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Dorothy Salisbury Davis (*1916), geboren in Chicago und mit einem Abschluss vom Barat College, gehört ganz sicher zu den Menschen, mit denen man sich über einen längeren Zeitraum hinweg befassen sollte. Von 1946 bis zu dessen Tode 1993 mit dem Schauspieler Harry Davis verheiratet, trägt sie weiterhin zu einem Genre bei, das sie vor über einem halben Jahrhundert mit dem Roman The Judas Cat (1949) betrat und zu dem sie in jüngster Zeit in der Anthologie Murder Among Friends (2000) eine neue Erzählung beisteuerte. Davis sieht sich in der Kriminalliteratur als Ausnahme. Sie hat immer beklagt, keine bemerkenswerte Serienheldin schaffen zu können, wenngleich die Julie Hayes in ihren letzten Romanen diese Bezeichnung für sich in Anspruch nehmen könnte, und sie verabscheut Gewalt und Mord. (Eine Anthologie, die sie 1970 für die Mystery Writers of America herausbrachte, trägt den Titel Crime Without Murder.) Dennoch lässt sich ihr Erfolg in diesem Genre mit ihrer ausgesprochenen Begeisterung für Schurken statt Helden erklären. Unter ihren bekanntesten Büchern sind der Lokalklassiker The Clay Hand (1959) zu nennen, dann A Gentle Murderer (1951; dt. Bekenntnis in der Nacht), in dem der Katholizismus thematisiert wird, und schließlich der Beststeller Where the Dark Streets Go von 1969 (dt. Wohin die dunklen Straßen führen).
In der Einleitung zu ihrer Sammlung Tales for a Stormy Night (1984) schreibt Davis ihrer verstorbenen Freundin und Schriftstellerkollegin Margaret Manners das Verdienst zu, ihr jene Methode zum Gemäldediebstahl verraten zu haben, die sie in der für den Edgar nominierten Erzählung «Das Purpurrot ist alles «verwendet.
«Ich erinnere mich sogar noch an die genaue Stelle«, schrieb Davis,»es war an der Ecke Sixth Avenue und Twenty-fourth Street, damals wenige Schritte von Guffanti’s Restaurant. «Obgleich es sich unbestreitbar um eine Kriminalgeschichte handelt, steht das Interesse der Autorin an moralischen Fragen im Mittelpunkt.
Wenn Sie hier über Mary Gardner lesen, werden Sie wahrscheinlich sagen, Sie kennen sie oder hätten einmal jemanden wie sie gekannt. Das ist auch durchaus möglich, denn obwohl es nicht gerade viele von ihrem Schlag gibt, ist dieser Menschentyp doch recht beständig und setzt sich manchmal gegen jede Wahrscheinlichkeit durch.
Sie werden Mary Gardner — oder jemandem wie ihr — im Sinfoniekonzert begegnen, in Kunstgalerien oder im Theater, immer gut gekleidet, wenn auch nicht ganz modisch, manchmal allein, manchmal in Gesellschaft anderer Frauen, die alle ein Flair von wenn nicht Gleichförmigkeit, so doch Gegenseitigkeit umgibt. Jede von ihnen hat sich das — nun, wenn schon nicht schönste, so zumindest im Rahmen ihrer Möglichkeiten bestmögliche Leben gestaltet.
Mary Gardner wohnte zu der Zeit in einer großen Stadt an der Ostküste. Sie war eine hoch gewachsene, schlanke Enddreißigerin, unverheiratet, zurückhaltend feminin, sanftmütig, ja ein wenig unentschlossen im Auftreten, in Geschmacksfragen jedoch entschieden. Mary war Designerin in einer bekannten Tapetenfirma. Ihr Gehalt gestattete es ihr, gute Kleidung zu kaufen, allein in einem hübschen, nur einige Gehminuten von ihrer Arbeitsstelle entfernten Apartment zu wohnen und regelmäßig ins Theater und in die Philharmonie zu gehen. Genauso oft wie sie sich Erfolgsstücke ansah, besuchte sie auch kleine Bühnen und experimentelles Theater. Sie gehörte nicht zu denjenigen, die fanden, ein Stück müsse irgendetwas aussagen; sie interessierte sich für die» verborgenen Werte«. Diese geschmackliche Einstellung prägte auch ihre Haltung zur Bildenden Kunst — ein wahrer Segen in der Tapetenbranche, wo das Gros der Kunden Wert darauf legt, dass ihre Wände gesehen, aber nicht gehört werden.
