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Charlotte Armstrong (1905-69) zählt zu jenen glänzenden Schriftstellerinnen, die die revisionistische Behauptung der Geschichte Lügen strafen, amerikanische Kriminalautorinnen der fünfziger und sechziger Jahre seien die unterdrückten, nicht genügend gewürdigten Opfer hart gesottener männlicher Dominanz. Die Mystery Writers of America verliehen ihr den» Edgar «für A Dram of Poison (1956; dt. Ein Schluck Gift) — und ihre beiden 1967 erschienen Titel The Gift Shop und Lemon in the Basket standen im selben Jahr auf der Auswahlliste für den besten Roman. Auf dem Höhepunkt ihres Ruhmes wurde sie in Sachen pure Spannung nicht einmal von Cornell Woolrich übertroffen.
Nach einigen erfolglosen (obgleich in New York uraufgeführten) Theaterstücken und drei relativ konventionellen Detektivromanen mit einer Hauptfigur namens MacDougall Duff machte die in Michigan geborene Charlotte Armstrong mit The Unsuspected (1946) Furore, einem Roman, der unter Anhängern wie Kritikern eine lebhafte Kontroverse entfachte. Howard Haycraft, der traditionsverhaftete Verfasser des Standardwerks Murder for Pleasure (1941), lobte die Stärken des Romans, behauptete jedoch, er wäre noch besser gewesen, wenn Armstrong in klassischer «Krimimanier «die Identität des Bösewichts erst am Ende gelüftet hätte, statt den Leser in das Geheimnis einzuweihen. 1947 wurde der Roman nach einem Drehbuch Armstrongs verfilmt, dann folgten The Chocolate Cobweb (1948), Mischief (1950; dt. Der Babysitter), The Black-Eyed Stranger (1951) sowie zahlreiche weitere Romane bis zum posthum veröffentlichten The Protegé (1970).
Armstrong beherrschte ihr Metier sowohl im Kurzgeschichtengenre wie auch beim Roman. Die Erzählung» St.-Patrickstag «veranschaulicht sowohl ihre Fähigkeit, Spannung zu erzeugen, als auch ihr starkes Gespür für gegenseitige Abhängigkeit und Verantwortung — samt allen Problemen, die sich daraus ergeben. Die Affinität der Autorin zu Woolrich zeigt sich in der ungewöhnlichen Abwandlung einer seiner Lieblingssituationen (die Dame verschwindet), und ebenso deutlich wird ihre Neigung zum Theater — Hauptfigur ist ein Bühnenschriftsteller, und man kann sich die Geschichte auch gut als Theaterstück vorstellen.
Ganz behutsam, mit fast ehrfürchtigem Genuss, sortierte er alle Papiere in die richtige Reihenfolge. Ein Exemplar des Manuskripts steckte er in einen Umschlag und schrieb die Adresse darauf. Die anderen legte er in einen leeren Koffer. Dann rief er bei einer Fluggesellschaft an und hatte Glück. Einen Platz nach New York und zwar morgens. Morgens? An welchem Morgen? Am St.-Patrickstag in der Frühe.
Er war der Welt entrückt gewesen. Jetzt aber reckte er sich, atmete durch, blinzelte und streckte die Fühler nach dem aus, was man gemeinhin die Realität nennt.
Also, mal ganz von vorn: Er hieß Mitchel Brown, war Bühnenautor (so Gott wollte) und hatte das
Überarbeitungsprojekt abgeschlossen, dessentwegen er nach Los Angeles gekommen war. Juhuu! Fertig!
Es war Viertel nach ein Uhr morgens, und deshalb bereits der siebzehnte März. Ort der Handlung war seine Wohnung im Erdgeschoss, und die sah schlimm aus: verraucht, schmutzig, unordentlich … Ach ja, andere Dinge hatten Vorrang gehabt. Sein Rücken schmerzte, seine Augen brannten, ihm schwindelte. Er würde sauber machen müssen, essen, schlafen, baden, sich rasieren, sich anziehen und packen. Aber zuerst …
Er klebte ein paar Luftpostmarken nebeneinander auf den Umschlag und ging hinaus. Die Straße war dunkel und menschenleer. Ein paar Autos standen massig an den Bordsteinkanten. Das Manuskript plumpste in den Briefkasten — landete sicher am Busen des Postzustelldienstes. Selbst wenn jetzt er, das Flugzeug und die anderen Kopien zugrunde gingen …
Über sich selbst lachend, bog Mitch um die Ecke, fühlte sich plötzlich verlassen, niedergeschlagen und einsam.
Das Parrakeet Bar & Grill, stellte er dankbar fest, war noch geöffnet. Er ging den einen Häuserblock zu Fuß und trat ein. Die Bar verlief entlang der ganzen Wand, und der Grill, bestehend aus acht Sitznischen, erstreckte sich über die gesamte Länge der anderen. Der schmale Raum war düster und wirkte verlassen. Mitch tastete nach einem Barhocker.
«Hallo, Toby. Nicht viel los heute?« «Hallo, Mr.
Brown. «Der Barkeeper freute sich offensichtlich, ihn zu sehen. Er war ein kleiner Mann mit dunklem Haarschopf, bläulichem Stoppelkinn und einem Blaustich in den weißen Augäpfeln.»So spät an einem Wochentag ist es bei mir nie voll.« «Die Küche hat schon zu, was?«, sagte Mitch. Die Küche war nicht das Herzstück dieses Etablissements.
«So ist es, Mr. Brown. Wenn Sie was essen wollen, gehen Sie besser woanders hin.« «Was zu trinken reicht mir schon«, sagte Mitch mit einem Seufzer.»Ich kann ja nach Hause gehen und mir noch ein Rührei machen.« Toby wandte sich wieder seinen Flaschen zu. Als er mit Mitchs Stammdrink wiederkam, meinte er etwas weinerlich:»Es ist nur so — ich muss bald dichtmachen und weiß nicht, was ich tun soll.« «Wie meinen Sie das?« «Schauen Sie sie an. «Tobys Blick wanderte über Mitchs linke Schulter.
Mitch drehte sich um und stellte überrascht fest, dass in einer der Nischen eine Frau saß. Oder vielleicht sollte man eher sagen, lag, denn ihr heller, hutloser Kopf war auf das rot karierte Tischtuch gesunken. Mitch wandte sich wieder um und wackelte fragend mit den Augenbrauen.
«Total weggetreten«, flüsterte Toby heiser.»Hören Sie, ich habe keine Lust, die Bullen zu rufen. So was ist nicht gut fürs Geschäft. Ich habe ein krankes Kind zu Hause, meine Frau ist völlig kaputt, und ich will nach Hause.« «Haben Sie’s schon mit schwarzem Kaffee probiert?« «Klar, habe ich. «Betrübt ließ Toby die Schultern hängen.
«Wie ist sie denn in diesen Zustand geraten?« «Hier jedenfalls nicht«, beeilte sich Toby zu sagen.
«Keine Ahnung. Meine Güte — dass ein paar Drinks sie so fertig machen!
Das Problem ist — eine Pennerin ist sie nicht. Das sieht man. Was soll ich also tun?« «Setzen Sie sie in ein Taxi«, sagte Mitch unbekümmert.
«Lassen Sie sie einfach dahin verfrachten, wo sie hingehört. Wieso nicht? Sie wird doch so was wie einen Ausweis bei sich haben.« «Ich will nicht in ihrem Geldbeutel herumwühlen«, sagte Toby ängstlich.
«Hm, warten Sie mal …«Mitch glitt von seinem Barhocker. Nachdem sein Drink ihm munter die Kehle hinuntergeflossen war, war er der Welt heiter und fröhlich zugeneigt. Außerdem kam er sich überaus intelligent vor und erkannte, dass er dazu geboren war, alle Welt zu verstehen.
Toby trat hinzu, und gemeinsam hoben sie die Frau am Oberkörper hoch.
Ihr Gesicht war im Schlaf der Trunkenheit schlaff, und doch war es kein hässliches Gesicht. Es war nicht jung, aber auch nicht alt. Ihre Kleidung war teuer. Nein, eine Stadtstreicherin war sie nicht.
