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Ich finde schon allein hinausvon NGAIO MARSH

Ngaio (sprich: Najo) Marsh (1895–1982) wurde in Neuseeland geboren und verbrachte auch den größten Teil ihres Lebens dort, befolgte allerdings die damals geltende» antiregionale «Regel und ließ die meisten ihrer Kriminalromane in England spielen, das sie 1928 erstmals besuchte. Parallel zu ihrer lukrativeren Laufbahn als Romanautorin frönte sie ihrer ersten Liebe, dem Theater, als Schauspielerin, Produzentin, Regisseurin, Bühnenbildnerin, Dozentin und Dramatikerin. Von an verbrachte sie dreißig Jahre lang einen Teil des Jahres als Regisseurin auf Tournee mit der studentischen Theatergruppe des Canterbury University College von Christchurch/Neuseeland. (Gemäß der im Theater üblichen Tradition reduzierte Marshs offizielles Geburtsdatum — 1899 — ihr tatsächliches Alter viele Jahre lang um vier Jahre.)

Marshs erster Roman, A Man Lay Dead (1934; dt. Das Todesspiel), spielte wie einige spätere Werke, darunter ihr letztes Buch, Light Thickens (1982; dt. Mord vor vollem Haus), in der Welt des Theaters. Ihre Theaterbegeisterung drückt sich auf subtilere Weise in der Tatsache aus, dass die meisten ihrer Morde im Verlauf einer Vorstellung passieren. Wie die Biografin Margaret Lewis im St. James Guide to Crime & Mystery Writers (4. Aufl., 1996), schreibt, sei Marsh ironischerweise nicht in der Lage gewesen, ihre Romane ebenso erfolgreich wie Agatha Christie für die Bühne zu bearbeiten, weil sie» ihr Gefühl fürs Theater verloren hatte und unbedingt die generelle Form der Romane wahren wollte, mit allen Dialogen, Gesprächen, Fragen und Antworten«.

In der Blütezeit vornehmer Amateurdetektive stellte Marsh ganz ungewohnt einen Polizisten in den Mittelpunkt des Geschehens — allerdings hatte Roderick Alleyn von Scotland Yard mit seinem persönlichen und professionellen Stil im Grunde mehr gemeinsam mit Dorothy L. Sayers’ Lord Peter Wimsey und Margery Allinghams Albert Campion als mit einem echten Gesetzeshüter. Eine weitere Gemeinsamkeit mit Wimsey und Campion besteht darin, dass Alleyn am Ende heiratet, und zwar eine gewisse Agatha Troy, die Marsh selbst ähnelt und eine erfolgreiche Malerin wird, eine Laufbahn, in der Marsh sich in ihren jungen Jahren selbst gesehen hatte.

Marshs Werdegang als Kriminalautorin verlief bemerkenswert geradlinig. Das Rätsel stand von Anfang an im Mittelpunkt ihres Werks, und in der Kunst, ihre Leser in die Irre zu führen, war sie Meisterin. Stil und Charakterschilderungen wurden reicher, das grundlegende Muster von Verbrechen, Ermittlung und Aufklärung änderte sich jedoch nie. Bemerkenswerterweise stehen ihre letzten Romane, die veröffentlicht wurden, als sie bereits Mitte achtzig war, ihren Vorgängern in Bezug auf Qualität in nichts nach, zählen sogar zu ihren besten Werken, was man von so altgedienten Autoren wie Agatha Christie oder Erle Stanley Gardner leider nicht behaupten kann.

Eine der seltenen Kurzgeschichten mit dem Titel» Ich finde schon allein hinaus«, ein Roderick-Alleyn-Roman im Miniaturformat, ist passenderweise auf Marshs bewährtem Schauplatz hinter den Kulissen angesiedelt.

An dem fraglichen Abend ging Anthony Gill, unfähig zu essen, still zu sitzen, zusammenhängend zu denken, zu sprechen oder zu handeln um halb sieben zu Fuß von seiner Mietwohnung zum Jupiter-Theater. Er wusste, dass niemand hinter der Bühne wäre, dass es für ihn im Theater nichts zu tun gab, dass er ruhig in seiner Wohnung bleiben und sich dann ankleiden, zu Abend speisen und so etwa um Viertel vor acht dort eintreffen sollte. Doch es war, als ob ihn etwas in seine Sachen schob, ihn auf die Straße schubste und ihn unausweichlich zwang, quer durchs West End ins Jupiter zu eilen. Trägheit hatte sich wie eine dünne Schicht über seine Gedanken gelegt. Zufällige Zeilen aus dem Stück kamen ihm in den Sinn, jedoch ohne irgendeine bestimmte Bedeutung. Er ertappte sich dabei, wie er immer wieder einen vollkommen irrelevanten Satz aufsagte:»Sie hatte so eine Art zu lachen, die einem Mann das Herz brechen konnte.« Piccadilly, Shaftesbury Avenue.»Hier bin ich also«, dachte er, in die Hawke Street einbiegend,»auf dem Weg zu meinem Stück. Eine Stunde und neunundzwanzig Minuten noch. Einen Schritt pro Sekunde. Es rast auf mich zu. Tonys erstes Stück. Armer junger Tony Gill. Mach dir nichts draus. Versuch’s noch mal.« Das Jupiter. Neonlichter: ICH FINDE SCHON ALLEIN HINAUS — von Anthony Gill. Und am Eingang der Programmaushang und die Fotos. Coralie Bourne mit H.

J. Bannington, Barry George und Canning Cumberland.

Canning Cumberland.

Die dünne Schicht über seinen Gedanken riss, und da war sie, die alles beherrschende Frage, und er würde darüber nachdenken müssen. Wie schlecht wäre Canning Cumberland, falls er betrunken auftrat? Glänzend schlecht, hieß es. Er würde sämtliche Register ziehen. Clevere Schauspielertricks, die anderen dumm dastehen lassen, die dramatische Ausgewogenheit zunichte machen.»In Mr. Cumberlands Händen wirkten mittelmäßige Dialoge und wenig überzeugende Situationen beinahe lebensecht. «Was fängt man mit einem betrunkenen Schauspieler an?

Er stand am Eingang und spürte, wie sein Herz pochte und sein Magen sich zusammenzog und ihm übel wurde.

Denn natürlich war es ein schlechtes Stück. In diesem Moment und zum ersten Mal war er sich dessen wirklich sicher. Es war schrecklich. Es gab nur eines, was gut daran war, und das stammte nicht von ihm. Coralie Bourne hatte es vorgeschlagen:»Ich glaube, das Stück, das Sie mir geschickt haben, geht so nicht, doch ich dachte mir Folgendes …«Es war eine glänzende Idee. Er hatte das Stück in diesem Sinn umgeschrieben und sich fast umgehend und eigentlich ziemlich naiv eingeredet, es sei von ihm, obgleich er zu Coralie Bourne schüchtern gesagt hatte:»Sie sollten als Mitverfasserin genannt werden. «Sie hatte sofort höchst nachdrücklich abgelehnt.»Das war doch nicht der Rede wert«, sagte sie.»Wenn Sie Dramatiker werden wollen, müssen Sie lernen, sich Ihre Ideen von überallher zu holen. Eine einzelne Szene ist da gar nichts. Denken Sie an Shakespeare«, fügte sie leichthin hinzu.»Ganze Konflikte! Also seien sie nicht albern. «Später hatte sie im gleichen hastigen, nervösen Tonfall hinzugefügt:»Erzählen Sie es bloß nicht herum.

Sonst glaubt man, bei meiner kleinen Anregung steckt mehr dahinter anstatt weniger. Bitte, versprechen Sie es.« Er versprach es; er glaubte nun, dass sein Ansinnen, eine so berühmte Schauspielerin wie Coralie Bourne neben einem unbekannten Jüngling als Mitverfasserin zu nennen, wohl ein arger Schnitzer gewesen sein müsse. Und wie Recht sie hatte, dachte er, denn es wird natürlich ein entsetzlicher Flop werden. Sie wird es noch bereuen, dass sie sich bereit erklärt hatte, darin mitzuwirken.

Draußen vor dem Theater gingen ihm albtraumhafte Szenarien durch den Kopf. Wie reagierte ein Publikum, wenn ein Erstlingswerk durchfiel? Klatschte man ein wenig, gerade so viel, dass der Vorhang hochging und rasch wieder über eine gequält dreinblickende Truppe von Akteuren fiel? Wie spärlich musste der Applaus ausfallen, damit ihm selbst der Auftritt erspart blieb? Und danach sollten sie ja noch nach Chelsea auf den Künstlerball. Eine abscheuliche Aussicht! Mit dem Gedanken, er gäbe alles auf der Welt darum, um die Aufführung noch zu verhindern, betrat er das Foyer. In den Büros brannten Lichter, und er blieb unschlüssig vor einer Anschlagtafel mit Szenenfotos stehen. Auf ihnen war, viel kleiner als die Hauptdarsteller, Dendra Gay zu sehen, deren Augen ihn direkt anblickten. Sie hatte so eine Art zu lachen, die einem Mann das Herz brechen konnte. »Na schön«, dachte er,»ich bin verliebt in sie. «Er wandte sich von dem Foto ab. Ein Mann trat aus dem Büro.»Mr. Gill? Telegramme für Sie.« Anthony nahm sie in Empfang und hörte beim Hinausgehen, wie der Mann ihm hinterher rief:»Dann viel Glück für heute Abend, Sir!« In der Seitenstraße warteten reihenweise Leute darauf, frühzeitig eingelassen zu werden.

Um halb sieben wählte Coralie Bourne die Nummer von Canning Cumberland und wartete.

Sie hörte seine Stimme.»Ich bin’s«, sagte sie.

