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Carolyn Wheat (*1946) arbeitete dreiundzwanzig Jahre in New York als Rechtsbeistand für Bedürftige, später als Verwaltungsrichterin. Als sie in Dead Men’s Thoughts (1983; dt. Rechte nicht mit dem Richter) die Brooklyner Anwältin Cass Jameson einführte, hatte die Schwemme von Juristenkrimis, die mit dem Erfolg von Scott Turow und John Grisham losbrechen sollte, noch nicht eingesetzt.
Dieser Erstlingsroman wurde positiv aufgenommen und auch für den Edgar nominiert, doch da Wheat sich als alles andere als eine Vielschreiberin erwies, erschien der zweite Jameson erst drei Jahre später und der dritte dann nach weiteren elf Jahren. Als sie mit Büchern wie Mean Streak (1996; dt. Ein gefährlicher Klient) und Troubled Waters (1997) — einem Roman, der einen viel knapperen, aber nicht weniger gründlichen Rückblick auf den radikalen Aktivismus der sechziger Jahre bietet als Turows The Law of Our Fathers (1996) — die Produktion steigerte, wurde offensichtlich, dass Wheat nicht nur unter den schreibenden Anwälten, sondern unter den Kriminalschriftstellern überhaupt ganz oben rangiert.
Nachdem sie ihre Anwaltstätigkeit aufgegeben hatte, wurde sie zu einer hochgeschätzten Dozentin im Bereich Kreatives Schreiben, wozu auch ein kurzes Zwischenspiel als Autorenstipendiatin an der University of Oklahoma zählte.
Wheats Kurzgeschichten, versammelt in dem Band Tales Out of School (2000) erweisen sich in ihrer Vielseitigkeit ebenso bemerkenswert wie in ihrer generell hervorragenden Stilsicherheit. Wie zu erwarten, spielen einige — darunter» Cruel and Ununsual«, eine schaurige Erzählung aus dem Geschworenenraum, und» The Adventure of the Angel’s Trumpet«, ein außergewöhnlicher Sherlock-Holmes-Gerichtskrimi — im Juristenmilieu, viele andere dagegen nicht. In» Geisterbahnhof«, der Geschichte über eine U-Bahnpolizistin in New York, verarbeitet die Autorin ihre Erfahrungen bei der New Yorker Polizei.
Wenn ich eins nicht ausstehen kann, dann eine Säuferin.
Die Worte brannten in meinem Gedächtnis, wie der irische Whiskey in meiner Kehle gebrannt hatte, bloß dass danach kein angenehmer Alkoholdusel folgte. Nur ein bitterer Schmerz in der Herzgegend.
Es war die erste Nacht, in der ich wieder im Dienst war, wieder Sergeant Maureen Gallagher war statt» die Patientin«. War es nicht schon schwer genug, U-Bahnpolizistin zu sein, unter den Straßen von Manhattan in einer Untergrundbahn herumzurattern, die eigentlich ins Verkehrsmuseum gehörte? Reichte es denn nicht, dass ich mich nach vier Wochen Entziehungskur innerlich leer fühlte statt clean und nüchtern? War es auch noch nötig, dass die lässig dahingesagten grausamen Worte eines blutigen Anfängers in meinem Hirn wie eine fehlgegangene Kugel hin und her schlugen?
Wieso konnte ich mich nicht an das Positive erinnern?
Wieso konnte ich nicht an O’Haras herzhaften Händedruck denken, an Greenspans» Nett, dich zu sehen, Mo«, an Ianuzzos Lächeln zur Begrüßung? Wieso musste in meinem Kopf immer wieder die gleiche Platte ablaufen: Manny Delgado, der bei Captain Lomax anfragte, ob er nicht einen anderen Partner haben könnte?
«Hey, also ich hab ja nichts gegen ’ne Frau als Sergeant, Cap«, hatte er gesagt.»Verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist bloß so: Wenn ich eins nicht ausstehen kann …«Und so weiter.
Lomax hatte das getan, was jeder aufrechte Polizeihauptmann getan hätte — hatte Delgado einen Arschtritt gegeben und gesagt, das Team stehe bereits fest.
Was er nicht wusste: Ich hatte es gehört und kriegte die Worte nicht mehr aus dem Kopf.
Auch ohne die Sache mit Delgado hatte die Nacht nicht so toll angefangen. Als ich um Mitternacht für die Zwölf-bis-acht-Schicht eingetrudelt war, hatte man mir zur Begrüßung mitgeteilt, dass ich für die Graffiti-Patrouille eingeteilt war, die dreckigste, hirnloseste Tätigkeit im gesamten Dienstplan der U-Bahnpolizei. Verdammt, dabei war ich Sergeant, auf dem Weg zur nächsthöheren Dienstmarke, und die konnte ich mir nicht damit verdienen, dass ich in Tunnels den Ratten auswich oder mit Spraydosen bewaffnete Zwölfjährige jagte.
Vor allem, weil der gesamte Rest der ober- wie unterirdischen Polizeiwelt Überstunden machte, um die Fackelmorde an Obdachlosen aufzuklären. In den letzten sechs Wochen hatte es vier menschliche Feuersäulen gegeben, und bei der Polizei war man fest entschlossen, eine fünfte zu verhindern.
Wollte Lomax mich bestrafen oder war dieser Auftrag seine Art, mich wieder sanft in die normale Welt einzuschleusen? So oder so, ich war stinksauer. Ich wollte wieder eine echte Polizistin sein, wieder mit Sal Minucci zusammenarbeiten, meinem alten Partner. Der war für die große Sache eingeteilt, war mitten drin im Geschehen, wo wir beide hingehörten. Ich hätte bei ihm sein sollen.
Schließlich war ich bei der Verbrechensbekämpfung, Menschenskind, dafür hätte ich abgestellt — Wirklich? War ich wirklich scharf drauf, meine Nachtschicht damit zu verbringen, im unterirdischen Pennerviertel von New York herumzutigern und Männern und Frauen Informationen aus der Nase zu ziehen, die so sturzbesoffen waren, dass ihnen ihre brandig gewordenen Beine schnurz waren, die sich nur noch von einer Flasche billigem Fusel zur nächsten hangelten?
