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Jack Be Quickvon BARBARA PAUL

Barbara Paul (*1931) wurde in Maysville, Kentucky, geboren und studierte an der Bowling Green State University, der University of Redlands und der University of Pittsburgh, wo sie 1969 in Theaterwissenschaften promovierte. Bevor sie sich ganz der Romanschriftstellerei zuwandte, arbeitete sie als Collegeprofessorin und Regisseurin. Ihr erster Roman, An Excercise for Madmen (1978), war Science-Fiction, mit The Fourth Wall (1979) widmete sie dann jedoch ihre ganze Energie dem Kriminalroman, den sie oft im Theatermilieu ansiedelte.

Ihr Werk umfasst eine Reihe von historischen Kriminalromanen aus der Opernwelt — in denen Enrico Caruso und Geraldine Farrar als Amateurdetektive auftreten (Farrar als die Schlaue, Caruso als ihr Watson) —, die mit A Cadenza for Caruso (1984) einsetzt, sowie eine mit The Renewable Virgin (1984; dt. Immer wieder Jungfrau) beginnende zeitgenössische Polizeiromanserie um Marian Larch, ihres Zeichens Sergeant im Morddezernat.

Pauls Schaffen zeugt von ungewöhnlicher Vielfalt und Abwechslungsreichtum, die sich auch in ihrem Talent für eindrucksvolle Titel wie Liars and Tyrants and People Who Turn Blue (1980; dt. Weh dem, der lügt), Your Eyelids are Growing Heavy (1981), He Huffed and He Puffed (1989; dt. Wer im Glashaus sitzt), Good King Sauerkraut (1990; dt. Good King Sauerkraut) und Inlaws and Outlaws (1990; dt. Im engsten Familienkreis) spiegeln. Der launige Titel But He Was Already Dead When I Got There (1986) beweist ihre Freude am Spiel mit den Konventionen des Genres.

In» Jack Be Quick «macht Paul einen Lösungsvorschlag für einen der berüchtigtsten ungelösten Fälle der Kriminalgeschichte. Jack the Ripper, Prostituiertenmörder im London der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, trieb sein Unwesen während einer Zeit und an einem Ort, wo Serienmörder — leider ganz anders als hier und heute — selten waren. Mit den Tatsachenberichten über den Fall ließe sich eine ganze Bibliothek füllen, und literarische Verarbeitungen, ob direkt oder indirekt, reichen mindestens bis zu Marie Belloc Lowndes’ The Lodger (1913) zurück. 1991 in der Anthologie mit dem Titel Solved veröffentlicht, gehört Pauls Herangehensweise an den Kriminalfall zu den originellsten und ist außerdem wegen seines überaus passenden feministischen Blickwinkels bemerkenswert.

Pfarrhaus von St. Juda, Whitechapel, 30. September 1888 Diesmal hatte er zwei geholt, und das innerhalb von einer Stunde, sagte uns Inspector Abberline. Das erste Opfer wurde heute eine knappe Stunde nach Mitternacht in einem kleinen Innenhof an der Berner Street gefunden.

Die zweite Frau wurde eine Dreiviertelstunde später auf dem Mitre Square getötet. Er verübte seine grässliche Tat und entkam unerkannt, wie immer. Inspector Abberline glaubt, dass er in der Berner Street überrascht wurde, weil er dieser Frau nicht … antat, was er den anderen Opfern angetan hatte. Mein Mann warf dem Inspector einen warnenden Blick zu, denn er wollte nicht, dass ich derart verstörenden Dingen mehr als nötig ausgesetzt wurde.

«Die zweite Frau war jedoch äußerst brutal entstellt«, schloss Inspector Abberline, ohne Einzelheiten zu nennen.

«Auf dem Mitre Square hat er vollendet, was er in der Berner Street begonnen hatte.« Da wir das Pfarrhaus den ganzen Tag nicht verlassen hatten, wussten mein Mann und ich nichts von dem Doppelmord. Als niemand zur Morgenandacht kam, war Edward verärgert. Normalerweise können wir am Sonntag mit einer etwa zwölfköpfigen Gemeinde rechnen, hätten uns also denken können, dass etwas nicht stimmt.»Haben Sie eine Ahnung, wer die Frauen waren, Inspector?«, wollte ich wissen.

«Bei einer«, sagte er.»Sein Opfer vom Mitre Square hieß Catherine Eddowes. Die Identität des Opfers in der Berner Street müssen wir noch feststellen.« Inspector Abberline wirkte erschöpft, ich schenkte ihm noch eine Tasse Tee ein. Zweifellos hätte er etwas Stärkeres bevorzugt, doch gestattete Edward keine Spirituosen im Haus, nicht einmal Sherry. Ich wartete ab, bis der Inspector einen Schluck getrunken hatte, bevor ich ihm die nächste Frage stellte.»Hat er Catherine Eddowes auch den Schoß herausgeschnitten, so wie Annie Chapman?« Edward schien schockiert, dass ich darüber Bescheid wusste doch den Untersuchungsbeamten konnte nichts mehr schockieren.