«Ach Gott! Liebling, an dich habe ich gerade gedacht.« Er redete hastig und zu laut.»Coral, ich habe über Ben nachgedacht. Du hättest dem Jungen die Szene nicht geben sollen.« «Das haben wir doch schon ein Dutzend Mal beredet, Cann. Wieso hätte ich sie Tony nicht geben sollen? Ben wird es nie erfahren. «Sie wartete ab und sagte dann nervös:»Ben ist fort, Cann. Wir werden ihn nie wieder sehen.« «Ich habe da so eine Ahnung. Immerhin ist er dein Ehemann.« «Nein, Cann, nein.« «Mal angenommen, er taucht auf. Das würde ihm doch ähnlich sehen.« «Er taucht bestimmt nicht auf.« Sie hörte ihn lachen.»Ich habe das alles so satt«, dachte sie plötzlich.»Jetzt reicht es mir. Ich halte es nicht mehr aus … Cann«, sagte sie in den Hörer. Doch er hatte aufgelegt.

Um zwanzig vor sieben betrachtete Barry George sich in seinem Badezimmerspiegel.»Ich sehe weitaus besser aus«, dachte er,»als Canning Cumberland. Mein Kopf ist gut geformt, meine Augen sind größer und die Kieferpartie klarer. Ich habe noch nie eine Vorstellung vermasselt. Ich trinke nicht. Ich bin ein besserer Schauspieler. «Er wandte den Kopf ein wenig und verdrehte die Augen, um die Wirkung zu beobachten.»In der großen Szene«, dachte er,»bin ich der Star. Er gibt die Stichworte. So ist es inszeniert, und so will es der Autor.

Eigentlich müsste ich die guten Rezensionen bekommen.« Frühere Rezensionen kamen ihm wieder in den Sinn. Er sah die Druckschrift, die Länge der Absätze: ein langer Absatz über Canning Cumberland, und eine Zeile am Ende angehängt.»Ist es böse, wenn man hinzufügt, dass Mr.

Barry George dem virtuosen Spiel von Mr.

Cumberland mit einer gewissen atemlosen Vorhersagbarkeit hinterher hechelt?«Und weiter:»Es ist ein bisschen hart für Mr.

Barry George, dass er gezwungen ist, bei dieser brillanten Darstellung als Hintergrund zu dienen. «Und am schlimmsten:»Mr. Barry George schaffte es leidlich, nicht wie ein bloßer Stichwortgeber auszusehen, eine Leistung, die seine Kräfte offensichtlich erschöpfte.« «Monströs!«, sagte er laut zu seinem eigenen Spiegelbild und musterte seinen vor Entrüstung leicht glühenden Blick. Der Alkohol, sagte er sich, bewirkte bei Canning Cumberland zweierlei. Er hob den Zeigefinger. Eine schöne, ausdrucksvolle Hand, eine Schauspielerhand. Der Alkohol zerstörte Cumberlands künstlerische Integrität.

Und verlieh ihm eine teuflische Durchtriebenheit.

Betrunken würde er ein Stück sprengen, dessen Gleichgewicht zerstören, die Form ruinieren und sich selbst mit purer Effekthascherei, die die Leute irrtümlich für Genialität hielten, in den Vordergrund spielen.

«Wohingegen ich«, sagte er laut,»meinem Autor lediglich das Kompliment mache, sein Werk treu zu interpretieren.

Pah!« Er kehrte in sein Schlafzimmer zurück, kleidete sich vollends an und zog seinen Hut im richtigen Winkel zurecht. Dann schob er sein Gesicht noch einmal dicht vor den Spiegel und betrachtete sein Bild eindringlich.»Bei Gott!«, sagte er bei sich,»er hat den Bogen überspannt, der alte Knabe. Heute Abend rechnen wir miteinander ab, was? Bei Gott, das tun wir.« Teils zufrieden, teils beschämt, denn die kleine Szene hatte doch etwas nach Schmierentheater geschmeckt, nahm er in die eine Hand seinen Spazierstock und ein Köfferchen mit seinem Kostüm für den Künstlerball in die andere und machte sich auf den Weg zum Theater.

Um zehn vor sieben durchquerte H. J. Bannington auf seinem Weg zur Bühnenpforte die Schlange für den dritten Rang, lüpfte den Hut und bedankte sich bei den hocherfreuten Damen, die ihn durchließen. Er hörte, wie sie seinen Namen murmelten. Forsch durchschritt er den schmalen Verbindungsgang, grüßte den Bühnenpförtner, trat unter einer schummrigen Lampe durch einen Eingang und von dort auf die Bühne. Nur das Arbeitslicht brannte.

Die Wände einer Innenraumkulisse ragten matt leuchtend im Schatten auf. Bob Reynolds, der Inspizient, kam durch den Souffleureingang zu ihm herüber.»Hallo, alter Knabe«, sagte er,»ich habe die Garderoben getauscht. Sie sind in der dritten rechts. Ihre Sachen hat man schon reingebracht. Ist Ihnen das recht?« «Besser als ein schwarzes Loch von der Größe eines Klos ohne dessen Ausstattung«, versetzte H. J. beißend.

«Ich nehme an, der große Mr. Cumberland hat immer noch die Stargarderobe?« «Nun, ja, alter Knabe.« «Und wer ist neben ihm, wenn man fragen darf? In dem Raum mit dem anderen Gasofen?« «Dort haben wir Barry George untergebracht, alter Knabe. Sie wissen doch, wie er ist.« «Nur zu gut, alter Knabe, und das Publikum, fürchte ich, findet es allmählich auch heraus. «H.J. bog in den Durchgang zu den Künstlergarderoben ein. Der Inspizient kehrte auf die Bühne zurück, wo er auf seinen Assistenten traf.»Was hat den denn gebissen?«, fragte der Assistent.

«Er wollte eine Garderobe mit Ofen.« «Wundert mich nicht«, sagte der Assistent gehässig.

«Schließlich war er früher mal Gasableser.« Rechts und links des Durchgangs, der Bühne am nächsten, befanden sich zwei Türen, jede mit einem in matter Farbe aufgemalten Stern. Die Tür zur Linken stand offen. H.J. spähte hinein und wurde vom Geruch nach Fettschminke, Puder, Wasserschminke und Blumen empfangen. Ein Gasöfchen bullerte behaglich. Coralie Bournes Garderobiere breitete gerade Handtücher aus.

«Guten Abend, Katie, mein Goldschatz«, sagte H. J.»Ist La Belle noch nicht unten?« «Wir sind unterwegs«, sagte sie.

« Bella figlia del amore«, summte H. J. inbrünstig und trat wieder auf den Gang. Die Stargarderobe zur Rechten war geschlossen, doch konnte er Cumberlands Garderobiere drinnen herumwerkeln hören. Er ging weiter zur nächsten Tür, hielt inne, las das Schildchen» Mr. Barry George«, schmetterte einen hohen, höhnischen Ton, trat durch die dritte Tür und machte Licht.

Definitiv kein Zimmer für den zweiten Hauptdarsteller!

Kein Ofen. Allerdings ein Waschbecken und zwei gegenüberliegende Spiegel. Man hatte ihm einen Stapel Telegramme auf den Garderobentisch gelegt. Immer noch singend, griff er danach, förderte eine Reihe von Rechnungen zu Tage, die taktvollerweise zuunterst platziert worden waren, sowie einen in ausladender Schrift adressierten Brief.

Als wäre seine Stimme mechanisch erzeugt und willkürlich ausgeschaltet worden, endete sein Lied abrupt mitten in einer Passage. Er ließ die Telegramme auf den Tisch fallen, griff nach dem Brief und riss ihn auf. Sein fürchterlich bleiches Gesicht wurde von den Spiegeln in endloser Reihe zurückgeworfen.

Um neun Uhr klingelte das Telefon. Roderick Alleyn meldete sich.

«Hier Sloane 84405. Nein, Sie haben sich verwählt. Nein. « Er legte auf und wandte sich wieder seiner Frau und seinem Gast zu.

«Das ist jetzt das fünfte Mal innerhalb von zwei Stunden.« «Dann lassen wir uns doch eine neue Nummer geben.« «Und handeln uns womöglich noch was Schlimmeres ein.« Wieder klingelte das Telefon.»Hier ist nicht die

«, sagte Alleyn warnend.»Nein, ich kann keine drei großen Koffer zur Victoria Station bringen. Nein, ich bin nicht der Nächtliche Sofort-Lieferdienst. Nein.« «Die haben nämlich die 84406«, wandte sich Mrs. Alleyn erklärend an Lord Michael Lamprey.»Die Leute verwählen sich vermutlich bloß, aber Sie können sich nicht vorstellen, wie zornig alle Beteiligten werden können. Wieso wollen Sie Polizist werden?« «Das ist nämlich eine langweilige, schwere Arbeit — «, setzte Alleyn an.

«Ach«, sagte Lord Mike, streckte die Beine aus und warf einen kritischen Blick auf seine Schuhe,»ich stelle mir ja beileibe nicht vor, gleich mit falschem Schnurrbart und Zivilkluft loszulegen. Nein, nein. Allerdings bin ich unverschämt gesund, Sir. Und bärenstark. Und vielleicht auch gar nicht so dumm, wie Sie vielleicht denken mögen

…« Das Telefon klingelte.

«Lassen Sie mich doch mal drangehen«, regte Mike an und tat es.

«Hallo?«, sagte er mit gewinnender Stimme. Er hörte zu, lächelte seine Gastgeberin dabei an.»Ich fürchte — «, begann er.»He, Moment mal — ja, aber — «Sein Gesicht wurde ausdruckslos und selbstzufrieden.»Sir«, sagte er gleich darauf,»darf ich Ihre Bestellung wiederholen?