Und ob ich scharf drauf war. Wenn es mich auch nur einen Schritt weiter zur nächsthöheren Dienstmarke brächte, würde ich auch sämtliche Teufel in der Hölle verhören. Und das an meinem freien Tag.
Wenn ich eins nicht ausstehen kann, dann eine Säuferin.
Was dachte sich Lomax eigentlich — dass mich die Gesellschaft von Säufern aus der Bahn werfen würde?
Dass ich mir bei einem der Brüder einen Schluck aus der Pulle genehmigen und dann am U-Bahnhof Bleecker Street aus den Pantinen kippen würde? Hatte er mich deswegen aus der großen Sache rausgehalten und mit einem blutigen Anfänger auf routinemäßige Graffiti-Patrouille geschickt?
Litt ich inzwischen unter Verfolgungswahn, oder zersetzte mir der Entzug allmählich das Gehirn?
Manny und ich waren in unsere jeweiligen Umkleidekabinen gegangen, um uns anzuziehen.
Zivilkluft — aber unterste Kategorie. Erst die langen Unterhosen, denn die feuchte Winterkälte kroch unweigerlich in die Tunnels hinunter und von dort direkt in die Knochen. Dann ein Paar Jeans, die sie nicht mal mehr in der Kleiderkammer angenommen hätten. Dicke Wollsocken, Anglerstiefel, schwarzer Rollkragenpullover und Fotografenweste mit jeder Menge Außentaschen. Und eine schwarze Strickmütze fest über den roten Schopf gezogen.
Dann die Ausrüstung: Taschenlampe, bei dem Job wichtiger als eine Waffe, Handschellen, Strafzettelblock, Funkgerät, Knarre, Messer. Den Schlagstock, einen überdimensionalen Totschläger, in der Rückentasche der Weste versteckt. Die waren gegen die Bestimmungen; ich würde mir zumindest einen Verweis einhandeln, wenn ich damit erwischt wurde, wusste aber aus Erfahrung, dass ich lieber damit als mit einer Waffe auf eine Meute Kids losgehen würde.
Ich hatte ganz vergessen, wie schwer das Zeug war; ich kam mir vor wie ein Telefonmonteur.
Und sah aus wie ein Fassadenkletterer.
Delgado und ich trafen uns an der Tür. Es war offensichtlich, dass der Kerl noch nie auf Vandalismustour gewesen war. Seine hellbraunen Chinos waren makellos, und seine Wanderstiefel sahen nicht so aus, als wären sie wasserdicht. Sein rot kariertes Flanellhemd war weder warm genug, noch hatte es die richtige dunkle Farbe.
Dieser gut aussehende Latino hätte sich in einem Verkaufskatalog für Outdoor-Kleidung bestimmt toll gemacht, würde aber nach zehn Minuten im U-Bahntunnel als Schornsteinfeger durchgehen können.
«Wohin soll’s gehen?«, fragte er eine winzige Spur verdrossen. Am Ende der Frage kam auch kein respektvolles» Sergeant«. Dieser Knabe brauchte dringend eine kleine Anstandslektion.
Es bereitete mir diebische Freude, ihm unser Ziel zu beschreiben.
«Ins Schwarze Loch von Kalkutta«, erwiderte ich fröhlich und setzte erklärend hinzu, damit meinte ich den ungenutzten unteren Bahnsteig der U-Bahnstation City Hall in Downtown. Die abgelegenste, dunkelste, nasskälteste Ecke in ganz Manhattan. Wenn es in der U-Bahn Alligatoren gab, dann lauerten sie sicher im Schwarzen Loch.
Die Miene von U-Bahnpolizei-Officer auf Probe Manuel Delgado übertraf meine kühnsten Erwartungen. Fast – aber nur fast — hätte mir der Kerl Leid getan, als ich hinzufügte:»Und danach schauen wir uns noch ein paar von den Geisterbahnhöfen an.« «Geisterbahnhöfe?«Jetzt guckte er wirklich besorgt.
«Was soll denn das sein?« Der Kerl war nicht bloß blutiger Anfänger, sondern auch noch eine Vorstadtpflanze. Jeder New Yorker wusste doch Bescheid über Geisterbahnhöfe, verlassene Bahnsteige, wo keine Züge mehr hielten. Beleuchtet waren sie aber noch und tauchten in den Fenstern der durchfahrenden Züge wie Geisterstädte in der Prärie auf, ideale Leinwände für aufstrebende Kunstmaler der unterirdischen Stadt.
Ich erklärte es ihm in der U-Bahn Richtung Downtown.
In dem Wagen, der unter den Straßen der Stadt wie ein alter Klapperkasten dahinratterte, saßen um ein Uhr morgens kaum Passagiere. Ein typischer Montagabend.
Bei den Fahrgästen handelte es sich um einen orthodoxen Juden, der über seiner hebräischen Bibel einschlief, zwei schwarze Frauen, beide in Liebesromanschmöker in Taschenbuchformat vertieft, das obligatorische Teenagerpärchen, das in der hintersten Sitzreihe herumknutschte, und eine alte Chinesin.
Ich wollte Delgado nicht ansehen. Mehr als einmal hatte ich beim Blick in seine Richtung ein verächtliches Lächeln über sein Gesicht huschen sehen. Als direkte Widersetzlichkeit konnte man es noch nicht gelten lassen, also ignorierte man es am besten.
Ich wiegte mich zum rhythmischen Schaukeln des U-Bahnwagens in einer Litanei von Slogans der Anonymen Alkoholiker: IMMER MIT DER RUHE. MACH’S NICHT KOMPLIZIERT, SCHÄTZCHEN. EINEN TAG NACH DEM ANDEREN. Ich sah sie im Geiste vor mir, wie sie bei den Treffen auf den Wänden erschienen waren, illuminiert wie alte keltische Handschriften.