Dann schlug sie die Augen auf und sagte mit kultivierter Stimme:»Wie bitte?« Sie war nicht direkt bei Bewusstsein, doch es war ein ermutigendes Zeichen. Die beiden Männer halfen ihr auf die Füße. Mit ihrer Unterstützung konnte sie stehen, konnte sogar gehen. Mitch fuhr mit dem linken Arm durch den Henkel ihrer teuer aussehenden Handtasche. Dann führten die beiden sie zur Tür.
«Vielleicht an die frische Luft?«, sagte der Barkeeper hoffnungsvoll.
«Richtig«, sagte Mitch.»Hören Sie, neben dem Kino ist ein Taxistand. Bis wir dort drüben sind …« «Ich muss aber abschließen«, entgegnete Toby schrill.
«Ich muss hier alles versorgen.« «Nur zu«, sagte Mitch, der in der süßen Nachtluft stand, die fremde Frau schwer in den Armen.»Ich habe sie ja.« Hinter sich hörte er das Klicken des Türschlosses, während er sich auf dem Gehweg aufmachte und die Frau gehorsam einen Fuß vor den anderen setzte. Ganz in Gedanken über die merkwürdigen und erstaunlichen Seiten der» Realität «versunken, hatte Mitch sie den halben Häuserblock entlang geführt, bevor ihm klar wurde, dass der Barkeeper ihn beim Wort genommen hatte und überhaupt nicht mitkam.
Na gut. Mitch war nicht verärgert. Im Gegenteil, er war erfüllt von Mitgefühl für alle menschlichen Wesen. Diese Frau war ein Mensch und deshalb schwach. Er war froh, dass er ihr dabei helfen konnte, nach Hause zu gelangen.
Das umliegende Geschäftsviertel war völlig verlassen.
Sie bewegten sich in einer leeren Welt. Als Mitch sich bis zur nächsten Ecke gekämpft hatte, konnte er erkennen, dass am Kino keine Taxis standen. Zu dieser Nachtzeit, er hätte es wissen müssen, war das Kino dunkel und wie ausgestorben. Er war auf die gewöhnlichen Zeitabläufe wohl nicht ganz abgestimmt gewesen.
Jedenfalls konnte er sie nicht einfach dem nächstbesten Taxifahrer übergeben. Und auch nicht der Polizei, denn es war kein Polizist in der Nähe. Es gab nichts als den Bürgersteig, die nächtens an der Bordsteinkante abgestellten Blechkisten und keinen Verkehr.
Einen Autofahrer hätte Mitch sowieso nicht herbeigewunken. Die meisten Autofahrer waren misstrauisch und hatten Angst. Also tat er das Einzige, was ihm übrig blieb — er ging weiter.
Er steuerte ihre mechanischen Schritte um die Ecke und die Straße entlang, denn, dachte er sich, wenn er sie weiter laufen ließ, würde sie allmählich wieder zu sich kommen, und dann könnte er sie fragen, was er ihrer Meinung nach mit ihr machen sollte. Er hatte das Gefühl, das Richtige zu tun. Vielleicht könnte er seinen eigenen Wagen holen …
Die frische Luft hatte jedoch nicht die erwünschte Wirkung. Die Frau fing an zu stolpern. Sie sackte mit ihrem ganzen Gewicht gegen ihn. Mitch merkte, dass er sie fast trug. Dann stellte er fest, dass er, die Frau mit beiden Armen aufrecht haltend, direkt vor seinem eigenen Wohngebäude stand. Nun blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sie mit hineinzunehmen, wo er ihre Identität feststellen und ein Taxi rufen konnte.
Die Wohnung hatte sich während seiner Abwesenheit nicht von selbst aufgeräumt. Er ließ seine Last los, und sie sank auf das Sofa. Er rückte ihren blonden Kopf auf ein Kissen. Dort lag sie nun, total weggetreten, eine wildfremde Person. Um ihren Körper auszustrecken und es ihr bequemer zu machen, hob er ihre Beine unten an.
Einer ihrer Schuhe — wunderschöne Schuhe aus feinem grünem Leder mit hohen spitzen Absätzen und kleiner Messingschnalle —, einer davon fiel herunter.
Mitch ergriff den anderen Schuh und zog ihn ihr ebenfalls aus. Erfüllt von kosmischen Gedanken über weibliche Wesen und Absätze, stellte er ihre Schuhe auf seinen Schreibtisch und streifte sich ihre Handtasche vom Arm. Sie war aus dem gleichen feinen grünen Leder.
Er kam sich fies vor, das Eigentum einer fremden Frau zu durchwühlen. Trotzdem, es musste sein.
Ihr Name auf dem Führerschein lautete Natalie Maxwell.
Ihre Wohnadresse war Santa Barbara. Mitch pfiff durch die Zähne. Damit erledigte sich sein Plan, sie im Taxi nach Hause zu schicken, denn ihr Zuhause lag hundert Meilen von hier entfernt. Dann fand Mitch einen Brief, der an Mrs. Julius Maxwell adressiert war, und stieß wieder einen Pfiff aus. Sie war also verheiratet!
Noch dazu mit jemandem, dessen Name ihm bekannt vorkam. Julius Maxwell. Alles, was Mitch dazu einfiel, war der Geruch von Geld. Dann war sie also vermutlich nicht pleite. Er spähte in ihre Geldbörse und sah ein paar Scheine. Nicht viele. Also blätterte er ihr Scheckheft durch und pfiff zum dritten Mal durch die Zähne. Oho! Eine abgebrannte Obdachlose war die nicht.
Mitch fuhr sich mit der Hand durchs Haar und
überdachte seine prekäre Lage. Da bot er nun einer wohlhabenden, verheirateten, besinnungslos betrunkenen Dame aus Santa Barbara Unterschlupf. Was sollte er bloß mit ihr machen?
Die Tasche enthielt nichts, was ihm verraten hätte, wo hier in der Gegend sie abgestiegen war. Der Brief war von einer Frau in San Francisco und enthielt nur Klatsch.
Was war also zu tun?
Nun, er könnte die Polizei rufen und sie denen unterjubeln. Das konnte er sich aber schlecht vorstellen.
Oder er könnte bei Maxwell in Santa Barbara anrufen und, falls der Gatte dort war, um weitere Anweisungen bitten oder, falls er nicht dort war, konnte Mitch doch sicher erfahren, wo Mrs. Maxwell in Los Angeles wohnte, und sie dort abladen. All das ging ihm durch den Kopf und wurde verworfen.
Denn wieso einem Mitmenschen Demütigungen und Probleme bereiten? Dass sie krank war, glaubte er nicht.
Bloß total besoffen. Früher oder später würde der Nebel verfliegen, und sie würde zu sich kommen. In der Zwischenzeit war sie da, wo sie war, absolut sicher. Der Himmel wusste, dass er nichts Übles im Schilde führte.
Außerdem war er — Mitchel Brown, Bühnenautor, Künstler, Mitgefühlsapostel — kein bürgerlicher, ängstlich um seinen Ruf besorgter Konformist, wenn es darum ging, etwas zu tun, was» man «nicht tat. Sollte er — als der, der er war — dieses Menschenwesen etwa beim Gesetz oder gar dem eigenen Ehemann in Schwierigkeiten bringen?
Wenn dieses Menschenkind, aus irgendeinem menschlichen Grund, bloß ein bisschen zu viel Alkohol zu sich genommen hatte? Er brachte es nicht fertig.
Okay. Er war von seiner Stimmung und Toby, dem Barkeeper, der ihn hinterlistig im Stich gelassen hatte, in die Rolle des Samariters gedrängt worden. Wieso also nicht gleich der barmherzige Samariter sein? Ihr was Gutes tun.
Der Gedanke gefiel ihm. Er hatte das Gefühl, es würde ihm Glück bringen. Ihr was Gutes zu tun. Weiß Gott, dass wir das alle brauchen können, dachte er fromm.
Also kritzelte Mitch einen Zettel. Liebe Mrs. Maxwell, Sie können mein Telefon benutzen, wenn Sie möchten.
Oder mein Gast sein, solange Sie es für nötig halten.
Er unterschrieb, ging ins Schlafzimmer, holte eine leichte Decke und breitete sie über sie. Sie schnarchte leise. Er betrachtete ihr Gesicht noch einmal eingehend.
Den Zettel legte er auf den Teppich unter ihre Schuhe, wo sie ihn bestimmt sehen würde. Dann ging er ins Schlafzimmer, machte die Tür zu und ging zu Bett.
