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»Die anderen sind also fort, Hogarth?« fragte ich, als ich den alten Herrn sah, der gerade die Tür zum Musikzimmer hinter sich schloß.
»Vor knapp fünf Minuten, Mrs. Hudson.«
»Mrs. Warner ebenfalls?«
Er nickte bestätigend und fügte hinzu: »Sie bat mich, Ihnen zu sagen, Sie würden sich spätestens zum Dinner sehen.«
Ich legte einen Zeigefinger auf mein Kinn und starrte auf den Boden
- eine Geste, so sagt man, die ich gewöhnlich mache, wenn ich verwirrt oder in Gedanken versunken bin.
»Vergeben Sie mir, Hogarth«, sagte ich und wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem alten Herrn zu, »aber ich bin etwas überrascht, daß Sie die Familie und das Personal nicht zu dem Beerdigungsgottesdienst begleitet haben.«
»Ich hielt es für das beste, Madam, daß jemand während der Abwesenheit der Familie auf Haddley bleibt.« Er hielt inne, fragte sich zweifellos, ob ich Anspruch auf eine weitergehende Erklärung hatte, und bemerkte dann: »Ich werde ohnehin das Grab aufsuchen, um Ihrer Ladyschaft persönlich zu einem geeigneteren Zeitpunkt die letzte Ehre zu erweisen.«
Ich war erleichtert, daß er ausführlicher geworden war, denn ich glaubte, es wies darauf hin, daß er nichts dagegen hatte, mir gegenüber etwas offener zu sein, als er oder seine Position es normalerweise zuließen. Ein gutes Zeichen. Ich brauchte sein Vertrauen.
Ich machte es mir auf einem reichlich gepolsterten und äußerst komfortablen Ledersofa bequem. Während ich auf den Platz neben mir klopfte, fragte ich: »Würde ich gegen irgendeine Regel des gesellschaftlichen Anstandes verstoßen, wenn ich Sie bäte, sich zu mir zu setzen, damit wir ein wenig miteinander plaudern könnten?« Meine Bitte schien den alten Herrn ziemlich zu verblüffen. Nach einem kurzen nervösen Zögern setzte er sich jedoch neben mich.
»Sie haben sich also entschieden zurückzubleiben, nicht wahr - wie ein Kapitän, der sich weigert, sein Schiff zu verlassen«, begann ich das Gespräch unbeschwert.
»Madam benutzt den Jargon eines Menschen, der mit der See vertraut ist«, lautete die steife und formelle Antwort.
Ich erwiderte, daß sowohl mein Gatte als auch mein Vater den Großteil ihres Lebens zur See gefahren waren und fügte hinzu, daß mein Vater und sein Schiff auf einer Fahrt vor der Küste von Westmalaysia in einem Sturm verunglückt waren.
Das alte Gesicht nahm vor Mitgefühl sanfte Züge an, als er die Geschichte hörte. »Es tut mir leid, dies zu hören, Mrs. Hudson. Für welche Gesellschaft fuhr er?«
Die Frage nach der Gesellschaft zeigte seinerseits eine Kenntnis der Seefahrt, die mich überraschte.
»Blackwell«, antwortete ich.
Der alte Kopf nickte wissend. »Blackwell«, wiederholte er gedankenverloren. »Ja, eine gute Gesellschaft. Ich selbst gehörte zur Besatzung der Thomas B. Henly, ein Windjammer der Blackwell-Gesellschaft - zu den Westindischen Inseln und zurück. Wir hatten, soweit ich mich erinnere, Rum und Zuckerrohr geladen.«
Er hatte mich vollkommen überrascht. Wer hätte gedacht, daß dieser nette, zerbrechliche alte Mann neben mir einst in der Takelage geklettert, Segel losgemacht und die Gischt des Ozeans gespürt hatte? Wie schnell wir doch die Menschen mit unser Vorstellung davon, was sie sind, waren oder sein sollten, in Kategorien einordneten!