Heute Nacht musste ich eine Stunde nach der anderen schaffen Vielleicht sogar eine Minute nach der anderen.
Meine Beine fühlten sich wacklig an. Ich war ein Seemann, der zu lange nicht mehr auf dem Meer gewesen war. Ich hatte meine U-Bahnbeine verloren Ich fühlte mich weiß und dünn, als hätte man mir mehrere lebenswichtige Organe entfernt.
Dann stieg der Betrunkene ein. Eine der schwarzen Frauen stieg aus, die andere hob den Blick, las das Stationsschild und wandte sich wieder ihrem Buch zu, und der Betrunkene stieg zu.
Wenn ich eins nicht ausstehen kann, dann eine Säuferin.
EINEN TAG NACH DEM ANDEREN. IMMER MIT DER RUHE.
Ich erstarrte. Ich wollte unbedingt vermeiden, mir vor Delgado was anmerken zu lassen, aber ich konnte nicht anders. Beim Anblick des offensichtlich alkoholisierten Mannes, der in unseren U-Bahnwagen stolperte, kehrte das vielsagende Grinsen auf sein Gesicht zurück.
So einen gab es bei jedem AA-Treffen. Egal, wie nett die Umgebung, wie gut gekleidet die meisten Teilnehmer des Treffens, es gab immer einen Säufer. Einen echten Säufer, der immer noch taumelte, immer noch nach billigem Fusel roch. Meine Betreuerin Margie meinte, die seien aus dem ganz bestimmten Grund da, um uns Mittelschichttypen, die wir alle geheilt werden wollten, daran zu erinnern, dass auch uns dieses Schicksal ereilen könnte.
Bei ihrem Anblick zuckte ich jedes Mal zusammen, besonders wenn es sich bei dem Anschauungsobjekt für die Lektion des Tages um eine Frau handelte.
«He, Bürschchen«, rief der Betrunkene mit der ungebührlich lauten Stimme eines Schwerhörigen zu Delgado hinüber,»wie alt bist du denn?«Die Türen gingen zu, und der Wagen ruckte vorwärts, so dass der Betrunkene regelrecht auf seinen Sitz fiel.
«Alt genug«, gab Manny mit dem höflichen Lächeln zurück, das ein wohlerzogener Jüngling für seine ledige Tante reserviert.
Der Unterton war aber nicht so nett. Kleine Seitenblicke in meine Richtung besagten: Sehen Sie, wie nett ich zu diesem alten Knacker bin. Sehen Sie, was für ein braver Junge ich bin. Ich mag Säufer, Sergeant Gallagher.
Um meinem Partner nicht ins Gesicht sehen zu müssen, konzentrierte ich mich auf die U-Bahnreklame, als wären darin sämtliche Weisheiten des Buchs der Bücher enthalten.»Ein Prosit den Geburtsfehlern«, verkündete eine Schwangere, die drauf und dran war, ein Glas Bier zu kippen. Zwei Mönche blickten himmelwärts und dankten Gott auf Spanisch für die gute Qualität ihres Weinbrands.
Gab es denn in diesem verdammten Zug auch Schilder, auf denen es mal nicht um Alkohol ging? Endlich eine Anzeige, die mir ein Lächeln entlockte: der Mond im schwarzen Weltall, auf den jemand gekritzelt hatte:»Alice Kramden war hier, 1959.« Mein Lächeln erstarb, als mir Sal Minuccis erhobene Faust wieder einfiel und sein Jackie-Gleason-Knurren.
«Eines Tages, Gallagher, schieß ich Sie noch auf den Mond. Auf den Mond!« Dabei fehlte mir nicht bloß der Mordfall. Sal fehlte mir.
Die ungezwungene Kameradschaftlichkeit dieses Menschen, der meine Katerstimmungen aushielt, meine Depressionen, meine wilden Kneipentouren.
«Weißt du, wie alt ich bin?«, rief der Betrunkene laut und kippte dabei auf seinem Platz fast um. Er richtete sich wieder auf.»Vierundfünfzig im September«, verkündete er, einen erwartungsvollen Ausdruck im Gesicht.
Nach einem verächtlichen Lächeln in meine Richtung gab Manny dem Kerl, was er wollte.»Sehen gar nicht so aus«, sagte er. Auf seinem Latino-Messdienergesicht zeigte sich nicht die geringste Spur von Ironie. Es war, als hätte er die Worte nie ausgesprochen, die an mir fraßen wie batteriesäurebitterer AA-Kaffee.
Dass mich plötzlich diese Wut durchfuhr wie ein Stich, überraschte mich, vor allem, weil sie sich nicht gegen Delgado richtete. Nein, so sehen Sie gar nicht aus, dachte ich. Sie sehen eher aus wie siebzig. Weiße Haarbüschel über der rosa glänzenden Kopfhaut. Das Gesicht mehr als rosa: wie eine Scheibe rohe Kalbsleber. Ein Straßengewirr von geplatzten Äderchen auf Nase und Wangen. Dünne weiße Arme und Streichholzbeine unter überweiten Hosen. Als er die Hand mit den schnurdick hervortretenden blauen Adern hob, flatterte sie wie ein Wimpel im Wind.
Wie Onkel Pauls Hände.
Ich wandte mich abrupt ab. Ich konnte den alten Kerl nicht mehr ansehen. Die unablässigen bohrenden Blicke, die Delgado in meine Richtung warf, waren gar nichts im Vergleich zu dem Schmerz beim Anblick eines Mannes, der da vor meinen Augen am Sterben war. Ich wollte keine blauen Augen in dem fast toten Gesicht sehen. So blau wie die Seen von Killarney, hatte Onkel Paul immer mit seinem pseudoirischen Akzent gesagt.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf die Teenager, die hinten im Wagen herumknutschten. Latinokids in identischen rosa T-Shirts und schwarzen Lederjacken.