Frühmorgens am St. Patrickstag wachte Mitchel Brown auf und war vollkommen ausgehungert. Er hatte vergessen, etwas zu essen. Da fiel ihm ein: New York!
Flugzeug erwischen! Packen!
Er wollte gerade in die Küche gehen, als ihm an der Schlafzimmertür die Dame in den Sinn kam. Also machte er kehrt und zog vor dem Hinausgehen einen Morgenmantel an.
Er hätte sich die Mühe sparen können. Sie war weg. Ihre Schuhe waren weg. Ihre Handtasche war weg. Sein Zettel war weg. Überhaupt — es gab nicht die geringste Spur von ihr.
Er fragte sich nicht, ob er womöglich geträumt hatte. Sie war also wieder zu sich gekommen und geflüchtet. Hm, ohne ein einziges Dankeschön? Ach, na ja, wahrscheinlich in Panik geraten. Ach, die menschliche Schwäche! Mitch zuckte die Achseln. Doch er hatte Sachen zu erledigen und nicht genügend Zeit dafür.
Er begann wie besessen das Haus in Ordnung zu bringen, warf alles Verderbliche aus dem Kühlschrank, alles Schmutzige in den Wäschesack, alles Anziehbare in seinen Koffer. Er erreichte das Flugzeug mit knapper Not.
Kaum saß er drin, begann er zu leiden. Er las sein Manuskript in Gedanken noch einmal durch und wand sich unter Zweifeln. Er versuchte, ein bisschen zu schlafen, konnte aber nicht, und dann konnte er plötzlich doch … und dann war er auch schon in New York, und Gott war ihm gewogen und sein Produzent immer noch scharf drauf …
Sechs Wochen später stieg der Bühnenautor Mitchel Brown in Los Angeles aus dem Flugzeug. Er hatte ein Stück am Broadway! Das Urteil lautete comme ci, comme ςa. Laufzeit, Kartenverkauf, Mundpropaganda … Er selbst wollte nichts mehr davon wissen. Er war zwar nicht direkt am Ende, wusste aber, dass ihm das blühte, wenn er nicht nach Hause flog und sich an eine andere Arbeit machte, und zwar bald.
Die ganze Zeit war er der Welt entrückt gewesen, denn wenn man ein Stück probiert, bedeuten einem Erdbeben, große Katastrophen und Kriegserklärungen nichts. Absolut gar nichts.
Etwa um fünf Uhr morgens kam er in seiner Wohnung an und stieß mit dem Fuß den Stapel von Zeitungen weg, die er vergessen hatte abzubestellen. Drinnen roch es muffig und war eigentlich nicht richtig sauber, aber egal.
Er riss sämtliche Fenster auf, mixte sich einen Highball und setzte sich mit der obersten Zeitung vom Stapel hin, um sich auf den neuesten Stand zu bringen über das, was die westliche Welt seit seinem Weggang umgetrieben hatte. Die internationalen Nachrichten hatte er schon letzte Woche im Osten kurz überflogen. Von lokalen Ereignissen hatte er natürlich überhaupt keine Ahnung.
Der neueste Mordfall, hm … Weil die Zeitungen in Los Angeles immer hoffen, dass ein Mord sich als ganz große Sache entpuppt, wird jeder Mord groß herausgebracht.
Dieser hier sah nicht besonders viel versprechend aus.
Eine schlichte Rangelei, schätzte er. In ein paar Tagen wäre es kalter Kaffee.
Er überflog die zweite Seite, wo über alle länger zurückliegenden Mordfälle berichtet wurde. Zwei bis drei waren ihm entgangen. Eine Frau, die von ihrem Exmann erstochen worden war. Ein Mann, den man in seinem eigenen Hausflur erschossen hatte. Das Übliche. Mitch gähnte. Er würde sein Auto herausholen und irgendwo anständig essen gehen, beschloss er. Und sich morgen dann wieder an die Arbeit machen.
Um halb sieben betrat er sein Lieblingsrestaurant, bestellte sich einen Drink und setzte sich hin, um in Ruhe die Speisekarte zu studieren.
Etwa zehn Minuten später kam sie lautlos herein und setzte sich direkt gegenüber von Mitch allein an einen Tisch. Das Erste, was er aus den Augenwinkeln wahrnahm, waren ihre Schuhe. Er hatte sie schon einmal gesehen. Ja, und sie gehalten — sie in den Händen gehalten.
Sein Blick wanderte höher, und da war sie — Mrs. Julius Maxwell. (Natalie hieß sie, erinnerte er sich.) Es war nicht nur Mrs. Julius Maxwell in Person, sondern auch in derselben Kleidung, die sie damals getragen hatte!
Dasselbe grüne Kostüm, dieselbe helle Bluse und kein Hut. Eine Dame, gepflegt, begütert, hübsch und in entspannter Haltung — und mittlerweile absolut nüchtern.
Mitch hielt den Kopf schief und richtete den Blick auf sie; er wartete, dass sie sein Starren spürte und darauf reagierte. Ihre Augen begegneten seinen gleich darauf, waren jedoch kühl und bar jeder Wiedererkennung.
Aber natürlich, dachte er. Wie sollte sie mich auch erkennen? Sie hat mich ja nie gesehen. Amüsiert wandte er den Blick ab, sah dann wieder hin. Natalie Maxwell bestellte. Sie lehnte sich entspannt zurück, und ihr Blick glitt an ihm vorbei, kehrte kurz zurück, um sein Interesse zur Kenntnis zu nehmen, und wanderte weiter, ihrerseits keinerlei Interesse bekundend.
Mitch fand es irgendwie nicht in Ordnung, wie sie ihn behandelte. Er stand auf und ging zu ihr hinüber.»Guten Tag, Mrs. Maxwell!«, sagte er freundlich.»Ich freue mich, dass es Ihnen besser geht.« «Wie bitte?«, sagte sie. Ihm fiel ein, dass er sie das, und nur das, schon einmal hatte sagen hören.
«Ich heiße Mitchel Brown. «Abwartend lächelte er zu ihr hinunter.
«Ich glaube nicht …«, murmelte sie in vornehmer Verwunderung. Sie hatte eine hübsche gerade Nase, und obwohl sie zu ihm aufblicken musste, schien sie ihn von oben herab zu mustern.
«Sie erinnern sich sicher an den Namen«, sagte Mitch.
«Es war am sechzehnten März. Nein, es war eigentlich am St.-Patrickstag in der Frühe.« «Ich verstehe nicht ganz …« War sie dumm oder was? Mitch sagte mit einem etwas spitzen Ton in der Stimme:»Hatten Sie einen schlimmen Kater?« «Es tut mir Leid«, versetzte sie mit einem leicht genervten Lachen,»aber ich weiß wirklich nicht, wovon Sie reden.« «Na, nun kommen Sie schon, Natalie«, sagte Mitch, der allmählich sauer wurde,»es war doch meine Wohnung.« «Was?«, sagte sie.
«Meine Wohnung, in der Sie ohnmächtig wurden — hier in Los Angeles.« «Ich fürchte, da irren Sie sich«, sagte sie abweisend.
Mitch war anderer Meinung.
«Sind Sie denn nicht Mrs. Julius Maxwell?« «Doch, die bin ich.« «Aus Santa Barbara?« «Aber ja doch, die bin ich. «Sie runzelte leicht die Stirn.
«Na, dann war die Wohnung, in der sie aufwachten, am St.-Patrickstag in der Frühe, meine Wohnung«, sagte Mitch verstimmt,»was soll dieser Aussetzer?« «Was ist hier los?«, ließ sich eine Männerstimme vernehmen.
Mitch schwenkte den Kopf herum und wusste sofort, dass er hier Mr. Julius Maxwell vor sich hatte. Er sah einen mittelgroßen, muskulösen Mann mittleren Alters vor sich, mit Pfeffer-und-Salz-Haarschopf und wilden schwarzen Augen unter schweren schwarzen Brauen.
Alles an diesem Mann verhieß Aggression und krankhafte Eifersucht. Er roch förmlich nach Durchsetzungskraft und Machtstreben, nach Ego und Gier.
Mitchel Brown, der Bühnenautor, Künstler und Mitgefühlsapostel nahm seine ganze Kraft zusammen, als faltete er ein Paar Flügel zusammen.
