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Bruder Johannes hatte Alexandra und Tobias ins Verwaltungsbüro gebeten. »Ah, da sind Sie ja«, begrüßte er sie freudestrahlend, als sie das modern eingerichtete Büro betraten. An einem der Schreibtische saß Bruder Andreas und war damit beschäftigt, etwas in den Computer einzugeben. Als er die Besucher sah, nickte er ihnen kurz zu, dann vertiefte er sich wieder in seine Arbeit. »Kommen Sie herein und nehmen Sie Platz!« Der ältere Mönch winkte sie zu sich und führte sie zu einer Sitzgruppe am linken Ende des lang gestreckten Raumes. Auf einem Sideboard stand ein großer Flachbildfernseher.
»Für Videokonferenzen«, erklärte Bruder Johannes und verzog entschuldigend die Mundwinkel. »Das war auch so eine Idee unserer Bank. Diese Videokonferenzen dienen als Ersatz für den persönlichen Kontakt, weil der für unser Hotel zuständige Kundenbetreuer keine Lust hat, regelmäßig von der Zentrale in Frankfurt hier in die ›Pampa‹ zu fahren, wie er sich gern ausdrückt.«
»Apropos Hotel«, warf Tobias ein. »Sie werden doch einen festgelegten Tagesablauf gehabt haben, bevor sich diese … Sache mit Abt Bruno ereignet hat. Also zum Beispiel bestimmte feste Zeiten, um zu beten, zu meditieren oder zu singen? Wie sieht es denn jetzt damit aus?«
»Derzeit stehen unsere Gäste im Vordergrund, und auch wenn ich das nicht zu dramatisch darstellen möchte, leidet unsere Gemeinschaft schon ein wenig darunter. Wir arbeiten im Hotel in einer Art Rotationsverfahren, sodass wir mit regelmäßigen Unterbrechungen immer noch – in eingeschränkter Weise – ein monastisches Leben führen können, das von Gebet, Meditation und Gemeinschaft geprägt ist. Wir können uns jedoch nicht mehr einfach zurückziehen, um das Gespräch mit Gott zu suchen, wann uns der Sinn danach steht. Ein Teil von uns hat sich immer und zuerst um die Bedürfnisse der Gäste zu kümmern. Aber verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Wir sind dankbar für jeden Gast, der zu uns kommt. Unsere eigenen Glaubensbedürfnisse müssen eben vorerst ein wenig zurückgestellt werden.«
»Vorerst?«
»Ja, wir hoffen, dass sich das Hotel langfristig so gut etablieren wird, dass wir nicht nur für die Rückzahlung des Kredits arbeiten müssen, sondern vielleicht auch Mitarbeiter einstellen können. Dann ließe sich das gute alte Klosterleben für uns alle wieder ausbauen.« Bruder Johannes lächelte milde. »Doch das ist augenblicklich noch Zukunftsmusik. Jetzt geht es erst einmal darum, dieses Hotel zum Erfolg zu führen, und das ist eine Aufgabe, bei der wir uns von nichts und niemandem Steine in den Weg legen lassen. Abt Bruno hätte uns fast um unser Zuhause gebracht, und wir haben viel bewegen müssen, um es zu retten.«
»Bislang ist Ihnen das doch auch ganz gut gelungen. Ist nur die Frage, wie die Öffentlichkeit auf den Todesfall reagiert«, sagte Alexandra.
Bruder Johannes nickte bedächtig. »Ich weiß, das klingt ganz und gar unchristlich, aber insgeheim hoffe ich, dass Herr Wilden nicht durch einen Unfall umgekommen ist, denn ein Unfall … das wäre für uns viel unerfreulicher. Dann würde es eine Untersuchung geben, man würde unsere Sicherheitsstandards überprüfen, und wir könnten verklagt werden.«
Alexandra wiegte den Kopf hin und her. »Derzeit deutet immer mehr darauf hin, dass es kein Unfall war, und es gibt einen bunten Kreis von Verdächtigen.«
»Tatsächlich?«, fragte Bruder Johannes, und in seine Augen trat ein neugieriges Glitzern.
»Na ja, wir nehmen an, dass der Täter im Kreise der Mitarbeiter zu suchen ist. Einige von ihnen hätten durchaus ein Motiv gehabt, Wilden aus dem Weg zu räumen.«
»Aber sicher nicht dieser Herr Assmann, der heute Nachmittag hier eingetroffen ist, oder?« Bruder Johannes sah gespannt von einem zum anderen.
»Apropos eingetroffen«, sagte Tobias, der seltsam abgelenkt wirkte. »Wussten Sie eigentlich, dass Bernd Wilden bereits am Donnerstag in Lengenich gesehen wurde?«
»Nein. Er hat definitiv erst am Freitagmorgen bei uns eingecheckt.«
»Dann hat er irgendwo anders übernachtet«, überlegte Tobias laut. »Aber wo könnte das gewesen sein?«
Bruder Johannes winkte ab. »Versuchen Sie gar nicht erst, das herauszufinden! Im Umkreis von wenigen Kilometern gibt es einige Dutzend private Unterkünfte, sodass Sie tagelang damit beschäftigt wären, die alle abzuklappern.«
Tobias zog einen Mundwinkel nach unten und gab einen resignierten Laut von sich.
»Wieso sagen Sie, dass Assmann kein Motiv gehabt haben könnte?«, griff Alexandra den verlorenen Gesprächsfaden wieder auf.
»So sehr, wie er sich über den Tod von Herrn Wilden aufgeregt hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass er damit etwas zu tun hat. Er war außer sich und hat jedem von uns die schlimmsten Vorwürfe gemacht. Bernd Wilden muss ihm als Mensch und als Vorgesetzter sehr viel bedeutet haben.«
»Das stimmt wohl.« Alexandra hob unschlüssig die Schultern. »Er hat ihm nachgeeifert, allerdings in einer maßlosen Form, so als wollte der Schüler den Meister noch übertreffen. Und außerdem bleiben Ungereimtheiten. Mit seinem Gehalt kann Assmann seine Anzüge und den Wagen, den er fährt, jedenfalls nicht finanzieren. Also könnte er es auf Wildens Posten abgesehen haben.«
»Oh, das habe ich nicht bedacht«, sagte der Mönch betroffen.