Wenn ich sie lang genug anstarrte, würden sie dann aufhören, sich zu küssen und aneinander herumzufummeln, oder stachelten Zuschauer sie in ihrer Leidenschaft noch an?
Onkel Paul. Nachdem Daddy uns verlassen hatte, war er mein spezieller Freund, und ich war sein Lieblingsmädchen.
Ich kniff die Augen zu, aber die Erinnerung kehrte trotzdem zurück. Das rote Fahrrad, das Onkel Paul mir zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Das erste richtig große, neue Ding, extra für mich gekauft, das ich je bekommen hatte. Das Beste dran war, wie ich es meinem Cousin Tommy vorführte. Endlich einmal hatte ich sie nicht nötig, seine abgelegten Sachen, oder Tante Bridgets besorgtes Getue, weil ich doch so arm sei. Gott segne das Kind, das selber hat.
Ich machte die Augen auf, gerade als der Lexington-Zug durch den Geisterbahnhof Worth Street fuhr. Seit etwa fünfzehn Jahren für die Öffentlichkeit gesperrt, wirkte er wie eine Fata Morgana, war durch die schmutzigen Scheiben des U-Bahnwagens nur undeutlich zu sehen. Die leuchtende Farbe auf den weiß gekachelten Wänden verriet mir, dass Graffitibomber hier gewesen waren.
Musste man sich mal genau ansehen, aber erst kam City Hall dran. Ich schuldete Manny Delgado eine Fahrt zum Schwarzen Loch.
«Ah, Sergeant?« Ich drehte mich um; auf Delgados Lippen lag ein herablassendes Lächeln. Er hatte offensichtlich schon eine Weile versucht, meine Aufmerksamkeit zu erregen.»Tut mir Leid«, sagte ich und tat so, als würde ich gähnen.»Bin bloß ein bisschen müde.« Na klar, signalisierte sein Blick.»Wir sind gleich in Brooklyn Bridge. Sollten wir da nicht aussteigen?« «Richtig.«Lass Onkel Paul da, wo er hingehört.
An der Station Brooklyn Bridge stiegen wir die Treppe zum oberen Bahnsteig hoch, zeigten der Kontrolleurin unsere Dienstausweise und sagten ihr, wir würden in den Tunnel Richtung City Hall steigen. Dann gingen wir wieder hinunter und steuerten auf das südliche Ende des Bahnsteigs Richtung Downtown zu.
Als wir gerade an der Absperrung vorbei wollten, auf der ZUGANG NUR FÜR BERECHTIGTE stand, drehte ich mich zu dem beleuchteten Bahnsteig um, der hinter uns in einem Bogen verlief. Fast spiegelbildlich zu uns war der alte Säufer gerade dabei, an dem verbotenen Gatter vorbei in den Tunnel Richtung Uptown hinunterzusteigen.
Er bewegte sich vorsichtig voran, indem er sich an den weißen, gekachelten Wänden festhielt und sich durch das hüfthohe Gatter zwängte. Dann ging er die Steinstufen hinunter, das exakte Ebenbild derjenigen, die Manny und ich gerade hinuntersteigen wollten, und verschwand im Dunkeln.
Ich konnte ihn nicht einfach gehen lassen. Zu viele Gefahren lauerten in der U-Bahn, andere Gefahren neben dem Fackelkiller, dem alle hinterher jagten. Über wie viele gefrorene Leichen war ich auf den Laufplanken zwischen den Tunnels schon gestolpert? Wie viele zusammengekauerte Unglückliche waren von Zügen überfahren worden, während sie dort lagen und ihren Rausch ausschliefen? Trotzdem war Vorsicht angebracht.
Meine Freundin Kathy Denzer hatte sich einmal um einen Penner bemüht, der auf der Laufplanke lag und schlief, und dann hatte der Mann ihr zum Dank dafür, dass sie ihm das Leben hatte retten wollen, mit dem Messer in den Arm gestochen.
Ich konnte ihn nicht einfach gehen lassen. An Delgado gewandt, sagte ich:»Kommen Sie, City Hall sparen wir uns für später auf. Ich habe unterwegs an der Worth Street Graffiti gesehen. Schauen wir uns erst mal die an.« Er zuckte die Achseln. Wenigstens wurde ihm dadurch das Schwarze Loch erspart, besagte sein Ausdruck.
Als wir, die hell erleuchtete Welt der verschlafenen Passagiere hinter uns lassend, in die Tunnelschwärze eintauchten, strömte — wie Glutamat nach einem chinesischen Essen — ein winziger Adrenalinstoß durch meinen Blutkreislauf. Es war zum Teil ein schlichter Rückfall in Kindheitsängste. Hansel und Gretel.
Schneewittchen. Verirrt im finsteren Wald und ringsum von Feinden eingekreist. In diesem Fall von Ratten. Ihr Gewusel jagte mir Schauer über den Rücken, während wir uns die Laufplanken über den Gleisen entlanghangelten.
Zum anderen war es aber auch Begeisterung. Das hier war mein Job. Und den machte ich gut. Ich konnte meine Ängste beiseite schieben und beherzt in die neblig trüben Tiefen steigen, die wenige New Yorker je betraten.
Unsere Taschenlampen leuchteten matt wie Glühwürmchen. Ich ließ den Blick über die düstere unterirdische Welt schweifen, in der ich mein bisheriges Berufsleben verbracht hatte.
Meine Fantasie ging oft mit mir durch in den Tunnels, die dann zu Höhlen der Verdammnis wurden. Oder zu einem bösen Zauberwald wie in Der Herr der Ringe. Die eckigen Säulen, die die Tunneldecke trugen, waren blattlose Bäume, das ständige Tropfen des stinkenden Wassers zwischen den Gleisen ein verpesteter Strom, aus dem keiner trinken und lebend davonkommen konnte.
Jones Beach. Onkel Pauls riesige Pranke, die sich um meinen Fuß schloss, mich dann hoch in die Luft hob und rückwärts ins kühle Wasser warf, während ich vergnügt lachte. Die Wassertröpfchen an seinem roten Bart, die Onkel Paul dann im Sonnenlicht abschüttelte wie ein nasser Irish Setter.