«Julius«, sagte die Blondine,»dieser Mann kennt meinen Namen. Er redet andauernd vom St.-Patrickstag in der Frühe.« «Ach ja?«, sagte ihr Mann.
«Er behauptet, ich war in seiner Wohnung, hier in Los Angeles.« Mitch Brown kam plötzlich ein Gedanke, mit dem sich alles erklären ließ. Offensichtlich hatte Natalies Gatte nie erfahren, wo Natalie in jener Nacht gewesen war. Also hatte Natalie so tun müssen, als würde sie Mitch nicht kennen, weil sie, im Gegensatz zu ihm, ja wusste, dass Julius Maxwell in der Nähe war und gleich auftauchen würde. Etwas im Verhalten der Frau passte aber nicht recht zu seiner Theorie. Sie wirkte nicht betroffen genug.
Ihr Blick war unbeirrt, ihre Verwirrung oberflächlich.
Trotzdem meinte er, sich ritterlich geben zu müssen.
«Na, dann habe ich mich wohl geirrt«, sagte er.»Aber die Ähnlichkeit ist frappierend. Vielleicht haben Sie ja eine Doppelgängerin, Madam?« Er hielt dies für eine noble Geste von ihm, die ihr einen Ausweg bot.
«Eine Doppelgängerin?«, giftete Julius Maxwell.»Die den Namen meiner Frau benutzt?« Nun, wenn der Kerl natürlich seinen Scharfsinn beweisen musste, hatte Mitch Pech gehabt.»Tut mir Leid«, sagte er leichthin.
«Setzen Sie sich, und erzählen Sie mir davon«, kommandierte Maxwell.»Mr. äh …?« «Brown«, sagte Mitch knapp. Er hatte gute Lust, auf dem Absatz kehrt zu machen und zu gehen. Doch dann sah er Natalie an. Sie hatte ihre Handtasche aufgemacht und ihre Puderdose gefunden. Dies mutete ihn entweder unverschämt nonchalant oder aber erschreckend vertrauensselig an. Oder was? Neugier stieg in ihm hoch – er setzte sich.
«Na ja, ich geriet zufällig in eine Bar, wo eine Dame etwas zu tief ins Glas geschaut hatte«, sagte er, als wäre dies nichts Besonderes.»Ich erklärte mich bereit, sie in ein Taxi zu setzen, doch es gab kein Taxi. Schließlich ließ ich sie ohnmächtig auf meinem Sofa liegen. Am nächsten Morgen war sie verschwunden. Das ist die ganze Geschichte.« «Und das war am St.-Patrickstag?«, fragte Maxwell gespannt.
«Mitten in der Nacht. Frühmorgens.« «Dann war die Dame nicht meine Frau. Meine Frau war in der Nacht bei mir zu Hause in Santa Barbara.« «Bei Ihnen?«, fragte Mitch vorsichtig und etwas geschockt.
«Sicher. «Maxwells Ton war aggressiv.
Mitch begann sich allmählich zu fragen, was hier eigentlich gespielt wurde. Die Frau hatte sich die Nase gepudert und saß da, als wäre ihr das alles völlig schnuppe.»Nicht bloß im gleichen Gebäude«, wollte Mitch wissen,»wie Sie vielleicht annahmen?« «Nicht bloß im selben Gebäude«, sagte Julius Maxwell, «und von Annahme ist keine Rede. Sie war bei mir, sprach mit mir, berührte mich, wenn Sie’s genau wissen wollen. «Seine schwarzen Augen blickten feindselig.
Oho, dachte Mitch, dann lügst du also auch. Was soll das eigentlich alles? Dieser Maxwell gefiel ihm ganz und gar nicht.
«Vielleicht habe ich sie mit einer anderen Dame verwechselt«, sagte er glatt.»Aber ist es nicht merkwürdig, dass sie die gleichen Sachen trägt, die sie auch am St.-Patrickstag anhatte?« (Na, jetzt sagst du nichts mehr, dachte Mitch voller Genugtuung.)
Julius meinte etwas rätselhaft:»Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?« «Ihren Namen habe ich schon mal gehört«, erwiderte Mitch.
«Wissen Sie, dass ich ein einflussreicher Mann bin?« «O ja«, sagte Mitch liebenswürdig.»Ehrlich gesagt, kann ich den Zaster bis hierher riechen.« «Wie viel wollen Sie haben, um zu vergessen, dass Sie meine Frau in der Nacht damals in Los Angeles gesehen haben?« Mitchs Augenbrauen fuhren hoch.
«Am St.-Patrickstag in der Frühe«, fügte Julius gehässig hinzu.
Mitch spürte, wie er allmählich in Wut geriet und sein Temperament aufloderte.»Wieso? Was ist es denn wert?« Ihre Blicke verfingen sich ineinander. Es war lächerlich.
Mitch kam sich vor, als wäre er unversehens in einen zweitklassigen Film geraten. Dann stand Maxwell vom Tisch auf.»Sie entschuldigen mich. «Sein Blick knallte wie ein Peitschenhieb auf Mitch herab.
«Sitz «schien er zu sagen, als wäre Mitch ein Hund.
Dann stolzierte er davon.
Allein mit der Blondine, beeilte Mitch sich zu fragen:
«Was soll ich Ihrer Meinung nach denn tun oder sagen?« Er betrachtete ihre Hand, die schlaff auf dem Tisch lag, langfingrig, mit pink lackierten Nägeln, die sich nicht festklammerte, sich nicht einmal rührte.»Ich verstehe das nicht«, sagte sie gleichmütig.
«Okay«, sagte Mitch angewidert.»Ich bin hierher gekommen, um zu Abend zu essen, und finde diese Diskussion recht unergiebig, wenn Sie mich also bitte entschuldigen.« Er stand auf, ging zu seinem eigenen Tisch hinüber und bestellte sein Essen.
Kurz darauf kam Julius Maxwell zurück und musterte Mitch mit einem triumphierenden Leuchten in den Augen.
Mitch schwenkte den Zauberstab der Vernunft über seine eigene, allzu menschliche Drüsenaktivität. Es war für Mitchs Selbstachtung unerlässlich, dass er hier wie geplant zu Abend speiste und sich von diesen fremden Leuten nicht aus der Ruhe bringen ließ.
Sein Steak war gerade gekommen, als ein Mann den Raum betrat und auf Maxwells Tisch zusteuerte. Es folgte ein Wortwechsel. Julius stand auf. Beide Männer kamen zu Mitch herüber.
Julius sagte.»Das ist der Bursche, Lieutenant.« Mitch merkte plötzlich, dass der Fremde auf den Sitz neben ihm und Julius auf den Sitz zu seiner anderen Seite glitt. Er wehrte sich gegen das Gefühl, in der Falle zu sitzen.»Was soll das alles?«, erkundigte er sich milde und tupfte sich dabei die Lippen mit der Serviette ab.
«Mein Name ist Prince«, sagte der Fremde.»Vom Los Angeles Police Department. Mr. Maxwell sagte mir, Sie hätten behauptet, Mrs. Maxwell sei in der Nacht des sechzehnten März und am Morgen des siebzehnten hier in der Stadt gewesen?« Argwöhnisch nippte Mitch an seinem Wasserglas; er war auf der Hut.
Julius Maxwell sagte:»Dieser Mann hat versucht, mich mit einer verrückten Geschichte zu erpressen.« « Was habe ich?«Mitch rastete aus.
Der Police Lieutenant, oder was er auch war, hatte ein langes, hageres Gesicht, unten leicht gekrümmt, und sehr müde Augenlider. Er sagte:»Wollten Sie mit Ihrer Story ihr Alibi zerstören?« «Ihr Alibi wofür?«Mitch lehnte sich zurück.
«Ach, hören Sie doch auf, Brown«, sagte Julius Maxwell,»oder wie Sie auch heißen. Sie haben meine Frau doch von dem Foto in der Zeitung erkannt.« Mitchs Hirn überschlug sich.»Ich habe seit sechs Wochen keine Zeitungen gesehen«, versetzte er aggressiv.
Triumphierend leuchteten Julius Maxwells schwarze Augen auf.
«Also, das«, erklärte er rundweg,»ist unmöglich.« «Ach, tatsächlich?«, gab Mitch recht sanft zurück. Seine Rolle als Mitgefühlsapostel legte er ziemlich rasch ab.
