173651.fb2 Im Anfang war der Mord - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 25

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Tod eines Zugvogelsvon J. A. JANCE

Judith Ann Jance (*1944) wurde in Watertown, South Dakota, geboren und studierte an der University of Arizona und am Bryn Mawr College. Sie lebt heute in Bellevue, Washington. Bevor sie anfing zu schreiben, arbeitete sie als High-School-Lehrerin, Bibliothekarin an einer Indianerschule und Versicherungsmaklerin, dem Beruf ihres Vaters. In einem Interview mit Rylla Goldberg (Speaking of Murder, Band II, 1999) schreibt sie die Fähigkeit, ihre Kriminalromane wirkungsvoll zu vermarkten, ihrer Erfahrung in der Familie zu.»Ich hatte schon früh Kontakt mit dem Verkaufen — selbst gemachten Schmuck, Pfadfinderinnenplätzchen, Zeitungsabonnements und Grußkarten für alle Anlässe. In unserer Familie waren wir alle mit Verkaufen beschäftigt; meine Mutter tischte uns beim Frühstück immer ›heiße Tipps‹ über neue Leute in der Stadt auf. Sobald mein erstes Buch erschienen war, machte ich da weiter, wo meine Mutter aufgehört hatte.« Die Protagonisten ihrer beiden Serien sind der polizeiliche Ermittler J.P. Beaumont in Seattle, erstmals in Until Proven Guilty (1985) und Sheriff Joanna Brady in Arizona, erstmals in Desert Heat (1993). Darüber hinaus verfasste Jance Kindersachbücher über Themen wie Entführung durch einen Elternteil, sexuelle Belästigung und Alkoholismus in der Familie. Sie bemerkt in Contemporary Authors (Band 61, aktualisierte Ausgabe 1998):»Das Schreiben bietet mir ein Mittel, meine eigene Geschichte neu zu schreiben, sowohl was die Kinderbücher betrifft wie auch die Thriller. Die Kinderbücher setzen sich mit schwierigen Themen auseinander … Die Thriller sind eskapistische Kost ohne konkreten gesellschaftlichen Wert. «Diese letzte Bemerkung (wenngleich vermutlich im Spaß gesagt) verlangt eine Erwiderung: Wie sollte eine Geschichte, die so unterhaltsam, so unvorhersagbar und so sensibel in der Beschreibung älterer Mitbürger ist wie» Tod eines Zugvogels«, keinen konkreten gesellschaftlichen Wert haben?

Agnes Barkley wusch ab. Sie wusch immer ab. Nach dem Frühstück. Nach dem Mittagessen. Nach dem Abendessen.

Seit sechsundvierzig Jahren wusch sie ab.»Immer «war vielleicht etwas übertrieben. Bestimmt war es auch ein-oder zweimal vorgekommen, dass sie ein bisschen geschludert hatte, alles bloß kurz ausgespült und im Spülbecken gestapelt hatte bis zur nächsten Mahlzeit.

Meistens hatte sie das Spülbecken aber leer geräumt und das Geschirr abgetrocknet und an seinen Platz zurückgestellt. Es war ihr Job. Ein Teil ihres Jobs.

Zu Hause in Westmont, Illinois, war das einzige Küchenfenster so hoch angebracht, dass Agnes überhaupt nicht hinausschauen konnte. Hier in Oscars Wohnmobil lag das Spülbecken direkt vor einem Fenster auf Augenhöhe. Agnes konnte davor stehen, die Hände tief ins warme, schaumige Spülwasser getaucht, und die Aussicht genießen. Während sie ihrer Hausarbeit nachging, entdeckte sie gelegentlich einen Habicht, der am grenzenlosen blauen Himmel seine Kreise zog. Abends schwelgte sie in den feuerroten Sonnenuntergängen, die mit ihrem atemberaubenden orangegelben Glühen die ganze Welt in Flammen zu setzen schienen.

Selbst nach all den Jahren, die sie nun schon hierher kamen, hatte sie sich immer noch nicht daran gewöhnt.

Jedes Mal, wenn Agnes aus dem Januarfenster blickte, musste sie wieder staunen. Statt der bleiernen grauen Wolkendecke und der durchdringenden Kälte Chicagos lag dort vor ihr eine andere Welt — die offene braune Wüstenlandschaft, gekrönt von einem weiten, sonnigen blauen Himmel.

Von der sauberen, klaren Luft konnte Agnes gar nicht genug kriegen. Sie schwelgte in den frischen, scharfkantigen Schatten, die die Wüstensonne auf die Erde warf, und von den Farben war sie schlichtweg begeistert.

Als sich ein paar Nachbarn zu Hause gewundert hatten, wie sie es drei Monate im Jahr an einem so öden, hässlichen Ort aushalten konnte, hatte Agnes ihnen vergeblich zu beschreiben versucht, wie wunderschön sich ein frisch ausschlagender Mesquitbaum von dem roten, von Felsen umschlossenen Erdreich abhob. Ihre Freunde hatten sie mitleidig angesehen, gelächelt, die Köpfe geschüttelt und gesagt, sie sei verrückt.

Und das war sie auch — sie war verrückt nach der Wüste.

Agnes liebte die kräftigen Wildpflanzen, die trotz des ständigen Feuchtigkeitsmangels hartnäckig wuchsen — die stachligen, langgliedrigen Ocotillobüsche und die zähen, gedrungenen Mesquitbäume, den majestätischen Saguarokaktus und den Feigenkaktus mit seinem Heiligenschein aus gefährlichen Dornen. Sie liebte es, einen Blick auf die Wildtiere der Wüste zu erhaschen – auf Kojoten, Eselhasen und Kängururatten. Sogar den Wüstenboden selbst liebte sie — die sanften Sand- und die felsgrauen Schiefertöne, die weiten, zerklüfteten Rot- und die beruhigenden, rundfelsigen Grauschattierungen, die über die weiten Strecken hin alle zu einem einheitlichen Blau verblassten.

Zunächst hatte sie entsetzliches Heimweh nach Westmont gehabt, aber das hatte sich inzwischen völlig geändert. So groß war Agnes Barkleys Liebesaffäre mit der Wüste, dass sie ihre Überwinterungsgewohnheiten völlig umkehren würde. Dann würden sie neun bis zehn Monate im Jahr in Arizona verbringen und nur zwei oder drei zu Hause in Illinois.

Niemand hätte über diese Wendung überraschter sein können als Agnes Barkley selbst. Als Oscar plötzlich davon geredet hatte, das Postamt zu verlassen, in Rente zu gehen und Zugvogel zu werden — ein Wohnmobil zu kaufen und in Arizona zu überwintern —, war Agnes absolut dagegen gewesen. Sie hatte geglaubt, sie würde diesen gottverlassenen Ort bestimmt hassen, und sich nach Kräften bemüht, Oscar umzustimmen. Als ob das jemand fertig brächte.

Schließlich hatte sie versöhnlich nachgegeben. Wie in jedem anderen Bereich ihres Ehelebens machte Agnes, so gut es eben ging, gute Miene zum bösen Spiel und fügte sich in ihr Schicksal, womit Oscar vermutlich fest gerechnet hatte. Nach sechsundvierzig Ehejahren hatte man nicht mehr so viele Geheimnisse.