Ich und Mo, wir zwei beiden sind die einzigen echten Gallaghers. Die einzigen Rotschöpfe. In Englisch hatte ich immer die beste Note. In punkto Grammatik war keiner vor mir sicher — außer Onkel Paul.
Ich glaubte, alle Männer rochen so wie er: nach Whiskey und Tabak.
Während Manny und ich den vier Häuserblocks langen Tunnel zwischen der Station, die in Betrieb war, und der stillgelegten entlangtrotteten, wechselten wir kein Wort.
Der beißende Geruch eines längst ausgegangenen Gleisfeuers stieg mir in die Nase, so wie mir die Erinnerungen in den Kopf strömten. Bei dem Versuch, Onkel Paul zu verdrängen, richtete ich meine ganze Konzentration darauf, das stinkende Wasser vorsichtig zu umgehen und den verbrannten Abfall, den ich mir nicht näher ansehen wollte.
Ich hatte den Verdacht, dass Delgado schwieg, weil er Angst hatte und nicht wollte, dass eine zitternde Stimme seine Anspannung verriet. Ich wusste, wie ihm zumute war. Der erste nächtliche Tunnelmarsch markierte bei jedem jungen U-Bahnpolizisten einen Rieseneinschnitt.
Als der Downtown-Express vorbeidonnerte, duckten wir uns in die für U-Bahnarbeiter seitlich angebrachten sarggroßen Nischen. Mein Herz pochte, als der Windsog des Zuges an meinen Kleidern zerrte; die Angst, vorwärts zu fallen und unter jenen unbarmherzigen Stahlrädern zu landen, verließ mich nie, egal wie oft ich im U-Bahnschacht stand. Ich musste oft an Anna Karenina denken, und in meinen Säufertagen hatte ich mich manchmal gefragt, wie es sich wohl anfühlen mochte, sich vornüber zu beugen und vom Luftsog des Zuges in den Tod gezogen zu werden.
Ich brächte es nie fertig. Ich hatte schon zu viel Blut auf den Gleisen gesehen.
Licht am Ende des Tunnels. Die Worth Street Station sandte Hoffnungsstrahlen in die spinnwebverhangene Finsternis. Ich beschleunigte meinen Schritt, Delgados Tempo passte sich mir an. Bald rannten wir fast auf das Licht zu — wie Höhlenmenschen, die von der Jagd kommen und sich ans sichere Feuer setzen wollen.
Wir hatten die Bahnsteigkante fast erreicht, als ich Delgado durch ein Zeichen anwies stehen zu bleiben. Ich brannte genauso darauf wie er, im Licht zu baden, aber unser Platz war im Dunkeln, auf Beobachtungsposten.
Plötzlich Panik. Ich hatte den Betrunkenen aus den Augen verloren. War er auf die Gleise gefallen und hatte ihn das unter Strom stehende dritte Kabel geröstet wie ein Spanferkel? Unmöglich, das hätten wir gesehen — und gerochen.
Das Graffitibild, musste ich zugeben, war nicht einfach hirnloses Geschmiere. Es war ein Gemälde, voller Farbe und Leben. Menschenähnliche Gestalten in leuchtenden Primärtönen, Grasgrün, Königsblau, Orange, Sonnengelb und Nelkenrosa — Farben, die in den sonst schwarzgrauen Tunnels unbekannt waren — standen Schlange und warteten darauf, durch ein U-Bahn-Drehkreuz gehen zu können. Es waren geschlechtslose Figuren, wie mit einer Plätzchenform ausgestochen, die sich nur durch die Farbe innerhalb der schwarzen Kontur voneinander unterschieden.
Das Geräusch von rhythmischem Klicken ließ Delgado zusammenschrecken.»Was zum Teufel — « «Ganz locker bleiben, Manny«, flüsterte ich.»Das ist das Kugellager in der Spraydose. Die Vandalen sind hier.
Sobald die Farbe auf die Kacheln spritzt, springen wir raus und schnappen sie uns.« Vier junge Schlägertypen, in der Farbgebung von Hellbraun bis Ebenholz rangierend, lachten heiser und boxten sich gegenseitig angeberisch an, als wollten sie sagen: Mann, ey, wir sind echt voll krass. In großen Sätzen sprangen sie von der anderen Seite des Bahnsteigs die Treppe hoch und begutachteten verspielt wie junge Hunde ihr Kunstwerk, deuteten auf spezielle Teile, die sie ihrer Wandmalerei hinzugefügt hatten.
Es hätte ganz einfach sein müssen. Zwei bewaffnete Bullen, mit dem Vorteil des Überraschungseffekts, gegen vier mit Farbspraydosen bewehrte Kids. Zwei Dinge machten es nicht so einfach: der Betrunkene, wo zum Teufel auch immer er sich herumtrieb, und die Tatsache, dass einer von den Kids sagte:»He, Kumpel, wann sind Cool und Jo-Jo da?« Ein tiefschwarzer Junge mit einem Nylonstrumpf auf dem Kopf erwiderte:»Jo-Jo kommt mit Pinto. Cool meint, vielleicht bringt er Slasher und T.P. mit.« Na toll. Statt zwei gegen vier hört sich das an, als hätten sich sämtliche Graffitikünstler von New York City im Geisterbahnhof von Worth Street zu einer Versammlung verabredet.
«Sarge?«Delgados Stimme klang drängend.»Wir müssen unbe — « «Weiß ich«, flüsterte ich zurück.»Machen Sie eine Funkmeldung, dass wir Verstärkung brauchen.« Dann fiel mir ein: Worth Street lag im Funkschatten!
Wegen des Bleis in der Decke über unseren Köpfen waren unsere Funkgeräte wertloses Spielzeug.