»Und dennoch«, erwiderte ich, »sind Sie jetzt hier auf Haddley.«
Während er es sich etwas bequemer machte, antwortete er: »Bevor Sie mich nun für einen alten Seebären halten, Mrs. Hudson, muß ich gestehen, daß ich nur eine einzige Reise auf hoher See gemacht habe. Mein Vater, müssen Sie wissen«, fügte er etwas entspannter hinzu, »diente sein ganzes Leben lang auf Haddley, so wie auch schon sein Vater vor ihm. Aber in der Ausgelassenheit der Jugend beschloß ich, wenn ich schon dienen sollte, dann auf See. Es erschien mir als ein weitaus faszinierenderes und abenteuerlicheres Leben, als für immer lautlos über Teppiche zu trotten.«
Ich nickte verständnisvoll, sagte nichts und ließ ihn fortfahren.
»Aber ich fürchte«, redete er weiter, »daß ich nur allzu schnell merkte, daß das Leben eines Seemannes nichts für mich war. Seekrank, Madam. Die ganze Reise über war ich seekrank. Ich schwor, wenn ich England jemals wiedersehen sollte, würde ich die heiligen Hallen von Haddley nie mehr verlassen.«
Ich tätschelte sanft die mit weißen Handschuhen bekleideten Finger. »Dennoch, alles in allem.«, sagte ich mit einer sich verlierenden Stimme.
»Ja, dennoch, alles in allem«, lautete die leise Antwort, »hätte ich das für nichts auf der Welt versäumen mögen.«
»Es scheint«, lächelte ich, »als hätten wir beide eine besondere Beziehung zur See, Sie und ich.«
Er wandte sich mir zu, und zum ersten Mal, so dachte ich, sah er nicht einfach nur eine Besucherin auf Haddley vor sich, sondern das Gesicht einer Freundin. In dem Moment spürte ich, daß ein Band zwischen uns geknüpft worden war. Ich hielt nun den Zeitpunkt für gekommen, etwas direkter zu werden. »Hogarth«, fragte ich, »liege ich falsch in der Annahme, daß Sie nicht an der Beerdigung Ihrer Ladyschaft teilgenommen haben, da Sie, sagen wir mal, eine persönliche Abneigung gegen die Familie hegen?«
Seine Reaktion bestand aus einer gehobenen Augenbraue, einem Lächeln und eine unverbindliche Antwort: »In Ihnen steckt mehr, als man denkt, Mrs. Hudson.«
Ich erwiderte sein Lächeln.
Langsam lehnte sich der dünne Körper auf dem Sofa zurück, während nachdenkliche Augen tief in den Raum und die Zeit starrten, bevor ich letztendlich mit einer Antwort belohnt wurde.
»Oh, ich hege keine Abneigung gegen die Jungen, ich meine, Sir Charles und den Squire. Du meine Güte, ich erinnere mich noch daran, als sie geboren wurden! Das waren in der Tat glückliche Zeiten«, ergänzte er wohl mehr für sich selbst.
»Und als Herren, heute?«
»Von meinem eigenen, persönlichen Standpunkt aus gesehen würde ich sagen, >enttäuscht< wäre das geeignete Wort.«
»Enttäuscht? Inwiefern?«
»Das Trinken des einen und das Spielen des anderen«, antwortete er leise, während er systematisch eingebildete Fussel von seinem Revers entfernte. Eine Geste, von der er sich wohl erhoffte, daß sie eine gewisse Lässigkeit zeigte und über seine Verlegenheit hinwegtäuschte, welche ihn erfaßte, da er über die Charakterschwächen seiner Arbeitgeber plauderte.
»Beide Herren«, bemerkte ich, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, daß ich im Hinblick auf die St. Clairs nicht gänzlich unwissend war, »verbringen einen Großteil ihrer Zeit in London, soweit ich informiert bin.«
»Ja, das ist sehr wohl wahr. In der Tat hat ihre unerwartete Rückkehr aus London letzte Woche die Dienerschaft in ziemliche Aufregung versetzt.«
Aha, dachte ich, hier war etwas, an dem ich ansetzen konnte. Wie ich mich erinnerte, war es eine Maxime von Mr. Holmes, daß jegliche Abweichung von normalen Handlungsmustern - wie im Fall einer unangekündigten Rückkehr, auch wenn sie an sich nicht verdächtig war zumindest eine gründliche Untersuchung verdiente. Ich hielt dies nun für den geeigneten Moment, um eine Art Zeitplan unter Berücksichtigung aller Beteiligten aufzustellen.