Damals hatte Mary es sich zur Gewohnheit gemacht, während ihrer Mittagspause — oder auch, wenn sie einfach vom Reißbrett wegmusste — ins Institute of Modern Art zu gehen, das bloß ein paar Straßen von ihrem Büro entfernt lag. Sie hatte sich in einen kleinen, frühen Monet mit dem Titel Baumlandschaft bei Le Havre verliebt, und wenn sie verliebt war, legte Mary eine gewisse suchende Hingabe an den Tag. Beinahe jeden Tag entdeckte sie neue Stimmen in der Waldszene, Bäume und Himmel, die sich in einem schimmernden Teich spiegelten — wobei der Himmel, fand sie, mehr Tiefe besaß als das Wasser.
Je mehr sie über diese Beobachtung nachdachte, desto stärker wurde ihre Überzeugung, dass man das Bild in der Galerie verkehrt herum gehängt hatte. Zur Signatur entwickelte sie folgende Theorie: Der Künstler, davon war sie überzeugt, hatte sie hastig ausgeführt, lange nachdem er das Gemälde vollendet hatte und vielleicht zu einer Zeit, als das Tageslicht schon im Schwinden war. Sie hätte in dieser Sache mit einer Amtsperson vom Museum gesprochen — wenn sie eine Amtsperson vom Museum gekannt hätte.
Mary hatte vom Institut die Erlaubnis erhalten, in den Sälen zu skizzieren, und stand oft, das Skizzenbuch in der Hand, ein Stündchen vor dem Monet. Indem sie ein paar Striche aufs Papier warf, fühlte sie sich unter den vorübergehenden Besuchern und Wärtern auf auffällige Weise unauffällig. Sie hätte sich auf gar keinen Fall angemaßt, das Gemälde zu kopieren, und begegnete jenen Kunststudenten, die das von Zeit zu Zeit taten, mit heftiger Ablehnung.
So tief war Mary in die Betrachtung von Claude Monets Waldszene versunken, dass sie am Vormittag des berüchtigten Museumsbrandes, nachdem sie den Rauch gerochen hatte, zunächst annahm, er käme aus dem Bild selbst. Sie geriet sofort in Wut und schob in gewohnter Voreingenommenheit die Schuld einem ganzen Menschentyp zu — dem unachtsamen amerikanischen Touristen auf fremdem Terrain. So entfernt von der Realität war sie allerdings nicht, dass sie nicht unmittelbar darauf merkte, dass es in dem Gebäude tatsächlich brannte.
In den Korridoren wurden Warnrufe laut, und plötzlich kamen Männer angerannt. Museumswärter zogen schlaffe Schläuche über den Fußboden und ließen sie fallen — wo sie wie große, verschrumpelte Schlangen liegen blieben, über die die Leute wie bei einem urtümlichen Stammesritus sprangen. Blauer Rauch lagerte sich in Schichten an der Decke ab und begann dann in schrägen Mustern zu fallen — wie schief geratene Theaterkulissen aus dünnem Leinenstoff. In der Ferne heulten die Sirenen der Feuerwehrautos.
Mary Gardner blieb wie angewurzelt stehen und beobachtete stumm, wie Männer und Frauen, Besucher wie sie, mit gerahmten Gemälden in den Händen an ihr vorbeihasteten. In einem Fall trugen zwei Männer gemeinsam eine riesige Nachtszene von Chagall, auf der kleine Wesen von der Leinwand zu hüpfen und unterwegs einen Heidenspaß zu haben schienen. Eine Frau nahm den neben dem Monet hängenden Rouault von der Wand und eilte damit den Chagallträgern hinterher.
Trotzdem zögerte Mary. Dass ihr Pflichtgefühl sie zur Berührung zwingen sollte, wo ihr Gewissen es ihr doch so lange verboten hatte — dieser Konflikt steigerte ihre Verwirrung noch zusätzlich. Als ein weiterer Rauchschwall in den Raum drang, wurde das Thema schlicht zu einer Überlebensfrage für das Bild, wenn nicht für sie selbst. In verzweifelter Hast versuchte sie den Monet von der Wand zu nehmen, doch er gab nicht nach.
Sie strengte sich an, zog mit aller Kraft — solcher Kraft, dass sie, als der Draht riss, von der Wucht nach hinten geschleudert wurde, über die Besucherbank fiel und dabei mit dem Kopf gegen das Gemälde schlug. Da die Leinwand auf Holz aufgezogen war, bestand das einzige Missgeschick — abgesehen von ihrem wunden Kopf, der aber überhaupt nicht zählte —, darin, dass das Bild sich in seinem Rahmen gelockert hatte. Inzwischen war Mary der Rahmen ziemlich egal. Sie packte das Gemälde, drückte es an sich und tastete sich in Richtung Galerietür vorwärts.
Sie erreichte den qualmverhangenen Korridor just in dem Moment, als der Wasserdruck die Schläuche abrupt aufzucken ließ. Aus jeder Leitung spritzte ein Wasserstrahl. Mary schirmte das Bild mit dem Körper ab, bis sie es sich unter den Regenmantel schieben konnte, den sie zum Schutz gegen den morgendlichen Nieselregen trug.