Jetzt war Mitch ein Mensch, der mit einem anderen Menschen aneinander geriet, und er wusste, dass er sich vorsehen musste. Er spürte, wie seine Flügel sich in sein Rückgrat zurückzogen.»Alibi wofür?«, beharrte er und musterte den Polizisten gespannt.
Der Polizist seufzte.»Sie wollen es von mir hören?
Okay. Vergangenen März, am sechzehnten, spätabends«, leierte er herunter,»wurde ein Mann namens Joseph Carlisle in seinem Hausflur erschossen.«(Mitch spitzte die Ohren; die kurze Meldung fiel ihm wieder ein, die er erst heute Abend gelesen hatte.)»Wohnhaft in einem Canon in den Hollywood Hills«, fuhr der Lieutenant fort.
«Kurvenreiche Landstraße, einsame Gegend. Sieht aus, als hätte jemand bei ihm geklingelt, er machte auf, sie unterhielten sich im Hausflur. Es war seine eigene Schusswaffe, die er in einer Tischschublade dort aufbewahrte. Wer immer ihn erschoss, zog die Haustür zu, wodurch sie abgeschlossen war, und warf die Waffe ins Gebüsch. Und verschwand. Wurde nicht gesehen — von niemandem.« «Und was hat das mit Mrs. Maxwell zu tun?«, wollte Mitch wissen.
«Mrs.
Maxwell war mal mit diesem Carlisle verheiratet«, erwiderte der Polizist.»Wir mussten sie überprüfen. Sie hat dieses Alibi.« «Verstehe«, sagte Mitch.
«Mrs.
Maxwell«, stieß Julius zwischen den Zähnen hervor,»war an dem Abend und die ganze Nacht bei mir in unserem Haus in Santa Barbara.« Nun begriff Mitch. Er erkannte, dass Maxwell seiner Frau entweder die Peinlichkeit ersparen wollte, unter Verdacht zu geraten, oder … dass Mitgefühl eine feine Sache ist, einen wohlmeinenden Menschen aber in Schwierigkeiten bringen kann. Und dass ein paar Drinks auf eine Mörderin womöglich eine sehr schwere und sehr schnelle Wirkung haben können. Mitch wusste, dass Maxwell, was auch immer er sonst sagte, in Bezug auf dieses Alibi das Blaue vom Himmel herunterlog. Weil es sich nämlich bei der Frau, die immer noch dort drüben im Restaurant saß, um genau die Frau handelte, die Mitch Brown mit zu sich nach Hause genommen und der er etwas Gutes getan hatte.
Ihm, Mitch Brown, tat jedoch niemand etwas Gutes. Und wozu dieser Unsinn von wegen Erpressung? Mitch, die Flügel fest weggefaltet, sagte zum Lieutenant:»Wie wär’s, wenn ich Ihnen jetzt meine Geschichte erzähle?« Und er tat es, kalt, knapp.
Als er fertig war, lachte Maxwell.»Glauben Sie das etwa? Glauben Sie, er würde eine Betrunkene mit zu sich nach Hause nehmen — und einfach die Tür zumachen?« Mitch Brown spürte, wie das Glimmen der Abneigung in seiner Brust zu einer Flamme des Hasses aufloderte.
«Nein, nein«, sagte Maxwell.»Es muss folgendermaßen passiert sein. Er hat meine Frau hier entdeckt. O doch, er hat die Zeitungen gelesen — glauben Sie ihm bloß nicht, dass er es nicht getan hat. Er wusste, dass sie mit Joe Carlisle verheiratet gewesen war. Und probiert ganz spontan seine kleine Lüge aus. Wer weiß — vielleicht springt dabei ja was heraus! Und jetzt hören Sie her: Als ich ihn fragte, wie viel er dafür haben will, dass er die Geschichte für sich behält, wollte er wissen, wie viel sie denn wert sei.« Mitch kaute auf seiner Lippe herum.»Sie haben aber ein schlechtes Ohr für Dialoge«, sagte er.»Das ist es nicht genau, was ich gesagt habe. Und es trifft auch nicht den Sinn dessen, was ich gesagt habe.« «Oho. «Maxwell lächelte.
Der Lieutenant schürzte die Lippen und guckte unbeteiligt.
An ihn gewandt, fragte Mitch:»Von wem wird Mrs. Maxwells Alibi denn noch untermauert?« «Von Bediensteten«, sagte der Lieutenant düster.
«Bediensteten?«, wiederholte Mitch heiter.
«Das ist nur natürlich«, versetzte der Lieutenant noch düsterer.
«Richtig«, sagte Mitch Brown.»Sie meinen, es ist recht wahrscheinlich, dass wenn ein Mann und eine Frau zu Hause sind, nur die Bediensteten sie dort sehen. Weniger wahrscheinlich ist, dass ein Fremder eine Betrunkene aufnimmt und sie dann sich selbst überlässt … bloß weil er einem anderen Menschen gern etwas Gutes tun möchte.
Wir haben es hier also mit einer Art Wahrscheinlichkeitsrechnung zu tun, stimmt’s?« Als der Lieutenant die Lippen bewegte, warf Mitch rasch ein:»Und Sie wollen lieber die Fakten, nicht? Okay. Da bleibt uns nur eins: mit dem Barkeeper reden.« «Das scheint mir die Lösung«, fiel der Lieutenant sofort ein.
«Richtig.« «Richtig«, sagte Maxwell.»Warten Sie auf uns.« Er stand auf, um seine Frau zu holen. Mitch blieb neben dem Lieutenant stehen.»Gibt’s Fingerabdrücke?«, murmelte er. Der Lieutenant zuckte die Achseln. Unter den müden Augenlidern, schätzte Mitch, lagen menschliche Augen.»Hat sie einen Wagen? War der Wagen weg?«Der Lieutenant zuckte erneut die Achseln.
«Wer sollte diesen Carlisle sonst erschießen? Hatte er irgendwelche Feinde?« «Wer hat die nicht?«, versetzte der Lieutenant.»Schauen wir uns lieber den Barkeeper an.« Die vier fuhren im Wagen des Lieutenant. Das Parrakeet Bar & Grill war an dem Abend gut besucht. Es wirkte heller, das Geschäft brummte. Toby, der Barkeeper, war in Aktion.»Hallo, Mr.
Brown«, sagte er.»Lange nicht gesehen.« «Ich war an der Ostküste. Toby, sagen Sie diesem Mann, was am siebzehnten März etwa um halb zwei passiert ist.« «Hä?«, machte Toby. Seine Wangen schienen plötzlich einzufallen. Sein Blick trübte sich. Mitch war schlagartig klar, was geschehen würde.
«Haben Sie diesen Mann oder diese Dame am siebzehnten März zwischen ein und zwei Uhr morgens hier gesehen?«, fragte der Lieutenant und fügte hinzu:
«Lieutenant Prince, LAPD.« «Nein, Sir«, sagte Toby.»Ich kenne natürlich Mr. Brown. Er kommt ab und zu her. Wohnt hier in der Gegend. Schriftsteller ist er. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass ich die Dame schon mal gesehen habe.« «Was ist mit Brown? War er in der Nacht oder an dem Morgen hier?« «Glaub ich nicht«, sagte Toby.»Das war doch die Nacht, jetzt, wo ich mich erinnere — ja, mein Kind war krank, und ich habe früher als sonst dichtgemacht. Fragen Sie meine Frau«, sagte Toby, der Barkeeper, mit dem starren, selbstgerechten Blick eines Lügners.
Lieutenant Prince wandte sein langes Gesicht mit den traurigen Augenlidern Mitch Brown zu.
Mitch Brown grinste.»O nein!«, sagte er.»Bitte nicht den alten Gag mit der Pariser Weltausstellung!«Er stützte sich auf die Theke und lachte lautlos in sich hinein.
«Wovon reden Sie?«, fragte Lieutenant Prince verstimmt.»Liefern Sie mir lieber einen Beweis für die Geschichte, die Sie da erzählen. Wer kann mir das bestätigen? Wer hat Sie und diese Dame in der Nacht gesehen?« «Niemand. Niemand«, erwiderte Mitch herzlich.»Die Straßen waren menschenleer. Es war niemand unterwegs.
Na, so was! Ich hätte es nicht für möglich gehalten! Der alte Gag mit der Pariser Weltausstellung!« Der Lieutenant ließ einen genervten Ton vernehmen.