Immer auf Nummer Sicher, ja? Harrow Gardens Nummer 11, Sloane Square, einen Koffer zur sofortigen Ablieferung im Jupiter-Theater an Mr. Anthony Gill. In Ordnung, Sir. Danke, Sir. Wird bei Lieferung bezahlt.

Selbstverständlich.« Er legte den Hörer auf und strahlte die Alleyns an.

«Was zum Teufel hecken Sie denn da aus?«, fragte Alleyn.

«Er wollte einfach nicht vernünftig zuhören. Ich habe versucht, es ihm zu erklären.« «Aber vielleicht ist es dringend«, stieß Mrs. Alleyn hervor.

«Es könnte gar nicht dringender sein. Es handelt sich um einen Koffer für Tony Gill im Jupiter-Theater.« «Na, dann — « «Ich war mit dem Kerl zusammen in Eton«, erinnerte sich Mike.

«Er ist vier Jahre älter als ich, war also natürlich furchtbar wichtig, während ich bloß der letzte Dreck war.

Dem werd ich’s zeigen.« «Am besten geben Sie die Bestellung ganz schnell durch«, sagte Alleyn entschieden.

«Eigentlich dachte ich eher daran, sie selbst auszuführen, Sir. Es wäre doch ein total raffinierter Weg, sich in die Vorstellung zu schmuggeln, oder? Ich habe versucht, eine Karte zu besorgen, aber es war schon komplett ausverkauft.« «Wenn Sie den Koffer abliefern wollen, müssen Sie sich jetzt aber beeilen.« «Es ist auf jeden Fall ein Anlass, sich zu verkleiden, meinen Sie nicht? Übrigens«, wagte sich Mike zaghaft vor,»fänden Sie es schrecklich unverschämt, wenn ich – nun, ich verspreche auch, alles zurückzubringen. Ich meine nur — « «Wollen Sie damit etwa andeuten, meine Sachen sehen eher wie die eines Boten aus als Ihre?« «Ich dachte mir, Sie hätten vielleicht Sachen …« «Meine Güte, Rory«, sagte Mrs. Alleyn,»jetzt verkleide ihn und lass ihn gehen. Das Wichtigste ist doch, dass der arme Kerl seinen Koffer bekommt.« «Ich weiß«, sagte Mike ernst.»Das ist furchtbar nett von Ihnen. Ehrlich.« Alleyn nahm ihn mit und verpasste ihm einen schmutzigen alten Regenmantel, eine Arbeitermütze und einen dicken Schal.»Damit könnten Sie allerdings nicht mal einen Dorftrottel bei totaler Sonnenfinsternis hinters Licht führen«, sagte er.»Und jetzt raus mit Ihnen.« Er sah dem davonfahrenden Mike hinterher und kehrte zu seiner Frau zurück.

«Was wohl passiert?«, fragte sie.

«So, wie ich Mike kenne, kriegt er einen Platz vorn im Parkett und geht danach mit der Hauptdarstellerin essen.

Das ist übrigens Coralie Bourne. Da sie überaus liebreizend ist und zwanzig Jahre älter als er, wird er sich höchstwahrscheinlich in sie verlieben. «Alleyn griff nach seiner Tabakdose und hielt inne.»Ich frage mich, was aus ihrem Ehemann geworden ist«, sagte er.

«Wer war das?« «Ein ganz außergewöhnlicher Kerl. Benjamin Wlasnoff.

Ziemlich gewalttätig veranlagt. Sah aus wie ein Bandit.

Hat zwei sehr gute Stücke geschrieben und wurde dreimal wegen tätlicher Angriffe eingebuchtet. Sie wollte sich von ihm scheiden lassen, doch daraus wurde nichts. Danach ist er, glaube ich, nach Russland abgehauen. «Alleyn gähnte.

«Für sie war es die Hölle mit ihm, glaube ich.« «Nacht-Lieferdienst«, sagte Mike mit heiserer Stimme, die Hand an der Mütze.»Koffer. Ein Stück.« «Da sind Sie ja«, sagte die Frau, die ihm aufgemacht hatte.

«Aber vorsichtig tragen, er ist nämlich nicht abgeschlossen. Sonst springt der Verschluss auf.« «Danke schön«, sagte Mike.»Sehr verbunden. Ganz schön kalt, was?« Er brachte den Koffer zum Wagen hinaus.

Es war ein frischer Frühlingsabend. Sloane Square war nebelverhangen, und sämtliche Straßenlaternen hatten einen Heiligenschein. Es war die Art von Abend, wo sich aus dem Stimmengewirr Londons einzelne Laute lösen: Sirenen heulten hohl und gebieterisch den Fluss hinunter, und in den Chelsea Barracks erklang ein Signalhorn. Ein Abend, dachte Mike, wie geschaffen für Abenteuer.

Er öffnete den hinteren Wagenschlag und hievte den Koffer hinein. Der Verschluss flog auf, der Deckel klappte zurück, und der gesamte Inhalt fiel heraus.»Verdammt!«, sagte Mike und knipste das innere Wagenlicht an.

Auf dem Wagenboden lag ein falscher Bart.

Er war flammend rot und buschig und auf einem Kinnstück angebracht. Daran angearbeitet war ein versteifter Schnurrbart. Das Ganze ließ sich mit Drahtbügeln hinter den Ohren befestigen. Mike legte das Gebilde behutsam auf den Sitz. Als Nächstes nahm er einen breitkrempigen schwarzen Hut zur Hand, dann einen geräumigen Mantel mit Pelzkragen und schließlich ein Paar schwarze Handschuhe.

Mike pfiff nachdenklich durch die Zähne und schob die Hände in die Taschen von Alleyns Regenmantel. Die Finger seiner Rechten stießen auf eine Visitenkarte. Er zog sie hervor.»Chief Inspector Alleyn«, las er,»Abteilung für Verbrechensbekämpfung. New Scotland Yard.« «Na, so was«, frohlockte Mike,»das ist ja ein Geschenk des Himmels.« Zehn Minuten später wurde ein Wagen so nah wie möglich beim Jupiter-Theater auf dem Bordstein geparkt.

Eine Gestalt mit einem Koffer in der Hand stieg aus, schritt rasch die Hawke Street hinunter und bog in die schmale Gasse zur Bühnenpforte ein. Als sie unter der schmutzigen Straßenlaterne vorbeiging und stehen blieb, wirkte sie in der schummrigen Beleuchtung wie die Illustration zu einer Spionagegeschichte aus der Zeit der Jahrhundertwende. Das Gesicht lag vollkommen im Schatten, eine schwarze Höhle, aus der sich als einziger Farbtupfer das Rechteck eines grellroten Bartes abhob.

Der Pförtner, der mit einem Bühnenarbeiter gerade Luft schnappte, trat vor und starrte den Fremden neugierig an.

«Wolln Sie irgendwas?« «Ich bringe Mr. Gill den Koffer hier.« «Der ist vorn. Sie können ihn bei mir lassen.« «Tut mir wirklich Leid«, versetzte die Stimme hinter dem Bart,»aber ich habe versprochen, ihn selbst in die Garderobe zu bringen.« «Dann müssen Sie ihn hier abgeben. Tut mir Leid, mein Herr, aber ohne Ausweis kommt hinten niemand rein.« «Ausweis? Na gut. Hier ist meine Karte.« Er hielt sie ihm in der schwarz behandschuhten Hand hin. Der Pförtner, widerwillig den Blick von dem Bart lösend, nahm die Karte und begutachtete sie im Lichtschein.»Menschenskind!«, sagte er.»Was ist denn los, Chef?« «Egal. Behalten Sie die Sache für sich.« Die Gestalt winkte und ging durch die Tür.»He!«, sagte der Pförtner aufgeregt zu dem Bühnenarbeiter,»schau dir das mal an. Das ist doch ein Kriminaler in Zivil!« «Das soll Zivil sein?«, versetzte der Bühnenarbeiter.

«Von wegen!« «Der ist verkleidet«, sagte der Pförtner.»Ist doch logisch. Der hat sich verkleidet.« «Hinterm Schnurrbart versteckt hat er sich, wenn du mich fragst.« Draußen auf der Bühne sagte jemand gerade mit klarer, wunderbar deutlicher Stimme:» Ich fand die Aussicht aus diesen Fenstern schon immer abstoßend. Aber wenn einem so was gefällt. Verdammt, mach das Licht aus. Schau mal einer an. « «Aufgepasst jetzt, aufgepasst«, flüsterte eine Stimme so dicht neben Mike, dass dieser zusammenfuhr.»Okay«, sagte eine zweite Stimme irgendwo über seinem Kopf. Die Bühnenscheinwerfer wurden blau.»Weg mit dem Arbeitslicht.«—»Arbeitslicht ist aus.« Auf der Bühne wurden Vorhänge beiseite gezerrt, ein Fenster flog auf. Ein Schauspieler erschien, beugte sich ganz dicht neben Mike heraus, schien ihm ins Gesicht zu sehen und sagte ganz deutlich:»Gott, ist das grässlich!« Mike wich in einen Durchgang zurück, der nur vom Licht aus einer offenen Tür erleuchtet war. Vor der Bühne brach Getöse aus.»Beleuchtung im Zuschauerraum«, sagte die scharfe Stimme. Mike bog in den Durchgang ein. Im gleichen Moment trat jemand aus der Tür, und er sah sich plötzlich Coralie Bourne gegenüber, wunderschön gekleidet und stark geschminkt.

Einen Augenblick blieb sie reglos stehen, vollführte dann mit der rechten Hand eine seltsame Geste, stieß einen leisen Hauch aus und sank zu seinen Füßen nieder.

Anthony riss sein Programmheft in lange Streifen und ließ sie auf den Boden der Loge über der Vorbühne fallen.