»Kurt Assmann ist zwar erst heute Nachmittag hier eingetroffen, aber solange wir keine Ahnung haben, wo er sich zwischen Freitagabend und Samstagmorgen aufgehalten hat, kommt er als möglicher Täter infrage.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Das wäre natürlich etwas, was Herr Pallenberg überprüfen müsste, weil dafür die Polizei in Kaiserslautern hinzugezogen werden muss. Doch der gute Mann hat ja vorgezogen, das Wochenende ganz in Ruhe zu verbringen.«
»Darüber bin ich auch nicht glücklich«, stimmte Bruder Johannes ihr zu. »Aber während Sie unterwegs waren, habe ich ein wenig herumtelefoniert, und es ist tatsächlich so, dass durch diese Demonstration in Trier die halbe Eifel polizeilich unterversorgt ist. Ich konnte niemanden erreichen, der bereit gewesen wäre, Pallenberg dazu zu verdonnern, sich sofort um die Sache zu kümmern.«
Alexandra nickte. Dass sie mit ihren Bemühungen diesbezüglich ebenfalls gescheitert war, behielt sie für sich.
»Ich wäre dann fertig, Bruder Johannes«, meldete sich in diesem Moment Bruder Andreas zu Wort, der bis jetzt an seinem Schreibtisch gesessen hatte und in seine Arbeit vertieft gewesen war.
»Ah, wunderbar!« Bruder Johannes griff nach der Fernbedienung für den Fernseher, als er auf einmal stutzte. »Lieber Himmel, wo habe ich denn bloß meine Manieren gelassen! Sie sitzen hier stundenlang auf dem Trockenen, dabei wollte ich Ihnen doch eine ganz besondere Spezialität anbieten.« Er stand auf und ging zu einer Kühltasche. Kurz darauf kam er mit vier Bierflaschen zurück, von denen er eine Bruder Andreas reichte. »Die hast du dir mehr als verdient«, merkte er an und stellte die anderen drei auf den niedrigen Tisch vor der Sitzgruppe. Nachdem er noch vier Biergläser geholt hatte, nahm er wieder Platz und hielt eine der Flaschen hoch. »Das ist ein sogenanntes Trappistenbier, ein Duc de Walthéry, das uns von einer Abtei in Belgien in der Nähe von Lüttich geliefert wird, die dieses Bier seit 1609 braut. Obwohl wir keine Trappisten sind, dürfen wir ausnahmsweise das Bier hier weiterverkaufen. Unser Glück ist, dass ein Bruder von Bruder Jonas in der belgischen Abtei lebt. Er hat dafür gesorgt, dass wir eine Verkaufslizenz von der Abbaye de Walthéry erhalten haben. Normalerweise darf ein Trappistenbier nur in der unmittelbaren Umgebung des jeweiligen Klosters verkauft werden.«
»Wie kommt es, dass Sie kein eigenes Bier brauen?«
Bruder Johannes zuckte mit den Schultern. »Wir haben ja nicht einmal das Geld, um die Kapelle aus eigenen Mitteln zu renovieren. Wie sollten wir da eine eigene Brauerei finanzieren?«
»Ja, die Kapelle wollte ich mir ja auch noch ansehen«, warf Alexandra ein und machte sich diesbezüglich eine Notiz.
»Tut mir leid, aber das geht nicht. Sie ist zurzeit eine einzige große Baustelle. Auch wenn die Bauarbeiten momentan ruhen.«
»Wieso?«
»Weil die Bank den Kredit für die Renovierung nur häppchenweise freigibt.« Bruder Johannes seufzte frustriert. »Wenn drei Raten für den Hauptkredit pünktlich gezahlt worden sind, erhalten wir das nächste ›Häppchen‹ und können die Handwerker wieder herbeordern, damit sie weiterarbeiten.« Er legte den Kopf leicht schräg. »Ich habe natürlich auch Verständnis für die Vorgehensweise der Bank, und ich bin guter Dinge, dass wir bald in kürzeren Abständen diese Gelder zugeteilt bekommen, wenn sich unsere Zahlen weiter so entwickeln.«
Er öffnete vorsichtig den Bügelverschluss einer Bierflasche. Ein leises Zischen verriet das Entweichen der Kohlensäure. Dann schenkte er Alexandra ein.
»Bitte nur ein halbes Glas. Ich trinke selten Alkohol, und wenn ich das Etikett richtig deute, dann ist das ein ziemlich starkes Bier«, sagte sie.
»Ja, der Alkoholgehalt liegt bei fast zwölf Prozent, das ist in etwa die Obergrenze«, bestätigte der Mönch. Tobias wollte nach der Flasche greifen, doch der Mönch hielt ihn zurück. »Bitte nicht. Ein solches Bier muss man sehr vorsichtig einschenken, sonst kann es passieren, dass der Hefesatz im Glas landet, und das würde Ihnen gar nicht gefallen, das können Sie mir glauben. Als ich heute Nachmittag gehört habe, dass Sie noch mit mir reden wollen, habe ich ein paar Flaschen aus dem Keller geholt, deshalb auch die Kühltasche, damit das Bier nicht warm wird. Im Kühlschrank da drüben kann man es bedauerlicherweise nicht lagern, weil es dort zu kalt ist und das Bier dadurch trüb würde.«
Als Bruder Johannes allen eingeschenkt hatte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück. »Und jetzt müssen Sie sich noch ein paar Minuten gedulden. Das Bier muss erst eine Weile atmen, sonst kann sich das Aroma nicht entfalten.«
Alexandra, die sich bei diesen Ausführungen allmählich zu langweilen begann, verdrehte im Stillen die Augen.
