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Während Vi eifrig mit ihrer ätherischen Lauschaktion beschäftigt war, hatte ich die Gelegenheit ergriffen und das Schlafzimmer der verstorbenen Lady St. Clair untersucht.
Von dem, was ich dank des kleinen Scheins der Lampe, die Hogarth mir großzügigerweise zur Verfügung gestellt hatte, sehen konnte, war dies wirklich ein recht unheilvolles Zimmer.
Ich hatte es für klug gehalten, die Flamme nur ganz klein einzustellen, denn vor meinem Eintreten hatte ich bemerkt, daß ein Spalt von einem Viertelzoll die Tür vom Fußboden trennte, und ich wollte nicht, daß auch nur das geringste Anzeichen eines flackernden Lichtes in den Flur drang. Sollte meine Anwesenheit entdeckt werden, so fürchtete ich, war das mindeste, was zu erwarten war, daß mein Aufenthalt auf Haddley abrupt beendet würde. Das Schlimmste allerdings wäre mein frühzeitiges Ableben durch die Hände - wie die Polizei sagen würde - einer oder mehrerer Unbekannter gewesen. Spätere Ereignisse sollten beweisen, daß ich weder paranoid noch übermäßig theatralisch gedacht hatte.
Ich schwenkte meine Lampe nach rechts und entdeckte vier Pfosten, die - wie ich fand - unheilvoll Wache standen, und zwar an jeder Ek-ke eines mit Samt drapierten elisabethanischen Bettes, dessen Anblick mir ein unbehagliches Gefühl verschaffte, da ich mich an die Erzählung meiner Kameradin erinnerte, derzufolge die alte Frau in genau diesem Bett um ihr Leben gekämpft hatte.
Als ich mich zu der gegenüberliegenden Wand umdrehte, offenbarte sich mir ein pompöses, lebensgroßes Familienportrait, welches ich für dasjenige der St. Clairs hielt und das vor recht vielen Jahren angefertigt worden sein mußte, wenn man von dem Aussehen zweier kleiner Jungen ausging, die versonnen in die Augen ihrer Eltern hinaufstarrten. Ich registrierte die Plazierung des Gemäldes und kam zu dem Schluß, daß es an dem speziellen Punkt aufgehängt worden sein muß-te, damit Ihre Ladyschaft dort liegen und jahrelang quer durch das Zimmer auf - ja, ich nehme es an - auf eine Familie schauen konnte, die nur noch innerhalb dieses vergoldeten Rahmens existierte.
Ich persönlich, so fürchte ich, war von dem Gemälde nicht allzu beeindruckt, da die Personen für meinen Geschmack zu steif und formal geraten waren, ebenso wie mich die wachsähnliche Farbqualität der Haut vollkommen unbeeindruckt ließ. Wie auch immer, ermahnte ich mich, ich war nicht in meiner Eigenschaft als Kunstkritikerin hier, sondern als Detektivin.
Wo sollte ich anfangen?
Ich hielt es für sinnvoll, die Rolle des Mörders nachzuspielen. Ich beugte mich über das nun leere Bett und stellte mir vor, mit dieser überaus abscheulichen Tat beschäftigt zu sein. Violet stünde nun draußen und forderte, hereingelassen zu werden. Mein erster Instinkt war, zum Fenster zu eilen. Das tat ich. Ich schob die Vorhänge beiseite und öffnete den Riegel. Aber als ich mich hinauslehnte, entdeckte ich, daß es bis zum Straßenpflaster wirklich sehr tief hinabging und daß die Mauern zu glatt waren, als daß man daran hätte hinunterklettern können.
Eine Geheimtür? Vielleicht. Wenn ja, dann wäre es nicht das erste solcher stattlichen Häuser in England, das unentdeckte Ausgänge eingebaut hatte, um einen eiligen Rückzug vor den Soldaten des Königs oder den Rundköpfen Cromwells zu ermöglichen - je nach politischer Einstellung. Oder sogar für eine schnelle Verabschiedung aus einem Bett aufgrund der unerwarteten nächtlichen Rückkehr entweder des Herrn oder der Herrin - je nach Geschlecht.
Nun aber verbrachte ich gute fünfzehn Minuten damit, mich sorgfältig im Zimmer vorzuarbeiten und leise jeden Abschnitt der vertäfelten Wand abzuklopfen, immer mit der Hoffnung, ein hohles Geräusch zu vernehmen. Aber leider muß ich gestehen, daß meine Bemühungen vergeblich waren. Violet, so sagte ich mir, war vielleicht in der Lage, sich in Luft aufzulösen, aber ich bezweifelte, daß unser Mörder fähig gewesen war, dieses Kunststück zu vollbringen.