Oben und unten rechts von ihm war das Publikum. Mal lachte es, mal war es still, mal hob es wie ein einziges Wesen die Hände und schlug sie zusammen. So wie jetzt, als Canning Cumberland unten auf der Bühne mit ungewohnter Stimme und getrieben von einem inneren Teufel das Fenster aufriss und sagte:»Gott, ist das grässlich!« «Falsch! Falsch!«, schrie Anthony innerlich auf und hasste Cumberland, hasste Barry George, weil der sich von einem Satz aus vier Wörtern überrumpeln ließ, hasste das Publikum dafür, dass es Gefallen daran fand. Der Vorhang senkte sich mit einem langen Seufzer nach dem zweiten Akt, und ein Geräusch wie heftiger Regen erfüllte das Theater, schwoll gewaltig an und hielt immer noch an, nachdem die Lichter im Zuschauerraum bereits angegangen waren.

«Anscheinend«, sagte eine Stimme hinter ihm,»findet Ihr Stück Anklang.« Es war Gosset, dem das Jupiter gehörte und der die Aufführung unterstützt hatte. Anthony wandte sich stotternd zu ihm um:»Er macht es kaputt. Die Szene war für den anderen gedacht. Er hat sie ihm geklaut.« «Mein Junge«, sagte Gosset,»er ist Schauspieler.« «Betrunken ist er. Es ist unerträglich.« Er spürte Gossets Hand auf seiner Schulter.

«Die Leute beobachten uns. Sie stehen im Rampenlicht.

Das hier ist Ihr großer Auftritt — ein Erstlingsstück und gleich ein Riesenerfolg. Kommen Sie, alter Knabe, gehen wir einen trinken. Ich will Sie mit jemandem bekannt machen — « Anthony stand auf, und Gosset, den Arm um seine Schultern gelegt, lächelte in die Runde, tätschelte ihn und führte ihn Richtung Logentür.

«Tut mir Leid«, sagte Anthony,»ich kann nicht. Bitte lassen Sie mich. Ich gehe hinter die Bühne.« «Lieber nicht, alter Junge. «Die Hand lag plötzlich fester auf seiner Schulter.»Hören Sie, alter Junge — «Anthony hatte sich jedoch bereits losgemacht und war durch die Tür zur Bühne geschlüpft.

Am Fuß der halsbrecherischen Treppe stand Dendra Gay und wartete.»Ich dachte mir schon, dass du kommen würdest«, sagte sie.

Anthony sagte:»Er ist betrunken. Er verpfuscht mir das ganze Stück.« «Es ist doch nur die eine Szene, Tony. Gleich am Anfang des nächsten Akts ist er fertig. Es läuft grandios.« «Aber verstehst du denn nicht — « «Doch. Das weißt du doch. Aber es ist ein Erfolg, Tony, mein Liebling! Man hört es und riecht es und spürt es bis ins Innerste.« «Dendra …«, sagte er unsicher.

Jemand kam dazu und schüttelte ihm die Hand, schüttelte sie unentwegt. Kulissen wurden in Leinwand eingeschlagen und mit einem Stück Schnur zusammengebunden. Ein Kronleuchter stieg auf in die Dunkelheit.»Beleuchtung«, ordnete der Inspizient an, und die Bühne wurde von Licht überflutet. Eine ferne Stimme intonierte monoton:»Letzter Akt, bitte. Letzter Akt.« «Ist mit Miss Bourne alles in Ordnung?«, wollte der Inspizient plötzlich wissen.

«Es geht schon wieder. Sie ist erst in zehn Minuten dran«, sagte eine Frauenstimme.

«Was ist denn los mit Miss Bourne?«, fragte Anthony.

«Tony, ich muss gehen und du auch. Es wird bestimmt großartig, Tony. Bitte glaub dran. Bitte.« «Dendra«, hob Tony an, doch sie war schon verschwunden.

Auf der anderen Seite des Vorhangs kündigten Hörner und Flöten den letzten Akt an.

«Bitte alles die Bühne verlassen.« Die Bühnenarbeiter traten ab.

«Licht im Zuschauerraum.« «Licht im Zuschauerraum ist aus.« «Achtung.« Und während Anthony noch zaudernd links neben der Bühne stand, hob sich der Vorhang. Canning Cumberland und H. J. Bannington eröffneten den letzten Akt.

Mike kniete neben Coralie Bourne auf dem Boden und hörte, wie hinter ihm jemand den Durchgang betrat. Er wandte sich um und sah vor dem Hintergrund der erleuchteten Bühne die Silhouette des Schauspielers, der ihn durch ein Fenster auf der Bühne angesehen hatte. Es sah so aus, als wiederholte die Silhouette die Geste, die Coralie Bourne gemacht hatte, und drückte sich dann an die Wand.

Eine Frau mit Schürze trat aus der offenen Tür.

«He da — Sie!«, sagte Mike.

Nun geschahen drei Dinge gleichzeitig. Die Frau schrie auf und kniete sich neben ihn. Der Mann verschwand durch eine Tür auf der rechten Seite.

Die Frau hielt Coralie Bourne in den Armen und stieß heftig hervor:»Warum sind Sie zurückgekommen?«Dann gingen die Lichter im Durchgang an. Mike sagte:»Hören Sie, es tut mir furchtbar Leid«, und nahm den breitkrempigen schwarzen Hut ab. Die Garderobiere starrte ihn an, Coralie Bourne stieß einen langsam anschwellenden Schrei aus und schlug die Augen auf.

«Katie?«, sagte sie.

«Ist ja gut, mein Kleines. Er ist es nicht, Liebes. Alles in Ordnung. «Die Garderobiere fuhr ruckartig zu Mike herum:»Ziehen Sie das aus«, sagte sie.

«Ja, natürlich, es tut mir furchtbar — «Er trat aus dem Durchgang zurück und stieß dabei mit einem jungen Mann zusammen, der sagte:»In fünf Minuten, bitte. «Die Garderobiere rief ihm zu:»Sagen Sie denen, es geht ihr nicht gut. Sagen Sie, man soll den Vorhang noch halten.« «Nein«, sagte Coralie Bourne entschlossen.»Es geht schon, Katie. Sagen Sie nichts. Katie, was war denn los?« Sie verschwanden in dem Raum zur Linken.

Mike blieb im Schatten der aufgestapelten Kulissen neben dem Eingang zur Passage stehen. Auf der Bühne herrschte reges Treiben. Er entdeckte Anthony Gill, der sich auf der anderen Seite mit einem Mädchen unterhielt.

Der Gehilfe sprach mit dem Inspizienten, der nun in den Raum rief:»Ist mit Miss Bourne alles in Ordnung?«Die Garderobiere kam heraus und rief:»Es geht schon wieder.

Sie ist erst in zehn Minuten dran. «Der junge Gehilfe begann zu intonieren:»Letzter Akt, bitte. «Der Inspizient gab eine Reihe von Anweisungen. Ein Mann mit Monokel und üppigem Bart kam den Durchgang herunter und blieb außerhalb der Bühne stehen, richtete sich auf und zupfte seine Kleidung zurecht. Hörner und Flöten ertönten.

Canning Cumberland trat aus dem Raum zur Rechten und ging auf seinem Weg zur Bühne dicht an Mike vorbei, wobei er einen starken Alkoholgeruch hinterließ. Der Vorhang hob sich.

In seinem Versteck entfernte Mike verstohlen den Bart und stopfte ihn in die Manteltasche.

Ein Grüppchen Bühnenarbeiter stand in der Nähe. Einer von ihnen raunte heiser:»Ganz schön angesäuselt.« – «Geht aber wie geschmiert.«—»Und ich sag dir auch, warum: Eben weil er angesäuselt ist.« Es vergingen zehn Minuten. Mike dachte:»Die Sache läuft definitiv nicht nach Plan ab. «Er horchte. Auf der Bühne schien sich eine gewisse Spannung aufzubauen.

Canning Cumberland hob die Stimme zu einem lauten, aber verzerrten Ton. Eine Bühnentür öffnete sich, «Bemühen Sie sich nicht«, sagte Cumberland.»Adieu. Ich finde schon allein hinaus. «Die Tür knallte zu.

Cumberland stand neben Mike. Plötzlich gab es ganz in der Nähe einen lautstarken Knall. Die Kulissen vibrierten, Mike erbebte bis ins Innerste. Cumberland ging in seine Garderobe, und Mike hörte, wie der Schlüssel im Türschloss umgedreht wurde. Der Geruch von Alkohol vermischte sich mit dem Geruch von Schießpulver. Ein Bühnenarbeiter trat an einen Klapptisch und legte eine Pistole darauf. Der Schauspieler mit dem Monokel ging von der Bühne. Er sprach kurz mit dem Inspizienten, ging an Mike vorbei und verschwand im Durchgang.

Es roch. Es roch nach allem Möglichen. Unwillkürlich begann er, während er immer noch dem Stück lauschte, die Gerüche zu ordnen. Klebstoff. Leinwand.

Fettschminke. Der Inspizientengehilfe klopfte an zwei Türen.»Mr. George, bitte.«—»Miss Bourne, bitte. «Sie kamen heraus, Coralie Bourne in Begleitung ihrer Garderobiere. Mike hörte, wie sie einen Türknauf drehte und etwas sagte. Eine unverständliche Stimme antwortete ihr. Dann kam sie mit ihrer Garderobiere an ihm vorbei.

Die anderen sagten etwas zu ihr, worauf sie nickte und sich dann in sich selbst zurückzuziehen schien. Mit gesenktem Kopf wartete sie ab, bereit für ihren Auftritt.

Dann richtete sie sich auf, schritt rasch auf die Bühnentür zu, stieß sie auf und rauschte weiter, unmittelbar gefolgt von Barry George.