Früher hätte sie widerstrebend in Kauf genommen, was Oscar eben wollte, und mehr oder weniger so getan, als gefiele es ihr. Aber wenn es um Arizona ging, brauchte sie nicht so zu tun, als ob. Agnes fand es einfach himmlisch – sobald man Mesa hinter sich gelassen hatte natürlich.

Oscar konnte Mesa auch nicht leiden. Dort gäbe es zu viele alte Leute, meinte er.

«Was glaubst du denn, was du bist?«, hatte Agnes ihn schon fragen wollen, obwohl sie es dann nicht getan hatte, denn eigentlich stimmte sie mit ihm überein — und zwar aus so ziemlich demselben Grund. Sie fand es bedrückend, all diese älteren Mitbürger Jahr für Jahr im gleichen Ort zusammengesperrt zu sehen.

Der Park an sich war recht nett, es gab ein Schwimmbad und alle dazugehörigen Annehmlichkeiten. Trotzdem hatte Agnes ein etwas klaustrophobisches Gefühl, vor allem weil ihr Wohnmobil nun schon zwei Jahre hintereinander neben dem von einem geschiedenen, komischen alten Kauz abgestellt war, der so laut schnarchte, dass der Lärm durch die Wand direkt bis ins Schlafzimmer der Barkleys drang — selbst wenn die Klimaanlage im Wohnmobil voll aufgedreht war und auf Hochtouren lief.

Sie zogen also los, um sich ein anderes Plätzchen für ihr Wohnmobil zu suchen, ein wenig abseits vom allgemeinen Trubel, wie Oscar sagte. So waren sie in Tombstone gelandet — der Stadt, die zu zäh zum Sterben ist. Na ja, wenn ein Ort schon Grabstein heißt. Oder eigentlich etwas außerhalb der Stadt, die zu zäh zum Sterben ist.

Der Trailerpark — so hieß er: OK-Trailerpark, Übernachtungsgäste willkommen! — lag einige Meilen außerhalb der Stadt. Die einzelnen Grundstücke hatte man der Wüste abgerungen, indem man an der nördlichen Flanke eines steilen Abhangs terrassenförmige Flächen angelegt hatte. Wer auch immer die Anlage entworfen hatte, war gekonnt vorgegangen. Jeder Platz lag so weit unterhalb des Nachbarn, dass jedes Wohnmobil und jeder Camper seine eigene, ungehinderte Aussicht auf den Hügel auf der gegenüberliegenden Seite eines steinigen Flussbetts besaß. Am westlichen Horizont erstreckten sich die Huachuca Mountains, ostwärts waren die Wheststones und dahinter die Chiricahuas zu sehen.

Der Blick auf die erhabenen violetten Gebirge in der Ferne gefiel Agnes Barkley an dem OK-Trailerpark am besten. Die Aussicht und die Weite und die saubere, klare Luft. Und die Vorstellung, dass sie beim Einschlafen keinen mehr schnarchen hören musste — keinen außer Oscar natürlich. An ihn war sie gewöhnt.

«Juhuuu, Aggie. Ist jemand da?«Gretchen Dixon klopfte an den Türrahmen. Ohne abzuwarten, ob Agnes aufmachte, stieß sie die Tür auf und steckte den Kopf herein.»Wie wär’s mit ein bisschen Gesellschaft?« Agnes wischte noch einmal bedächtig über die Arbeitsfläche, bevor sie den Spüllappen auswrang und unter dem Spülbecken verstaute.»Was gibt’s denn, Gretchen?« Mit ihren neunundsiebzig bevorzugte Gretchen Dixon hellgrüne Turnhemdchen und neonfarbene Bermudashorts — eine Farbkombination, die ihre braun gegerbte Haut am besten zur Geltung brachte. Das Haar trug sie in einem glatten Pagenkopf, der sich — abgesehen von der Farbe – seit vierzig Jahren nicht geändert hatte. Es gehörte zu den großen Ungerechtigkeiten im Leben, dass jemand wie Gretchen, die Jahre damit zugebracht hatte, ihre Lederhaut mit ultravioletten Strahlen zu durchtränken, barhäuptig und offenkundig kerngesund herumlief, während Aggie von Dr. Forsythe, ihrem Arzt zu Hause in Westmont, nachdem er ihr ein Fleckchen Hautkrebs weggebrannt hatte, strikt untersagt worden war, ohne Sonnenschutzcreme und Hut ins Freie zu gehen.

Agnes Barkley und Gretchen Dixon waren zwar miteinander befreundet, doch gab es einiges an Gretchen, was Agnes schlicht zur Weißglut brachte. Momentan war es vor allem die Tatsache, dass Gretchen trotz der Mittagssonne barhäuptig herumlief. Agnes hasste Hüte.

Gretchen lümmelte sich gegen die Schranktür und schüttelte eine Zigarette aus dem Päckchen, das sie immer in irgendeiner Tasche griffbereit hielt.»Na, wo steckt denn dein nichtsnutziger Gatte?«, fragte sie.

Nicht, dass es Gretchen sonderlich interessiert hätte, wo Oscar sich aufhielt. Sie mochte Oscar nicht besonders, ein Gefühl, das auf Gegenseitigkeit beruhte. Statt sich über ihre gegenseitige Antipathie Sorgen zu machen, fand Agnes sie merkwürdigerweise eher tröstlich.

Wahrscheinlich war es sogar eine sehr gute Idee, Freundinnen zu haben, von denen der eigene Ehemann nicht viel hielt. Vor Jahren hatte es einmal ein oder zwei Freundinnen gegeben, nach denen Oscar richtig verrückt gewesen war. Eigentlich zu verrückt — mit beinahe katastrophalen Folgen für alle Beteiligten.

«Stromert herum und sucht Pfeilspitzen, wie gewöhnlich«, erwiderte Aggie.»Am San Pedro draußen, glaube ich. Er ist mit Jim Rathbone gleich nach dem Mittagessen losgegangen. Rechtzeitig zum Abendessen wollen sie wieder zurück sein.« «Typisch«, sagte Gretchen geringschätzig, verdrehte die Augen und blies eine Rauchfahne in die Luft, während sie auf die Sitzbank am Tisch rutschte.

«Aggie«, sagte sie,»ist dir eigentlich klar, dass du hier im Umkreis die Einzige bist, die noch täglich drei volle Mahlzeiten kocht — Frühstück, Mittagessen und Abendessen?« «Warum nicht?«, wandte Agnes ein.»Ich koche gern.« Gretchen schüttelte den Kopf.»Du verstehst mich nicht, Aggie. Das rückt uns andere doch in ein schlechtes Licht.

Vielleicht solltest du Oscar mal sagen, dass er nicht als Einziger in den Ruhestand getreten ist. Es würde ihn nicht umbringen, wenn er dich ab und zu mal zum Essen ausführt. Er könnte dich im Wagon Wheel zum Abendessen einladen oder in einem von den neueren Lokalen drüben an der Allen Street.« «Oscar isst nicht gern das, was andere gekocht haben, der mag bloß mein Essen«, sagte Aggie.