Sie eilte, offenbar als letzte der freiwilligen Rettungshelfer, den Korridor entlang. Die Wärter sperrten bereits den Gebäudeflügel ab und schlossen die Feuerschutztür. Recht ungehalten über ihre Einwände, schoben sie sie unsanft die Treppe hinunter. Als sie schließlich im Foyer angekommen war, hatte die Polizei den Bereich gegen Zivilisten bereits abgeriegelt. Ein Polizist geleitete sie ebenso unerbittlich wie unerschütterlich zu der Menge, wo sie, ohne ihre Arme benutzen zu können — sie waren immer noch um das Bild geklammert — zur Tür geschubst und gestoßen und dort erbarmungslos auf die Straße geschleudert wurde. Unter dem auf und ab wogenden, gaffenden Mob auf dem Gehsteig hatte sie nicht die geringste Hoffnung, jemanden zu finden, dem sie ihren Kunstschatz anvertrauen konnte.
Die Leute kreischten und schrieen, sie könnten die Flammen sehen. Mary blickte sich nicht um. Sie beeilte sich, nach Hause zu kommen, schritt forsch und entschlossen voran. Die Stadt war doch ein rechter Dschungel, dachte sie unwillkürlich. Sie drückte das Bild fest an sich, dessen einziger Schutz ihr Regenmantel, ihr eigenes Leben jedoch das bereitwillig gegebene Pfand für seine Sicherheit war.
Eigentlich hatte sie vorgehabt, sofort im Büro des Instituts anzurufen. Doch als sie in ihrer Wohnung war, das Gemälde aufrecht gegen die Kissen auf dem Sofa gelehnt, sagte sie sich, bis das Feuer gelöscht wäre, bestünde sowieso keine Hoffnung, dort mit jemandem sprechen zu können. Sie rief in ihrem Büro an und schützte plötzliches Unwohlsein vor — sie habe irgendetwas zu Mittag gegessen, obwohl sie seit dem Frühstück keinen Bissen zu sich genommen hatte.
An den Wänden ihrer Wohnung hing ihre so genannte «bunte Mischung«: ein Potpourri aus Kostümdrucken und Farblithografien — alles, wie sie immer stolz bemerkte, Editionen mit beschränkter Auflage oder Künstlerdrucke.
Manchmal hatte sie mit dem Gedanken gespielt, Gemälde zu erwerben, konnte sich etwas nach ihrem Geschmack jedoch ganz offenkundig nicht leisten. Einem plötzlichen Einfall folgend, nahm sie eine italienische Lithografie von der Wand und löste Glas und Passepartout aus dem Holzrahmen. Der Monet passte recht gut hinein. Und zu ihrem besonderen Entzücken konnte sie ihn jetzt auch richtig herum aufhängen. Als hätte es seinen eigenen Willen, beanspruchte das Gemälde den vom Tageslicht am meisten begünstigten Platz an ihrer Wand für sich.
Das Vergnügen, das Mary an jenem Nachmittag in seiner Gesellschaft empfand, lässt sich nicht beschreiben.
Sie hätte den Blick überhaupt nicht mehr von dem Bild abgewandt, wenn nicht die Freude bei jedem neuen Betrachten zurückgekehrt wäre. Widerstrebend schaltete sie um fünf Uhr das Radio ein, um mehr über den Brand im Institut zu erfahren. Er war kostspielig und zerstörerisch gewesen — ein ganzer Gebäudeflügel war völlig ausgebrannt.
Mit der reservierten und etwas selbstgefälligen Besorgnis, die man den Tragödien anderer Leute zuteil werden lässt, lauschte sie der Aufzählung jener Gemälde, die der Zerstörung anheim gefallen waren. Die Erwähnung von Baumlandschaft bei Le Havre ließ sie aufschrecken.
Die genaue Bedeutung dessen, was die Ansagerin gesagt hatte, wurde ihr erst im nächsten Moment klar. Sie schaltete das Radio aus und ließ sich lange Zeit von der Stille überfluten.
Dann sagte sie probeweise:»Du bist eine Diebin, Mary Gardner«, und wiederholte nach einer Weile:»O ja, du bist eine Diebin. «Es machte ihr jedoch überhaupt nichts aus. So etwas Ungeheuerliches hatte noch nie jemand über sie gesagt, nicht einmal sie selbst.
Ihr Abendessen nahm sie vor dem Gemälde sitzend vom Tablett ein und genehmigte sich dazu eine Flasche französischen Wein. In dieser Nacht ging sie oft von ihrem Bett zur Wohnzimmertür, bis es ihr so vorkam, als hätte sie vor lauter Aufwachen kaum geschlafen. Endlich schlief sie dann doch ein.