Vielleicht könnte eine Falltür die Antwort sein, dachte ich mir, ließ aber schnell von der Idee ab. Ein Teppich mit orientalischem Muster bedeckte fast den ganzen Boden. Es wäre für jedermann unmöglich gewesen, einen Teil davon beiseite zu ziehen, durch die Falltür nach unten zu stürzen und den Teppich in seiner ursprünglichen Position zurückzulassen.
Es schien, als müsse ich mich damit abfinden, das Rätsel nicht gelöst zu haben, es sei denn, ich würde die Version meiner Kameradin in Frage stellen.
Dies jedoch würde ich nie tun.
Nein, es mußte noch irgend etwas geben, das ich übersehen hatte. Aber was?
Während ich darüber nachgrübelte, sah ich im Augenwinkel kurz etwas aufblitzen. Ich drehte mich suchend um und hielt die Lampe vor mich hin. Weg! Nein, da war es wieder. Wenn ich die Lampe genau im richtigen Winkel hielt, verursachte sie einen reflektierenden Schimmer. ah, dort, zwischen dem Bett und dem Nachttisch! Ich zwängte einen Arm nach unten, holte den fraglichen Gegenstand hervor und hielt ihn näher ans Licht. Niemand kann meine übermäßige Verwunderung beschreiben, als ich sah, was es war: der fehlende Ohrring!
Ich hielt ihn in der Hand, betrachtete ihn sorgfältig und konnte meinen Augen kaum glauben. Der fehlende Ohrring in Form eines Halbmondes, passend zu dem, den das ermordete Mädchen trug, war hier! Ich entdeckte, daß ein defekter Verschluß wahrscheinlich der Grund dafür war, wobei die Besitzerin aller Wahrscheinlichkeit nach den Verlust überhaupt nicht bemerkt hatte. Ich setzte mich auf das große Bett und starrte weiterhin meinen Fund an, während mir tausendundeine Frage durch den Kopf schoß.
Hatte Ihre Ladyschaft gewußt, daß das Mädchen in dem Zimmer im oberen Geschoß logierte? War sie vor oder nach dem Mord an der alten Frau hier gewesen? Oder war das junge Mädchen selbst der Tat schuldig? Nein, argumentierte ich, das konnte zumindest ausgeschlossen werden. Violet zufolge war der Angreifer, mit dem sie bei ihrer heftigen, aber einseitigen und durchsichtigen Begegnung gerungen hatte, nicht von der Größe und Statur des Mädchens gewesen.
Obwohl der Ohrring unwiderlegbar bestätigte, daß eine Verbindung zwischen den beiden ermordeten Frauen existierte, war ich noch nicht in der Lage, die Bedeutung dieser Verbindung zu erfassen. Wenn ich doch nur die Identität des jungen Mädchens kennen würde, das tot zwischen den Herbstblättern aufgefunden wurde.
»Löse dieses Rätsel, mein Mädchen«, sagte ich matt zu mir, »und dann lösen sich alle anderen zweifelsohne wie von selbst.«
Obwohl ich erfreut war, den Ohrring gefunden zu haben, war ich alles andere als zufrieden mit meinem Versuch, das Rätsel des verschwundenen Mörders zu lösen. Ich steckte den Ohrring in meine Handtasche und tröstete mich mit der Hoffnung, daß Violet vielleicht das Glück gehabt hatte, in laufende Gespräche aufschlußreicherer Natur hineingeschwebt zu sein. Mit gemischten Gefühlen entschied ich also, mich von diesem Ort zurückzuziehen.
Als ich mich der Tür zuwandte, wurde ich von meiner eigenen Angst und Verwirrung aufgehalten, da ich zusehen mußte, wie sich der Türknauf langsam wie von selbst drehte! Ich versuchte, einen klaren Kopf zu behalten, löschte die Lampe und drückte mich an die Wand neben dem Türrahmen. Und da stand ich nun mit klopfendem Herzen, während die Tür langsam geöffnet wurde.