Gretchen blieb unbeeindruckt.»Der mag dein Essen, weil er ein Geizhals ist. Oscar ist so knickrig, dass er nicht mal seine Fürze frei raus lässt.« Da musste Agnes Barkley laut herauslachen. Gretchen Dixon war die unglaublichste Freundin, die sie je gehabt hatte. Agnes hörte Gretchen schon deswegen gern zu, weil sie gespannt war, was sie als Nächstes loslassen würde.

Trotzdem konnte Agnes Gretchen den Ausfall gegen Oscar nicht durchgehen lassen. Er war immerhin ihr Ehemann.

«Du solltest nicht so streng mit ihm sein«, meinte sie tadelnd.

«Du würdest ihn schon mögen, wenn du dich ein bisschen mehr mit ihm abgeben würdest.« «Wie kann ich mich mit ihm abgeben?«, gab Gretchen sarkastisch zurück.»Wenn ich mal da bin, mosert er die ganze Zeit bloß herum, es wäre nicht damenhaft, wenn Frauen rauchen.« «Oscar ist als Baptist im Süden aufgewachsen«, entgegnete Agnes.

«Oscar Barkley ist hinterm Mond aufgewachsen.« Agnes wechselte das Thema.»Möchtest du etwas Limonade? Oder eine Tasse Kaffee?« «Aggie Barkley, ich bin nicht dein Mann. Ich bin doch nicht gekommen, um mich bei dir hinten und vorne bedienen zu lassen. Ich wollte dich was fragen. Der Seniorenverein in der Stadt hat für übermorgen einen Bus gechartert, um nach Phoenix ins Heard-Museum zu fahren. Ich und Dolly Ann Parker und Lola Carlson fahren mit. Wir haben uns gefragt, ob du vielleicht auch mitkommen willst.« «Du meinst, Oscar und ich?« «Nein, dich meine ich, du Dummchen. Aggie Barkley höchstselbst ganz allein. Wir wollen einmal übernachten.

Irgendwo, wo es nicht so teuer ist, besonders wenn wir alle in einem einzigen Zimmer unterkommen. Also, du siehst, es gäbe gar keinen Schlafplatz für Oscar. Das wird bestimmt toll. Bloß wir Mädels. Überleg dir’s. Es wird wie eine altmodische Nachthemdparty, wie früher — weißt du noch?« Agnes schüttelte bereits den Kopf.»Oscar wird mich nie mitlassen. Nie und nimmer.« «Lassen?«, kreischte Gretchen, als bereitete ihr schon das Wort Schmerzen.»Soll das etwa heißen, du in deinem Alter musst den Mann um Erlaubnis fragen, ob du über Nacht von zu Hause weg darfst?« «Nein, eigentlich nicht. Es ist bloß …« «Dann sag, du kommst mit. Der Bus ist bald voll, und Dolly Ann muss bis heute Nachmittag um fünf anrufen und für uns reservieren.« «Wohin soll es gehen, sagst du?« Gretchen grinste triumphierend und drückte ihre Zigarette in dem Aschenbecher aus, den Agnes ihr unauffällig hingeschoben hatte.

«Ins Heard-Museum. Nach Phoenix. Dort soll es jede Menge von diesem indianischen Zeug geben.

Gebrauchsgegenstände und Körbe und das alles. Ich bin nicht so furchtbar scharf auf Indianer — ich muss das nicht gesehen haben —, aber der Ausflug wird bestimmt toll.« Agnes dachte eine Weile nach. Gretchen sollte sie nicht für eine komplette Langweilerin halten.»Wenn wir bloß einmal übernachten, könnte ich vielleicht mit.« «Na siehst du, Mädchen«, sagte Gretchen.»Ich gehe gleich nach Hause und rufe Dolly Ann an. «Sie stand auf und ging beschwingt auf die Tür zu, dann blieb sie stehen und drehte sich zu Agnes um.

«Übrigens, hast du schon mal Strip-Poker gespielt?« «Ich?«, krächzte Agnes Barkley erschrocken.»Strip-Poker? Noch nie!« «Mach dich auf was gefasst, Schätzchen, du wirst es nämlich lernen. Der Trick dabei ist, dass man ganz viele Sachen anzieht, damit es nichts ausmacht, wenn man sie verliert.« Mit diesen Worten war Gretchen Dixon draußen und ging mit laut klatschenden Badeschlappen den Kiesweg hinunter, der zu ihrem eigenen, zwei Stellplätze weiter unten geparkten Wohnmobil führte. Agnes saß wie benommen am Küchentisch. Strip-Poker wollten sie spielen? Worauf um alles in der Welt hatte sie sich da bloß eingelassen?

Agnes war sich nicht sicher, ob sie fest zugesagt hatte, doch dass sie mitkommen würde, hatte sie wohl durchblicken lassen. Sie hätte jetzt noch ganz schnell aufspringen, die Tür aufreißen und zu Gretchen hinausrufen können, sie hätte es sich anders überlegt, doch sie tat es nicht. Stattdessen blieb sie wie ein Häufchen Elend sitzen, bis sie hörte, wie Gretchen ihre Fliegengittertür hinter sich zuknallte.

In der darauf folgenden Stille überlegte Agnes, was Oscar wohl sagen würde. Es war nun nicht so, als hätte sie ihn noch nie allein gelassen. Jahrelang hatte sie ein Wochenende im Mai — drei ganze Tage — auf einem Bibelseminar für Frauen verbracht, das jedes Jahr im YMCA-Camp am Lake Zurich nördlich von Buffalo Grove abgehalten wurde. Und immer hatte sie vor der Abreise so viel Essen gekocht, eingefroren und mit Etiketten versehen, dass es nicht drei Tage, sondern zwei Wochen gereicht hätte. Oscar und die Mädchen hatten es nur noch auftauen und heiß machen müssen.

Nun, zwischen einem Bibelseminar in einem YMCA-Camp und vier alten Damen, die in einem billigen Hotelzimmer herumsaßen und Strip-Poker spielten, war nun doch ein Unterschied, aber das mit dem Poker brauchte Oscar ja nicht zu erfahren. Allein die Vorstellung, dass Agnes mit Gretchen Dixon und ihren Freundinnen irgendwohin fuhr, reichte vielleicht schon, um Oscar aus der Haut fahren zu lassen.

Und wenn schon? dachte Agnes Barkley mit plötzlicher Entschlossenheit. Was dem einen recht ist, kann dem anderen nur billig sein, oder? Schließlich hielt sie es ihm auch nie vor, wenn er mit Jimmy Rathbone, seinem wichtigtuerischen alten Kumpel, stundenlang durch die Wüste streifte, oder? Wenn es Oscar Barkley nicht passte, dass sie mit Gretchen nach Phoenix fuhr, konnte sie ihm auch nicht helfen.

Das dachte Agnes um zwei Uhr nachmittags, war bis zum Abend aber etwas versöhnlicher gestimmt. Nicht, dass sie es sich etwa anders überlegt hätte. Sie war immer noch fest entschlossen, zu fahren, hatte sich jedoch überlegt, wie sie es Oscar beibringen könnte.