Gerüche. Staub, abgestandene Farbe, Stoff. Gas. Immer stärker der Geruch von Gas.

Die Bühnenarbeiter rückten hinter den Kulissen zur Bühnenseite hinüber. Mike wagte sich aus seinem Versteck hervor. Er konnte die Souffleurnische sehen, wo mit verschränkten Armen der Inspizient stand und das Geschehen beobachtete. Hinter ihn hatten sich die Schauspieler geschart, die gerade keinen Auftritt hatten.

Etwas abseits standen zwei Garderobieren und schauten zu. Von der Bühne fiel Licht auf ihre Gesichter. Coralie Bournes Stimme ließ die Sätze wie Vögel in den Zuschauerraum fliegen.

Mike spähte aufmerksam zu Boden. Hatte er etwa mit dem Fuß eine Gasdichtung auseinander geschoben? Der Inspizientengehilfe kam vorbei, starrte ihn über die Schulter an und ging, an die Türen klopfend, den Durchgang hinunter.»Fünf Minuten bis zum Schlussvorhang, bitte. Fünf Minuten. «Der auf alt geschminkte Schauspieler kam hinter ihm heraus.»Gott, stinkt das hier nach Gas«, flüsterte er.»Eklig, was?«, erwiderte der Gehilfe. Sie starrten Mike argwöhnisch an und gingen dann zu der wartenden Gruppe hinüber. Der Mann sagte etwas zum Inspizienten, der daraufhin den Kopf reckte und schnüffelte. Dann machte er eine ungeduldige Handbewegung, wandte sich wieder zum Souffleurkasten hinüber und reichte über den Kopf der Souffleuse. Als irgendwo in den Soffitten eine Klingel ertönte, sah Mike einen Bühnenarbeiter auf die Steuerbühne klettern.

Das Grüppchen neben der Souffleurnische war ganz aufgeregt. Alle blickten nach hinten zum Eingang der Passage. Der Inspizientengehilfe nickte und kam zurückgerannt. Er klopfte an die erste Tür rechts.

« Mr. Cumberland! Mr. Cumberland! Auf die Bühne.« Er rüttelte an der Türklinke.» Mr. Cumberland! Sie sind dran. « Mike rannte in den Durchgang. Der Gehilfe hustete und würgte und riss ruckartig an der Tür.»Gas!«, sagte er.

«Gas!« «Treten Sie sie ein.« «Ich hole Mr. Reynolds.« Er war verschwunden. Der Durchgang war recht schmal.

Mike nahm die halbe Strecke zum Raum gegenüber Anlauf und rannte mit gesenktem Kopf, eine Schulter nach vorn, auf die Tür zu. Sie gab leicht nach, und ein plötzlich stärkerer, Übelkeit erregender Geruch geriet ihm in die Lungen. Ein gewaltiger Lärm hatte eingesetzt, und während er erneut ausholte, dachte er:»Draußen hagelt es.« «Moment mal bitte, Sir.« Es war ein Bühnenarbeiter. Er hatte Hammer und Schraubenzieher geholt und trieb nun den Schraubenzieher bis zum Anschlag zwischen Schloss und Türrahmen, um die Tür auszuhebeln. Schrauben ächzten, Holz splitterte und Gas strömte in den Durchgang.»Keine Fenster«, hustete der Bühnenarbeiter.

Mike wand sich Alleyns Schal um Mund und Nase.

Schon fast vergessene Verhaltensregeln bei Gasschutzübungen kamen ihm wieder in den Sinn. Der Raum sah seltsam aus, doch konnte er den auf dem Stuhl kauernden Mann recht deutlich erkennen. Er duckte sich und stürmte hinein.

Überall anstoßend, schleifte er die schwere, leblose Last rückwärts hinaus. Dabei kribbelte es ihm in den Armen.

Ein hoher Ton summte unablässig in seinem Hirn. Wie schwebend kam er ein kurzes Stück voran, dann sank er zwischen mehreren Beinpaaren auf den Betonboden.

Irgendwo weit weg sagte jemand laut:»Ich kann Ihnen nur danken für die Freundlichkeit, mit der Sie ein — wie ich sehr wohl weiß — höchst unvollkommenes Stück aufnehmen.« Dann setzte wieder das Geräusch von Hagel ein. Ein himmlischer Schwall frischer Luft strömte ihm in Mund und Nase.»Ach, herrlich!«, dachte er und setzte sich auf.

Das Telefon klingelte.»Wie wär’s«, schlug Mrs. Alleyn vor,»wenn du es diesmal ignorierst.« «Vielleicht ist es der Yard«, entgegnete Alleyn und hob ab.

«Ist dort die Wohnung von Chief Inspector Alleyn? Ich rufe aus dem Jupiter-Theater an, um Ihnen zu sagen, dass der Chief Inspector hier ist. Ihm ist ein kleines Missgeschick passiert. Alles in Ordnung, aber ich glaube, es wäre gut, wenn ihn jemand nach Hause bringen könnte.

Kein Grund zur Sorge.« «Was denn für ein Missgeschick?«, fragte Alleyn.

«Er — äh — er hat ein bisschen Gas abgekriegt.« « Gas! Ist gut. Danke, ich komme.« «Ach, wie lästig, Liebling«, sagte Mrs. Alleyn.»Was für ein Fall ist es denn? Selbstmord?« «Hört sich ganz nach einer Maskerade an, wie sie im Buche steht … Mike ist in Schwierigkeiten.« «Um Gottes Willen, was denn für Schwierigkeiten?« «Er hat Gas abgekriegt. Ist aber nicht so schlimm. Gute Nacht, Liebling. Bleib wegen mir nicht auf.« Als er zum Theater kam, lag der vordere Teil des Zuschauerraums im Dunkeln. Er begab sich über die schmale Gasse zum Bühneneingang, wo er aufgehalten wurde.

«Scotland Yard«, sagte er und zeigte seinen offiziellen Ausweis.

«Ha«, sagte der Pförtner.»Wie viele von euch kommen denn noch?« «Der Mann dort drin hat für mich gearbeitet«, sagte Alleyn und ging hinein. Der Pförtner folgte ihm protestierend.

Rechts vom Eingang befand sich ein großer Kulissenraum, dessen Flügeltüren offen standen. Dort saß Mike in einem Lehnstuhl und war ziemlich blass um die Nase. Drei Männer und zwei Frauen, alle mit geschminkten Gesichtern, standen neben ihm, dahinter eine Gruppe Bühnenarbeiter mit Reynolds, dem Inspizienten, und etwas weiter weg drei Männer im Abendanzug. Die Männer schienen wie vom Donner gerührt. Die Frauen hatten geweint.

«Tut mir wirklich furchtbar Leid, Sir«, sagte Mike.»Ich habe versucht, es zu erklären. Das hier«, fügte er für die Anwesenden hinzu,»ist Inspector Alleyn.« «Ich versteh das alles nicht«, sagte der älteste der Männer im Abendanzug verärgert. Er wandte sich an den Pförtner.»Sie sagten doch — « «Ich hab seinen Ausweis gesehen — « «Weiß ich«, sagte Mike,»aber Sie müssen verstehen — « «Das ist Lord Michael Lamprey«, sagte Alleyn.»Ein Neuzugang im Polizeidezernat. Was hat sich hier abgespielt?« «Dr. Rankin, würden Sie — ?« Der zweite Mann im Abendanzug trat hinzu.»Ist gut, Gosset. Schlimme Sache, Inspector. Ich sagte gerade, man müsste die Polizei verständigen. Wenn Sie bitte mitkommen wollen — « Alleyn folgte ihm durch eine Tür auf die eigentliche Bühne, die spärlich beleuchtet war. In der Mitte hatte man einen Klapptisch aufgestellt, auf dem, mit einem Tuch bedeckt, eine unverkennbare Gestalt lag. Der allgegenwärtige Geruch von Gas hing schwer über dem Tisch.

«Wer ist das?« «Canning Cumberland. Er hatte die Tür zu seiner Garderobe abgeschlossen. Drinnen steht ein Gasofen. Ihr junger Freund schleifte ihn heraus, sehr beherzt, doch es war nichts mehr zu machen. Ich saß im Publikum. Gosset, der Intendant, hatte mich zum Abendessen eingeladen. Ein absolut klarer Fall von Selbstmord, Sie werden sehen.« «Am besten schaue ich mir mal den Raum an. War seither jemand drin?« «Gott, nein. Es war ziemlich mühsam, das Gas da rauszukriegen. Sie haben den Haupthahn abgedreht. Ein Fenster gibt es nicht. Sie mussten die Flügeltür hinter der Bühne und eine kleine Außentür unten am Durchgang aufmachen. Vielleicht kann man jetzt rein.« Er ging voran zum Garderobendurchgang.»Immer noch ziemlich dicke Luft«, sagte er.»Das erste Zimmer rechts ist es. Sie haben die Tür aufgebrochen. Bleiben Sie besser dicht am Fußboden.« Die starken Lampen über dem Spiegel brannten, und der Raum wirkte immer noch benutzt. Das Gasöfchen stand links an der Wand. Alleyn hockte sich daneben nieder.

Das Ventil war immer noch aufgedreht, der Hebel stand parallel zum Boden. Auf dem Heizkörper, dem Gashahn selbst und dem Teppich daneben lag cremiger Puder. Auf der Ablage am Toilettentisch direkt neben dem Ofen stand eine Schachtel mit diesem Puder, weiter hinten waren unter dem Spiegel mehrere Tiegel mit Fettschminke aufgereiht. Daran schloss sich ein Waschbecken an, vor dem ein umgekippter Stuhl lag. Alleyn konnte Abdrücke von Schuhabsätzen ausmachen, die über den Teppichflor zu der Tür direkt gegenüber führten. Neben dem Waschbecken standen eine zu drei Vierteln geleerte Literflasche Whisky und ein Stumpenglas. Alleyn hatte genug gesehen und trat wieder auf den Durchgang hinaus.