Von meinem Standort aus hatte ich den Vorteil, nicht gesehen zu werden, aber auch den Nachteil, die Identität des Eindringlings nicht ausmachen zu können. Er betrat das Zimmer nicht unmittelbar, sondern blieb genau in der offenen Tür stehen. Ich sage >er<, denn ich erinnerte mich jetzt daran, nur wenige Augenblicke zuvor schwere Schritte im Flur gehört zu haben. Da ich glaubte, es wäre ein Diener, hatte ich mir bis jetzt keine Gedanken darüber gemacht.
Was sollte ich tun?
Da ich mit Sicherheit nicht die Absicht hatte, dem Mann gegenüberzutreten, wartete ich, bis ich mir letztendlich einen dankbaren Seufzer der Erleichterung leisten konnte, da er leise wieder davonging und die Tür hinter sich schloß.
Es sollte jedoch eine Atempause von nur kurzer Dauer sein.
Als hätte er sich eines Besseren besonnen, kam er nämlich wieder herein, wobei er dieses Mal die Tür halb offen ließ, so daß das wenige Licht vom Flur draußen in geringem Maße die Dunkelheit in dem Zimmer beseitigte. Und obwohl die feine Gesellschaft das Transpirieren als nicht damenhaft verurteilt, muß ich gestehen, daß ich buchstäblich in Schweiß badete, während mein durch die Angst um ein Vielfaches verfeinertes Gehör das Geräusch schweren Atmens vernahm, das sich mir in der Dunkelheit näherte.
Ein kleiner Lufthauch durchschnitt die Stille, als eine Hand hervorschoß und mein Kinn streifte. Die Abwesenheit von Licht hatte offensichtlich zu einer falschen Einschätzung seines Zieles geführt, denn die Hand glitt dann mit fester werdendem Griff um meine Kehle.
Er wollte mich erwürgen!
Ich erinnere mich daran, merkwürdige gurgelnde Geräusche von mir gegeben zu haben und benommen zu werden, während immer mehr Druck auf meine Luftröhre ausgeübt wurde.
Tu was, Emma! schrie ich innerlich.
Wenn ich schon sterben sollte, dann nicht ohne gekämpft zu haben. Ich hob meinen Fuß so hoch wie möglich und trat mit all der Kraft, die ich aufbringen konnte, auf seine Schuhspitze. Ein Stöhnen ertönte, während seine Finger den Griff lockerten, wenn auch nur für eine Sekunde. Ich nutzte die Sekunde, um hastig nach Luft zu schnappen. Weil ich nicht die Kraft hatte, seine Hände von meiner Kehle zu zerren, machte ich einen letzten verzweifelten Versuch, das Gesicht meines Angreifers zu zerkratzen. Aber da er mich auf Armeslänge hielt, wirbelten meine Hände lediglich in der Dunkelheit herum, und die Nägel häuteten nichts als Luft. Fast ohnmächtig sackte ich dann zu Boden.
Daraufhin geschah etwas überaus Merkwürdiges.
Während ich dort lag, sah ich mich selbst als kleines Mädchen hinter dem Hause meiner Eltern im Garten unter dem Apfelbaum sitzen. Ich schaute auf und beobachtete, wie meine Mutter auf die hintere Veranda herauskam. Sie stand da, trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab und rief fragend zu mir herüber, ob ich von den Äpfeln gegessen hatte.
»Nein, Mama«, log ich. »Warum?«
Ihre Antwort lautete, daß sie viel zu grün seien, und in übertriebener Betonung ihrer Sorge fügte sie hinzu, daß ich sehr krank werden und sterben würde, wenn ich davon äße. Mit dem zufriedenen Gefühl, daß sie mir die größtmögliche Angst vor einem übermäßigen Genuß von Äpfeln eingeimpft hatte, drehte sie sich um und ging wieder ins Haus. Als die Gittertür zuknallte, stöhnte ich auf.
»Oh«, wehklagte ich, »ich werde sterben! Ich werde sterben!«
Dies war ein Satz, den ich nun immer wieder wiederholte, während ich ausgestreckt auf dem Boden lag, das Bewußtsein abwechselnd verlor und wiedergewann und kaum den leichten Druck von einem Zeigefinger und Daumen auf meinem Handgelenk spürte. Mein Angreifer, dessen schwerem Atem ich mit einem merkwürdigen Gefühl des Losgelöstseins lauschte, beugte sich über mich und versuchte, so erschien es mir zu dem Zeitpunkt, meinen Puls zu fühlen. Wohl um zu sehen, ob ich endlich ins Jenseits gesegelt sei.