«Halt«, sagte ich genervt, als Manny die Antenne an seinem Handgerät auszog.»Funktioniert nicht. Sie müssen zurück nach Brooklyn Bridge. Alarmieren Sie Booth Robert auf zwei-zwanzigeins. Die sollen die Leitstelle informieren. Verlangen Sie nur Verstärkung, aber machen Sie kein zehn-dreizehn daraus. «Ein 10–13 hieß»Officer in Gefahr«, und ich wollte nicht der Sergeant sein, der blinden Alarm schlug.
«Probieren Sie’s unterwegs noch mal«, fuhr ich fort.
«Man kann nie wissen, wann das Gerät anspringt. Ich bin mir nicht sicher, bis wohin das Blei geht.« Ich blickte Delgado nach, der über die Laufplanke zurücktrottete, und kam mir einsam, hilflos und dämlich vor. Niemand wusste, dass wir statt zum Schwarzen Loch zur Worth Street gegangen waren, und das war meine Schuld.
«He«, rief einer der Kids und deutete auf einen Haufen Altkleider in der Ecke des Bahnsteigs,»was will’n der Typ da in unserm Versteck?« Typ? Welcher Typ? Da erhob sich der Altkleiderhaufen plötzlich; es war der Betrunkene aus der U-Bahn. In Embryohaltung zusammengekrümmt, hoffte er, dass die Graffitigang ihn nicht bemerkte.
Nylonstrumpf tänzelte zu dem alten Säufer hinüber und steckte ihm einen Finger zwischen die Rippen.»Was willst’n hier, Alter? Hä? Wird’s bald?« Ein dicker Junge mit Flat-Top-Frisur ging hinüber, setzte sich neben den Betrunkenen, griff in die Jackentasche des Alten und zog eine halb leere Halbliterflasche heraus.
Ein etwas hellhäutigerer, dünnerer Junge versetzte dem Säufer ein paar Faustschläge, nachdem er ihn zuerst beim Kragen gepackt und hochgehoben hatte. Und lachte dann, als der alte Kerl wieder zu Boden plumpste. Der Alte versuchte aufzustehen und wurde nur wieder von Nylonstrumpf in die Rippen getreten.
Der Alte blutete am Mund. Fettwanst hielt die Flasche mit dem Fusel in die Höhe und foppte den Betrunkenen damit, so wie man einen Hund mit einem Knochen foppt.
Am schlimmsten war, dass der Säufer danach greifen wollte, wild mit den Händen schlug, bettelte. Er hätte auch gebellt, wenn sie es von ihm verlangt hätten.
Ich zitterte, mir drehte sich schon fast der Magen um.
Ach Gott, wo blieb nur Manny? Wo blieb meine Verstärkung? Ich musste den Kids Einhalt gebieten, bevor ihre Freunde ankamen, aber mir war so schlecht, dass ich mich nicht rühren konnte. Wenn ich eins nicht ausstehen kann, dann eine Säuferin. Es kam mir so vor, als wäre jede Hänselei, jeder Fußtritt gegen mich gerichtet, nicht bloß gegen den alten Mann.
Ich griff nach meiner Pistole am Gürtel, öffnete dann die Rückentasche an meiner Weste und zog den Schlagstock heraus. Schon sprungbereit erstarrte ich jedoch schlagartig, als Nylonstrumpf sagte:»He, was is, soll’n wir den alle machen wie die anderen?« Fettwansts Gesicht leuchtete auf.»Jaah«, stimmte er zu.
«Ziemlich kalt heut Abend. Wie wär’s mit ’m Feuer?« «Ey, geil, Kumpel«, pflichtete ihm der Hellhäutige bei.
«Petroleum hab ich. Von meiner Mama ihrem Herd.« «Geschieht dem recht, Mann«, sagte das vierte Gangmitglied mit einem leisen Knurren.»Macht sich in unserm Versteck breit, pisst auf unsere Kunst, stinkt hier bloß rum. Das hier is unser Revier, klar?«Er stieß den Alten vor die Brust.
«Ich — nichts für ungut«, wimmerte der Alte.»Ich wollte bloß irgendwo schlafen.« Onkel Paul, der auf unserem Sofa geschlafen hat, wenn er so betrunken war, dass Tante Rose ihn nicht haben wollte. So betrunken war er nie, dass Mom ihn nicht aufgenommen hätte. Nie so betrunken, dass er mir nicht sein süßes irisches Lächeln geschenkt und mich sein Lieblingsmädchen genannt hätte.
Der Hellhäutige öffnete die Flasche — welche Ironie! Es sah so aus, als hätte sie einmal Whiskey enthalten — und besprengte den Alten, so wie meine Mutter vor dem Bügeln immer die Wäsche eingesprengt hatte.
Nylonstrumpf zog ein Streichholzbriefchen heraus.
Bis Delgado wieder da wäre, ob mit oder ohne Verstärkung, gäbe es noch eine menschliche Feuersäule, wenn ich jetzt nichts unternahm. Und zwar schnell.
Der Überraschungsmoment war meine einzige Hoffnung. Sie waren zu viert, jung und kräftig. Ich war allein, nicht in Form und wacklig auf den Beinen.
Ich schoss eine Lampe aus, zertrümmerte die Glühbirne mit dem ersten Schuss. Zielschießen war meine größte Stärke als Polizistin, und nun setzte ich diese Fähigkeit ein, um bei den Kids den Eindruck zu erwecken, sie seien umzingelt.
Die Kids ließen schlagartig von dem Betrunkenen ab und stoben in alle Richtungen auseinander.»Scheiße«, sagte einer,»wer schießt ’n da?« Ich schoss die zweite und letzte Glühlampe aus. Im Dunkeln war ich im Vorteil. So wüssten sie nicht, wenigstens nicht gleich, dass bloß ein einziger Cop hinter ihnen her war.
«Ey, komm, wir haun ab«, rief ein anderer.»Sich abknallen lassen bringt nichts.« Ich rannte die Treppe hinauf auf den Bahnsteig, der nur von den mondscheinartigen Strahlen von der anderen Seite der Gleise erhellt war. Mit dem Schrei» Stehen bleiben, Polizei «ging ich, meinen illegalen Schlagstock schwingend, auf die Kids los.