Auf das Zeichen des Mönchs hin griff sie wenig später nach ihrem Glas und trank einen Schluck Bier. »Uuuh«, machte sie und zog anerkennend eine Augenbraue hoch. »Das nenne ich wirklich stark, aber sehr … angenehm«, fügte sie schnell hinzu, um Bruder Johannes nicht zu enttäuschen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich Tobias’ Mund zu einem amüsierten Grinsen verzog. »Weswegen wir jedoch eigentlich hier sind … Bruder Andreas hat doch inzwischen die Orts-und Zeitangaben der Mönche und der Gäste erfasst …«
Bruder Johannes lachte und schlug sich mit der Hand leicht gegen die Stirn. »Ja, natürlich.« Er nahm die Fernbedienung an sich und schaltete den Fernseher ein. »Das Gerät ist mit den Computern da drüben verbunden. Auf dem großen Bildschirm können wir besser sehen, was Bruder Andreas uns zeigen möchte.«
Alle sahen gebannt auf den Fernsehbildschirm. Ein Grundriss des Klosterhotels nahm Gestalt an; in einer Ecke wurde eine Uhr angezeigt, die in Fünfminutenintervallen umsprang, während sich zahlreiche Lichtpunkte durch den Grundriss bewegten.
Bruder Andreas hielt das Bild an und bewegte die Maus über die Anzeige auf dem Bildschirm. »Was Sie jetzt sehen, ist ein Zeitrafferfilm, der alle Eingaben gleichzeitig darstellt. Jeder Punkt auf dem Grundriss steht entweder für die Person, die für den fraglichen Zeitpunkt ihre Bewegungen durch das Gebäude so beschrieben hat, oder für die Mönche und Gäste, die diese Person dabei gesehen haben. Dieses Gesamtbild ist natürlich unübersichtlich, deshalb schlage ich vor, dass ich Ihnen zuerst einmal zeige, wann Herr Wilden wo im Haus beobachtet wurde. Ich kann jederzeit anhalten und Ihnen die Angabe einblenden, welche Person ihn jeweils bemerkt hat.«
Der Punkt, der Wilden darstellte, wanderte vom Foyer durch die Gänge zu den Gästequartieren. Dort hatte man Bernd Wilden gesehen, wie er sich in sein Zimmer zurückzog. Dann machte die Uhr einen Sprung von gut einer halben Stunde, und der Punkt geriet wieder in Bewegung. Er ging den Weg zurück, den er gekommen war, verließ das Gebäude und blinkte ein letztes Mal ein Stück vom Brunnen entfernt. Der Richtung nach zu urteilen, musste er auf dem Weg zum Parkplatz sein.
Alexandra stand auf und stellte sich vor den Fernseher. »Da wurde Wilden also zum letzten Mal gesehen, richtig?«
Bruder Andreas nickte.
»Um 21.50 Uhr«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Und von wem?«
»Von Bruder Jonas.«
Sie griff nach dem Notizblock und schrieb etwas auf. »Mit ihm müssen wir noch reden, Tobias«, erklärte sie, dann bat sie Bruder Andreas, ihr zu zeigen, wo im Haus sich die anderen Personen zu diesem Zeitpunkt aufhielten. »Hm«, machte sie, als Dutzende Lichtpunkte aufleuchteten und neben jedem der dazugehörige Name angezeigt wurde. »Wenn alle Angaben der Wahrheit entsprechen, dann war um zehn vor zehn nur Bruder Jonas noch draußen. Die anderen, Gäste wie Mönche, befanden sich im Kloster, und zwar … jeder in seinem Zimmer, wenn ich mich nicht irre.«
»Ja, das ist richtig«, bestätigte Bruder Johannes. »Bruder Jonas hatte am Freitagabend die Aufgabe, kurz vor dem Zubettgehen noch eine Runde um das Kloster zu drehen und sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist und alle Türen verschlossen sind. Er hat dann nach der Rückkehr ins Kloster die Eingangstür hinter sich abgeschlossen.« Der Mönch kam zu ihr und zeigte auf den Lichtpunkt, der den fraglichen Mann darstellte. »Bruder Andreas, kannst du fünf Minuten vorgehen?«
»Schon erledigt.« Der Lichtpunkt befand sich nun innerhalb des Grundrisses, und nach weiteren fünf Minuten hatte er sich in eines der Quartiere für die Mönche weiterbewegt. Die Uhr schlug auf 22.00 Uhr um, von da an verharrten alle Punkte regungslos.
»Wenn Bruder Jonas die Tür zum Foyer abschließen sollte, muss er Wilden darauf hingewiesen haben, dass er nicht mehr ins Haus hereinkommt, wenn er tatsächlich zum Parkplatz weitergeht«, sagte Tobias und sah zu Bruder Johannes. »Können Sie Bruder Jonas gleich herbitten? Wir müssen wissen, worüber die beiden geredet haben.«
»Ich erledige das schon«, warf Bruder Andreas ein und griff nach dem Telefonhörer.
Währenddessen ging Alexandra die Namensliste der Mönche und die der Gäste durch und versah jeden Namen mit einem Häkchen, der den farbigen Punkten zugeordnet war. »Es sind alle vollzählig«, stellte sie schließlich fest. »Und jeder befindet sich in seinem Quartier … sofern alle die Wahrheit gesagt haben. Also gut …«
Kurz darauf klopfte es, die Tür wurde geöffnet, und Bruder Jonas trat ein. Wieder fielen Alexandra die tief liegenden Augen des jungen Mönchs auf.
»Wir haben festgestellt, dass Sie am Freitagabend Herrn Wilden offenbar als Letzter lebend gesehen haben«, begann sie. Wie ungeschickt von mir, dachte sie, als sie das Erschrecken sah, das sich auf Bruder Jonas’ Gesicht abzeichnete.
»Aber ich habe nicht …«, sagte er hilflos und sah sich erschrocken nach Bruder Johannes um.
»Nein, nein, Bruder Jonas, wir verdächtigen dich nicht, dass du Herrn Wilden etwas angetan haben könntest«, beruhigte ihn der ältere Mönch sofort. »Frau Berger und Herr Rombach wollten nur wissen, ob Herr Wilden noch etwas gesagt hat.«
»Oh.« Bruder Jonas atmete erleichtert auf. »Ich … hatte eben meine Runde um das Kloster beendet, als mir Herr Wilden entgegenkam. Ich sagte ihm, dass ich in ein paar Minuten abschließen würde, doch er winkte ab und erwiderte, ich müsse nicht auf ihn warten. Er habe am nächsten Morgen irgendwo einen Termin und wolle lieber noch am Abend hinfahren und die Nacht dort in einem Hotel verbringen. Ich habe mich daraufhin noch einmal vergewissert, um ein Missverständnis auch ganz sicher auszuschließen, und Herr Wilden hat dann bekräftigt, er müsse nicht zurück ins Kloster, ich könne ruhig abschließen. Er hatte vor, erst am Samstag zurückzukommen, vermutlich nicht vor Mittag, sagte er noch.«
»Und dann ist er direkt zum Parkplatz gegangen?«, hakte Tobias nach.