»Hogarth«, fragte ich, »dürfte ich Sie vielleicht um ein Blatt Papier und einen Stift bitten?«
»Gewiß, Mrs. Hudson, selbstverständlich«, antwortete er, worauf er sich erhob und zu einem kleinen Tisch hinüberging.
»Danke, Hogarth«, sagte ich, als er mir einen Schreibblock und einen Stift reichte.
Während er seinen Platz neben mir wieder einnahm, schrieb ich die folgende Zeile auf: »Lady St. Clair: starb Samstag nacht.« Während ich dies laut las, bemerkte ich, daß mich der alte Herr mit einer gewissen Beklommenheit beobachtete.
»Ja, Hogarth?« fragte ich, als er mit der Hand nervös an seinem Kragen herumfingerte.
»Ihre. Notizen, Mrs. Hudson«, fragte er mit einem mißtrauischen Blick auf das Blatt Papier, »welchem Zweck dienen sie?«
Es ist wahr, daß ich ihm gegenüber nicht allzu offen gewesen war, und es war nur gerechtfertigt, daß er mein Vorhaben hinterfragen wollte.
»Mrs. Warner und ich«, setzte ich ihn in Kenntnis, »führen unsere eigenen Untersuchungen bezüglich der tragischen Ereignisse dieser letzten Tage durch. Sie, Hogarth, könnten uns beiden sehr hilfreich sein. Selbstverständlich«, fügte ich hinzu, um die Glaubwürdigkeit unserer Absichten zu unterstreichen, »werden alle Hinweise, die wir möglicherweise entdecken, an die Polizei weitergegeben.« Ich hielt den Atem an und wartete auf seine Antwort.
»Ich helfe Ihnen natürlich gern, auf jede mir mögliche Weise. Allein schon aus Respekt vor dem Andenken von Lord und Lady St. Clair«, versicherte er mir.
Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Nun dann«, fing ich an, »Sie sagen, der Baronet und der Squire kehrten unerwartet zu dem Gut zurück. Ist das korrekt?«
»Und Lady Margaret ebenfalls.«
Ich fürchte, ich erschien ein wenig verdutzt. »Also waren alle drei nach London gereist?«
»Nein, Madam«, erwiderte der Butler mit einem mitfühlenden Lächeln. »Lassen Sie es mich erklären. Lady Margaret, Sir Charles und der Squire verließen Haddley Montag vor einer Woche. Die beiden Herren fuhren geschäftlich nach London, Lady Margaret nach Devon, um ihre Mutter zu besuchen. Können Sie mir folgen?«
»Ja, ja«, antwortete ich und legte in Anbetracht der sich offenbarenden Fakten den Stift nieder. »Fahren Sie fort.«
»Am vergangenen Freitag morgen, also nicht mehr als fünf Tage nach seiner Abreise und drei Tage früher als erwartet, erfuhr ich überraschenderweise von Cook, daß der Squire zurückgekehrt war und das Frühstück auf sein Zimmer gebracht haben wollte.«
»Dann muß er am Donnerstag abend sehr spät oder am Freitag morgen sehr früh angekommen sein«, sagte ich und klopfte nachdenklich mit dem Stift gegen mein Kinn.