Ihr erster Vorstoß war wie immer das Essen. Sie machte ihm sein Lieblingsabendessen — italienischen Hackbraten mit Ofenkartoffeln und klein geschnittenen grünen Bohnen aus der Tiefkühltruhe, einen gemischten Salat mit ihrem selbst gemachten Thousand-Island-Dressing und zum Nachtisch eine Zitronenbaisertorte. Agnes staunte immer wieder, wie viel Essen sie der kleinen kombüsenartigen Küche mit dem winzigen Backofen und Herd entlocken konnte. Das Einzige, was man dazu brauchte, war ein bisschen Talent zum Kochen und zur richtigen Zeiteinteilung.

Um sechs war das Abendessen fertig, aber Oscar war noch nicht zu Hause. Um halb sieben und um sieben war er immer noch nicht da. Um Viertel nach sieben, als der Hackbraten zäh und ausgetrocknet im lauwarmen Backofen lag und die Ofenkartoffeln in ihren verkrusteten Schalen schon völlig zusammengeschrumpft waren, hörte Agnes den Honda endlich draußen vor dem Wohnmobil knirschend zum Stehen kommen. Inzwischen hatte sie Teller und Besteck beiseite geschoben und legte auf dem Tisch in der Küchennische gerade eine Patience.

Als Oscar durch die Tür trat, hob Agnes nicht einmal den Blick.

«Entschuldige, dass ich so spät dran bin, Aggie. «Er hängte erst seine Jacke und die Schildmütze in den Wandschrank und meinte dann:»Wir haben uns irgendwie ein bisschen verzettelt, glaube ich.« «Sieht ganz so aus«, gab sie kühl zurück.

Mit einem besorgten Blick in ihre Richtung eilte Oscar ans Spülbecken, rollte die Ärmel hoch und begann, sich die Hände zu waschen.»Hmm, riecht gut«, sagte er.

«Gut war es vielleicht einmal«, erwiderte sie.»Bis es auf den Tisch kommt, wird es wohl schon ziemlich hinüber sein.« «Entschuldige«, murmelte er noch einmal.

Bedächtig sammelte sie die Patiencekarten Reihe um Reihe ein und rückte dann Teller und Besteck wieder an ihre jeweiligen Plätze.

«Setz dich, damit du aus dem Weg bist«, befahl sie.

«Hier ist nicht genug Platz, dass wir beide zwischen Herd und Tisch herumwuseln, während ich mich bemühe, was zu essen auf den Tisch zu stellen.« Gehorsam ließ sich Oscar auf der Sitzbank nieder.

Während Agnes das lauwarme Essen vom Herd zum Tisch brachte, befreite er sich mühsam von der Gürteltasche aus Nylon, die er gewöhnlich auf seinen Spaziergängen umgeschnallt hatte. Agnes achtete nicht auf das, was er tat, doch als sie die letzte Servierschüssel auf den Tisch gestellt hatte und sich setzen wollte, sah sie einen kleinen irdenen Topf neben ihrem Teller stehen.

Auf ihren gemeinsamen Reisen durch den Südwesten hatte Agnes solche mexikanischen ollas schon in verschiedenen Antiquitätenläden gesehen. Dieser hier war wie die meisten ollas geformt, mit einem runden Boden und einem kleinen, schmalhalsigen Rand. Die kommerziellen Töpfchen waren im Allgemeinen aber ohne Zeichnung und aus glattem, rötlich braunem Ton gefertigt. Dieser hier war viel kleiner als alle, die sie je zum Kauf angeboten gesehen hatte. Er war grau — fast schwarz — mit ein paar leicht eingeritzten, kaum sichtbaren weißen Zeichen.

«Was ist das?«, fragte sie, setzte sich an ihren Platz und beugte sich herüber, um den Topf besser begutachten zu können.

«Aggie, mein Schatz«, sagte Oscar,»ich glaube, du hast einen Lottoschein mit Hauptgewinn vor dir.« Agnes Barkley richtete sich auf und starrte ihren Mann über die winzige Tischfläche hinweg an. Es war eigentlich nicht Oscars Art, Witze zu machen. Durch die Arbeit im Postamt all die Jahre hatte sich der Mann den Humor so ziemlich abgewöhnt. Doch als sie sein Gesicht sah, fuhr Agnes zusammen. Oscar strahlte regelrecht. Er erinnerte sie an den grinsenden jungen Mann, der vor sechsundvierzig Jahren am Traualtar auf sie gewartet hatte.

«So einen Lottoschein habe ich noch nie gesehen«, erwiderte Agnes mit einem verächtlichen Schniefen.

«Nimm dir vom Hackbraten und gib ihn rüber, bevor er noch kälter wird.« «Agnes«, sagte er, ohne einen Finger zur Platte hin zu rühren,»du verstehst nicht. Ich glaube, der ist sehr wichtig. Und sehr wertvoll. Ich habe ihn heute gefunden.

Am San Pedro gleich südlich von Saint David. Da ist eine Stelle, wo bei einer der letzten Winterfluten wohl ein Einsturz passiert ist. Dieser Topf lag einfach dort, ragte ein Stückchen aus dem Sand und wartete auf einen wie mich, der vorbeikommt und ihn mitnimmt.« Agnes betrachtete den Topf nun mit etwas mehr Respekt.»Dann glaubst du also, er ist alt?« «Sehr.« «Und vielleicht viel Geld wert?« «Massenhaft. Na ja, massenhaft vielleicht nicht.« Unnötige Übertreibungen gestattete Oscar Barkley sich nie.»Aber genug, um uns das Leben sehr viel leichter zu machen.« «Das ist doch bloß ein kleiner Klumpen Ton. Wieso sollte der was wert sein?« «Weil er noch ganz ist, du Dummchen«, erwiderte er bestimmt. Agnes war so immun gegen Oscars übliche Arroganz, dass sie sie nicht einmal bemerkte, geschweige denn sich etwas daraus machte.

«Würdest du gelegentlich Archaeology oder Discovery oder den National Geographic lesen«, fuhr er fort,»oder dir wenigstens die Bilder anschauen, dann könntest du sehen, dass solche Sachen in Scherben gefunden werden.

Da bringen Leute Monate und Jahre damit zu, alles wieder zusammenzusetzen.« Agnes streckte die Hand nach dem Topf aus. Sie hatte vorgehabt, ihn genauer zu untersuchen, doch kaum hatte sie ihn berührt, überlegte sie es sich aus einem unerfindlichen Grund plötzlich anders und schob ihn weg.

«Sieht mir trotzdem nicht nach was Besonderem aus«, sagte sie.

«Und wenn du keinen Hackbraten willst, dann gib ihn doch bitte weiter, ja?« Das Grinsen schwand aus Oscars Gesicht. Ohne ein weiteres Wort reichte er ihr die Platte. Agnes merkte sofort, dass sie ihn verletzt hatte. Normalerweise brauchte sie diese verwundete Miene nur zu sehen, um sogleich weich zu werden und es wieder gutmachen zu wollen, doch heute Abend fühlte sich Agnes selbst irgendwie noch zu verletzt. Sie war nicht in der Stimmung, um Entschuldigung zu bitten.