«Erinnern Sie sich an den denn nicht mehr?«, sagte Mitch heiter.»Ein Mädchen steigt mit seiner Mutter in einem Pariser Hotel ab. Getrennte Zimmer. Das Mädchen wacht morgens auf, keine Mutter. Keiner hat die Mutter je gesehen. Der Name der Mutter steht nicht im Gästebuch.
Das Zimmer mit der Zimmernummer der Mutter existiert nicht. Aber halt, nein — das war’s nicht. Es gab ein Zimmer, bloß die Tapete war anders.« «Ein Schriftsteller«, sagte Julius Maxwell, als ob das alles erklärte.
«Setzen wir uns doch«, sagte Mitch fröhlich,»und erzählen einander Geschichten!« Sein Vorschlag wurde angenommen. Natalie Maxwell ließ sich als erste in einer Sitznische nieder. Sie war blond, teuer, beschützt … und wirkte benommen. (Ob sie mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt ist? überlegte Mitch.) Ihr Gatte setzte sich zu ihrer Rechten, der Polizist zu ihrer Linken. Mitch rutschte auf die andere Seite des Gesetzeshüters, seinem Widersacher gegenüber.
Mitch Browns Stimmung war bei weitem nicht so unbeschwert, wie seine Worte glauben ließen. Die Vorstellung, Opfer des alten Gags mit der Pariser Weltausstellung zu sein, behagte ihm überhaupt nicht.
Doch war er nicht nervös oder in Panik. Im Gegenteil, er machte sich im Geiste daran, seinen Feind auszukundschaften. Julius Maxwell, der seinen Erfolg protzig zur Schau stellte — Mitch ließ sich den Ruf dieses Mannes auf der Zunge zergehen. Freibeutertyp, skrupellos und verwegen. Julius Maxwell — der das Geld wie eine Keule in der Hand schwang. Der Mitchel Brown zum Idioten machen würde. So ganz nebenbei war da auch noch die Sache mit der Gerechtigkeit. Oder Barmherzigkeit.
Mitch spürte, wie seine Flügel wieder zu rascheln anfingen.
Ganz sanft sagte er zu der Frau:»Möchten Sie etwas?
Einen Highball vielleicht?« «Ich trinke nicht«, sagte Natalie affektiert. Ihre Wimpern senkten sich. Ihre Zunge berührte ihre Lippen.
Mitch Brown fuhr sich nachdenklich mit der Zunge über die Oberlippe.
Julius Maxwells Energie war hier in dieser Umgebung kaum zu bändigen.»Was soll das mit den Erfrischungen«, sagte er.»Nun machen Sie schon. Dieser junge Mann, wer er auch sein mag, hat meine Frau gesehen und aufgrund all der Publicity erkannt. Er weiß, dass ich ein reicher Mann bin. Also dachte er sich, er würde es mal mit einer kapitalen Lüge versuchen. Dafür, dass er mir nicht mehr lästig fällt, dachte er, würde ich schon irgendwas springen lassen. Nun, ein Opportunist eben«, schloss Julius mit einem fiesen Lächeln,»kann ich ja verstehen.« «Dass Sie mich verstehen, bezweifle ich«, versetzt Mitch ruhig.
«Ich bin sicher, Sie haben keine Ahnung, was für ein alter Hut diese Geschichte mit der Pariser Weltausstellung schon ist.« «Was haben denn irgendwelche Pariser Weltausstellungen damit zu tun?«, fuhr ihn Julius an.
«Also, Lieutenant Prince, sagen Sie, kann ich diesen Mann anzeigen?« «Wegen Erpressung haben Sie keine Handhabe«, sagte der Lieutenant düster.»Sie hätten ihn das Geld nehmen lassen müssen, unter Zeugen.« «Das konnte er nicht«, sagte Mitch,»weil er weiß, dass mir der Gedanke an Geld überhaupt nicht gekommen ist.« Vor lauter Erschöpfung gingen die Augen des Lieutenant nun vollends zu. Als er sie wieder aufschlug, wurde offensichtlich, dass er noch nichts und niemandem glaubte.»Damit ich das jetzt richtig verstehe: Sie, Mr. Maxwell, behaupten — « Julius sagte:»Ich behaupte, dass meine Frau an dem Abend und die ganze Nacht zu Hause war, die Bediensteten sagen das ebenfalls, und die Behörden wissen es. Folglich lügt dieser Mann. Wer weiß, warum?
Es ist doch offensichtlich, dass er nichts und niemanden beibringen kann, um diese Hirngespinste zu untermauern.
Der Barkeeper streitet es ja ab. Und, wenn Sie mich fragen, das Lächerlichste ist seine Behauptung, er hätte seit sechs Wochen keine Zeitung gelesen. Daran erkennen Sie doch, was für eine verquere Fantasie er hat.« Der Lieutenant wandte sich kommentarlos an Mitch.
«Und Sie behaupten — « «Ich behaupte«, sagte Mitch,»dass ich seit dem siebzehnten März in New York war und die Proben für mein Bühnenstück und dessen Premiere besucht habe.« «Ein Stückeschreiber«, sagte Julius.
«Ein Bühnenschriftsteller«, verbesserte ihn Mitch.»Ich nehme an, Sie wissen nicht, was das ist. Zunächst einmal ist es eine Person, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, andere Menschen verstehen zu wollen. Seltsamerweise sogar Sie. «Mitch beugte sich über den Tisch.»Sie sind ein verwegener Freibeuter, habe ich gehört. Sie haben die ganze Welt übers Ohr gehauen und glauben jetzt, dass man mit Geld kaufen kann, was man will. Soll ich vielleicht mal Ihre Geschichte erzählen?« Julius Maxwell trug mittlerweile nur noch den Anflug eines gehässigen Lächelns zur Schau, doch Natalie, bemerkte Mitch, hatte die Augen weit aufgerissen.
Vielleicht waren ihre Ohren auch gespitzt. Mitch wagte sich noch weiter vor.
«Ihre Frau fuhr hierher und erschoss ihren Ex«, sagte er brutal. (Natalie zuckte nicht einmal mit der Wimper.)
«Also, und dann …« Mitchs Fantasie fing aus alter Übung an zu arbeiten.
«Ich nehme an, Natalie fühlte sich so elend, so aufgewühlt, so reumütig vielleicht, dass sie einen Drink brauchte und viel zu viel trank, um ihre Probleme schließlich zu vergessen. «Natalie sah ihn aufmerksam an.
«Doch nachdem sie in meiner Wohnung aufgewacht war, lief sie davon — lief zu ihrem Wagen, der ja irgendwo gestanden haben musste. Und fuhr schnell nach Hause. Na ja, was sollte sie sonst tun?«, überlegte Mitch laut.»Sie hatte diese schreckliche Tat begangen. Jemand würde ihr helfen müssen.« (Hielt Natalie etwa den Atem an?)
«Und wer würde ihr helfen?«, fragte Mitch schneidend.
« Sie, Maxwell. Und warum? Ich werde Ihnen sagen, warum. Sie sind nicht der Typ, der will, dass seine Frau, die Betonung liegt auf seine, wegen Mordes in der Gaskammer stirbt. Sie hatte eine Dummheit begangen. Sie haben Sie wegen dieser Dummheit zusammengestaucht, nehme ich an. Aber dann haben sie ihr gesagt, sie solle sich mal keine Sorgen machen. Sie ist Ihre Frau, also würden Sie die Sache auch in Ordnung bringen. Mit Geld kann man alles kaufen. Sie sollte genau das tun, was Sie sagen, dann könnte sie es vergessen. «Mitch zögerte.
«Dachten Sie wirklich, sie könnte es vergessen?«, murmelte er.
Weil niemand sich rührte oder etwas sagte, redete Mitch weiter.
«Also machten Sie sich an die Arbeit. Sie bestachen die Bediensteten. Bestachen auch unseren guten Toby hier.