»Ja.« Der junge Mönch nickte. »Jedenfalls ging er in diese Richtung weg. Ich habe mich ins Haus zurückgezogen und hinter mir abgeschlossen. Daher weiß ich nicht, wohin er tatsächlich gegangen ist.«
»Und Sie haben auch niemanden sonst gesehen, der sich zu diesem Zeitpunkt vor dem Gebäude aufgehalten hat?«, wollte Alexandra wissen.
»Nein, ganz sicher nicht. Die anderen Gäste müssen sich alle im Kloster befunden haben. Wie meine Mitbrüder.«
»Ich dachte da eher an einen Fremden. An jemanden, der auf dem Parkplatz auf Wilden gewartet hat«, erläuterte sie. »Es könnte ja sein, dass Herr Wilden abgeholt werden sollte.«
Bruder Jonas schüttelte den Kopf. »Nein, da war niemand. Der Kontrollgang um das Kloster und die Kapelle schließt auch die Nebengebäude und den Parkplatz mit ein, und dort standen auch nur Ihre Wagen«, er deutete mit einer Kopfbewegung auf Alexandra und Tobias, »außerdem die von Wildens Mitarbeitern, sein Porsche und unser Transporter.« Er hob kurz die Schultern. »Hätte dort ein anderer Wagen gestanden, dann wäre mir das sicher aufgefallen, und ich hätte den Fahrer auf jeden Fall angesprochen. Immerhin gehört der Parkplatz zum Grundstück des Klosters, und wenn sich dort ein Fremder aufhält, frage ich ihn natürlich, was er da zu so später Stunde zu suchen hat.«
»Es kann aber sein, dass noch ein Wagen auf den Parkplatz gefahren ist, als Wilden auf dem Weg dorthin war?«
Er hob die Schultern. »Tja, Frau Berger, wie gesagt, solange ich noch vorn im Foyer war, habe ich nichts in der Art beobachtet. Wäre in der Zeit ein Wagen zum Kloster gekommen, hätte ich das Motorgeräusch eigentlich hören müssen.«
»Gut«, sagte Alexandra nachdenklich. »Und sonst ist Ihnen nichts Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Nein … außer … Herr Wilden war recht guter Laune, jedenfalls für seine Verhältnisse. Sehen Sie, als er mir entgegenkam, da wusste ich ja, ich muss ihm sagen, dass ich in ein paar Minuten die Eingangstür abschließen würde. Um ehrlich zu sein, befürchtete ich einen Wutausbruch … Ich rechnete fest damit, dass Wilden von mir verlangen würde, bis zu seiner Rückkehr an der Tür auf ihn zu warten.«
»Und stattdessen?«
»Stattdessen sagte er zu mir: ›Ja, ja, machen Sie ruhig Ihre Arbeit.‹ Er erzählte mir von seinen Plänen, noch an diesem Abend wegzufahren, und machte einen fröhlichen … ja äußerst zufriedenen Eindruck. So als hätte er irgendetwas erreicht, was ihm wichtig war.«
Alexandra sah zu Tobias hinüber, der ihr zunickte. »Bruder Jonas, das wär’s für den Moment, vielen Dank«, sagte sie, und der junge Mönch verließ nach kurzem Gruß das Zimmer. »Bruder Andreas, können Sie die Informationen so filtern, dass wir uns ein Bild davon machen können, in welcher zeitlichen Abfolge Wilden vor dem Verlassen des Klosters wo gesehen wurde und wo sich jeweils die Person aufgehalten hat, von der er beobachtet wurde?«
»Einen Moment bitte.« Der Mönch tippte kurz auf seiner Tastatur herum und deutete dann mit einer Kopfbewegung auf den Bildschirm.
Alexandra ging einen Schritt zurück und betrachtete die Anzeige. »Hm«, machte sie. »Es sieht ganz so aus, als hätte Wilden fünf Minuten vor dieser kurzen Unterhaltung mit Bruder Jonas sein Zimmer verlassen und wäre dann zielstrebig in Richtung Parkplatz gegangen. Er wurde von allen nur aus der Ferne gesehen. Doch wieso war er wohl so gut gelaunt, als er das Kloster verließ?«
»Vielleicht hat ihn jemand angerufen und ihm etwas Erfreuliches mitgeteilt«, meinte Tobias. »Möglicherweise war ihm ja ein neuer Posten angeboten worden, der für ihn mehr Einfluss, mehr Macht über andere und natürlich auch mehr Geld bedeutete.«
»Was wir nicht herausfinden können, solange wir sein Handy nicht haben. Sollten wir Kurt Assmann fragen, ob er sich vorstellen kann, wieso sein Chef so zufrieden wirkte?« Alexandra sah auf die Uhr. »Viertel nach neun«, murmelte sie, dann fragte sie Bruder Johannes: »Welches Zimmer hat Herr Assmann?«
Der Mönch drehte sich zu Bruder Andreas um und wollte die Frage eben weitergeben, da antwortete der jüngere Mann bereits: »Er hat darauf bestanden, das Zimmer von Herrn Wilden zu bekommen.«
»Was?«, riefen Alexandra, Tobias und auch Bruder Johannes wie aus einem Mund.
»Ja, er war heute Mittag am Empfang an Bruder Jonas geraten«, erklärte Bruder Andreas. »Mit seiner … energischen Art hat er unseren jungen Bruder in Grund und Boden geredet, bis der ihm das Zimmer überlassen hat.«
»Das heißt, er hat die Möglichkeit gehabt, Wildens Habseligkeiten in aller Ruhe zu durchsuchen«, folgerte Alexandra ärgerlich. »Und er hatte genug Zeit, um mögliche Beweise und Informationen beiseitezuschaffen oder in seinen Besitz zu bringen, um selbst daraus Profit zu ziehen.« Sie stieß frustriert den Atem aus. »Das hatte uns gerade noch gefehlt!«
»Und falls er Wilden selbst umgebracht hat, dann hatte er jetzt alle Zeit der Welt, um nach Notizen zu suchen, die belegen könnten, dass er sich nicht erst heute Morgen von zu Hause auf den Weg hierher gemacht hat, sondern bereits gestern Abend in der Nähe des Klosters war«, ergänzte Tobias düster. »Das macht uns die Arbeit nur noch schwieriger.«
»So ein Mist!« Alexandra stand da und starrte auf den Bildschirm. »Können Sie mir das da bitte als Tabelle ausdrucken, Bruder Andreas?«, fragte sie dann.