Tatsächlich dachte ich, es wäre so.
Durch zuckende Augenlider sah ich nun ein blaues phosphoriges Licht in der Form einer menschlichen Gestalt, die keinen halben Meter von mir entfernt stand! Ich starrte sie weiterhin an, eher fasziniert als ängstlich, während ihr überirdischer Schein weiterhin alle paar Sekunden mit unterschiedlichem Intensitätsgrad pulsierend aufleuchtete. Mein erster Eindruck war, daß dieses Licht der Geist meiner Mutter war, die gekommen war, um mich auf jene andere Seite zu bringen - ein Gedanke, den ich rasch verwarf, als mein Angreifer plötzlich einen Laut des Erschreckens ausstieß.
Er hatte es auch gesehen!
Das letzte, an das ich mich erinnere, war, daß sich mein Möchtegernmörder schnell davonmachte. Danach nur noch vollkommene Leere.
Wer oder was auch immer es war, die Erscheinung hatte mein Leben gerettet.
»Du fühlst dich also jetzt besser, Liebes?«
Ich schüttelte den Kopf und versuchte mit verschwommenem Blick und geringem Erfolg, die über mir stehende Gestalt scharf zu erkennen.
Erst als ich einen halbherzigen Versuch unternahm, mich aufzurichten, merkte ich, daß ich mich in einem Bett befand.
Violets Bett. In ihrem Schlafzimmer. Aber wie?
Wirre Bilder rasten in meinem Hirn umher. Ein Hirn, das verzweifelt versuchte, die fehlenden Zeitabschnitte in chronologischer Reihenfolge in Erinnerung zu rufen.
»Nun da du dich wieder im Land der Lebenden befindest, habe ich eine schöne heiße Tasse Tee für dich, falls dir danach ist.«
Danach war mir wirklich.
Ich bin der festen Überzeugung, daß Tee, unabhängig von seinem Geschmack, gewisse medizinische Eigenschaften hat, die den Kopf klar machen, Erkältungen heilen und generell als Allheilmittel bei allen kleineren Beschwerden dienen. Ich behaupte ebenfalls, daß wir Briten aufgrund des Tees zu dem geworden sind, was wir heute sind, und ich hege keinen Zweifel daran, daß das Empire, sollte diese königliche Insel ihres Nationalgetränks beraubt werden, innerhalb von zwei Wochen ins Chaos verfallen würde.
Ich trank den Tee und war schon bei der zweiten Tasse angelangt, als die Fragen schließlich aus mir herausströmten. »Wie komme ich hierher? Wer hat mich gefunden? Wie spät ist es?«
»Nun, es ist Viertel nach zehn«, antwortete sie mit einem Lächeln.
»Zehn? Es muß doch schon später sein! Es war weit nach neun Uhr, als ich den Flur entlang zum Schlafzimmer Ihrer Ladyschaft gegangen bin.«
»Em!« rief sie. »Das war vergangene Nacht. Es ist zehn, zehn Uhr morgens.«
»Du meinst, ich habe geschlafen.?« »Mhm. Und nach dem, was du durchgemacht hast, hast du wohl auch jede Minute davon verdient.«
Was ich durchgemacht habe? Erst da erinnerte ich mich an die Finger, die sich um meinen Hals klammerten, und an das Gespenst, das mich gerettet hatte.
»Vi«, sagte ich sehr ernsthaft, als ich ihr meine mittlerweile leere Tasse reichte, »ich habe jeden Grund zu der Annahme, daß es auf Haddley spukt.«
»Spukt?« Ihre zitternde Hand versuchte ohne Erfolg, die Tasse zum Verstummen zu bringen, die gefährlich auf der Untertasse klapperte. »Aber was bringt dich dazu, so etwas zu behaupten?« fragte sie und stellte die Tasse auf den Tisch.
Ich erzählte von meinem nahen Tod und von dem Geist, dessen Erscheinen am Handlungsort der Grund dafür gewesen war, daß ich noch lebte und alles erzählen konnte. Als ich zum Ende kam, erwartete ich, daß ihre Reaktion entweder von Schrecken oder Erstaunen gezeichnet war, niemals aber von Unglaube! Ich hatte ihre astralen Fähigkeiten gutgläubig akzeptiert, aber als ich ihr von meiner Begegnung mit dem Übernatürlichen erzählte, bestand ihre Reaktion lediglich aus einem kindischen Gekicher.