Und Sie erkundigten sich überall und stellten fest, dass es nur einen Menschen gab, der verraten könnte, dass sie in Wirklichkeit gar kein Alibi hat. Nämlich einen Bühnenschriftsteller. Ach, über mich zogen Sie auch Erkundungen ein. Ist doch klar. Sie wussten sehr wohl, wo ich war und was ich machte. Sie fanden den Tag und die Uhrzeit heraus, wann ich wieder in Los Angeles sein würde.« Lieutenant Prince schnaubte unwillig.»Klingt ja verrückt«, schaltete er sich ein.»Sie sagen, er hat alle bestochen? Wieso hat er dann Sie nicht bestochen?« Mitch sah ihn mit glänzenden Augen an.»Das Problem war, ich hatte die Zeitungen tatsächlich nicht gelesen. Ich wusste gar nicht, dass ich etwas wusste. Wie sollte er mich da bestechen? Er hat mich als Idioten eingeordnet«, sagte Mitch.»Denn welcher normale Mensch liest sechs Wochen lang keine Zeitung? Und dann fiel ihm etwas ein.« Mitch sprach Maxwell direkt an.»Sie haben jemanden für Geld dazu gebracht, meine Wohnung zu beobachten.
Und Sie und Natalie hielten sich bereit und warteten, und zwar ganz in der Nähe.« Mitch hatte das Gefühl, dass der Polizist gleich mit den Schultern zucken würde, und fügte rasch hinzu:»Wieso sollte ich sonst gleich am ersten Tag nach meiner Rückkehr Natalie begegnen, und zwar Natalie in denselben Kleidern?« «Wer außer Ihnen«, versetzte Maxwell aalglatt,»sagt denn, dass es dieselben sind?« «Sie kam ins Restaurant«, sagte Mitch,»allein.« «Weil ich noch telefonieren musste …« «Allein«, beharrte Mitch, den Einwurf ignorierend,»und warum? Um mich zu ermutigen, herüberzukommen und mit ihr zu sprechen. Daher dieselben Kleider — um sicherzugehen, dass ich sie wieder erkennen würde.
Nachdem sie mich verständnislos angeschaut hat, tritt Maxwell auf den Plan. Sie, wohl wissend, wie gut Sie Ihre Verteidiger hinter sich bestochen hatten, zwingen mich in die Rolle des Opportunisten — möglicherweise sogar des Erpressers. ›Brown ist Schriftsteller‹ sagen Sie sich. In Ihren Augen also ein ›Spinner‹. › Dem wird keiner ein Wort glauben.‹ Sie bringen mich in Misskredit. Sie konstruieren ein kleines Szenario. Sie holen sich einen echten Polizisten als Zeugen.« «Warum?«, krächzte der Lieutenant.
Mitch war verblüfft.»Warum was?« «Warum sollte er das alles zusammendichten und dann mich holen?« «Ganz einfach«, sagte Mitch.»Was, wenn ich am Ende doch die Zeitungen gelesen und ihren Namen wieder erkannt hätte? Was, wenn ich zu Ihnen gekommen wäre?
Was bin ich dann? Ein braver Bürger. Ist es nicht so? Aber jetzt hat er es so aussehen lassen, als wäre ich zu den beiden gekommen. Und mich als Opportunisten hingestellt. Und jetzt ist er der brave Bürger, der Sie dazugerufen hat.« Der Lieutenant stieß den Atem aus, was aber nichts zu bedeuten hatte.
«Was für eine überspannte Intrige!«Mitch sagte es zuerst. (Verdammt, sie war überspannt. Sie würde sich nicht sehr wahrscheinlich anhören.)»Wie unrealistisch Sie sind!«, spottete er mit dem Mut der Verzweiflung.
Maxwell sah selbstgefällig drein.»Fantasie haben Sie ja, das muss man Ihnen lassen«, meinte er mit einem sarkastischen Lächeln.»Ganz schön wild.« Da überraschte sie der Polizist alle beide.»Moment mal, Brown. Sie behaupten, Maxwell weiß, dass seine Frau die Mörderin ist? Und dass er Beihilfe zur Verschleierung einer Straftat leistet? Das wollen Sie damit sagen?« Mitch zögerte.
«Er hat es überhaupt nicht durchdacht«, sagte Maxwell.
«Hören Sie, Lieutenant, das ist doch einfach eine abenteuerliche Geschichte. Er fühlte sich herausgefordert und beweist jetzt, dass er ein schlaues Kerlchen ist. Ist er auch — wenn es um erfundene Geschichten geht. Nennen Sie es einen ehrenwerten Versuch.« Mitch sah schon, wohin der Hase für ihn lief.
«Oder möglicherweise«, sagte Maxwell nach kurzer Überlegung,»versuchte er bloß, sich an eine gut aussehende Frau ranzumachen. «Maxwell bleckte seine Zähne zu einem Lächeln.
Mitch begriff — man zeigte ihm, wie er sein Gesicht wahren konnte. Es war sehr verführerisch. Und nicht nur das — ihm war bewusst, wenn er mitspielte, würden Macht, Geld und Einfluss Mitchel Brown allenthalben zum Vorteil gereichen.
Und darum sagte er bedächtig:»Ich weiß, dass er lügt.
Ich glaube, dass er Beihilfe zur Verschleierung einer Straftat leistet. Ja, das will ich damit sagen.« Julius Maxwells Gesicht verdunkelte sich.»Beweisen Sie es«, fuhr er ihn an.»Denn wenn Sie bloß daherreden, werde ich rechtliche Schritte einleiten und Sie in der Luft zerreißen. Ich lasse mich doch nicht einfach einen Lügner nennen.« Mitch hob den Kopf und sagte im Tonfall reiner, ungerührter Neugier:»Wie kommen Sie denn darauf, dass ich es tun würde?« «Hören Sie, ich brauche irgendwas. «Der Lieutenant wurde plötzlich wütend.»Geben Sie mir was an die Hand.« Verächtlich sagte Maxwell:»Kann er nicht. Alles fauler Zauber.« Mitch suchte fieberhaft nach etwas, was ihm helfen würde.»An einen Wagen habe ich gar nicht gedacht«, murmelte er.»Aber ich hätte es mir denken können wegen der Schuhe, die sie anhatte. Ich nehme nicht an, dass sie viel zu Fuß geht, seitdem sie das viele Geld geheiratet hat.« Mitch merkte, dass Maxwell zusehends in Rage, oder jedenfalls simulierte Rage, geriet. Doch Natalie, dachte er, hörte ihm zu. Voller Überzeugung rief er sich in Erinnerung, dass sie trotz allem ein menschliches Wesen war.
Also sah er sie direkt an und sagte:»Ich möchte gern wissen, wieso Sie diesen Joe Carlisle verlassen haben?
Was war er für ein Mensch? Haben Sie sich gestritten?
Haben Sie ihn gehasst? Wie kommt es, dass er noch die Macht hatte, Sie so sehr zu verletzen?« Sie sah ihn an, die Lippen halb geöffnet, mit leuchtenden Augen, verblüfft. Ihr Gatte war kurz davor, aufzustehen und jemandem einen Faustschlag zu versetzen, und Mitch wusste auch wem.
Lieutenant Prince sagte:»Setzen Sie sich, Maxwell. «Zu Mitch sagte er:»Und Sie, halten Sie die Klappe. Hören Sie auf, hier irgendwelche Charaktere zu analysieren. Oder mir irgendwelche Motive vorzuspielen. Sie hat ein Alibi, außer Sie können es widerlegen, und was die Justiz verlangt sind Beweise.« «Aber was ist mit meinem Motiv zu lügen?«, wollte Mitch wissen.»Geld? Das ist doch lächerlich!«Er hielt inne und starrte Natalie Maxwell fassungslos an. Die hatte ihre Handtasche aufgemacht und einen Lippenstift herausgeholt. Mord oder Gefängnis … Sie malt sich die Lippen an. Verleumdung oder Erpressung … Sie malt sich die Lippen an. Wie wahrscheinlich war das?
«Liefern Sie mir Beweise«, verlangte der Lieutenant verärgert.
«Gleich«, sagte Mitch, während sein Herz einen Sprung machte.
Er lehnte sich zurück.»Lassen Sie mich das Thema Geld noch etwas weiterverfolgen. Natalie, kann ich mir vorstellen, hat alles, was man mit Geld kaufen kann. Ihr Unterhalt wird finanziert. Sie hat Kreditkonten.« Maxwell sagte:»Gehen wir. Jetzt faselt er.« Der Lieutenant stieß schon gegen Mitchs Schenkel und wollte ihn aus der Sitznische drängen.
«Wissen Sie, was ich beweisen kann?«, sagte Mitch.
«Was?«, fragte der Lieutenant.