«Absolut eindeutig«, wiederholte der dort ausharrende Arzt,»nicht wahr?« «Ich sehe mir noch die anderen Räume an.« Der Nachbarraum war wie der von Cumberland, nur spiegelverkehrt und etwas kleiner. Der Heizofen stand Rücken an Rücken mit dem von Cumberland. Auf der Ablage am Toilettentisch war fast das gleiche Sortiment von Fettschminketiegeln angeordnet. Auch an diesem Heizofen stand der Hahn offen. Es war genau das gleiche Fabrikat wie der andere, und Alleyn, von den Dämpfen hier weniger beeinträchtigt, konnte das Gerät ausgiebiger untersuchen. Es handelte sich um einen recht geläufigen Typ von Gasofen. Die Zuleitung erfolgte über ein Rohr durch einen flexiblen metallischen Schlauch mit Gummianschluss. Es gab zwei Gashähne, einen am Rohrende und einen an der Verbindung zwischen Schlauch und Ofen selbst. Alleyn zog den Schlauch ab und überprüfte die Verbindung. Sie war vollkommen in Ordnung, passte genau und war unten rot verfärbt. Alleyn fiel auf, dass ein rötlicher, drahtiger Faden daran haftete, der wie Dichtungsmaterial aussah. Ausströmungsöffnung und Hahn waren aus Messing, wobei der Hahn im aufgedrehten Zustand etwas überstand und dadurch parallel zum Fußboden lag. Hier war kein Puder verstreut.

Alleyn sah im Raum umher, ging wieder an die Tür und las das Schild:»Mr. Barry George.« Der Arzt folgte ihm zu den gegenüberliegenden Räumen auf der linken Seite des Durchgangs. Sie entsprachen in der Einrichtung den beiden, die er bereits gesehen hatte, waren allerdings voll Frauenkleider und enthielten ein vielseitigeres Sortiment an Fettschminke und Kosmetika.

In der Stargarderobe waren Unmengen von Blumen.

Alleyn las die Visitenkarten. Besonders eine fiel ihm ins Auge:»Von Anthony Gill mit einem völlig unzureichenden Dankeschön für die großartige Idee. «Vor dem Spiegel stand eine Vase mit roten Rosen:»Auf deinen größten Triumph, Coralie, mein Liebling. C.C. «In Miss Gays Zimmer waren nur zwei Sträuße, einer von der Theaterleitung und einer» in Liebe, von Anthony«.

Auch hier zog er in jedem Zimmer die Zuleitung aus dem Heizofen und besah sich das Verbindungsstück.

«Sind in Ordnung, nicht?«, fragte der Arzt.

«Ganz in Ordnung. Passen genau. Aus gutem, festem grauem Gummi.« «Na, dann …« Dahinter befand sich ein unbenutzter Raum und gegenüber der von» Mr. H.J. Bannington«. In keinem der beiden stand ein Gasöfchen. Mr.

Banningtons Garderobentisch war mit der üblichen Ansammlung von Fettschminke übersät, Material für seinen Bart, zahlreichen Telegrammen und Briefen und mehreren Rechnungen.

«Was die Leiche betrifft …«, begann der Arzt.

«Wir lassen einen Wagen vom Leichenschauhaus kommen.« «Aber … in einem derartigen Fall von Selbstmord ist doch …« «Ich glaube nicht, dass es Selbstmord war.« «Aber, gütiger Himmel! — Wollen Sie damit sagen, es war ein Unfall?« «Es war kein Unfall«, sagte Alleyn.

Um Mitternacht strahlten die Garderobenlichter im Jupiter-Theater hell, und einige Männer machten sich dort mit ihrem jeweiligen Handwerkszeug zu schaffen. Ein Wachtmeister stand am Bühneneingang, im Hof wartete ein Lieferwagen. Der Zuschauerraum war schwach beleuchtet, und dort im düsteren Parkett saßen Coralie Bourne, Basil Gosset, H. J. Bannington, Dendra Gay, Anthony Gill, Reynolds, Katie, die Garderobiere, und der Inspizientengehilfe. Ein Wachtmeister saß hinter ihnen, ein weiterer stand an der Flügeltür zum Foyer. Sie starrten über die Sitze hinweg auf den eisernen Vorhang. Von ihren Zigaretten erhob sich spiralförmig der Rauch, zu ihren Füßen lagen weggeworfene Programmhefte.»Basil Gosset präsentiert: ICH FINDE SCHON ALLEIN HINAUS von Anthony Gill.« Im Büro des Intendanten sagte Alleyn:»Sind Sie sich der Tatsachen ganz sicher, Mike?« «Ja, Sir. Ehrlich. Ich stand direkt am Zugang zur Passage. Sie haben mich nicht gesehen, weil ich im Schatten war. Hinter der Bühne war es sehr dunkel.« «Das werden Sie unter Eid aussagen müssen.« «Ich weiß.« «Gut. Na denn, Thompson. Miss Gay und Mr. Gosset können nach Hause gehen. Bitten Sie Miss Bourne herein.« Nachdem Sergeant Thompson gegangen war, sagte Mike:»Ich hatte noch keine Gelegenheit zu sagen, dass mir klar ist, dass ich mich wie ein Vollidiot aufgeführt habe. Weil ich Ihre Visitenkarte benutzt habe und so.« «Leichtsinn und Übermut kommen beim Yard nicht sehr gut an, Mike. Sie haben sich wie ein Clown benommen.« «Ich bin wirklich ein Idiot«, sagte Mike zerknirscht.

Der rote Bart lag vor Alleyn auf Gossets Schreibtisch. Er hob ihn hoch und hielt ihn vor sich hin.»Kleben Sie ihn an«, sagte er.

«Dann fällt sie womöglich gleich wieder in Ohnmacht.« «Glaube ich nicht. Und jetzt den Hut; ja — ja, jetzt verstehe ich. Kommen Sie rein.« Sergeant Thompson führte Coralie Bourne herein und setzte sich dann mit seinem Notizblock ans untere Ende des Schreibtischs.

Tränen hatten sich durch die Puderschicht auf ihrem Gesicht gegraben, dabei schwarze Wimperntusche mitgenommen und in der Fettschminke eine glänzende Schneckenspur hinterlassen. Sie blieb neben der Tür stehen und sah Mike ausdruckslos an.»Ist er wieder in England?«, fragte sie.»Hat er Ihnen befohlen, das zu tun?« Sie machte eine ungeduldige Handbewegung.»So nehmen Sie ihn doch ab«, sagte sie,»es ist ein furchtbar schlechter Bart. Hätte Cann nur genau hingesehen …« Ihre Lippen bebten.»Wer hat Sie geheißen, das zu tun?« «Niemand«, stammelte Mike und stopfte den Bart in die Tasche.

«Ich meine — also, eigentlich, Tony Gill — « « Tony? Aber der hatte doch keine Ahnung. Tony würde so was nicht tun. Es sei denn — « «Es sei denn?«, sagte Alleyn.

Stirnrunzelnd meinte sie:»Tony wollte nicht, dass Cann die Rolle so spielte. Er war außer sich.« «Er behauptet, es war sein Kostüm für den Künstlerball in Chelsea«, murmelte Mike.»Ich habe es hergebracht.

Ich dachte mir, ich — ich weiß, es war idiotisch — ich ziehe es zum Spaß einfach mal an. Ich hatte keine Ahnung, dass Mr. Cumberland und Sie sich daran stören würden.« «Bitten Sie Mr. Gill herein«, sagte Alleyn.

Anthony war blass und wirkte verwirrt und hilflos.»Ich habe es Mike gesagt«, meinte er.»Es war mein Kostüm für den Ball. Man hat es mir heute Nachmittag vom Kostümverleih hergeschickt, aber ich habe es ganz vergessen. Dendra erinnerte mich und rief in der Zwischenzeit den Botendienst an — beziehungsweise Mike, wie sich dann herausstellte.« «Warum«, wollte Alleyn wissen,»haben Sie diese spezielle Verkleidung gewählt?« «Habe ich gar nicht. Ich wusste nicht, was ich anziehen sollte, und war zu nervös, um mir etwas zu überlegen. Sie sagten, sie würden sich selber auch Sachen ausleihen und mir etwas besorgen. Sie sagten, wir spielen alle Figuren aus einem russischen Melodram.« «Wer sagte das?« «Nun — um ehrlich zu sein, es war Barry George.« « Barry«, sagte Coralie Bourne.» Es war also Barry. « «Ich verstehe nicht ganz«, sagte Anthony.»Wieso sollte ein Kostüm alle so aus der Fassung bringen?« «Zufällig«, sagte Alleyn,»handelte es sich dabei um die genaue Nachbildung dessen, was Miss Bournes Gatte gewöhnlich trug, der auch einen roten Bart hatte. So war es doch, Miss Bourne, nicht wahr? Ich erinnere mich, ihn gesehen zu haben — « «O ja«, sagte sie.»Das kann gut sein. Er war bei der Polizei bekannt. «Plötzlich brach sie völlig zusammen. Sie saß in einem Lehnsessel neben dem Schreibtisch, jedoch außerhalb des Lichtkegels der dort stehenden Lampe.

Coralie wand sich, verzerrte das Gesicht und schlug mit der Hand auf die gepolsterte Armlehne. Sergeant Thompson saß mit gesenktem Kopf da, die Hand über seine Notizen gelegt. Nach einem jammervollen Blick zu Alleyn wandte Mike sich ab. Anthony Gill beugte sich über sie.»Nicht«, sagte er heftig,»nicht! Um Gottes willen, so hören Sie doch auf.« Sie machte sich von ihm los, packte die Schreibtischkante und wandte sich an Alleyn, während sie nach und nach die Selbstbeherrschung wiedererlangte.