Das erste Morgenlicht fiel jedoch ebenso früh auf Marys Gewissen wie auf das Gemälde. Nach einem kurzen Besuch im Wohnzimmer machte sie mit der Sorgfalt einer jungen Nonne, die sich der Beharrlichkeit des Teufels wohl bewusst ist, einen Plan. Sie kleidete sich strenger, als es sonst ihre Art war, brauchte Fischgrat zur Stärkung des Rückgrats — die lächerliche Wendung ging ihr beim Frühstück andauernd durch den Kopf. Als sie abschließend ihre Erscheinung im Flurspiegel musterte, fand sie, sie sähe aus wie die Rektorin einer englischen Mädchenschule, was ihr für die bevorstehende Aufgabe passend erschien.
Kurz bevor sie die Wohnung verließ, verweilte sie einen letzten Augenblick allein vor dem Monet. Danach, wo oder wie auch immer das Institut das Bild zu hängen gedachte, würde sie hoffentlich das Gefühl haben, dass ein kleiner Teil davon für immer ihr gehöre.
Auf der Straße kaufte sie sich eine Zeitung und sah Baumlandschaft bei Le Havre auf der Liste bestätigt. Trotz der Zerstörung des Gebäudeflügels hatte man zahlreiche Gemälde über den Korridor im zweiten Stock in Sicherheit bringen können.
Als sie am Institut ankam, war ein Teil der Straße davor immer noch abgeriegelt, wodurch sich der morgendliche Verkehrsstrom staute. Die Dienst habenden Polizisten waren nicht minder abweisend als diejenigen, denen Mary am Vortag begegnet war. Plötzlich überkam sie der Impuls, ihr Vorhaben zu verschieben — eine fast unwiderstehliche Versuchung, besonders als ihr das Betreten des Museum verwehrt wurde, falls sie keinen Ausweis vorzeigen konnte, wie er allen befugten Personen ausgestellt worden war.
«Selbstverständlich bin ich nicht befugt«, rief sie aus.
«Sonst wäre ich ja nicht hier draußen.« Der Polizist führte sie zum Sergeant, der die Dienstaufsicht hatte. Der stritt sich in diesem Moment mit dem Vertreter der Feuerversicherung darüber, welcher Straßenabschnitt denn nun für die Aufräumarbeiten genutzt werden konnte.»Das Geschäft auf dieser Straße sind die Geschäfte«, sagte der Sergeant,»und das ist mein Geschäft.« Mary wartete, bis der Versicherungsmensch ins Gebäude stolziert war. Er brauchte keinen Ausweis, bemerkte sie.
«Verzeihung, Officer, ich habe da ein Gemälde — « «Liebe Frau …«Er machte einen tiefen Atemzug, um Geduld zu schöpfen.»Ja, Madam?« «Bei dem Feuer gestern wurde angeblich ein Gemälde zerstört — ein entzückender kleiner Monet mit dem Titel –
« «Ach, tatsächlich!«, unterbrach sie der Officer.
Entzückende kleine Monets gingen ihm wirklich zu Herzen.
Unwillkürlich wurde Mary nervös.»Es ist in der Morgenzeitung von heute als zerstört gelistet. Aber das stimmt nicht. Ich habe es zu Hause.« Der Polizist musterte sie zum ersten Mal mit einem gewissem Mitgefühl.»Bestimmt an Ihrer Wohnzimmerwand, ja?«, sagte er mit tiefer Klugheit.
«Ehrlich gesagt — ja.« Er nahm sie sanft, aber fest beim Arm.»Dann sag ich Ihnen jetzt, was Sie machen. Sie gehen zum Polizeihauptquartier in der Fifty-seventh Street. Wo das ist, wissen Sie ja, oder? Und denen erzählen Sie dann alles schön brav der Reihe nach. «Er wirbelte sie in die Menge und ließ sie dort los. Dann hob er die Stimme:
«Weitergehen! Kommt alles später im Fernsehen.« Mary hatte nicht die Absicht, zum Polizeihauptquartier zu gehen, wo vermutlich Männer, die sich mit bewaffnetem Raubüberfall, Körperverletzung und noch Schlimmerem befassten, die Feinheiten ihres Problems noch viel weniger verstehen würden. Sie ging ins Büro und versuchte im Laufe des Vormittags in regelmäßigen Abständen immer wieder, das Büro des Museumskurators telefonisch zu erreichen. Bei jedem ihrer Anrufe war entweder die Vermittlung überlastet oder seine Leitung länger besetzt, als sie warten konnte.
Schließlich kam ihr die Idee, nach der PR-Abteilung des Instituts zu fragen, wo sie einer offenkundig abgelenkten Person — Mary konnte hören, dass dort dreierlei Gespräche gleichzeitig geführt wurden — erklärte, wie sie während des Brandes Monets Baumlandschaft bei Le Havre gerettet hatte.