Der Mönch nickte und beugte sich wieder über die Tastatur.
»Ich möchte Wildens Weg Schritt für Schritt aufgelistet haben«, erklärte sie, »und zwar in der Reihenfolge, in der er von den Leuten gesehen wurde. Vielleicht hat ja noch jemand Bernd Wildens zufriedenen Gesichtsausdruck bemerkt und hat irgendeine Erklärung dafür.«
Der Drucker auf dem Beistelltisch erwachte zum Leben und spuckte kurz darauf zwei Blätter aus, die Alexandra an sich nahm.
»Danke, Bruder Andreas«, sagte sie und drehte sich zu Tobias und dem älteren Mönch um. »Wir werden zuerst mit Assmann sprechen, danach nehmen wir uns die Mitarbeiter vor.« Sie überflog die Liste und schüttelte den Kopf. »Von Ihren Brüdern hat ihn sonst niemand gesehen, also müssen wir mit ihnen auch nicht reden. Aber mit den Gästen … Sagen Sie, Bruder Johannes … Ich befürchte, dass diese Befragungen mehr als eine halbe Stunde in Anspruch nehmen werden. Das heißt, wir werden nicht vor zehn Uhr fertig sein. Lässt es sich irgendwie einrichten, dass heute Abend ausnahmsweise der Strom etwas später abgestellt wird?«
»Ja, sicher, das ist kein Problem«, beteuerte der Mönch. Er gab Bruder Andreas ein Zeichen, sich darum zu kümmern, woraufhin der wieder zum Telefonhörer griff und einen der anderen Mönche anrief.
»Gut, Ihnen beiden vielen Dank«, sagte sie und nickte Tobias zu, der noch schnell sein Glas Trappistenbier austrank, ehe er sich zu ihr gesellte.
»Na, dann wollen wir mal!«, brummte er. »Wird bestimmt eine angenehme Plauderrunde!«
»In seinem Quartier finden Sie Herrn Assmann jetzt aber nicht«, rief Bruder Andreas den beiden nach, bevor sie das Zimmer verlassen konnten. »Er ist in Saal II …«
»Dort findet heute Abend doch der zweite Teil unseres Schweigeseminars statt«, warf Bruder Johannes irritiert ein. »Herr Assmann kann nicht einfach bei Teil zwei einsteigen, wenn er den ersten Teil versäumt hat!« Seinen beiden Gästen erklärte er: »Teil zwei vertieft die Grundlagen des konstruktiven Schweigens aus dem ersten Teil, aber ohne dieses Grundlagenwissen ist es nicht möglich, die Übungen des zweiten Teils zu verinnerlichen. Er … er stört dort nur die anderen! Bruder Markus kann den Kurs unter solchen Umständen doch gar nicht zu Ende führen!«
»Bruder Markus ist längst nicht mehr im Kurs«, ließ der jüngere Mönch ihn leise wissen.
»Nicht mehr im Kurs? Was soll das heißen?«
»Er … er hat vor einer Viertelstunde die Flucht ergriffen.« Nach kurzem Schweigen ergänzte Bruder Andreas: »Vor Herrn Assmann.«
»Vor einer Viertelstunde?«, warf Tobias ein. »Woher wissen Sie das? Da waren Sie doch hier bei uns.«
Der jüngere Mönch sah ihn mit reumütiger Miene an und hielt sein Handy hoch. »Bruder Markus hat uns allen eine SMS geschickt, um uns mitzuteilen, dass er den Kurs unterbrochen hat.«
Bruder Johannes zog das Mobiltelefon aus der Tasche seiner braunen Kutte. »Oh, tatsächlich, da ist eine SMS. Davon hatte ich gar nichts mitbekommen.« Er öffnete sie und stutzte, dann sagte er ein wenig pikiert zu Bruder Andreas: »Ich darf wohl davon ausgehen, dass er den Namen Assmann nur versehentlich verkehrt geschrieben hat.«
»Ganz sicher«, erwiderte Bruder Andreas. Er schien jedoch ein Grinsen unterdrücken zu müssen. Bruder Johannes schüttelte betrübt den Kopf. »Es ist schon weit gekommen, wenn unsere Gäste mit ihrem Verhalten meine Brüder in die Flucht schlagen können. Wie dem auch sei. Ich werde auf jeden Fall mit Bruder Markus reden. Er kann doch nicht einfach seine Pflicht vernachlässigen – egal, wie Assmann sich aufgeführt hat!«, schimpfte er. »Frau Berger, Herr Rombach, ich nehme an, Sie begeben sich jetzt gleich zu Saal II?«
»Ja, wir wissen schließlich nicht, wann die Gruppe morgen abreisen wird, daher …«, begann Tobias.
Der ältere Mönch schüttelte den Kopf und hob eine Hand. »Sofern Herr Assmann nicht etwas anderes bestimmt, werden die Leute erst am Montag abreisen. Das Programm, für das sie sich entschieden hatten, ist zu umfangreich, um es an einem Wochenende zu absolvieren. Anreise am Freitag, Abreise am Montag, schließlich soll das Ganze auch in Ruhe geschehen.« Er zog die Schultern hoch. »Den Weg zur inneren Ausgeglichenheit findet man nicht, wenn man sich einem Termindruck aussetzt, sondern nur durch die Ruhe selbst.«
»Das leuchtet ein«, erwiderte Tobias. »Trotzdem sollten wir auf unsere Fragen so bald wie möglich eine Antwort bekommen. Schließlich möchten wir den Kreis der Verdächtigen auch mal irgendwann einengen können.«
»Das verstehe ich nur zu gut«, sagte Bruder Johannes.