«Übrigens«, sagte sie ein paar Minuten später, während sie sich eine dicke Schicht Margarine auf eine eiskalte Kartoffel schmierte,»Gretchen und Dolly Ann haben mich eingeladen, übermorgen mit den Senioren eine Busfahrt nach Phoenix zu machen. Ich habe gesagt, ich komme mit.« «Ach? Für wie lang?«, wollte Oscar wissen.

«Bloß über Nacht. Wieso, hast du ein Problem damit?« «Nein. Überhaupt kein Problem.« Er sagte es so leichthin — es rutschte ihm so glatt heraus

–, dass Agnes es zunächst fast überhörte.»Heißt das, du hast nichts dagegen, dass ich fahre?« Oscar musterte sie unbestimmt, als wäre er in Gedanken ganz woanders.»O nein«, sagte er.»Überhaupt nicht. Fahr du nur und viel Spaß auch. Bloß eins noch.« Agnes blickte ihn scharf an.»Was denn?« «Sag zu niemandem ein Wort über den Topf. Nicht zu Gretchen und nicht zu Dolly Ann.« «Das ist wohl euer kleines Geheimnis, deins und Jimmys, was?«, fragte Agnes.

Oscar schüttelte den Kopf.»Jimmy war gut eine halbe Meile weiter flussabwärts, als ich den Topf gefunden habe«, sagte er.»Ich habe ihn abgewischt und gleich eingesteckt. Der weiß nicht mal, dass ich ihn gefunden habe, und ich werde es ihm auch nicht sagen. Schließlich bin ich derjenige, der den Topf gefunden hat. Wenn sich herausstellen sollte, dass er etwas wert ist, hat es doch keinen Sinn, es mit jemand zu teilen, der beim Finden gar nicht geholfen hat, oder was meinst du?« Agnes dachte einen Augenblick darüber nach.»Nein«, sagte sie schließlich.»Wohl nicht.« Der Hackbraten schmeckte wie altes Schuhleder. Die Kartoffeln waren noch schlimmer. Und wenn man die grünen Bohnen kaute, knallten sie einem wie ein paar alte Gummibänder gegen die Zähne. Lustlos und ohne Appetit und ziemlich schweigsam stocherten Oscar und Agnes in ihrem Essen herum. Schließlich stand Agnes auf und begann das Geschirr abzuräumen.

«Wie wär’s mit Zitronentorte«, bot sie endlich versöhnlich an.

«Wenigstens die soll man ja kalt servieren.« Gleich nachdem die Zehnuhrnachrichten im Fernsehen zu Ende waren, gingen sie ins Bett. Oscar schlief sofort ein, fest in der Bettmitte platziert und wie ein Sägewerk schnarchend, während Agnes sich an ihre Seite der Matratze klammerte und ein Kissen übers Ohr hielt, um den Lärm teilweise auszublenden. Schließlich schlief sie ebenfalls ein. Der Morgen dämmerte schon fast, als sie von dem Traum geweckt wurde.

Agnes stand auf einer kleinen Hügelkuppe und sah einem kleinen Kind zu, das im Sand spielte. Das Kind – offenbar ein kleines Mädchen — war keines von Agnes Barkleys eigenen Kindern. Ihre Mädchen waren beide hellhäutig und blond. Dieses Kind war braunhäutig und hatte eine dichte, schwarze Haarmähne und weiße, glänzende Zähne. Die Kleine badete im warmen Sonnenlicht, lachte und schmunzelte vor sich hin. Sie drehte sich im Kreis herum, wirbelte die Erde um sich auf und sah eigentlich genauso aus wie ein kindgroßer Wirbelwind, der ungestüm über den Wüstenboden tanzte.

Plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, verdüsterte sich die Szene, als hätte sich eine riesige Wolke vor die Sonne geschoben. Weil sie ahnte, dass Gefahr drohte, rief Agnes dem Kind zu:»Komm hierher. Schnell.« Die Kleine blickte fragend zu ihr hinauf, schien jedoch nicht zu begreifen, wovor Agnes sie warnen wollte, und rührte sich nicht. Da hörte Agnes das Geräusch, hörte das unbeschreibliche Dröhnen und Rauschen des Wassers und wusste, dass eine plötzliche Überschwemmung von irgendwoher flussaufwärts auf sie zukam.

«Komm hierher!«, rief sie erneut, diesmal drängender.

«Sofort!« Die Kleine sah wieder zu Agnes auf und dann rasch zur Seite. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie die undurchdringliche Wand aus schmutzig braunem Wasser erblickte, die meterhoch auf sie zurollte. Die Kleine richtete sich auf und wollte wegrennen, hin zu Agnes, in Sicherheit. Doch dann, als sie schon fast aus der Gefahrenzone war, blieb sie stehen, drehte sich um und lief zurück. Sie beugte sich hinunter, um etwas aus dem Schlamm zu bergen — etwas Kleines, Rundes, Schwarzes –

, und dann kam das Wasser. In hilflosem Entsetzen musste Agnes zusehen, wie das Wasser über ihr zusammenschlug.

Innerhalb von Sekunden war das Kind fortgerissen und nicht mehr zu sehen.

Agnes wachte schweißgebadet auf, wie vor Jahren, als sie die Wechseljahre durchgemacht hatte. Lange nachdem ihr Herz schon nicht mehr so heftig pochte, war der lebhafte, allzu wirklichkeitsnahe Traum noch bei ihr.

Stammte der Topf etwa von dort? fragte sie sich. War die Besitzerin des Topfes, eine kleine Indianerin — niemand in Westmont sagte» Native American«— vor den entsetzten Augen ihrer Mutter in den Tod gerissen worden? Und wenn es stimmte, wenn das, was Agnes im Traum gesehen hatte, wirklich geschehen war, musste es schon lange her sein. Wie war es möglich, dass es an sie weitergeleitet wurde — an eine im Glauben feste Lutheranerin aus Illinois, die nicht zu Trugbildern oder wilden Höhenflügen der Fantasie neigte?

Agnes kroch aus dem Bett, ohne den schlafenden Oscar zu stören. Umständlich setzte sie die Brille auf, schlüpfte in ihren Morgenmantel und ging ins Bad. Als sie wieder herauskam, blieb sie am Küchentisch stehen, wo der kleine Topf ganz für sich allein stand, in silbernes Mondlicht getaucht. Es war, als glühte und schimmerte er in dem seltsamen silbrigen Licht, doch statt sich vor ihm zu fürchten, fühlte Agnes sich zu ihm hingezogen.

Ohne nachzudenken, setzte sie sich an den Tisch, zog den Topf an sich und ließ die Finger forschend über die glatte, kühle Oberfläche gleiten. Wie formte man eigentlich so einen Topf? fragte sich Agnes. Wo fand man den Ton? Wie wurde er gebrannt? Wofür wurde der Topf verwendet? Es gab keine Antworten auf diese Fragen, doch empfand Agnes es schon allein als tröstlich, dass sie sie gestellt hatte. Kurz darauf schlüpfte sie wieder ins Bett und schlief tief und fest bis weit nach der Zeit, zu der sie gewöhnlich aufstand und Kaffee machte.