«Bei was, Madam?«, fragte die Stimme.
«Le Havre. «Mary buchstabierte es.»Von Monet«, fügte sie hinzu.
«Schreibt man das getrennt oder zusammen?«, wollte die Stimme wissen.
«Verbinden Sie mich bitte mit dem Büro des Kurators«, sagte Mary und fuhr mit den Fingern am Revers ihre Fischgratkostüms auf und ab.
Mary erachtete es als kluge Vorsichtsmaßnahme, sich mit dem Vertreter des Instituts im Foyer ihres Wohngebäudes zu treffen, wo sie zunächst bat, seinen Ausweis sehen zu dürfen. Er wies sich als der Mann aus, dem sie am Telefon ihren Namen und ihre Adresse genannt hatte. Mary ließ den Aufzug kommen und dachte über seinen Ausweis nach: Robert Attlebury III. Sie hatte seinen Namen auf der Mitarbeiterliste des Museums schon einmal gesehen: Kurator für …, sie konnte sich nicht mehr erinnern.
Er sah genauso aus, wie man sich einen Kurator vorstellte; aufrecht und abweisend stand er da, während der Aufzug sie langsam nach oben beförderte. Ein Kurator vielleicht, als Kenner hätte sie ihn jedoch nicht bezeichnet.
Einer mit seinem Gesicht und seinem Auftreten würde immer erst probieren und dann ausspucken, dachte sie. Sie konnte sich seine Verachtung gegenüber Dingen vorstellen, die ihm zuwider waren, und instinktiv wusste sie, dass sie ihm zuwider war.
Nicht, dass es wirklich eine Rolle gespielt hätte, was er ihr gegenüber empfand. Sie war ein Niemand. Wie aber musste sich ein junger unbekannter Künstler vorkommen, der sich und sein Werk mit solcher Herablassung konfrontiert sah? Oder trat er gegenüber Leuten seines eigenen Schlages anders auf? In dem Fall hätte sie für den winzigsten Höflichkeitsbeweis seinerseits eine Menge gegeben.
«Das alles kommt mir so merkwürdig vor — im Nachhinein betrachtet«, sagte Mary, um das Schweigen während der schier endlos scheinenden Auffahrt zu brechen.
«Was für ein Glück für Sie«, versetzte er, und Mary dachte, vielleicht war es das auch.
Als sie ihre Wohnungstür erreichten, hielt sie inne, bevor sie den Schlüssel im Schloss umdrehte.»Hätten Sie denn keinen Museumswärter mitbringen müssen — oder sonst jemanden?« Er blickte wie vom Olymp auf sie herab.»Ich bin jemand.« Mary beschloss, nichts mehr zu sagen. Sie schloss die Tür auf und ließ sie offen stehen. Er ging ihr voran quer durch den Flur ins Wohnzimmer und blieb vor dem Monet stehen. Seine unhöfliche Direktheit fand sie merkwürdigerweise beruhigend: Malerei war ihm also doch wichtig. Sie sollte Männer nicht nach ihrer eigenen beschränkten Erfahrung beurteilen, dachte sie.
Er starrte einige Augenblicke auf den Monet und neigte dann den Kopf unmerklich von einer Seite zur anderen.
Marys Herz begann ungleichmäßig zu pochen. Seit Monaten wünschte sie sich schon, mit jemandem, der sich wirklich damit auskannte, ihre Theorie über das, was in Baumlandschaft bei Le Havre Spiegelung und was Realität war, zu diskutieren. Doch jetzt, wo sich die Gelegenheit dazu bot, fand sie nicht die richtigen Worte.
Trotzdem, sie musste etwas sagen — etwas … Lockeres.
«Der Rahmen ist von mir«, sagte sie,»Sie können ihn zum Schutz des Bildes aber mitnehmen. Ich kann ihn ja holen, wenn ich das nächste Mal im Museum bin.«
Überraschenderweise lachte er.»Der ist womöglich sogar das Beste daran«, sagte er.
«Wie bitte?« Nun sah er sie tatsächlich an.»Ihre Geschichte ist ja raffiniert ausgedacht, Madam, was aber wohl der Situation zuzuschreiben ist.« «Ich verstehe wirklich nicht, was Sie sagen wollen«, sagte Mary.
«Ich habe schon bessere Kopien gesehen als diese hier«, sagte er.
«Nur schade, dass Ihnen bei Ihrer Raffinesse keine bessere Imitation gelungen ist.« Mary war so verdattert, dass es ihr die Sprache verschlug. Er wandte sich zum Gehen.»Es ist aber … signiert«, stieß Mary hervor und machte den schwachen Versuch, seine Aufmerksamkeit auf den Namen in der oberen Ecke zu lenken.