»Es scheint so. Obwohl ihn weder das Personal noch ich gesehen haben. An eben dem Freitag kam dann auch Sir Charles zurück, gerade als ich mich für die Nacht zurückziehen wollte. Ich verlieh meiner Überraschung Ausdruck und informierte ihn, daß sein Bruder ebenfalls unerwartet zurückgekehrt sei.«
»Wie reagierte er darauf?«
»Er schien aufrichtig überrascht zu sein.«
»Und Lady Margaret, wann kam. ?«
»Samstag vormittag. Kurz vor 12 Uhr.«
»Und keiner von ihnen gab Ihnen eine Erklärung für seine plötzliche Rückkehr an den heimischen Herd?«
»Mir? Gott im Himmel, nein, Madam! Ebensowenig stünde es mir an, danach zu fragen.«
»Ich verstehe. Ja, sicher. Und was Colonel Wyndgate betrifft«, fragte ich, während ich mich bemühte, immer kleiner zu schreiben, da der Platz dem Geschriebenen auf dem Papier wich, »er blieb hier, nicht wahr?«
»Der Colonel? Oh, ja. Entfernt sich nie allzuweit von Haddley, unser Colonel.« Dann fügte er nachträglich hinzu: »Muß ein einsames Leben für den alten Soldaten sein.«
»Aber ein angenehmes«, bemerkte ich etwas sarkastisch und schaute mich neidisch in der von Reichtum zeugenden Umgebung um. »Und wann erschien der gute Doktor auf der Bildfläche?« fragte ich und wandte mich damit wieder der im Augenblick wichtigeren Angelegenheit zu.
»Am Samstag abend, kurz nach acht Uhr, wenn ich mich recht erinnere. Es waren entweder der Baronet oder der Squire, die ihn kommen ließen.«
»Warum das?«
»Soweit mir mitgeteilt wurde, hatte sich Lady St. Clair über Schwindelanfälle beklagt. Dr. Morley ließ sie ins Bett bringen. Sir Charles bat ihn, noch ein paar Tage zu bleiben, um sie im Auge zu behalten. Auf mein Wort«, rief er aus, als ich mich wieder meinem Schreibblock zuwandte, »wissen Sie, daß ich noch nie so offen mit jemandem über die Familie gesprochen habe? Jedenfalls, seit Mrs. Hogarth verstorben ist. Sie war nämlich Haushälterin hier auf Haddley.«.
Ich antwortete, daß mir das nicht bekannt gewesen war, und drückte mein Bedauern über ihr Ableben aus.
»Danke, Mrs. Hudson, aber das ist schon lange her. Seine Lordschaft lebte damals noch, so ein feiner alter Herr. Ich erzähle Ihnen auch gern«, fuhr er mit nicht wenig Stolz fort, »daß er es war, der für alle Kosten während der Krankheit von Mrs. Hogarth aufkam - ja, und für die Beerdigung ebenfalls. Und wie oft habe ich nicht Lady St. Clair selbst schweigend am Bett meiner Frau sitzen sehen, um ihr in jenen letzten Tagen Trost zu spenden«, fügte er seufzend hinzu, während er sich an all das erinnerte.
Ich fürchte, ich unterbrach ihn in seiner Träumerei, als ich ihn mit meiner Frage wieder in die Gegenwart zurückholte: »Sie waren in der Nacht, in der Ihre Ladyschaft starb, mit Mrs. Warner in dem Schlafzimmer, nicht wahr, Hogarth?«
»Wie? Oh ja.« Er schwieg einen Moment lang, bevor er leise von sich gab: »Merkwürdig.«
Ich griff das Wort auf. »Merkwürdig? Inwiefern merkwürdig?«
»Das ist schwer zu erklären, Madam. Aber ich spürte, daß etwas nicht stimmte. Aber vielleicht mache ich auch mehr davon, als ich sollte.«
»Nicht unbedingt«, erwiderte ich. »Sie wissen natürlich, daß Mrs. Warner der gleichen Ansicht ist wie Sie.«
Ich beließ es dabei, ohne auf Violets Astralwanderungen einzugehen.