Kater Brown saß nun schon seit geraumer Zeit vor der Küchentür im hinteren Teil des Refektoriums und wartete ungeduldig darauf, dass ihm endlich jemand seine Futterschale füllte. Natürlich hätte er auch eine Maus oder einen unachtsamen Vogel fangen können, aber nach diesem aufregenden Tag stand Kater Brown nicht der Sinn nach körperlicher Ertüchtigung. Und überhaupt, was waren denn das für neue Sitten? Normalerweise bekam er doch um diese Zeit sein leckeres Feuchtfutter serviert!
Plötzlich hörte er Schritte. Endlich! Er spitzte die Ohren und drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Ein Mann bog um die Ecke. Leider war es nicht der, der ihn normalerweise fütterte. Dennoch lief Kater Brown ihm ein Stück entgegen und strich ihm um die Beine. Dabei ließ er ein klägliches Miauen hören, das ihm diesmal besonders gut gelang, wie er zufrieden feststellte.
»Oh, du hast bestimmt Hunger, nicht wahr, mein Kleiner?«, sagte der Mann und ging langsam weiter, um ihm nicht wehzutun.
Kater Brown folgte ihm begeistert bis zur Küchentür.
»Du weißt, in die Küche darfst du nicht mit hinein. Warte hier, ich bringe dir etwas ganz besonders Leckeres.«
Kater Brown setzte sich hin und fuhr sich mit der Zunge über den Bart. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Hm, etwas ganz besonders Leckeres hatte der Mann ihm versprochen! Geduldig wartete der Kater, den Blick starr auf die Küchentür gerichtet. Endlich wurde sie geöffnet, und der Mann trat wieder zu ihm.
»Hier«, sagte er, bückte sich und stellte ihm einen Teller hin.
Die Fleischbrocken waren von einer dunklen Soße bedeckt und rochen noch verlockender als sonst. Wie schlau, dass er auf das Futter von den Menschen gewartet hatte! So gut rochen Mäuse nicht – und sie schmeckten auch nicht so lecker.
»Guten Appetit«, wünschte der Mann ihm noch, sah ihm einen Moment beim Fressen zu und ging dann davon.
Weil Kater Brown so sehr mit dieser ungewohnten Köstlichkeit beschäftigt war, entging ihm der seltsame Glanz in den Menschenaugen.
Entschlossen klopfte Alexandra an die Tür zu Saal II und drückte die Klinke hinunter. Im hell erleuchteten Raum saßen Wildens ehemalige Mitarbeiter im Halbkreis zusammen. Vor ihnen hatte sich Assmann aufgebaut, fuchtelte mit den Armen und redete auf sie ein. Alexandra hörte Begriffe wie »Motivation«, »Teamarbeit« und »Wir-Gefühl«, ehe Kurt Assmann zu ihr und Tobias herumfuhr.
»Was soll denn das?«, fragte er ungehalten. »Wir sind hier in einer Dienstbesprechung!«
»Und wir suchen einen Mörder«, entgegnete Alexandra ruhig. Sie hatte nicht vor, sich von Assmann unterkriegen zu lassen, und war entschlossen, ihm das auch zu zeigen. »Ihre dienstliche Besprechung muss ein paar Minuten warten, aber ich weiß ja, wie sehr gerade Sie, Herr Assmann, daran interessiert sind, dass Herrn Wildens Mörder schnellstmöglich überführt wird.«
»Ja, natürlich bin ich daran interessiert«, erwiderte er und wirkte mit einem Mal sehr kleinlaut.
Alexandra lächelte in die Runde. »Es dauert hoffentlich nicht lange. Frau Tonger, Ihrer Aussage nach haben Sie Herrn Wilden gegen einundzwanzig Uhr fünfundvierzig aus seinem Zimmer kommen sehen.«
Die Sekretärin nickte verhalten und musterte Alexandra skeptisch.
»Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches an ihm aufgefallen?«
»Ähm …« Yasmin Tonger schüttelte den Kopf. »Wenn Sie nicht etwas konkreter werden können, dann weiß ich gar nicht, was ich mir unter Ihrer Frage vorstellen soll.«
»Einem der Mönche ist etwas an Herrn Wilden aufgefallen, das gar nicht typisch für ihn ist«, erklärte Tobias. »Aber es ist so, wie meine Kollegin sagt: Wenn wir Ihnen verraten, was das war, werden Sie die Aussage unter Umständen bestätigen, weil Sie sich einbilden, es auch bemerkt zu haben.«
Wieder schüttelte die Frau den Kopf. »Nein, ich glaube, mir ist nichts Besonderes aufgefallen. Ich kann mich jedenfalls an nichts Außergewöhnliches erinnern.«
»Herr Hellinger«, wandte sich Alexandra an den nächsten Mitarbeiter. »Ihnen ist Wilden im Korridor entgegengekommen, als Sie auf dem Weg zu Ihrem Zimmer waren. Was ist Ihnen aufgefallen?«
»Nur, dass Herr Wilden den Wagenschlüssel in der Hand hielt … und vielleicht noch, dass er ziemlich zielstrebig an mir vorbeigegangen ist. Aber ich fand daran nichts ungewöhnlich, denn es war bereits Viertel vor zehn durch. Ich nahm an, dass er noch was aus seinem Wagen holen wollte und sich beeilen musste, um vor dem Beginn der Nachtruhe zurück in seinem Zimmer zu sein.«
Alexandra notierte sich etwas auf dem Ausdruck, den Bruder Andreas ihr ausgehändigt hatte. »Frau Maximilian?«
Die Buchhalterin kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Ich hatte gerade meine Zimmertür aufgeschlossen, als Herr Wilden um die Ecke kam.«
»Hat er etwas gesagt?«
»Er hat mir eine gute Nacht gewünscht. Nicht von sich aus, ich habe es zuerst gesagt. Aber von ihm kam dann ein ›Gute Nacht‹ zurück. Doch eigentlich ist daran ja nichts Ungewöhnliches, oder?«
Tobias nickte und warf einen Blick in den Ausdruck. »Herr Leybold, Sie sind Ihrem Chef im Gang zum Foyer begegnet, also unmittelbar bevor er das Haus verließ.«
»Ja, so sieht’s aus«, bestätigte der Mann. »Ich hatte mir zuvor am Empfang noch eine von diesen Broschüren geholt und darin geblättert, als er mir entgegenkam. Im ersten Moment war er mir gar nicht aufgefallen, aber dann sah ich ihn und nickte ihm zu. Er hat zurückgenickt, und dann war er auch schon an mir vorbeigegangen.«
»Und Ihnen ist nichts aufgefallen?«
»Nein, außer dass er dabei irgendwie gelächelt hat.«
»Irgendwie?«, hakte Alexandra sofort nach.