Rums in die Rippen des Kerls mit der Petroleumflasche.
Der ließ sie fallen, griff sich an den Brustkorb und heulte auf. Ich spürte, wie der Atem aus ihm herauszischte, hörte das Knacken von brechenden Rippen. Ich wirbelte herum und knallte Nylonstrumpf eins übers Knie — und erntete wieder ein befriedigendes Aufheulen.
Mein Atem kam in keuchenden Stößen, Flüche sprudelten aus mir heraus. Das Blut pochte mir in den Schläfen, das dumpfe Geräusch dröhnte lauter als der Expresszug.
Der Überraschungseffekt hatte sich abgenutzt. Die anderen beiden Kids fielen über mich her, einer sprang mir von hinten auf den Rücken, der andere bearbeitete meinen Magen mit harten kleinen Fäusten. Ich sah bloß noch einen entfesselten Teenagertornado und auf mich herabhagelnde Schläge. Mein Arm fühlte sich leicht an, als ich dem einen meine Pistole tief in die Magengrube stieß. Er krümmte sich unter Stöhnen.
Es war, wie wenn man auf einer Cop-Party Bier kippte: Jeder Schlag, jedes befriedigende Wumm, mit dem der Totschläger auf Menschenfleisch knallte, machte mich hungrig auf den nächsten. Ich wirbelte herum und teilte Schläge aus. Die Kids kamen einer nach dem anderen, und ich haute sie um wie die Kegel.
Der Adrenalinstoß war enorm, erfüllte mich mit Hochgefühl. Ich war wieder ein echter Cop. Es gab doch noch ein Leben nach der Entziehung.
Endlich hörten sie auf. Keuchend stand ich zwischen den am Boden Liegenden, erschöpft. Mein Haar hing unter der Strickmütze hervor und stand mir in wirren Strähnen um das glühend rote, heiße Gesicht.
Ich holte meine Handschellen hervor und kettete die Kids aneinander, Handgelenk an Handgelenk, und wünschte, ich hätte genügend von den Dingern bei mir, um jeden einzeln zu versorgen. Gemeinsam wären sie sogar aneinander gekettet in der Lage, mich zu überwältigen. Vor allem, weil ihnen jetzt allmählich aufging, dass ich allein war.
Ich fühlte mich schwach, ausgepowert. Wie nach einem Liebesakt.
Keuchend setzte ich mich auf den Bahnsteig, die Pistole auf Nylonstrumpf gerichtet.»Sie haben das Recht zu schweigen«, begann ich.
Als ich gerade damit fertig war, dem letzten Jüngling seine Rechte zu verlesen, hörte ich die Kavallerie über den Hügel heranreiten: Manny Delgado — mit vier Mann Verstärkung.
Während die neu dazugekommenen Beamten die Festnahmen durchführten, winkte ich Manny beiseite und führte ihn zu der Stelle, wo der Betrunkene, immer noch zitternd und wimmernd, ausgestreckt in der Ecke lag.
«Riechen Sie was?«, fragte ich.
Manny rümpfte die Nase. Ich sah auf den Säufer hinunter.
Ein dünnes Bächlein tropfte unter ihm hervor. Seine Hose war im Schritt durchnässt.
Onkel Paul, wie er nach Hause wankte, in falscher Tonart sang, am Laternenpfahl eine Pinkelpause machte.
Daran war eigentlich nichts Ungewöhnliches, außer dass diesmal Julie Ann Mackinnon, meine Rivalin aus der achten Klasse, von gegenüber zusah. Meine Wangen glühten, als ich mich erinnerte, wie sie den anderen — die Hand über den kichernden Mund gelegt — erzählte, was sie gesehen hatte.
«Das mein ich gar nicht«, sagte ich in scharfem Ton und lief dabei rot an.»Das Petroleum. Diese Kids sind die Fackelkiller. Die wollten den Kerl hier rösten. Deshalb musste ich sie mir allein vornehmen.« Auf Delgados Gesicht war der skeptische Ausdruck zu lesen, den ich schon die ganze Nacht in seinen Augen hatte lauern sehen. Ob er mir trauen konnte? Zwar hatte ihn mein Trupp aneinander geketteter Sträflinge ordentlich beeindruckt, aber jetzt redete ich von der Aufklärung des Verbrechens, für das jeder Cop in der Stadt Überstunden schob.
«Okay, fahren Sie zurück nach Brooklyn Bridge und funken Sie«— ich wollte gerade» Captain Lomax «sagen, überlegte es mir dann aber anders —»Sal Minucci in der Verbrechensbekämpfung an. Der wird den Mantel von dem Kerl analysieren lassen wollen. Und sorgen Sie dafür, dass jemand gut Acht gibt auf die Flasche da. «Ich deutete auf die inzwischen leere Whiskeyflasche, aus der der hellhäutige Junge das Petroleum gegossen hatte.
«Ist das nicht seine?«Manny zeigte auf den Säufer.
«Nein, der hat ’ne Fuselpulle«, sagte ich und wandte mich schnell ab, als mir einfiel, dass der Begriff in Nichttrinkerkreisen kaum bekannt war.
Und jetzt geh, Junge, flehte ich innerlich. Hau verdammt noch mal hier ab, bevor — Er folgte der Verstärkungsmannschaft mit den aneinander geketteten Delinquenten.»Und verständigen Sie die Sanitäter für den Kerl hier«, fügte ich hinzu.»Ich bleib hier, bis die kommen.« Ich blickte auf den Betrunkenen hinunter. Seine Augen waren blau, von einem wässrigen, farblosen Blau, aus dem jegliches Leben gewichen war. Onkel Pauls Augen.