»Oh, ja«, antwortete er, wobei er eine weiß bekleidete Hand vor das Gesicht hielt und versuchte, ein Lächeln zu verbergen. »Sie äußerte, wenn ich mich recht entsinne, recht vernehmbar ihre Ansicht, daß irgendein mysteriöser Eindringling in das Schlafzimmer Ihrer Ladyschaft hineinmarschiert sei und sie umgebracht habe.« In einem etwas ernsthafteren Tonfall sagte er dann: »Aber ich sollte Ihnen sagen, daß Mrs. Warner, vor der ich wohlgemerkt den größten Respekt habe, sich irrt. Es war keine andere Person in dem Zimmer, außer uns beiden und der armen toten Frau selbst.«
»Jemand hätte sich verstecken können. «
»Nein«, behauptete er überzeugt. »Die St. Clairs, Dr. Morley und Colonel Wyndgate betraten das Zimmer fast unmittelbar nach uns. Sonst war niemand zugegen. Es tut mir leid, Mrs. Hudson.«
Selbst seine Aussage, daß er niemanden gesehen hatte, brachte mich keinen Deut von meinem Glauben an Vi ab. Ich bin eine dickköpfige alte Ziege, und ich war nun mehr denn je entschlossen zu beweisen, daß sie recht hatte. Dennoch, ich war verwirrt.
Hogarth bemerkte meine Frustration. »Ach, Madam, dies sind wirklich schreckliche Tage, für alle von uns«, seufzte er und wischte sich mit dem Finger über ein tränendes Auge. »Und nun noch dieses arme Mädchen, welches auf dem Grund und Boden des Gutes ermordet wurde. Ich bin nur dankbar, daß Seine Lordschaft dies nicht mehr erleben muß.«
»Am Ende kommt schon alles wieder ins Lot«, versicherte ich ihm, obwohl ich im Moment selbst etwas Beruhigung hätte gebrauchen können.
Da ich seine Niedergeschlagenheit nicht hinauszögern wollte, dachte ich mir, daß ich ihn ebensogut jetzt fragen konnte, ob er mir eine Bitte erfüllen würde.
»Ja, sicher, Mrs. Hudson«, antwortete er. »Was genau wünschen Sie?«
Bevor ich ihm darauf eine Antwort gab, erzählte ich ihm von den Ereignissen der Nacht zuvor, in der ich von Schreien, stöhnenden Lauten und streitenden Stimmen aufgeweckt worden war. Und daß mir, da ich mich aufgrund der späten Stunde in einem schläfrigen Zustand befunden hatte, nicht klar war, von wo die Geräusche gekommen waren. »Obwohl«, fügte ich hinzu, »ich der Meinung bin, daß es das Zimmer direkt über dem von Mrs. Warner gewesen sein muß.«
»In der obersten Etage?«
»Ja. Wundert Sie das?«
»Es ist so, daß die Zimmer auf jener Etage wohl seit über anderthalb Jahrhunderten nicht mehr als Wohnräume benutzt werden.«
»Sie stehen leer?«
»Größtenteils. Obwohl einige von ihnen als Abstellräume benutzt werden, glaube ich. Aber es ist schon einige Jahre her, daß ich dort oben war.« Mit einem sich selbst herabsetzenden Lächeln fügte er hinzu: »Es ist schon genug für meine alten Beine, die große Treppe hinaufzuklettern. Jedenfalls, was Sie hörten, war wahrscheinlich nichts anderes als das Knarren und Stöhnen, die bei jedem alten Bauwerk auftreten, ob es nun ein Haus oder ein Mensch ist.« Er kicherte.