»Na ja, das ist … ich weiß nicht, das ist nicht so leicht zu erklären. Es war so, als …« Leybold verstummte für einige Sekunden, dann sagte er: »Wissen Sie, das war nicht so ein höfliches Lächeln, das Leute aufsetzen, wenn sie sich zufällig begegnen. Das Lächeln … es galt nicht mir. Das war so, als freute er sich auf irgendetwas … Ja, ich glaube, das beschreibt es am besten.«
»Ja, das stimmt«, meldete sich Hellinger zu Wort. »Ich hatte mich noch gewundert, aber dann dachte ich, dass die Landluft vielleicht ein kleines Wunder bei ihm bewirkt hat.«
»Frau Maximilian?«, wandte Alexandra sich wieder der Buchhalterin zu.
Die schüttelte den Kopf. »Dazu kann ich nichts sagen. Ich habe ihn erst im letzten Moment bemerkt, und als er mir eine gute Nacht gewünscht hat, da ging er bereits an mir vorbei. Ob er gelächelt hat? Keine Ahnung.«
»Frau Tonger?«
»Ich habe gesehen, wie er aus seinem Zimmer kam, aber zu seinem Gesichtsausdruck kann ich nichts sagen.«
Vermutlich wäre es Yasmin Tonger ohnehin nicht aufgefallen, schließlich hatte sie Wilden privat gekannt und ihn sicherlich des Öfteren lächeln sehen.
»Ist auch nicht so schlimm«, sagte Alexandra. »Herr Leybold und Herr Hellinger haben bereits bestätigt, was ich wissen wollte.«
»Interessant«, warf Assmann spöttisch ein. »Jetzt sind wir also zu der grandiosen Erkenntnis gelangt, dass Herr Wilden gelächelt hat. Und was fangen wir nun damit an?«
»Ein Mönch ist Bernd Wilden vor dem Kloster begegnet. Er hat gesagt, dass Wilden auf dem Weg zum Parkplatz war und einen sehr zufriedenen Eindruck machte. Er hat den Mönch wissen lassen, dass er erst am nächsten Tag wieder herkommen würde, und sprach davon, am nächsten Morgen einen Termin zu haben und die Nacht dort in einem Hotel verbringen zu wollen. Jetzt frage ich Sie – auch Sie, Herr Assmann –, wo hatte er diesen Termin und um was ging es dabei?«
»Mir hat er nichts von einem Termin erzählt, und ich hätte davon auf jeden Fall wissen müssen«, antwortete Assmann. »Selbst bei einer Sache, die sich kurzfristig ergeben hätte, wäre eine Mail an mich das Mindeste gewesen. Es muss sich um etwas Privates gehandelt haben.«
»Das heißt, er hat Sie auch nicht telefonisch von diesem Termin in Kenntnis gesetzt?«, fragte Tobias.
»Nein, bedauerlicherweise nicht.«
»Und Sie wussten ebenfalls nichts von einem Termin, Frau Tonger?«
Yasmin Tonger verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. »Nein, ich hatte keine Ahnung.«
»Wann haben Sie sich denn das letzte Mal gesprochen, Herr Assmann?«
»Persönlich am Donnerstagmorgen, telefonisch am Freitagmorgen. Er ist ja bereits Donnerstag losgefahren, weil er vor der Fahrt hierher noch irgendeinen alten Schulfreund besuchen wollte …«
»Wissen Sie, wie der heißt?«
Der Assistent schüttelte den Kopf. »Den Namen hat er nicht genannt, und wenn mir klar ist, dass es sich um private Dinge handelt, stelle ich auch keine Fragen. Mobil wäre Herr Wilden ja ohne Weiteres zu erreichen gewesen.«
»Am Donnerstag wurde er aber bereits hier in Lengenich gesehen«, sagte Alexandra, was Assmann aufhorchen ließ.
»Tatsächlich? Ich vermute, ein Blick in seinen privaten Terminplan würde da sicher weiterhelfen. Haben Sie es schon mal mit seinem Laptop versucht?«
»Wir nicht, aber Sie vielleicht. Sie haben ja so selbstverständlich Wildens Zimmer übernommen«, gab Tobias zurück, und Alexandra hielt bei seinem vorwurfsvollen Ton unwillkürlich die Luft an.
»In seinem Zimmer befindet sich der Laptop nicht, und Bruder Johannes konnte mir auch nichts über den Verbleib des Gerätes sagen«, antwortete Kurt Assmann und hielt Tobias’ prüfendem Blick ruhig stand. »Aber wenn Herr Wilden ja wegfahren wollte, wird er ihn sicher mitgenommen und im Wagen verstaut haben.«
»Da ist er nicht, genauso wenig wie sein Handy. Wir haben den Wagen bereits durchsucht und nichts gefunden.«
»Sein Smartphone ist auch verschwunden?«, fragte der Assistent. »Das macht die Sache allerdings immer merkwürdiger! Und es spricht dagegen, dass Herr Wilden unglücklich gestürzt und in den Brunnen gefallen ist. Dann müssten die beiden Dinge ja noch irgendwo sein.«
»Genauso sehen wir das auch.« Alexandra verkniff es sich, ihn darauf hinzuweisen, dass sie ihn nach wie vor zum Kreis der Verdächtigen zählte.