«Dass ich den ganzen Tag und bis in die Nacht vom sechzehnten auf den siebzehnten März in meiner Wohnung gearbeitet habe. Die Wände sind aus Karton, und ich bin ein Plagegeist — wohl bekannt im ganzen Gebäude.« «Sie haben also gearbeitet«, sagte der Polizist.»Na und?« «Ich war nicht in Santa Barbara«, versetzte Mitch fröhlich. Er griff über den Tisch und schnappte sich Natalies Handtasche, die grüne, die zu den Schuhen passte.
«Jetzt aber Moment mal«, knurrte Maxwell.
«Sehen Sie mal nach, ob ihr Scheckheft drin ist«, sagte Mitch und schob dem Lieutenant die Tasche hin.»Es ist so ein dickes. Ihr Name ist draufgedruckt und so; ich glaube nicht, dass sie oft Anlass hat, einen Scheck auszustellen. Es ist vielleicht noch dasselbe.« Der Lieutenant hatte die Hände auf der Handtasche, musterte ihn jedoch verständnislos.
«Schauen Sie sich’s doch an. Es ist ein Beweismittel«, sagte Mitch.
Als die Hand des Lieutenant sich bewegte, sagte Maxwell:»Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das Recht haben …«Doch die müden Augenlider des Polizisten gingen nur einmal kurz hoch, und Maxwell verstummte.
Der Lieutenant nahm ein Scheckheft heraus.»Es ist dick«, sagte er.»Fängt mit dem einundzwanzigsten Februar an. Was ist damit?« Mitch Brown lehnte den Kopf an das rote Kunstlederpolster und hielt die Augen hoch.»Niemand auf der Welt … außer Natalie erinnert sich, was ich bezweifle … aber niemand sonst auf der Welt kann wissen, wie der Kontostand auf ihren Scheckbelegen am St. Patrickstag in der Frühe lautete. Nicht einmal ihre Bank wüsste es.
Aber was ist, wenn ich es weiß? Wie könnte ich? Weil ich nachgesehen habe, als sie schnarchend auf meinem Sofa lag und ich herausfinden musste, wer sie ist und wie ich ihr helfen kann und ob sie Geld braucht.« Die Hand des Lieutenants schnippte durch die Scheckbelege.
«Und?« «Soll ich es Ihnen sagen? Auf den Penny genau?«Mitch fing an zu schwitzen.
«Viertausendsechshundertundvierzehn Dollar und einundsechzig Cents«, sagte er langsam und bedächtig.
«Stimmt«, knurrte der Lieutenant, riss die Augen weit auf und sah Julius Maxwell hasserfüllt an.
Doch Mitch Brown achtete überhaupt nicht darauf und verspürte kein Gefühl des Triumphs.»Natalie«, sagte er, «es tut mir Leid. Ich wollte Ihnen was Gutes tun. Ich wusste ja nicht, was los war. Ich wünschte, Sie hätten es mir sagen können.« Ihre frisch gemalten Lippen bebten.
«Nicht, um so die Konsequenzen abzuwenden«, sagte Mitch.
«Ich hätte trotzdem die Polizei verständigt. Aber ich hätte zugehört.« Natalie legte den blonden Kopf auf das rot karierte Tischtuch, wo er schon einmal geruht hatte.»Ich wollte es nicht tun«, schluchzte sie.»Aber er hat mich so bedrängt, Joe meine ich. Bis ich es nicht mehr ausgehalten habe.« «Sei still!«, sagte Julius Maxwell, der an die Beweislage dachte — zu spät.
Der Lieutenant ging zum Telefon hinüber.
Mitch saß jetzt schweigend da. Die Frau weinte.
Maxwell sagte mit kalter, harter Stimme:»Natalie, wenn du …«Er zog sich zurück vor der Ansteckung. Er würde Unwissenheit vortäuschen.
Doch sie schrie heraus:» Du sei still! Du sei still! Ich hab’s dir immer und immer wieder gesagt und du hast nicht einmal versucht, es zu verstehen. Du hast gesagt, gib Joe tausend Dollar, dann geht er. Du hast gesagt, mehr will er doch nicht. Du wolltest nicht mal hören, was ich alles durchgemacht habe, und Joe hat geredet und geredet, über unser Baby, das tot war … verhungert«, sagte er, weil es keine Mutter hatte.» Mein Baby«, kreischte sie,»das du nicht gewollt hast, weil es nicht von dir war.« Ihre rosa lackierten Fingernägel krallen sich nun in die Kopfhaut, und die Ringe an ihren Fingern verfingen sich in ihrem Haar.
«Es tut mir so Leid«, weinte sie.»Ich wollte doch gar nicht, dass die Waffe losgeht. Ich wollte nur, dass er aufhört. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Er hat mich umgebracht … hat mich verrückt gemacht … und trotz dem Geld hat er keine Ruhe gegeben.« Mitch empfand tiefes Mitgefühl mit ihr.»Hatten Sie denn keine Ahnung, was wirklich wichtig ist?«, blaffte er Maxwell an.»Dachten Sie etwa, es geht nur um Nerze und Diamanten — und solches Zeug?« «Das Kind«, sagte Julius Maxwell,»ist eines natürlichen Todes gestorben.« « Doch, er dachte, es geht um Nerze«, schrie Natalie.
«Und, ach, mein Gott … so war es ja auch! Das weiß ich jetzt. Also sagte er, er könnte es in Ordnung bringen – aber das, was ich weiß, kann er nicht in Ordnung bringen, und ich will jetzt nur noch sterben.« Dann blieb sie stumm, wie bereits tot, über dem rot karierten Tischtuch liegen.
Aus Julius Maxwells Gesicht wich die Farbe, als der Polizist zurückkam und murmelte:»Muss noch warten.« Doch der Lieutenant war beunruhigt.»Sagen Sie mal, Brown«, meinte er,»Sie können sich eine sechsstellige Zahlenreihe sechs Wochen lang merken? Sind Sie etwa ein Mathematikgenie oder so? Oder haben Sie ein so genanntes fotografisches Gedächtnis?« Mitch fühlte, wie es in seinem Kopf arbeitete. Beiläufig meinte er:»Es ist mir im Gedächtnis haften geblieben.
Zunächst mal wiederholt es sich. Sehen Sie? Vier sechs eins, vier sechs eins. Für mich ist das ein ganz schöner Haufen Zaster.« «Für mich auch«, sagte der Lieutenant.»Hier im Raum hat wohl jeder gehört, was sie sagte, denke ich.« «Klar, alle haben gehört, wie sie gestanden und ihn als Komplizen mit belastet hat. Nehmen Sie zum Beispiel Toby. Der hat genug. Es wird jede Menge Beweismittel geben.« Der Lieutenant betrachtete die ruinierten Maxwells.
«Vermutlich«, sagte er knapp.
Etwas später am gleichen Abend saß Mitch Brown in einer fremden Bar am Tresen und sagte zu dem fremden Barkeeper:»Sagen Sie, wussten Sie eigentlich, dass der siebzehnte März nicht der Geburtstag des heiligen Patrick ist?« «Was Sie nicht sagen!«, murmelte der Barkeeper höflich.
«Nein. Es ist der Tag, an dem er gestorben ist«, sagte Mitch.
«Ich schreibe nämlich. Folglich lese ich auch. Solche kleinen Informationen bleiben mir im Gedächtnis haften.
Eigentlich habe ich gar kein Zahlengedächtnis und doch
… Wissen Sie, in welchem Jahr der heilige Patrick gestorben ist? Es war das Jahr 461.« «Tatsächlich?«, sagte der Barkeeper.
«Und dann stellt man vier einundsechzig zweimal hintereinander und setzt das Komma an die richtige Stelle.
Besonders glaubhaft ist es natürlich nicht«, sagte Mitch, «obwohl es wirklich passiert ist — am St.-Patrickstag in der Frühe. Woher weiß ich — ein Mensch, der nicht immer Zeitung liest — in welchem Jahr der heilige Patrick gestorben ist? Na ja, man will ja nicht als Idiot dastehen, oder? Und wahrscheinlich ist wahrscheinlich und unwahrscheinlich ist unwahrscheinlich — aber das ist manchmal das Einzige, woran man sich halten kann. Ich will Ihnen aber mal was sagen«, dabei haute Mitch auf den Tresen.»Mit Geld hätte man das nicht kaufen können.« «Vermutlich nicht, Chef«, meinte der Barkeeper besänftigend.