Zwei Abende später saß Agnes Barkley in dem Hotel in Phoenix und trug nur noch Büstenhalter und Schlüpfer, als Gretchen Dixons verärgerte Stimme sie wieder zu sich brachte.»Na?«, drängte Gretchen.»Willst du jetzt eine Karte oder nicht, Aggie? Entweder du machst mit, oder du bist raus.« Agnes legte ihre Karten hin.»Ich bin raus«, sagte sie.

«Ich bin nicht so gut bei dem Spiel. Ich kann mich nicht konzentrieren.« «Wir hätten lieber Hearts spielen sollen«, meinte Lola versöhnlich.

«Strip-Hearts ist nicht das Gleiche wie Strip-Poker«, fuhr Gretchen sie an.»Wie viele Karten?« «Zwei«, antwortete Lola.

Agnes stand auf und zog ihr Nachthemd und den Morgenmantel an. Sie hatte Gretchens Rat befolgt und das Spiel mit so viel Kleidungsstücken begonnen, wie sie tragen konnte. Es hatte nichts genützt. Obwohl sie sonst bei Spielen recht schnell lernte, war sie bei den Feinheiten von Poker hoffnungslos verloren. Und jetzt, wo eine dicke Wolke von Zigarettenrauch das Zimmer einnebelte, war sie froh, nicht mehr mitspielen zu müssen.

Agnes öffnete die Schiebetür und schlüpfte hinaus auf den winzigen Balkon. Obwohl die Temperatur um die zehn Grad betrug, war es gar nicht so kalt — im Vergleich zu Chicago im Januar. Es kam ihr sogar regelrecht mild vor. Sie blickte auf den spärlich fließenden Verkehr hinaus, der an der Grand Avenue auf grünes Licht wartete, und hörte das leise, stetige Dröhnen der Lastwagen auf dem Black Canyon Freeway hinter sich. Das Dröhnen erinnerte sie wieder an das Geräusch, mit dem das Wasser über dem kleinen Mädchen zusammengeschlagen war und es überspült hatte.

Obwohl ihr nicht kalt war, fröstelte Agnes. Sie ging wieder hinein. Sie stopfte sich drei Kissen in den Rücken und setzte sich mit einem Buch vor der Nase aufs Bett.

Die anderen Frauen dachten vielleicht, sie würde lesen, das tat sie aber nicht, Agnes Barkley dachte über plötzliche Überschwemmungen nach — erinnerte sich an die echte, die sie und Oscar letzten Winter gesehen hatten.

Der Januar war einer der feuchtesten seit Beginn der Aufzeichnungen gewesen. Vom Aushilfsmanager des Trailerparks, der immer von Benson herüberpendelte, hatten sie eines Nachmittags erfahren, dass man demnächst drüben bei Saint David den Scheitel einer Flutwelle erwartete und dass sich der Anblick wahrscheinlich lohnen würde, wenn sie sich beeilten. Sie hatten direkt neben der Brücke in Saint David gestanden, als die Wasserwand auf sie zugerollt kam, ein wildes Durcheinander von Autoreifen und verrosteten Kotflügeln und sogar einen alten Kühlschrank vor sich her schiebend, der so mühelos auf den tosenden Wassermassen auf und ab hüpfte, als wäre er ein Flaschenkorken, der in einer Badewanne schwamm.

Agnes Barkleys Traum neulich nachts — dieser immer noch allzu lebhafte Traum — war vielleicht nicht mehr als eine Fortsetzung dieses Erlebnisses gewesen. Inzwischen war sie jedoch überzeugt, dass es mehr war als das, besonders nach dem, was sie an dem Tag im Heard-Museum gelernt hatte. Genau wie Gretchen Dixon ihr gesagt hatte, war das Museum voll bis obenhin mit Sachen gewesen, die Agnes nun korrekterweise Gebrauchsgegenstände der Native Americans nannte – Körbe, Keramik und Perlarbeiten.

Ihr Grüppchen war von einer schnell sprechenden Führerin durch die Ausstellung begleitet worden, die wenig Zeit und Geduld für Bummler und Fragen aufbrachte. Danach, während die anderen im Museumsshop herumstöberten oder sich nach Erfrischungen anstellten, kehrte Agnes noch einmal zu einem bestimmten Schaukasten zurück, in dem sie einen einzelnen Topf gesehen hatte, der dem, den sie zuletzt auf dem Küchentisch im Wohnmobil hatte stehen sehen, sehr

ähnlich sah.

Im Schaukasten war eine Ansammlung von Gebrauchsgegenständen der Tohono O’othham ausgestellt.

Von einigen der Korbwaren waren nur noch Fragmente erhalten. Und es war genau, wie Oscar gesagt hatte: An allen Töpfen zeigte sich, dass sie zerbrochen und später wieder zusammengesetzt worden waren. Was Agnes zu diesem Schaukasten hinzog, war nicht nur der Topf, sondern auch der Schautext an einer benachbarten Wand, auf dem erläutert wurde, dass die Töpfe nach dem Tod der Töpferin immer zerstört wurden, damit ihr Geist nicht für immer in den Stücken eingesperrt war, die sie hergestellt hatte.

Oscars Topf war ganz geblieben, obwohl die Person, die ihn gefertigt hatte, bestimmt längst tot war. Könnte es sein, dass der Geist der Töpferin noch irgendwie eingesperrt war in diesem kleinen, schwarz gewordenen Tonklumpen? Hatte die Mutter dieses Töpfchen vielleicht als eine Art Spielzeug für ihr Kind gemacht? War es deswegen für das kleine Mädchen so kostbar gewesen?

Ließ sich dadurch erklären, weshalb die Kleine beim vergeblichen Versuch, es zu retten, in den sicheren Tod gesprungen war? Und war es dem ruhelosen Geist der Mutter gelungen, eine Vision heraufzubeschwören, um Agnes den Horror dieses schrecklichen Ereignisses mitzuteilen?

Während sie im Museum stand und den beleuchteten Schaukasten anstarrte, konnte Agnes plötzlich deutlich sehen, was mit ihr geschehen war. Sie hatte nicht so sehr einen Traum geträumt als vielmehr eine Vision gehabt.

Und nun, zwei Tage später, mit dem Buch dicht vor dem Gesicht, während die drei auf der anderen Seite des Zimmers weiterpokerten, versuchte sich Agnes zusammenzureimen, was das alles zu bedeuten hatte und was sie unternehmen sollte.

Das Pokerspiel endete mit einer erbitterten Diskussion, als Lola und Dolly Ann, beide fast vollkommen entkleidet, die vollständig bekleidete Gretchen der Schummelei bezichtigten. Die drei anderen Frauen stritten sich immer noch darüber, als sie sich zu Bett legten. Da sie nicht in den Streit hineingezogen werden wollte, machte Agnes die Augen zu und stellte sich schlafend.