«Was es zu einer Fälschung macht, nicht wahr?«, sagte er fast besorgt.
Seine Knappheit, seine Unbeirrbarkeit angesichts des Schrecklichen, was er da sagte, verlieh ihrem Albtraum Konturen.
«Das ist nicht mein Problem!«, rief Mary und sprach damit Worte aus, die sie nicht so meinte, übte quasi Verrat an dem Gemälde, das sie doch so liebte.
«O doch. Das ist es tatsächlich, und, wenn ich das mal so sagen darf, ein ernstes Problem, wenn ich es weiterverfolgen sollte.« «Dann verfolgen Sie es doch bitte weiter!«, rief Mary.
Wieder lächelte er fast unmerklich.»Es ist nicht die Art, wie das Institut mit derartigen Dingen umgeht.« «Sie mögen Monet eben einfach nicht«, forderte Mary ihn voller Verzweifelung heraus, denn er ging bereits auf die Tür zu.
«Das tut hier ja wohl nichts zur Sache, oder?« «Sie kennen Monet nicht. Das kann gar nicht sein!
Unmöglich!« «Wie sollte ich ihn nicht mögen, wenn ich ihn gar nicht kenne? Jetzt will ich Ihnen mal was über Monet sagen.« Er wandte sich wieder dem Bild zu und fuhr mit dem Finger über eine lebhaft farbige Fläche.»Bei Monet ist das Purpurrot alles.« «Das Purpurrot?«, sagte Mary.
«Jetzt fangen Sie an, es auch zu sehen, nicht wahr?« Sein Tonfall grenzte ans Pädagogische.
Mary schloss die Augen und sagte:»Ich weiß bloß, wie dieses Gemälde hierher gelangt ist.« «Ich ziehe es doch sehr vor, in dieser Angelegenheit von Ihnen nicht ins Vertrauen gezogen zu werden«, sagte er.
«Und jetzt muss ich mich um wichtigere Angelegenheiten kümmern. «Wieder wollte er auf die Tür zusteuern.
Hastig verstellte Mary ihm den Weg.»Es ist egal, was Sie von Monet halten, oder von mir oder von sonst irgendwas. Sie müssen dieses Gemälde ins Museum zurückbringen.« «Und mich zum allgemeinen Gespött machen, wenn der Schwindel auffliegt?«Er hielt den Arm stocksteif wie eine Messingstange zwischen sie und verließ die Wohnung.
Mary war inzwischen ziemlich außer sich und ging ihm bis zum Aufzug nach.»Ich gehe damit zur Presse!«, schrie sie.
«Ich glaube, das werden Sie bereuen.« «Jetzt wird mir alles klar. Ich verstehe!«Mary sah, wie sich die Aufzugtür öffnete.»Sie wollten glauben, der Monet sei im Feuer zerstört worden.« «Barbarin!«, sagte er.
Dann ging die Tür zwischen ihnen zu.
Nach einiger Zeit überredete Mary — was gar nicht so einfach war — gewisse Experten, sogar einen Kunstkritiker, zu ihr zu kommen und» ihren «Monet zu untersuchen. Das Unterfangen war kostspieliger, als sie es sich leisten konnte — offenbar rechneten alle mit Erfrischungen, inklusive teurer Spirituosen. Ihre Freundinnen und Freunde spielten bei» Marys Schwindel« mit, wie sie ihre Geschichte bald nannten, und in stetig wachsenden und immer esoterischer werdenden Kreisen wurde sie wegen ihres unerschütterlichen Beharrens auf der Version, wie sie in den Besitz eines» echten Monet« gekommen war, sehr bewundert. Trotz der Tugend der Schlichtheit, die sie seit Kindertagen besaß, merkte sie, wie sie auf einmal Wörter in symbolischen Kombinationen verwandte — die Sprache der Leute, in deren Gesellschaft sie sich nun befand —, so dass weit klügere Leute als sie manchmal zu ihr sagten:»Wie scharfsinnig!«oder» Was für eine Beobachtungsgabe!«, um sich sodann wieder einen Drink einzuschenken.
Eines Tages kam ihr Arbeitgeber, der große Mann höchstselbst, der vor ihrer» Akquisition «keine Ahnung gehabt hatte, ob sie nun in schlampigen oder geordneten Verhältnissen lebte, zur Cocktailzeit zu ihr in die Wohnung und brachte einen berühmten Kunsthistoriker mit.
Während der Experte glücklich lächelnd vor seinem zweiten Scotch saß, erzählte Mary erneut die Geschichte von dem Brand im Institut und wie sie mit dem Gemälde einfach nach Hause gegangen war, weil sie keinen gefunden hatte, dem sie es hätte geben können. Während sie redete, wanderte sein wissender Blick von ihrem Gesicht zu dem Gemälde, zu seinem Glas, zu dem Gemälde und wieder zurück zu ihrem Gesicht.