»Vielleicht.« Ich lächelte. »Dennoch, wenn ich recht habe, dann könnte es dort oben etwas geben, das ein wenig Licht auf die geheimnisvolle Frage wirft, wer das tote Mädchen ist und warum sie ermordet wurde.«
»Ich verstehe nicht«, antwortete er mit einem etwas verwirrten Gesichtsausdruck. »Sie ist doch draußen - nicht innerhalb des Gutshauses gestorben.«
»Wirklich? Ob das stimmt, Hogarth? Das frage ich mich nämlich.« »Ich fürchte, das wird mir alles zuviel«, seufzte er und schüttelte müde den alten Kopf. »Aber wegen dieses Gefallens, den Sie erwähnten, was genau.?«
»Ich würde dort oben gern einige Nachforschungen anstellen«, bat ich ihn. »Ich werde also die Schlüssel zu den Zimmern brauchen.«
»Das sollte ich wirklich nicht tun, wissen Sie«, antwortete er und wedelte mit dem Zeigefinger, so wie ein Lehrer es bei einem unartigen Kind tun würde. »Aber wie könnte ein alter Seebär wie ich der Tochter eines ehemaligen Schiffskapitäns etwas abschlagen?« Die Frage war rhetorischer Art und, wenn ich das hinzufügen darf, etwas schrullig. »Obwohl ich nicht weiß«, ergänzte er, »was genau Sie dort zu finden hoffen.«
»Ich auch nicht. Aber auf alle Fälle ist es ein Anfang.«
»Ich bewahre die Schlüssel an einem besonderen Ort auf. Aus Sicherheitsgründen - das Hauspersonal, Sie verstehen sicherlich«, flüsterte er. Warum er allerdings flüsterte, war mir schleierhaft, denn soweit ich wußte, waren wir die einzigen lebendigen Wesen im Haus. Aber so war eben sein Sinn für Verantwortung, daß er das Gefühl hatte, ein verschwiegener und vertraulicher Umgang wäre der Situation angemessen. »Obwohl«, fuhr er fort, »ich keinen Grund sehe, das Geheimnis Ihnen gegenüber zu bewahren. Sie sind in der Küche, genauer gesagt, auf der. die Küche!« stieß er hervor. »Du meine Güte, Mrs. Hudson, bitte verzeihen Sie mir!«
»Warum, was denn?«
»Nun, liebe Frau, Sie haben den ganzen Tag noch nichts gegessen, oder?«
»Nur ein kleines Brötchen mit dem Tee heute morgen«, antwortete ich bescheiden.
»Ja, ja, nun, das reicht doch niemals. Kommen Sie mit.«
Ich erhob mich und bot ihm diskret meinen Arm an, um ihm beim Aufstehen behilflich zu sein.
»Aber bitte kein Wort zu Cook, wenn sie zurückkommt«, sagte er und schloß die Tür des Arbeitszimmers hinter uns. »Selbst Lady Margaret würde es sich zweimal überlegen, bevor sie ohne Erlaubnis in das Heilige Königreich der Küche von Cook eindringt.«
»Dann muß Cook ja in der Tat eine sehr ernstzunehmende Person sein!« Ich lachte.
»Wie Sie es vielleicht ausdrücken würden, Mrs. Hudson, die Küche ist ihr Schiff und sie der Kapitän. Aber«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu, »ich glaube nicht, daß sie es merkt, wenn eine kleine Scheibe Roastbeef und etwas Pastete fehlen.«
»Da wir gerade von Lady Margaret sprechen, und was das betrifft, auch von dem Baronet: Sind keine Kinder aus ihrer Ehe hervorgegangen?« fragte ich, während wir durch einen teppichlosen und schwach erleuchteten Flur gingen, der - wie ich annahm - hauptsächlich von den Bediensteten benutzt wurde.
Dies war eine Frage, die ich Vi hätte stellen wollen, aber ich hatte ja nun eine bessere Quelle an meiner Seite, aus der ich schöpfen konnte.
»Doch, ein Sohn«, antwortete er. »Und ein feiner Kerl ist das. Ist jetzt in Cambridge. Sein letztes Jahr, denke ich.«
»Und der Squire, er war nie verheiratet?«
»Oh, doch. Sie sind sogar durchgebrannt. Gab einen kleinen Skandal hier, wenn ich mich recht erinnere.«
Ich wollte gerade etwas sagen, aber behandschuhte Finger wurden mahnend erhoben.