»Wirklich, Violet!« brauste ich auf. »Wenn ich hier nicht ernst genommen werde, ist es vielleicht das beste, ich kehre nach London zurück!«
»Ernst, sagt sie! Aber natürlich nehme ich dich ernst. Warum sollte ich auch nicht?«
»Ich verstehe nicht, zuerst machst du.«
»Blau war es, sagtest du?«
Ich bekam langsam Kopfschmerzen.
»Ich glaube«, antwortete ich und rieb mir sanft die Stirn, »irgendwie ist es uns gelungen, genau aneinander vorbei zu reden.«
»Also, ich kann dir alles erklären, wirklich«, versicherte sie mir und zog sich einen Stuhl ans Bett. »Nachdem ich vom Spielzimmer hierher zurückgehuscht bin, sehe ich als erstes, daß mein Körper seelenruhig im Bett liegt, aber keine Emma. Nun, sage ich mir, das ist doch merkwürdig. Ich dachte, du wärst schon lange wieder zurück. Dann habe ich dieses komische Gefühl, daß irgendwas nicht stimmt. Also, obwohl ich mich noch immer etwas benebelt fühle, zwinge ich mich, noch lange genug außerkörperlich zu bleiben, um bis zum Schlafzimmer Ihrer Ladyschaft zu gelangen. Und es war, als würde ich eine Wiederholung von dem sehen, was ich das letzte Mal dort sah! Außer, daß du es jetzt warst, die um ihr Leben rang! Ich dachte schnell nach und überlegte mir, wenn ich mich nur irgendwie sichtbar machen könnte, würde er denken, er müsse mit noch einem Körper fertig werden, sozusagen. Ich hab’ so was vorher noch nie gemacht, wollte ich eigentlich auch nie, aber es war einen Versuch wert. >Willenskraft<, wie die alte Bessie sagen würde. >Willenskraft, das ist jetzt genau das richtige!< Also hielt ich den Atem an und konzentrierte mich, solange ich konnte.«
»Du hast da gestanden und den Atem angehalten?« fragte ich ungläubig.
»Mhm. Das hilft mir, mich zu konzentrieren. Aber es funktionierte nicht, ich schaffte es nicht, Gestalt anzunehmen, jedenfalls nicht so, wie ich hoffte.«
»Also war mein geheimnisvoller blauer Geist aus dem großen Jenseits niemand anderes als Violet Warner!« gluckste ich. Es war das erste Mal seit Tagen, daß ich so richtig lachen konnte. »Mach dir nichts draus, du hast das schon ganz gut gemacht, altes Mädchen!« rief ich freudig aus. »Ganz gut, wirklich! Indem du erschienen bist, wenn auch nur in Umrissen, umgeben von deiner Lichtaura, hast du mir das Leben gerettet! Meine liebe, wunderbare Mrs. Warner«, gab ich unter Tränen der Dankbarkeit lächelnd von mir, »du bist ein Schatz, wirklich!«
»Nun«, antwortete sie mit einem gutgelaunten, wenn auch etwas verlegenen Lachen, »wurde auch Zeit, daß das mal jemand merkt.«
»Aber konntest du irgendwie erkennen«, fragte ich, »wer mich eigentlich angegriffen hat?«
»Nein.« Sie seufzte. »Ich hab’ mir viel zu viele Sorgen um dich gemacht. Ich meine, du lagst da auf dem Boden, und überhaupt.«
»Ich wünschte nur, ich hätte ihn erkannt. Aber wie du schon sagst, bei der Dunkelheit und in dem Gemütszustand, in dem wir beide uns befanden, da ist das verständlich. Aber wie bin ich hierher zurückgelangt?«
»Das war genauso wie zuvor. Ich huschte schnell in mein Zimmer zurück, und nachdem ich wieder in meinen Körper geschlüpft war, was ganz ausgezeichnet klappte, flitzte ich zurück in das Schlafzimmer Ihrer Ladyschaft. Du erinnerst dich nicht daran, daß ich dir aufgeholfen habe und mit dir über den Flur zurückgegangen bin?«
»Nur sehr vage«, gab ich zu, »jetzt, wo du es erwähnst.«
»Mach dir keine Sorgen, Liebes. Es kommt alles wieder zurück, sicher.«
Ich drängte sie, nun zu erzählen, was sie - falls überhaupt - während ihrer Astralwanderung gehört hatte. Als sie zum Ende gekommen war, konnte ich meine Begeisterung nur schwer zurückhalten. Sie hatte nicht nur sich selbst bewiesen, sondern ihre gesammelten Informationen verschafften mir zudem einen besseren Überblick über das Ganze. Was meine Kameradin betraf, so war sie allerdings nicht so sicher, ob wir viel erreicht hatten.
