras Mantel, zumindest um den entsprechenden Rahmen zu schaffen. Es tut mir leid, daß ich dich nicht in die Scharade einweihen konnte, Vi, aber ich brauchte eine ehrliche Reaktion von dir, sobald Mary als Nora in Erscheinung trat.«
»Tja, nun, die hattest du wirklich. Dachte, ich fall’ selbst tot um, als sie auftauchte. Aber was den Mantel betrifft«, fuhr sie auf ihre ursprüngliche Frage zurückkommend fort, »der Inspektor brachte ihn mit, als er später an dem Abend kam, richtig?« »Genau. Und«, fügte ich hinzu, »als ich an dem Nachmittag zurückkam, ging ich mit meinem Plan zu Mary. Nachdem ich sie über die Freilassung von Will in Kenntnis gesetzt hatte, war sie so froh, daß sie mir auf jede ihr mögliche Weise helfen wollte.«
»Und so wie ich Emma Hudson kenne, war sie es, die ihr Haar wie das von Nora frisierte und ihr dieses Lied beibrachte.«
»Genau das ist geschehen.« Ich lächelte. »Wie scharfsinnig von Ihnen, Mrs. Warner.«
»Danke sehr, Mrs. Hudson. Aber von Ihnen erst! Dies wär’ mit Sicherheit kein Fall für Mr. Holmes gewesen!«