Nachdem die anderen schon lange still waren, lag Agnes noch wach und rätselte, was sie einer Frau wohl schuldig sein konnte, die sie nie gesehen, durch deren Augen sie jedoch jenen längst vergangenen und doch allzu gegenwärtigen Tod durch Ertrinken beobachtet hatte. Das Kind, das in dem tosenden braunen Wasser weggespült worden war, war nicht Agnes Barkleys eigenes Kind, und doch bereitete der Tod der kleinen Indianerin Agnes ebenso viel Kummer, als wäre es eines von ihren eigenen gewesen. Es tagte bereits, als sie zu einer Entscheidung kam und endlich einschlafen konnte.

Es schien wie eine Ewigkeit, bis der Ausflugsbus sie endlich nach Tombstone zurückgebracht hatte. Oscar war in die Stadt gekommen, um Agnes vom Bus abzuholen. Er begrüßte sie mit einem triumphierenden Grinsen und einem Arm voll Leihbücher, die auf dem Rücksitz des Honda hin und her rutschten.

«Ich bin kurz nach Tucson gefahren, während du weg warst«, erklärte er.»Ausnahmsweise habe ich diese Bücher aus der Unibücherei geliehen bekommen. Warte nur, bis ich es dir zeige.« «Ich will es gar nicht sehen«, erwiderte Agnes.

«Ach, und wieso nicht? Ich habe die halbe Nacht darüber gebrütet und heute Morgen wieder, bis mir fast die Augen herausgefallen sind. Der Topf, den wir da haben, ist tatsächlich ein Vermögen wert.« «Du wirst ihn zurückbringen müssen«, sagte Agnes ruhig.

«Zurückbringen?«, wiederholte Oscar fassungslos.»Was ist denn mit dir los? Bist du verrückt geworden oder was?

Wir brauchen bloß diesen Topf zu verkaufen, dann haben wir für immer ausgesorgt.« «Dieser Topf darf nicht verkauft werden«, sagte Agnes unbeirrt.

«Du wirst ihn dahin zurückbringen müssen, wo du ihn gefunden hast, und ihn zerbrechen.« Kopfschüttelnd biss Oscar die Zähne zusammen, legte abrupt den Gang ein und sagte kein Wort mehr, bis sie im Trailerpark angekommen waren und die Bücher und Agnes Barkleys Gepäck nach drinnen geschleppt hatten.

«Was zum Teufel ist eigentlich in dich gefahren?«, wollte er schließlich wissen, seine Stimme gepresst vor kaum unterdrückter Wut.

Agnes merkte, dass sie dem Mann eine Erklärung schuldete.»In dem Topf ist der Geist einer Frau eingesperrt«, begann sie.»Wir müssen ihn herauslassen.

Die einzige Möglichkeit ist, den Topf zu zerbrechen. Sonst bleibt sie für immer dort eingesperrt.« «Das ist der verrückteste Hokuspokus-Humbug, den ich je gehört habe. Wo hast du das denn aufgeschnappt?

Klingt wie etwas, das sich eine Spinnerin wie diese Gretchen Dixon ausdenken würde. Du hast ihr doch nichts davon erzählt, oder?« «Nein. Ich habe etwas darüber gelesen. In einem Schaukasten im Museum, aber ich glaube, ich wusste es schon, ehe ich es dort gesehen habe.« «Du wusstest es schon?«Oscar schnaubte verächtlich.

«Was soll denn das jetzt heißen? Willst du etwa behaupten, der Geist, der angeblich in meinem Topf eingesperrt ist, hat dir gesagt, ich müsste ihn zerbrechen?« «Stimmt. Und ihn dahin zurückbringen, wo du ihn gefunden hast.« «Einen Dreck werde ich tun!«, knurrte Oscar.

Er stapfte nach draußen und blieb dort, tat so, als prüfte er unter der Kühlerhaube des Honda den Wasser- und Ölstand. Oscar mochte das Schlachtfeld zeitweilig verlassen haben, doch wusste Agnes, dass der Kampf alles andere als vorbei war. Sie setzte sich und wartete ab. Es war zwei Uhr nachmittags — Zeit, die Vorbereitungen fürs Abendessen zu treffen —, doch sie rührte sich nicht, weder in Richtung Herd noch in Richtung Kühlschrank.

Sechsundvierzig Jahre lang war zwischen ihnen alles in Ordnung gewesen. Jedes Mal, wenn ein Kompromiss erforderlich gewesen war, hatte Agnes ihn fröhlich und klaglos gemacht. So war es immer gewesen, und folglich rechnete Oscar jetzt auch wieder damit. Doch diesmal – dieses eine Mal — war Agnes Barkley entschlossen, standhaft zu bleiben. Dieses eine Mal würde sie nicht nachgeben.

Nach einer halben Stunde kam Oscar wieder herein.

«Schau mal«, sagte er und gab sich liebenswürdig und reumütig.»Tut mir Leid, dass ich ausgerastet bin. Du kanntest noch nicht die ganze Geschichte, weil ich noch nicht dazu gekommen bin, sie dir zu erzählen. Während ich in Tucson war, habe ich einige vorläufige Erkundigungen über den Topf eingezogen.

Selbstverständlich anonym. Hypothetisch sozusagen. Zum Schluss habe ich mich mit einem Kerl unterhalten, der in der Nähe von Oracle einen kleinen Handelsposten hat. Der handelt mit so was und sagt, er könnte uns einen Haufen Geld dafür beschaffen. Du errätst nie, wie viel.« «Wie viel?« «Hunderttausend. Auf die Kralle. Das kriegen wir, nachdem der Zwischenhändler seinen Anteil abgezweigt hat. Und das ist das absolute Minimum. Er sagt, wenn die Sammler sich am Ende alle überbieten, könnte der Preis noch viel höher steigen. Kannst du dir vorstellen, was wir mit so einem Riesenbatzen Geld alles machen können?« «Es ist mir egal, wie viel Geld es ist«, erwiderte Agnes ungerührt.

«Das ist es nicht wert. Wir müssen sie herauslassen, Oscar. Sie ist seit Hunderten von Jahren dort eingesperrt.« «Eingesperrt?«, fragte Oscar.»Ich will dir mal was sagen von wegen eingesperrt. Eingesperrt ist man, wenn man dreißig Jahre lang jeden Tag zur Arbeit muss, bei Regen und Sonnenschein, und hofft, dass einem nicht doch ein gottverdammter Köter ein Stück aus dem Bein rausreißt. Eingesperrt ist man, wenn man hofft, dass man nicht auf irgendeiner vereisten Veranda ausrutscht und hinfällt und sich das verdammte Genick bricht.

Eingesperrt ist man, wenn man dauernd arbeitet und knausert und bloß hofft, dass man genug Geld auf die Seite gelegt hat, um sich nicht eines Tages Sorgen machen zu müssen, dass es nicht mehr bis zum Ende reicht. Und jetzt, wo es zum Greifen nah ist, willst du — « Er brach mitten im Satz ab. Sie saßen einander in der winzigen Küchennische gegenüber. Agnes Blick kreuzte sich mit dem von Oscar, und sie sah ihn unverwandt an, ganz ruhig und unerschütterlich. Er konnte erkennen, dass keines seiner Worte auch nur den geringsten Eindruck auf sie gemacht hatte.