»War ja gar kein so großes Geheimnis, warum sie verfrüht nach Haddley zurückkamen«, sagte sie. »Ihre Gründe schienen recht harmlos zu sein.«
»Hmm«, antwortete ich.
»Allerdings«, fuhr sie fort, »wissen wir jetzt, daß jeder von ihnen ein Motiv hatte, Ihre Ladyschaft umzubringen. Ich nehme an, das ist doch auch schon was wert.«
»Ja«, pflichtete ich ihr bei. »Lady Margarets Abneigung Ihrer Ladyschaft gegenüber und ihr Wille, die Angelegenheiten auf Haddley zu kontrollieren, sollten nicht so leicht unterschätzt werden.«
»Und Sir Charles«, fügte Vi hinzu, »der im Moment unter einem finanziellen Verlust leidet, ebenso wie der Squire unter seinen Spielschulden.«
»Von Colonel Wyndgate«, sagte ich, »gar nicht erst zu reden. Wenn es wahr ist, was der Squire sagt, dann könnte es für jemanden in seinem Alter der Todesstoß sein, auf die Straße geworfen zu werden. Und man kann sich leicht vorstellen, welch verhängnisvolle Wirkung ein Mord, oder auch nur der Verdacht, auf die Familie als Ganzes haben würde, wenn all dies vor einem Gericht an die Öffentlichkeit käme.«
»Mhm, das ist wohl wahr. Aber haben wir irgendwas davon, daß wir das alles wissen?«
»Wir tragen zusammen«, antwortete ich, »eins zum anderen. Wir kennen jetzt ihre möglichen Mordmotive und ihre Gründe, Stillschweigen zu bewahren, als es geschah. Auf alle Fälle«, fügte ich hinzu und strich mir mit der Hand vorsichtig über den Hals, »können wir so etwas wie einen Pyrrhusstolz empfinden, da wir nun wissen, daß es einen Menschen gibt, der glaubt, wir wüßten mehr, als es wirklich der Fall ist.«
»Oh, schau dir das an!« rief Vi aus. »Ich kann immer noch Striemen an deinem Hals erkennen. Ich glaube, es ist höchste Zeit, daß wir hier wegkommen, bevor dein Mr. Holmes unseren Tod untersuchen muß!«
»Die Situation wird wirklich recht prekär«, gab ich zu. »Aber ich habe noch viel zu erledigen.«
»Und was zum Beispiel?«
»Zum einen möchte ich Inspektor Thackeray aufsuchen. Er wird die Statue untersuchen lassen wollen. Das allein sollte ihn von unserer Auffassung überzeugen, wie auch der Ohrring. Guter Gott, der Ohrring! Meine Handtasche, Vi, wo ist meine Handtasche?«
»Komm, komm, reg dich nicht auf, sie ist genau da, wo ich sie hingestellt habe, nämlich hier neben dem Bett«, sagte sie und reichte sie mir. »Und was hat das Ganze mit dem Ohrring auf sich, hä?«
Anstatt ihr zu antworten, wühlte ich hektisch den Inhalt meiner Tasche durch. Nach einem Augenblick der Sorge fand ich ihn schließlich. Ich holte ihn heraus, damit sie ihn sich anschauen konnte. »Er ist sehr hübsch«, sagte Vi, während sie den Ohrring in Form eines Halbmondes in Augenschein nahm. »Aber ich bezweifle, daß ich mich so aufregen würde, wenn ich ihn verloren hätte.«
»Du verstehst nicht«, erwiderte ich. »Das ist nicht meiner. Er gehört dem toten Mädchen. Ich habe ihn im Schlafzimmer von Lady St. Clair gefunden.«
»Im Schlafzimmer Ihrer Ladyschaft! Aber was hatte er denn da zu suchen?«
»Hier muß ich leider sagen, ich weiß es nicht«, antwortete ich und drehte den Ohrring langsam in meiner Hand um.
Sie schnalzte mitfühlend mit der Zunge, während ich meine Abenteuer der vergangenen Nacht erzählte, einschließlich des Augenblicks, in dem ich sah, wie die Tür geöffnet wurde.