«O, das kann ich mir vorstellen«, sagte er, als sie geendet hatte.
«Das ist genau die Art von verrücktem Abenteuer, die sich tatsächlich zutragen könnte. «Er stellte sein Glas behutsam da ab, wo sie sehen konnte, dass es leer war.
«Ich nehme an, Sie wissen, dass es nie eine offizielle Gesamtaufstellung von Monets Werken gegeben hat?« «Nein«, erwiderte sie und schenkte ihm nach.
«So ist es aber leider. Und die traurige Wahrheit ist, dass ziemlich viele Museen heutzutage Gemälde unter seinem Namen zeigen, deren Echtheit nicht wirklich beglaubigt ist.« «Und meins?«, sagte Mary, wobei sie das Kinn reckte und vergeblich zu vermeiden suchte, dass es bebte.
Ihr Gast lächelte.»Müssen Sie das unbedingt wissen?« Danach vermied Mary es einige Zeit, den Monet anzuschauen. Es lag nicht daran, dass er ihr weniger gefiel, sondern dass sie sich selbst in seiner Gesellschaft jetzt weniger gefiel. Was geschehen war, stellte sie fest, war Folgendes: Wie die Experten sah sie jetzt nicht das Gemälde, sondern sich selbst.
Es war ein außergewöhnliches Stück Selbstentdeckung für eine Frau, die sich nie ernsthaft mit der eigenen Psyche hatte auseinander setzen müssen. Bisher hatte, jedenfalls nach Marys Meinung, die Hauptfunktion eines Spiegels darin bestanden, den Winkel zu bestimmen, in dem man den Hut aufsetzen wollte. Doch die Entdeckung eines Makels bewirkt nicht von sich aus Heilung, sondern verschlimmert den Zustand oft noch. So verhielt es sich mit Mary.
Sie verbrachte immer weniger Zeit zu Hause, und ihren neu gewonnenen Freunden und Freundinnen musste man immerhin lassen, dass sie es nur fair fanden, die bei einer so mysteriös cleveren Gastgeberin genossene Gastfreundschaft zu erwidern. Wie oft war ihr als kleines Mädchen von Eltern und Lehrern geraten worden, doch etwas zu unternehmen, mehr unter Leute zu gehen. Nun, endlich ging Mary mehr unter die Leute. Und zu Hause bei denen, die sich erlaubt hatten, ihr Heim und ihre persönlichen Sachen zu kommentieren, erlaubte nun sie sich die Kommentare. Je seltsamer ihr Kommentar war – je gehässiger, hätte sie es früher genannt —, umso beliebter wurde sie. O ja, Mary ging mehr unter Leute, viel mehr unter Leute.
Ihr Versicherungsmakler — der sonst die Angewohnheit hatte, zum Eintreiben seiner vierteljährlichen Beiträge einfach unangemeldet vorbeizukommen — musste eines Samstagmorgens doch tatsächlich früh aufstehen, um sie überhaupt zu Hause anzutreffen.
Es war ein klarer, frischer Tag, und just zu dieser Stunde leuchtete der Monet am hellsten. Der Mann saß da und starrte ihn fasziniert an. Mary war belustigt, denn sie erinnerte sich, wie beleidigt er immer reagiert hatte, dass seine Kunden es versäumten, den Firmenkalender an prominenter Stelle aufzuhängen. Als sie hinausging, um ihr Scheckheft zu holen, stand er auf und berührte die Oberfläche des Gemäldes.
«Haben Sie schon mal überlegt, das Bild da versichern zu lassen?«, fragte er, als sie zurückkam.»Hätten Sie was dagegen, wenn ich frage, wie viel es wert ist?« «Es hat mich … eine Menge gekostet«, sagte Mary und ärgerte sich sogleich über ihn und sich selbst.
«Wissen Sie was«, sagte der Makler.»Ich habe einen Freund, der für einige große Galerien solche Kunstgegenstände schätzt. Hätten Sie was dagegen, wenn ich ihn mal mitbringe, um zu sehen, wie viel er meint, dass es wert ist?« «Nein, ich habe nichts dagegen«, sagte Mary schicksalsergeben.
Also kam der Gutachter und sah sich das Gemälde sorgfältig an. Auf einen bestimmten Wert wollte er sich nicht festlegen. Er sei nicht die höchste Autorität für diese Impressionisten aus dem neunzehnten Jahrhundert, er wolle darüber nachdenken. Noch am gleichen Nachmittag kehrte er jedoch zurück, als Mary gerade weggehen wollte, und mit ihm kam ein bärtiger Herr, der mit Mary oder dem Gutachter zwar kein einziges Wort sprach, aber ständig vor sich hin brabbelte, während er das Gemälde akribisch untersuchte. Mit einem» Tss, tss, tss «nahm er dann das Gemälde von der Wand, untersuchte die Rückseite und hängte es wieder auf — aber verkehrt herum, das unterste zuoberst.