«Ich will es Ihnen erzählen. Damit Sie es verstehen. Hören Sie zu. «Ihr Mann sei unsäglich grausam gewesen, sagte sie.»Es war wie eine Art Sklaverei. «Doch als sie die Scheidung einreichte, brachte er ihnen Beweise für den Ehebruch mit Cumberland. Sie hatten angenommen, er wüsste von nichts.

«Es gab eine entsetzliche Szene. Er sagte, er würde weggehen. Er sagte, er würde uns im Auge behalten, und wenn ich noch einmal versuchen sollte, mich scheiden zu lassen, käme er wieder. Damals war er eng mit Barry befreundet. «Er hatte den ersten Entwurf eines Theaterstücks dagelassen, das er für sie und Cumberland hatte schreiben wollen. Darin gab es einen wunderbaren Auftritt für beide.»Jetzt kriegst du es nie«, hatte er gesagt, «weil es außer mir keinen Dramatiker gibt, der dieses Stück für dich schreiben könnte. «Er war zwar, wie sie sagte, ein melodramatischer Mensch, jedoch niemals lächerlich. Er kehrte in die Ukraine zurück, wo er geboren war, und sie hatten nichts mehr von ihm gehört. Schon bald würde sie ihn für tot erklären lassen können. Doch das jahrelange Warten war Canning Cumberland nicht bekommen. Ständig trank er, und in seinen schlimmsten Phasen stellte er sich vor, dass die Rückkehr ihres Mannes unmittelbar bevorstand.»Er hatte furchtbare Angst vor Ben«, sagte sie.»Er kam ihm wie ein Ungeheuer in einem Albtraum vor.« Anthony Gill sagte:»Dieses Stück — war es — ?« «Ja. Zwischen Ihrem und seinem Stück bestand eine außerordentliche Ähnlichkeit. Ich erkannte gleich, dass Bens zentrale Szene Ihr Stück enorm aufwerten würde.

Cann war dagegen, dass ich es Ihnen gebe. Barry war eingeweiht und meinte, warum nicht? Er hatte es auf Canns Rolle abgesehen und war furchtbar sauer, als er sie nicht bekam. Sie verstehen also, als er den Vorschlag machte, Sie sollten sich als Ben verkleiden und schminken

— «Sie wandte sich an Alleyn.»Verstehen Sie?« «Wie reagierte Cumberland denn, als er Sie sah?«, wollte Alleyn von Mike wissen.

«Er machte so eine seltsame Handbewegung, als ob er – nun, als erwartete er, dass ich auf ihn losgehen würde.

Dann stürzte er in sein Zimmer.« «Er dachte, Ben sei zurückgekommen«, sagte sie.

«Waren Sie nach Ihrer Ohnmacht zu irgendeinem Zeitpunkt allein?«, fragte Alleyn.

«Ich? Nein. Nein, war ich nicht. Katie brachte mich in meine Garderobe und blieb bei mir bis zu meinem Auftritt in der letzten Szene.« «Noch eine Frage. Können Sie sich vielleicht zufällig erinnern, ob mit dem Ofen in Ihrem Zimmer irgendetwas nicht in Ordnung war?« Erschöpft blickte sie ihn an.»Ja, hat irgendwie geknallt.

Da bin ich erschrocken. Ich war nervös.« «Gingen Sie direkt von ihrem Zimmer auf die Bühne?« «Ja, mit Katie. Als wir herauskamen, wollte ich noch zu Cann hinüber und versuchte es an seiner Tür. Sie war abgeschlossen. Er sagte, ›Komm nicht herein.‹ Ich sagte:

›Alles in Ordnung, es war gar nicht Ben‹, und ging auf die Bühne.« «Ich habe Miss Bourne gehört«, sagte Mike.

«In der Zwischenzeit muss er sich dazu entschlossen haben. Er war furchtbar betrunken, als er seine letzte Szene spielte. «Sie strich sich das Haar aus der Stirn.

«Darf ich jetzt gehen?«, fragte sie Alleyn.

«Ich habe ein Taxi gerufen. Mr. Gill, sehen Sie mal nach, ob es da ist? Würden Sie so lange im Foyer warten, Miss Bourne?« «Kann ich Katie mit nach Hause nehmen?« «Sicher. Thompson bringt sie her. Sollen wir sonst noch jemanden holen?« «Nein, danke. Bloß die gute alte Katie.« Alleyn hielt ihr die Tür auf und sah ihr nach, als sie ins Foyer trat.»Regeln Sie das mit der Garderobiere, Thompson«, murmelte er,»und holen Sie Mr. H. J. Bannington.« Er sah, wie Coralie Bourne sich auf die unterste Treppenstufe zum ersten Rang setzte und den Kopf an die Wand lehnte. Nicht weit von ihr auf einer vergoldeten Staffelei lächelte ein riesiges Foto von Canning Cumberland sie einnehmend an.

H.J. Bannington sah ziemlich elend aus. Er war sich mit der Hand übers Gesicht gefahren und hatte sein Make-up verschmiert. Üppige rote Lippenfarbe hatte das billige Kunsthaar befleckt, das angeklebt und zu einem Bart geformt worden war. Sein Monokel klemmte ihm noch im linken Auge, was ihm ein ungeheuer verwegenes Aussehen verlieh.»Hören Sie«, beklagte er sich,»jetzt habe ich aber genug von diesem Tamtam. Wann können wir nach Hause?« Alleyn murmelte ein paar beschwichtigende Phrasen und brachte ihn dazu, sich zu setzen. Er prüfte, wo H. J. sich nach Cumberlands Abgang von der Bühne aufgehalten hatte, und stellte fest, dass sein Bericht mit dem von Mike übereinstimmte. Als er sich erkundigte, ob H.J. vielleicht noch in einer der anderen Garderoben gewesen war, wurde ihm eisig beschieden, dass H.J. durchaus wusste, welcher Platz im Ensemble ihm zukam.»Danke der Nachfrage, aber ich bin in meinem unbeheizten, schäbigen Kabuff geblieben.« «Wissen Sie, ob Mr. Barry George dies ebenfalls getan hat?« «Keine Ahnung, alter Knabe. Bei mir war er jedenfalls nicht.« «Haben Sie vielleicht irgendwelche Theorien über diese unerquickliche Geschichte, Mr. Bannington?« «Wieso Cann es getan hat, wollen Sie damit sagen? Na ja, über Tote soll man ja nicht schlecht reden, aber ich hätte mir gedacht, es war ziemlich offensichtlich, dass er sturzbesoffen war. Voll wie eine Strandhaubitze, als wir mit dem zweiten Akt fertig waren. Fragen Sie mal den famosen Mr. Barry George. Dem hat Cann seinen großen Auftritt gründlich vermasselt und ihn ganz schön erbärmlich dastehen lassen. Künstlerisch völlig daneben, aber so war Cann nun mal, wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte. «H.J.s böse Äuglein verengten sich.»Der große Mr. George«, sagte er,»muss sich ja inzwischen sehr unwohl fühlen in seiner Haut. Man könnte sagen, er hat einen Selbstmord auf dem Gewissen, meinen Sie nicht? Oder wissen Sie das noch nicht so genau?« «Es war kein Selbstmord.« Das Monokel plumpste H. J. aus dem Auge.»Gütiger Himmel!«, sagte er.»Gott, ich hab’s Bob Reynolds aber gesagt! Ich habe ihm gesagt, die ganze Anlage muss auf Vordermann gebracht werden.« «Die Gasheizung, meinen Sie?« «Sicher. Ich war vor Jahren selbst in der Gasbranche tätig. In gewissem Sinn könnte man sogar sagen, ich bin es immer noch, ha, ha!« «Ha, ha!«, pflichtete Alleyn ihm höflich bei. Er beugte sich vor.

«Einen Gasmann können wir heute Abend nicht mehr auftreiben, aber es kann durchaus sein, dass wir den Rat eines Experten brauchen. Sie können uns helfen.« «Hm, alter Knabe, ich hatte mich eigentlich auf ein hübsches Nickerchen gefreut. Aber natürlich — « «Ich werde Sie nicht lange aufhalten.« «Gott, das will ich hoffen!«, versetzte H. J. ernsthaft.

Barry George war für den letzten Akt blass geschminkt worden. Farblose Lippen sowie Schatten unter Wangenknochen und Augen hatten seine Rolle als heimgekehrter, jedoch seelisch gebrochener Kriegsgefangener wirkungsvoll unterstrichen. Nun, im grellen Schein der Bürolampe, sah er wie eine stark übertriebene Trauergestalt aus. Er begann Alleyn sofort zu beteuern, wie untröstlich und entsetzt er doch sei. Zwar, meinte er, habe jeder seine Fehler, da habe der arme alte Cann keine Ausnahme gemacht, aber sei es denn nicht schrecklich, sich vorzustellen, was aus einem Menschen werden konnte, der sich gehen ließ? Er, Barry George, sei nun mal ungewöhnlich empfindsam und glaube nicht, den furchtbaren Schock jemals recht verwinden zu können, den dies für ihn darstellte. Was, so frage er sich, könnte dem zugrunde liegen? Warum hatte der arme alte Cann beschlossen, mit allem Schluss zu machen?

«Miss Bournes Theorie«, begann Alleyn. Mr. George lachte.