»Ich wär’ vor Schrecken aus der Haut gefahren, ehrlich«, meinte sie erschaudernd.
»Nun«, erwiderte ich mit einem Kichern, »ich tat etwas, das weniger körperbetont war.«
»Und was?«
»Ich versteckte mich einfach hinter. «
Ich hielt mitten im Satz inne und starrte mit leerem Blick in den Raum, während meine Gedanken mit der Geschwindigkeit eines englischen Rennhundes weiterrasten.
»Was ist mit dir, Em?«
»Oh, Vi«, erwiderte ich, warf die Bettdecke beiseite und stieg aus dem Bett. »Ich bin eine solche Närrin gewesen!«
»Emma Hudson!« befahl meine alte Freundin. »Du gehst augenblicklich ins Bett zurück. Du bist nicht in der Verfassung, um. «
»Nein, nein, mir geht es gut«, antwortete ich.
Da ich zu aufgeregt war, um mich zu setzen, begann ich, auf und ab zu laufen, bis ich schließlich zu meiner Freundin herumwirbelte.
»Die Schlafkammer war nie verschlossen, richtig? Nein«, antwortete ich für sie. »Eine Tatsache, die dem ganzen Haushalt bekannt ist, Familie und Bediensteten gleichermaßen. Der Mörder«, fuhr ich nun in schnellerem Tempo fort, »profitierte davon, betrat leise das Zimmer, und nachdem er die Tür von innen verschlossen hatte, verabreichte er das Chloroform. Und während Ihre Ladyschaft vergeblich um ihr Leben rang, schwebtest du herein.«
Vi sagte nichts, sondern bewegte nur zustimmend ihren Kopf.
»In astraler Gestalt«, erzählte ich weiter, »konntest du nichts anderes tun, als zu deinem Schlafzimmer zurückzukehren, was du ja auch gemacht hast. Nachdem die Tat vollbracht war, wurde es für unseren geheimnisvollen Freund Zeit, das Zimmer zu verlassen. Aber zu dem Zeitpunkt standest du schon draußen mit Hogarth und hast um Einlaß gebeten. Der Mörder hatte nur eine Wahl, und zwar, sich zu verstek-ken.«
»Damit magst du ja recht haben«, sagte Vi. »Aber wo? Das würde ich gerne wissen.«
»Nun«, antwortete ich mit einem selbstzufriedenen Lächeln, »an dem gleichen Ort, wo ich mich versteckte. Hinter der Tür.«
»Hinter der.?«
»Genau! Nachdem Hogarth den Generalschlüssel ins Schloß gesteckt hatte, kamst du herein.«
»Mhm.«
»Und Hogarth auch.«
»Mhm.«
»Und dann kamen die St. Clairs in Begleitung von Dr. Morley und dem Colonel. Zumindest«, sagte ich und holte Luft, »glaubtest du das.«
»Aber genau so geschah es!« rief Violet.
»Nicht ganz, fürchte ich, meine liebe Mrs. Warner. Alle außer einem der Anwesenden hatten das Zimmer betreten. In der Verwirrung des Augenblicks mußte unser gewiefter Schuldiger nur hinter der Tür hervortreten und sich ganz unschuldig unter die anderen mischen. Und wer hätte das gemerkt?«
Ich schüttelte den Kopf angesichts der Einfachheit all dessen. Geheime Öffnungen in der Wand, Falltüren, also wirklich! In meinem Eifer, einen ausgeklügelten und/oder genialen Fluchtplan aufzudek-ken, hatte ich die Ermittlungssünde begangen, das Naheliegende zu übersehen.
Dieses Eingeständnis meinerseits erinnerte mich an eine Zeit als kleines Mädchen, in der mich mein Vater immer durch einen Zaubertrick mit einem Kartenspiel in Erstaunen versetzte. Wie bettelte, flehte und schmeichelte ich ihn doch an, damit er mir das Geheimnis des Tricks verriet. Und wenn ich schließlich mit der Antwort belohnt wurde, war ich das enttäuschteste Kind auf der Welt.
»Aber Papa«, klagte ich dann immer, »da muß doch mehr dahinterstecken. Das ist zu einfach!«
Dann warf er seinen schönen Kopf lachend zurück.
»Du darfst nie das Naheliegende übersehen, Emma«, sagte er immer. »Übersieh nie das Naheliegende.«
Ich fürchte, Papa, das habe ich getan. Zumindest eine Zeitlang.