»Fragen Sie nicht nach dem Warum und Weshalb, Mrs. Hudson. Niemand, zumindest niemand von uns, den Bediensteten, hat je die Gründe für all das erfahren.« Die behandschuhten Finger wurden gesenkt. »Das heißt nicht«, fuhr er fort, »daß die Gerüchteküche unter den Angestellten nicht brodelte.«
»Das kann ich mir sehr wohl vorstellen.«
Dennoch war ich skeptisch bezüglich seiner Unkenntnis der Ereignisse, die er mir glaubhaft machen wollte, und ich weigerte mich, es dabei zu belassen. »Aber mit Sicherheit, Hogarth«, fragte ich mit sanfter Beharrlichkeit, »sind Sie in Ihrer Eigenschaft als geschätzter und getreuer Diener besser unterrichtet als die anderen Mitglieder des Hauspersonals, was das, wie Sie es ausdrücken, Warum und Weshalb betrifft, nicht wahr?«
Er antwortete nicht unmittelbar, und ich konnte spüren, daß er sich zwar geschmeichelt fühlte, weil ich seinen Status anerkannte, es ihm aber unangenehm war, wenn er gebeten wurde, über einen privaten Vorfall aus der Vergangenheit der Familie zu plaudern.
»Ich kann Ihnen nur folgendes sagen«, antwortete er nachdenklich. »Es wurde hinter der Hand erwähnt, daß man seiner Frau eine bestimmte Menge Geld gegeben hatte, mit der Bedingung, daß sie eine Schiffskarte entweder nach Australien oder Kanada löste.«
»Aber warum?«
»Sie gehörte nicht derselben gesellschaftlichen Schicht an. Eine Arbeiterin war sie, aus dem Dorf.«
»Wessen Idee war denn das gewesen?«
»Daß sie gehen sollte? Lady St. Clairs. Sie war in dieser Angelegenheit recht unnachgiebig, wenn ich mich recht erinnere. Sie müssen jedoch verstehen«, fügte er - seine verstorbene Arbeitgeberin entschuldigend - hastig hinzu, »dies geschah nicht aus Böswilligkeit seitens Ihrer Ladyschaft. Es ist nur einfach so, daß der Adel in einer anderen gesellschaftlichen Struktur lebt als wir. Sie verstehen?«
Ich nickte voller Verständnis und fuhr mit meiner Befragung fort. »Und der Squire, war er mit all dem einverstanden?«
»Er hatte die Wahl. Entweder auf Haddley zu bleiben oder sich mit seiner Frau ein neues Leben in Übersee aufzubauen. Für den Squire war die Entscheidung leicht. Er entschloß sich, hierzubleiben.«
»Gingen aus dieser Verbindung Kinder hervor?«
»Ein Kind. Ein Mädchen. Man kam überein, daß sie hierbleiben sollte, um auf Haddley großgezogen zu werden. Aber das war ein Handel, der von der Mutter nicht eingehalten wurde.«
»Wie lang ist all das denn her?«
Er grübelte eine Weile über diese Frage nach. »Ich würde sagen«, antwortete er schließlich, »nicht länger als zwanzig Jahre, höchstens.« »Und die Frau des Squire und die Tochter wurden seitdem nie wieder gesehen?«
»Nie. Obwohl eine Zeitlang Briefe ankamen, die in Kanada abgestempelt waren.« Er schwieg einen Moment. »Oder war es in Australien? Jedenfalls«, fuhr er fort, »nahmen Mrs. Hogarth und ich an, sie seien von der Frau des Squires.«
Als ihm die Fülle der Informationen bewußt wurde, die er gerade vermittelt hatte, flehte mich der ehrwürdige alte Herr mit deutlichen Worten an, das Gehörte unbedingt vertraulich zu behandeln. Ich versicherte ihm überaus glaubhaft, daß ich dies tun würde, woraufhin ihn ein ruhiges und tiefes Gefühl von Erleichterung überkam.
Wir gingen schweigend weiter, bis ich von Hogarth gefragt wurde, ob die Informationen, die mir nun anvertraut waren, in irgendeiner Weise meinen Untersuchungen dienlich wären.
»Im Moment«, antwortete ich mit einem müden Seufzer, »ist alles Nahrung für meine grauen Zellen.«
»Ah, da wir gerade von Nahrung sprechen, Mrs. Hudson«, verkündete mein neuer Vertrauter, als wir uns der Tür am Ende des Flures näherten, »die Küche wartet.«
Alle Gedanken an weitere Fragen verblaßten, als plötzlich Bilder von köstlichem Roastbeef vor meinen Augen schwirrten.