«Coralie?«, sagte er.»Sie hat also eine Theorie! Na ja, lassen wir das.« «Ihre Theorie ist folgende: Cumberland sah einen Mann, den er irrtümlich für ihren Ehemann hielt, und da er eine krankhafte Angst vor dessen Rückkehr hatte, trank er eine Flasche Whisky fast vollständig aus und vergiftete sich mit Gas. Die Kleidung und der Bart, die ihn so in die Irre führten, haben meines Wissens Sie für Mr. Anthony Gill bestellt.« Diese Behauptung zeitigte eine durchschlagende Wirkung. Barry George erging sich in einem Schwall von Einwänden und entschuldigenden Erklärungen. Nicht im Entferntesten habe er daran gedacht, den armen alten Ben wieder auferstehen zu lassen, der jetzt zweifellos tot, aber doch in vieler Hinsicht einer der Besten gewesen war. Sie hatten doch alle vorgehabt, als übertriebene Figuren aus einem Melodram auf den Kostümball zu gehen. Nicht um alles in der Welt — Er gestikulierte und protestierte. Am Haaransatz brach ihm der Schweiß aus.»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen«, rief er.»Was behaupten Sie da?« «Ich behaupte unter anderem, dass Cumberland ermordet wurde.« «Sie sind wahnsinnig! Er selber hatte sich eingeschlossen. Man musste die Tür aufbrechen. Ein Fenster gibt es nicht. Sie sind verrückt!« «Verzichten wir doch«, sagte Alleyn genervt,»auf den Unsinn mit den verschlossenen Räumen. Also, Mr. George, Sie kannten Benjamin Wlasnoff ziemlich gut.

Wollen Sie uns etwa erzählen, bei Ihrem Vorschlag, Mr.

Gill sollte einen Mantel mit Pelzkragen, einen schwarzen Schlapphut, schwarze Handschuhe und einen roten Bart tragen, sei Ihnen nie der Gedanke gekommen, er könnte mit dieser Verkleidung Miss Bourne und Cumberland einen Schrecken einjagen?« «Ich war nicht der Einzige«, brauste er auf.»H. J. wusste Bescheid. Und wenn es ihn verschreckt hätte, hätte ihr das wohl nicht sonderlich Leid getan. Sie hatte die Nase ziemlich voll von ihm. Jedenfalls, wenn es Mord ist, hat das Kostüm nichts damit zu tun.« «Das«, versetzte Alleyn und erhob sich,»werden wir hoffentlich noch herausfinden.« Neben dem Gasöfchen in Barry Georges Garderobe stand Sergeant Bailey, ein Spezialist für Fingerabdrücke.

Sergeant Gibson, der Polizeifotograf, und ein uniformierter Wachtmeister befanden sich in der Nähe der Tür. In der Mitte des Raums stand Barry George, sah von einem zum anderen und zupfte nervös an seiner Lippe herum.

«Ich weiß nicht, wieso er will, dass ich mir das alles anschaue«, sagte er.»Ich bin erschöpft. Ich bin emotional am Ende. Was macht er denn? Wo steckt er?« Alleyn war mit H. J., Mike und Sergeant Thompson nebenan in Cumberlands Garderobe. Die war mittlerweile ziemlich frei von Gasdämpfen, und das Öfchen brannte behaglich. Sergeant Thompson streckte sich bequem auf dem Sessel neben dem Heizofen aus, hielt den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen.

«Die Theorie ist folgende, Mr.

Bannington«, sagte Alleyn.»Sie und Cumberland gingen zum letzten Mal von der Bühne ab. Miss Bourne, Mr. George und Miss Gay sind auf der Bühne. Lord Michael steht draußen direkt am Eingang zur Passage. Garderobieren und Bühnenarbeiter sehen von der Seite her zu. Cumberland hat sich sturzbetrunken in seiner Garderobe eingeschlossen und schläft tief. Das Gasöfchen brennt auf höchster Stufe.

Zuvor hatte er Puder aufgelegt, und eine dicke Puderschicht liegt ungestört auf dem Gasanschluss. Also.« Er klopfte an die Wand.

Mit einem scharfen Knall erlosch das Feuer, gefolgt vom Zischen ausströmenden Gases. Alleyn drehte die Gashähne zu.»Sehen Sie«, sagte er,»ich habe auf der gepuderten Oberfläche einen ausgezeichneten Abdruck hinterlassen. Und jetzt kommen Sie mit nach nebenan.« Nebenan redete Barry George stammelnd auf ihn ein:

«Aber ich hatte ja keine Ahnung. Ich kenne mich damit nicht aus. Ich weiß nichts davon.« «Zeigen Sie es Mr. Bannington, Bailey, ja?« Bailey kniete sich hin. Die Zuleitung war vom Ventil am Ofen getrennt. Er öffnete den Gashahn in der Leitung und blies in den Schlauch.

«Ein Luftstau, sehen Sie. Es funktioniert perfekt.« H.J. starrte Barry George fassungslos an.»Aber ich weiß doch gar nichts über Gas, H.J … H.J., sagen Sie ihnen doch — « «Einen Moment. «Alleyn entfernte die Handtücher, die über die Ablage am Toilettentisch gebreitet waren, und förderte dabei ein leeres Blatt Papier zutage, auf dem das aufsteckbare Verbindungsteil aus Gummi lag.

«Wollen Sie bitte diese Lupe nehmen, Bannington, und sich das ansehen. Sie werden feststellen, dass es mit grellroter Farbe befleckt ist. Ein sehr schwacher Fleck, aber eindeutig Fettschminke. Und direkt über dem Fleck werden Sie ein drahtiges Haar erkennen. So ähnlich wie Dichtungsmaterial, ist es aber nicht. Es ist Kunsthaar, nicht wahr?« Die Lupe verharrte zitternd über dem Papier.

«Kommen Sie, ich halte sie Ihnen«, sagte Alleyn. Er griff H.J. über die Schulter, zupfte ihm flink ein Büschel aus dem falschen Schnurrbart und ließ es auf das Papier fallen.»Identisch, sehen Sie. Orangegelb. Scheint mit Mastix am Verbindungsteil festzukleben.« Die Lupe fiel herunter. H.J. wirbelte herum, fixierte Alleyn eine Sekunde lang und versetzte ihm dann mit voller Wucht einen Faustschlag ins Gesicht. Obwohl er ziemlich klein war, waren drei Mann nötig, um ihn festzuhalten.

«In gewissem Sinn, Sir, ist es praktisch, wenn sie einem in die Fresse hauen«, sagte Sergeant Thompson eine halbe Stunde später.

«Dann kann man sie einfach hochnehmen und sich das Getue sparen von wegen ›würden Sie aufs Revier kommen und eine Aussage machen‹.« «Stimmt«, sagte Alleyn und rieb sich den Unterkiefer.

Mike sagte:»Er muss in die Garderobe gegangen sein, nachdem Barry George und Miss Bourne zu ihrem Auftritt gerufen worden waren.« «Genau. Er musste sich beeilen. Wenn der Inspizientengehilfe kam, musste er schon wieder in seinem eigenen Zimmer sein.« «Aber — was ist mit dem Tatmotiv?« «Das, mein lieber Mike, ist genau der Grund, weshalb wir um halb zwei Uhr morgens immer noch in diesem erbärmlichen Theater sitzen. Sie erhalten hier soeben einen Einblick in die trüberen Seiten der Arbeit einer Mordkommission. Wollen Sie nach Hause?« «Nein. Geben Sie mir noch einen Auftrag.« «Also gut. Etwa dreieinhalb Meter vom Souffleuraufgang steht eine Art Abfalleimer. Durchsuchen Sie ihn.« Um siebzehn Minuten vor zwei, als die Garderoben und der Durchgang abgesucht waren und Alleyn eine Pause angeordnet hatte, kam Mike mit verdreckten Händen zu ihm.» Heureka«, sagte er,»hoffe ich jedenfalls.« Alle gingen in Banningtons Zimmer. Alleyn breitete die Papierschnipsel, die Mike ihm gegeben hatte, auf dem Toilettentisch aus.

«Die hat jemand ganz nach unten in den Eimer geschoben«, sagte Mike.

Alleyn schob die Schnipsel umher. Thompson pfiff durch die Zähne. Bailey und Gibson brummten einander etwas zu.

«Da haben wir’s«, sagte Alleyn endlich.

Sie scharten sich um ihn. Der Brief, den H.J. Bannington sechs Stunden und fünfundvierzig Minuten zuvor hier an diesem Tisch geöffnet hatte, war wie ein Puzzle zusammengesetzt.

«Lieber H.J., nach Einsicht meines monatlichen Kontoauszugs stattete ich meiner Bank heute Morgen einen Besuch ab und bekam einen Scheck gezeigt, bei dem es sich zweifellos um eine Fälschung handelt. Deiner schauspielerischen Wandlungsfähigkeit, mein lieber H. J., kommt nur noch deine Verwegenheit als Schriftkünstler gleich. Doch Ruhm hat auch seine Nachteile. Die Kassiererin erkannte dich. Ich beabsichtige, gerichtliche Schritte einzuleiten.« «Ohne Unterschrift«, sagte Bailey.

«Sehen Sie sich die Visitenkarte bei den roten Rosen in Miss Bournes Zimmer an, signiert mit C.C. Eine sehr auffällige Handschrift. «Alleyn wandte sich an Mike.

«Wollen Sie immer noch Polizist werden?« «Ja.« «Gott steh Ihnen bei. Kommen Sie morgen in mein Büro, dann reden wir drüber.« «Danke, Sir.« Sie gingen hinaus, ließen einen Dienst habenden Wachtmeister dort zurück. Es war ein kalter Morgen.

Mike blickte zur Fassade des Jupiter-Theaters hoch. Er konnte die Schrift auf dem Neonschild gerade noch ausmachen: ICH FINDE SCHON ALLEIN HINAUS — von Anthony Gill.