»Hören Sie, Frau Berger«, sagte Kurt Assmann nach einer kurzen Denkpause. »Wir sollten unsere Telefonnummern austauschen, damit wir uns kurzschließen können, wenn sich etwas Neues ergibt. Wir dürfen in dieser Angelegenheit nicht noch mehr Zeit ungenutzt verstreichen lassen.«
»Das ist eine gute Idee«, stimmte sie ihm zu, innerlich jedoch auf der Hut. Er mochte sich im Augenblick noch so kooperativ verhalten, sie würde ihm dennoch weiter mit Skepsis begegnen. Wenn er der Mörder war, wollte er vielleicht nur herausfinden, wie dicht Tobias und sie ihm auf den Fersen waren. Waren sie in diesem Fall in Gefahr, ebenfalls von Assmann aus dem Weg geräumt zu werden? Alexandra verdrängte diesen unschönen Gedanken schnell und versuchte, sich auf das Wesentliche – die Spurensuche – zu konzentrieren.
Nachdem Kurt Assmann und sie die Handynummern ausgetauscht hatten, verließen Tobias und sie wieder den Saal. An der Tür blieb Alexandra noch einmal stehen und drehte sich um: »Sagen Sie mal, Herr Assmann, wieso sind Sie am Freitag eigentlich nicht zu diesem Kloster-Wochenende mitgekommen?«
Assmann lächelte spöttisch. »Ich hatte mich schon gefragt, wann Ihnen das wohl auffallen würde. Aber die Erklärung ist ganz einfach: Der Aufenthalt hier soll die Teamfähigkeit der Mitarbeiter untereinander fördern. Ich als Herrn Wildens Stellvertreter stehe nicht auf der gleichen Ebene wie die anderen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Deshalb war meine Teilnahme nicht erforderlich.«
Die Blicke seiner Kollegen im Hintergrund sprachen Bände.
»M-hm, das leuchtet ein, findest du nicht, Alexandra?«, sagte Tobias, und in seinen Augen funkelte es belustigt. Doch sie winkte nur ab und trat wortlos auf den Flur hinaus.
»Oh Mann«, schnaubte sie leise, nachdem die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war und sie weitergegangen waren. »Der Kerl ist ja fast noch schlimmer als Wilden! Diese maßlose Selbstüberschätzung!«
Tobias bemerkte lächelnd: »Gegen den muss ich dir doch eigentlich wie der sympathischste Mann auf Erden erscheinen, oder?«
»Oh ja, das kannst du laut sagen«, antwortete sie, aber nur Sekunden später stutzte sie. Das war ihr nur so rausgerutscht!
»Danke für das Kompliment«, meinte er grinsend, beugte sich vor, und ehe sie sich’s versah, küsste er sie auf die Wange.
Sie verzog den Mund. »Du bist kein bisschen von dir eingenommen, wie?«
»Ach, ein kleines bisschen schon«, räumte er augenzwinkernd ein. »Aber höchstens so viel.« Dabei zeigte er mit Daumen und Zeigefinger einen halben Zentimeter an.
»Wenigstens gibst du das zu. Das ist schon einmal ein Anfang.«
»Was? Der Kuss?«
»Hör auf, mich absichtlich falsch zu verstehen!«, murrte sie, musste jedoch unwillkürlich lächeln. Im Vergleich zu Wilden und Assmann war Tobias tatsächlich ein Schatz – aber auch wirklich nur im Vergleich zu den beiden, sagte sie sich dann. Ansonsten war er nicht ihr Typ.
»Wo ist eigentlich Kater Brown?«, fragte Alexandra und sah sich um. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie das Refektorium verlassen hatten und zu Bruder Johannes in die Verwaltung gegangen waren. »Erst verfolgt er mich auf Schritt und Tritt, und jetzt lässt er sich gar nicht mehr blicken!«
»Er wird halt mit irgendeiner wichtigen Katzenangelegenheit beschäftigt sein«, meinte Tobias und zuckte mit den Schultern.
»Komm, wir sehen uns mal um, ob wir ihn irgendwo finden können«, entschied sie. »Sonst bekomme ich die ganze Nacht kein Auge zu.«
»Du tust gerade so, als wäre er schon seit Jahren dein treuer Begleiter.«
»Na und? Er ist mir eben ans Herz gewachsen. Das kannst du natürlich nicht verstehen«, sagte Alexandra ungehalten und wandte sich wieder zum Gehen.
Sie nahmen den Weg, den sie gekommen waren, und stiegen dann ins Erdgeschoss hinunter.
»Kater Brown? Kater Brown, wo bist du?«, rief Alexandra immer wieder, doch der Kater tauchte nicht auf. Im Kloster herrschte völlige Stille, obwohl die Gänge noch hell erleuchtet waren. Wildens Mitarbeiter hielten sich offenbar nach wie vor in Saal II auf. Die Mönche hatten sich zweifellos längst in ihre Zimmer zurückgezogen, immerhin war es inzwischen halb elf.
Alexandra blieb stehen und ließ den Blick durch den Korridor links von ihr schweifen, aber auch dort fehlte jede Spur von Kater Brown.
»Vielleicht wartet er ja vor deinem Zimmer auf dich«, schlug Tobias vor.
»Okay, dann sieh du da bitte schnell nach, ja? Ich werfe noch einmal einen Blick ins Foyer und in den Speisesaal.«
Der Empfang war um diese Uhrzeit nicht mehr besetzt, und das Büro dahinter war in Dunkelheit getaucht. Alexandra trat durch den an einen Torbogen erinnernden Durchgang ins Refektorium. Der weitläufige Raum war menschenleer, und auch hier war Kater Brown nicht zu entdecken. Auf Alexandras Rufe blieb alles still. Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass hier irgendetwas nicht stimmte.
Langsam ging sie weiter bis zu der letzten Bankreihe. Auf einmal spürte sie, wie ihr Herz schneller klopfte und sich ihr die Härchen auf den Armen aufstellten.
Und da sah sie ihn! Vor Schreck stockte ihr der Atem.
Kater Brown!
Das Tier lag auf dem kalten Steinboden. Vor ihm stand ein Teller mit ein paar Fleischbrocken, die in einer Soße schwammen.
Alexandra näherte sich dem Kater, der auf ihre Rufe noch immer nicht reagierte. Er hatte die Augen fest geschlossen und rührte sich nicht! Sie spürte, wie ihr ein Schluchzen in die Kehle stieg, als sie neben Kater Brown auf die Knie sank und ihn vorsichtig berührte. Doch nichts geschah!
»Nein!«, flüsterte sie entsetzt. »Bitte nicht!«