Onkel Paul mit seinem verschwommenen Blick und dem weinerlichen Getue, so besoffen, dass es ihm egal war, dass ich eine Medaille für den besten Englischaufsatz nach Hause gebracht hatte. Ich hatte ihm mein Meisterwerk neben den Stuhl gelegt, damit er es nach dem Abendessen lesen konnte. Er verschüttete Whiskey darauf, so dass die schwarzblaue Tinte zerlief wie Tränen und meine sorgsam gewählten Worte auslöschte.
Onkel Paul, alt, krank und sterbend, genau wie der hier.
Der inzwischen schon mehr auf der Straße als zu Hause lebte, obwohl es Leute gab, die ihn bei sich aufgenommen hätten. Seine Augen mehr rot als blau, sein kräftiger Körperbau abgezehrt. Ich fühlte ein Schluchzen in mir hochsteigen, als drückte mir der Tod die Lungen zusammen. Ich würgte, schnappte krampfhaft nach Luft.
Mein Gesicht war nass von Tränen, von denen ich nicht wusste, dass ich sie vergossen hatte.
Ich hasse dich, Onkel Paul. Ich werde nie so sein wie du.
Nie.
Ich ging zu dem Betrunkenen hinüber, der immer noch ausgestreckt auf dem Bahnsteig lag. Wie eine Schlafwandlerin bewegte ich mich; mein Arm hob sich wie von selbst. Ich stieß ihm den Kolben meiner Pistole in die alten, mageren Rippen und fühlte das Ding gegen die Knochen schlagen. Das gäbe einen baseballgroßen Bluterguss. Erst ein übles Rotviolett, dann Blauviolett und schließlich ein kränkliches Gelbgrau.
Ich hob den Fuß, gerade hoch genug, um ihn mit einem dumpfen Knall in der Nierengegend landen zu lassen. Der alte Säufer stöhnte auf, die Kinnlade fiel ihm herunter. Ein paar Speichelspritzer fielen auf den Boden. Er hielt die zitternden Hände ans Gesicht und kniff die Augen zu.
Wieder hob ich den Fuß. Ich wollte nur noch treten und treten und treten.
Onkel Paul, ein gefrorener Fleischklumpen, aufgefunden von einem U-Bahnpolizisten auf dem oberirdischen Bahnsteig an der 161. Straße. Am U-Bahnhof Yankee Stadium, wo er mich immer mitnahm, wenn die Yanks ein Heimspiel hatten. Wir aßen dann in der Yankee Tavern; ich verdrückte ein Cornedbeef-Sandwich mit Limo, während Onkel Paul sich ein Bier vom Fass nach dem anderen hinter die Binde kippte.
Bevor er starb, hatte Onkel Paul sein ganzes Kleingeld aus den Taschen geleert und in säuberlichen kleinen Häufchen neben sich aufgestapelt. Vierteldollar-, Zehncent-, Fünfcent- und Centstücke. Eine Bestandsaufnahme seiner irdischen Güter.
Ich machte einen tiefen, erschauernden Atemzug und schaute hinunter auf den traurigen alten Mann, den ich so brutal behandelt hatte. Mich überströmte heiße Scham.
Ich kniete mich hin und zog sanft die zarten, bläulich weißen Hände von dem fast durchscheinenden Gesicht weg. Die Angst, die ich in den wässrigblauen Augen erblickte, jagte mir stechenden Selbsthass durch den Körper.
Wenn ich eins nicht ausstehen kann, dann eine Säuferin.
Ich auch nicht, Manny, ich kann betrunkene Frauen auch nicht ausstehen.
Die Lippen des Alten bebten. Tränen füllten seine Augen und rollten ihm über die schmalen Wangen. Er schüttelte den Kopf von einer Seite zur anderen, als wollte er sich aus einem bösen Traum aufwecken.
«Warum?«, fragte er mit einem heiseren Krächzen.
«Weil ich dich so geliebt habe. «Die Worte waren nicht mehr in meinem Kopf, sie schlüpften hinaus in die stille, leere Welt des Geisterbahnhofs. Als wäre Onkel Paul nicht auf dem Calvary Cemetry begraben, sondern könnte mich mit den Ohren dieses alten Mannes hören, der ihm so verdammt ähnlich sah.»Weil ich genauso sein wollte wie du. Und ich bin es auch. «Meine Stimme versagte.»Ich bin genauso wie du, Onkel Paul. Eine Säuferin.« Ich legte den Kopf auf die Knie und schluchzte wie ein Kind. Die ganze Scham meiner Säuferzeit stieg in mir hoch. All das dumme Zeug, das ich gesagt und getan hatte, wie oft ich nach Hause gebracht und ins Bett gelegt werden musste, wie oft ich mich auf der Straße vor der Bar übergeben hatte. Wenn ich eins nicht ausstehen kann
…
«Ach Gott, ich wünschte, ich wäre tot.« Die knochige Hand auf der meinen fühlte sich wie eine Kralle an. Ich fuhr erschrocken zusammen, dann sah ich dem alten Mann in die wässrigen Augen. Ich saß im Geisterbahnhof und erblickte in diesem Fremden den Geist meines sterbenden Onkels.
«Warum sollten Sie sich so was wünschen?«, fragte der Alte. Seine Stimme war klar, kein vom Fusel verzerrtes Lallen, kein Suchen nach Wörtern, die der Alkohol aus dem Hirn gebrannt hatte.»Sie sind doch noch ein junges Mädchen. Sie haben noch Ihr ganzes Leben vor sich.« Mein ganzes Leben. Fortsetzung folgt …
Immer einen Tag nach dem anderen. Eine Nacht nach der anderen.
Wenn ich aufs Revier zurückkam, meine Arbeitskleidung ausgezogen und geduscht hatte, wartete dann wohl ein Treffen auf mich? Verdammt, klar wartete eins — in der Stadt, die nie schläft, schlafen die Anonymen Alkoholiker auch nicht.
Ich streckte die Hand nach dem Alten aus. Meine Finger strichen über seine silbernen Bartstoppeln.
«Es tut mir Leid, Onkel Paul«, sagte ich.»Es tut mir so Leid.«