Plötzlich war ihm alles zu viel. Wie konnte Agnes ihn nur so im Stich lassen? Oscar sprang auf die Füße, das Gesicht von unbändiger Wut verzerrt.»Wenn das so ist, Aggie …« Er hob die Hand, als ob er sie schlagen wollte. Einen Augenblick lang wartete Agnes ängstlich auf den Schlag.

Er kam nicht. Stattdessen traten Oscars Augen aus den Höhlen. Die unausgesprochene Drohung erstarb ihm in der Kehle. Der einzige Laut, der sich seinen verzerrten Lippen entrang, war ein gepresstes Schluchzen.

Langsam, wie ein mächtiger alter Baum, der der Holzfällersäge zum Opfer fällt, begann Oscar Barkley umzukippen. Stocksteif und reglos, wie die Indianerstatue vor dem Zigarrenladen, wankte er auf die Wand zu und prallte dann am Schrank ab. Erst in dem Moment wich die plötzliche schreckliche Starrheit aus seinem Körper. Seine Knochen schienen sich in Wackelpudding zu verwandeln.

Wie eine schlaffe Stoffpuppe rutschte er am Schrank entlang nach unten.

Erst als er auf dem Boden gelandet war, war ein Laut zu vernehmen, und dann auch nur ein dumpfer Knall — wie wenn jemand eine hüfthohen Sack Mehl fallen lässt.

Agnes sah ihn fallen und tat nichts. Als die Ermittlungsbeamten sie später zu dem zehnminütigen Intervall zwischen der Zeit, als Oscars Uhr zerbrochen und stehen geblieben war, und der Zeit, zu der ihr Anruf bei der Notrufzentrale eingegangen war, befragten, konnte sie es ihnen nicht erklären. Nicht dass zehn Minuten hin oder her so viel ausgemacht hätten. Oscar Barkleys erste und einzige Herzattacke hatte sich sofort als tödlich erwiesen.

O doch, er war gewarnt worden, den Fettverbrauch zu reduzieren und seinen Cholesterinspiegel zu senken, aber Oscar hatte ärztliche Ratschläge ja noch nie sehr ernst genommen.

Am Tag nach der Trauerfeier steckte Gretchen Dixon den Kopf zur Tür des Wohnmobils herein, als Agnes sich in Jeans, Flanellbluse und Strohhut gerade die Tennisschuhe zuband.

«Wie geht’s?«, fragte Gretchen.

«Gut«, antwortete Agnes abwesend.»Wirklich, es geht mir gut.« «Du siehst aus, als wolltest du irgendwohin.« Agnes deutete mit dem Kopf zu dem Metallkästchen mit der Asche hinüber, das der Leichenbestatter ihr gegeben hatte.»Ich gehe raus, die Asche verstreuen«, sagte sie.

«Oscar hat immer gesagt, er wollte mal an den Ufern des San Pedro ruhen.« «Möchtest du, dass ich mitkomme?«, fragte Gretchen.

«Nein, danke dir. Ich schaffe es schon.« «Geht denn sonst noch jemand mit? Die Mädchen vielleicht?« «Die sind heute früh wieder zurückgeflogen.« «Sag bloß nicht, dass dir dieser Schlingel Jimmy Rathbone schon Avancen macht.« «Ich gehe allein«, erwiderte Agnes bestimmt.»Ich will niemanden dabeihaben.« «Ach«, sagte Gretchen.»Entschuldige.« Als Agnes Barkley ein paar Minuten später im Honda vom Wohnmobil wegfuhr, sah es so aus, als wäre sie ganz allein im Auto. Seltsamerweise fühlte sie sich aber überhaupt nicht allein. Und obwohl Oscar ihr gar nicht gesagt hatte, wo genau am Flussufer er den kleinen Topf gefunden hatte, fand Agnes mühelos den Weg dorthin – fast war es, als wiese ihr jemand jeden einzelnen Schritt.

Kaum hatte sie die brüchige Uferböschung erreicht, sank Agnes Barkley auf die Knie. Es war still dort, die spärlichen Reste des Flusses tröpfelten in seinem sandigen Bett etwa dreißig Schritte hinter ihr. Das einzige Geräusch war das leise Dröhnen einer Militärmaschine vom Luftwaffenstützpunkt Davis-Monthan hoch über ihr. Ein Teil von Agnes hörte das Geräusch und ordnete es ein – ein Flugzeug. Ein anderer Teil von ihr schreckte auf wie ein aufgescheuchter Hase, als das, was sie für eine Biene hielt, sich als etwas entpuppte, was völlig außerhalb ihres Verstandes und Begriffsvermögens lag.

Als Agnes mit Oscars Asche nach Hause gekommen war, hatte sie den kleinen Topf sofort in die Metallurne gestellt. Jetzt holte sie ihn mit zitternden Fingern heraus.

Einen langen Augenblick drückte sie ihn liebevoll an die Brust. Dann, während ihr die Tränen übers Gesicht strömten, zertrümmerte sie den Topf in Stücke.

Zertrümmerte ihn an der Metallurne, die Oscar Barkleys eben erst abgekühlte Asche enthielt.

Nun ergriff Agnes entschlossen die Urne. Sie hielt sie vor sich hin und ließ den Inhalt in weitem Bogen herausfliegen, während sie im Kreis herumwirbelte — wie die Person, die vor langer, langer Zeit an eben dieser Stelle genauso getanzt hatte.

Schließlich verlor Agnes Barkley das Gleichgewicht und fiel keuchend und nach Atem ringend zu Boden. Erst Minuten später wurde ihr, als wäre es das erste Mal, richtig bewusst, dass Oscar fort war. Wirklich fort. Und dort, inmitten seiner verstreuten Asche und der zerbrochenen Topfscherben, weinte sie echte Tränen.

Nicht nur, weil Oscar tot war, sondern auch, weil sie nichts getan hatte, um ihm zu helfen. Weil sie bloß hilflos dagesessen und zugesehen hatte, wie er starb, sicher genauso, wie die rätselhafte fremde Frau zugesehen hatte, als das wogende Wasser ihr Kind überwältigt hatte.

Schließlich kam Agnes wieder etwas zu sich. Als sie aufhörte zu weinen, stellte sie überrascht fest, dass sie sich schon viel besser fühlte. Irgendwie erleichtert. Vielleicht war es ja ganz gut so, dass Oscar tot war, dachte sie. Es hätte ihm doch nicht gefallen, mit ihnen beiden verheiratet zu sein — mit Agnes und dem Geist jener anderen Frau, der Mutter des armen ertrunkenen Kindes.

Nur so konnte es überhaupt gehen, sagte sich Agnes. Sie hob ein winziges Stück von den schwarzen Tonscherben auf und hielt es zwischen den Fingern, um damit das gleißende Licht der warmen Nachmittagssonne einzufangen.

Nur so konnten sie alle drei frei sein.