Mary spürte wieder dieses Flattern, das ihren Herzschlag unterbrach, doch es ging rasch vorbei.
Auch als sie ihre Wohnung verließen, richtete der bärtige Herr kein Wort an sie; genauso gut hätte sie unsichtbar sein können. Es war der Gutachter, der sich murmelnd bedankte, jedoch kein Wort der Erklärung hervorbrachte.
Da der Experte ihren Whisky nicht getrunken hatte, nahm Mary an, dass er ihr keine Höflichkeiten schuldete.
Sie schickte sich an, ihn zu vergessen, so wie sie die anderen vergessen hatte — mittlerweile fiel es ihr leicht, sie alle zu vergessen. Doch als sie nach Hause kam, um sich zwischen Matinee und Cocktails umzuziehen, wartete erneut ein Besucher auf sie. Sie bemerkte ihn im Foyer und stellte fest — da der Portier etwas zu ihm sagte, als die Aufzugtür ihr gerade die Sicht versperrte —, dass er ihretwegen gekommen war. Die nächste Fahrt des Aufzugs brachte ihn an ihre Tür.
«Ich bin wegen des Gemäldes hier, Miss Gardner«, sagte er und hielt ihr seine Visitenkarte hin. Sie hatte die Tür nur so weit geöffnet, wie die Vorlegekette es erlaubte. Er war Versicherungsvertreter der Continental Assurance Company, Ltd.
Sie machte die Vorlegekette los.
Mit vollendeter Höflichkeit wartete er in seinem Zweireiher ab, bis Mary sich gesetzt hatte. Dann nahm er ordentlich ihr gegenüber Platz, das Gemälde im Blickfeld, denn sie saß darunter, aufrecht und, wie sie hoffte, Respekt einflößend.
«Wunderschön«, sagte er, den Monet anstarrend. Dann riss er den Blick davon los.»Ich bin aber kein Experte«, fügte er hinzu und räusperte sich vornehm. Es betrübte ihn, dachte sie, sich eine wenn auch nur kurze Gefühlsaufwallung gestattet zu haben.
«Aber ist seine Echtheit beglaubigt?«Sie sagte es so, wie sie früher gedacht, aber nicht gesagt hätte: Pfui, schämen Sie sich!
«Ausreichend, um den Erfordernissen meiner Gesellschaft zu genügen«, sagte er.»Nicht, dass Sie mich jetzt falsch verstehen — wir haben nicht die Absicht, irgendwelche Erkundigungen einzuziehen. Wir begnügen uns bei derart delikaten Verhandlungen immer damit, einfach das Gemälde zurückzubekommen.« Mary verstand ihn zwar nicht falsch, verstand ihn allerdings auch nicht richtig.
Er nahm ein Stück Papier aus der Brusttasche, das er auf das Beistelltischchen legte und mit den spitz zulaufenden Fingern eines Künstlers — oder eines Bankers — oder eines Taschendiebs — behutsam an eine Stelle manövrierte, an der Mary erkennen konnte, dass er ihr einen Verrechnungsscheck offerierte.
Da er sie nicht ansah, entging ihm das Zucken, das sie an ihrem Mund spürte.»Der Tag des Brandes«, dachte sie, doch die Worte kamen ihr nicht über die Lippen.
Sie nahm den Scheck in die Hand: 20000 Dollar.
«Darf ich mal Ihr Telefon benutzen, Miss Gardner?« Mary nickte und ging in die Küche, wo sie erneut den Scheck betrachtete. Ein Batzen Geld, dachte sie bitter, zum Ausgleich dafür, dass man sich ein paar Monate lang um einen Freund gekümmert hat.
Sie hörte die Stimme des Besuchers, während er in den Hörer sprach — inzwischen ganz der Experte, seinem Ton nach zu schließen. Ein paar Minuten später hörte sie, wie die Wohnungstür zuging. Als sie wieder ins Wohnzimmer trat, waren sowohl ihr Besucher als auch der Monet verschwunden …
Einige Zeit später nahm Mary an der Eröffnung des neuen Flügels im Institut teil. Sie erkannte einige Leute, die sie früher nicht gekannt hatte und die sie vermutlich auch nicht mehr viel länger kennen würde.
Man hatte den Monet wieder verkehrt herum gehängt.
Darüber dachte Mary nach, als sie wieder zu Hause war, und weil zweimal richtig einmal möglicherweise falsch bestimmt wieder gutmachte, hielt sie den Scheck verkehrt herum, während sie ihn über dem Spülbecken verbrannte.