«Ja, Mrs. Wickham, das hat er. Doch diesmal hat er ihn nicht mitgenommen.« Das gehörte zu den zahllosen Einzelheiten, die mich an dieser grausigen Mordserie verblüfften und entsetzten, von der London zur Zeit heimgesucht wurde. Annie Chapmans ausgeweidete Leiche hatte man vor drei Wochen in der Hanbury Street gefunden. Sämtliche Eingeweide außer dem Schoß waren ihr auf die Schulter gehäuft worden.

Warum hatte er ihren Schoß entwendet?» Und die Eingeweide?« «Auf die linke Schulter gehäuft, wie gehabt.« Edward räusperte sich.»Diese Eddowes … das war doch eine Prostituierte!« Inspector Abberline bejahte.»Für mich besteht im Übrigen keinerlei Zweifel, dass das Opfer in der Berner Street ebenfalls auf den Strich ging. Das ist die einzige Gemeinsamkeit zwischen seinen Opfern — sie waren alle Prostituierte.« «Das Böse bekämpft das Böse«, sagte Edward kopfschüttelnd.

«Wann wird das enden?« Inspector Abberline stellte seine Tasse hin.»Ein Ende ist leider noch nicht in Sicht. Wir führen immer noch Befragungen von Haus zu Haus durch, und die Bevölkerung gerät allmählich in Panik. Wir haben alle Hände voll damit zu tun, den Mob zu zerstreuen.« «Den Mob?«, fragte Edward.»Hat es Unruhen gegeben?« «Bedauerlicherweise ja. Jeder will eben unbedingt einen finden, dem er die Schuld …«Der Inspector ließ den unfertigen Satz einen Augenblick nachklingen.»Als ein Wachtmeister heute früh einen Taschendieb durch die Straßen jagte, sah jemand die beiden und schrie plötzlich:

›Es ist der Ripper!‹ Mehrere Männer beteiligten sich an der Jagd, dann gesellten sich andere dazu, und die Nachricht verbreitete sich, der Ripper sei es, den der Wachtmeister da verfolgte. Der Mob wollte Blut sehen – nichts Geringeres als ein Lynchmord hätte ihn zufrieden gestellt. Der Dieb und der Wachtmeister mussten sich schließlich in einem Gebäude verbarrikadieren, bis Hilfe kam.« Edward schüttelte betrübt den Kopf.»Die Welt ist verrückt geworden.« «Deshalb komme ich ja zu Ihnen, Herr Pfarrer«, sagte Inspector Abberline.»Sie können dabei helfen, die Leute zu besänftigen. Sie können zu ihnen sprechen, sie überzeugen, sich doch wieder zu beruhigen. Ihre Anwesenheit auf der Straße wird die Leute bis zu einem gewissen Grad beruhigen.« «Selbstverständlich«, sagte Edward knapp.»Sollen wir gleich gehen? Ich hole nur meinem Mantel.« Der Inspector wandte sich mir zu.»Danke für den Tee, Mrs. Wickham. Wir müssen jetzt los. «Ich brachte die beiden Männer zur Tür.

Der Inspector wusste nicht, dass er vorhin eine der Auseinandersetzungen zwischen meinem Mann und mir unterbrochen hatte, die in letzter Zeit immer häufiger auftraten. Ich wollte den Streit jedoch nicht wieder aufgreifen, wenn Edward zurückkehrte. Der Schatten dieser beiden neuen Morde hatte sich wie ein Leichentuch über alle anderen Sorgen gelegt. Ich zog mich in meine Nähstube zurück, wo ich versuchte, mein Gemüt durchs Gebet zu beruhigen. Man konnte einfach nicht nüchtern bleiben beim Gedanken an diesen Unbekannten, der durch die Straßen des Londoner East End streifte, einen Mann, der Frauen so abgrundtief hasste, dass er ihnen die Körperteile abschnitt, die seine Opfer als Frauen kenntlich machten. Ich versuchte, für ihn zu beten, für seine verlorene Seele. Gott möge mir vergeben, ich konnte es nicht.

Pfarrhaus von St. Juda, 1. Oktober 1888 Am nächsten Morgen in der Frühe lag so dichter Nebel über dem Pfarrhaus, dass die Gaslaternen auf der Straße noch brannten. Wie üblich bewiesen sie ihre Effizienz, indem sie die Spitzen der Pfosten beleuchteten; die Straße selbst sah ich nicht, als ich aus unserem Schlafzimmerfenster hinunterblickte.

Nach unserer morgendlichen Bibellesung lenkte Edward meine Aufmerksamkeit noch auf eine andere Stelle.»Da du ja nun Bescheid weißt, was der Ripper mit seinen Opfern macht, wird es dir zum Nutzen gereichen, das Folgende zu hören, Beatrice. Merke auf. ›Dass die Brust aufgerissen werde und Herz und Gedärme daraus genommen werden und über die Schulter geworfen.‹« Ekel überkam mich.»So wurden Annie Chapman und die anderen umgebracht.« «Stimmt«, bestätigte Edward mit einem triumphierenden Unterton in der Stimme.»Dies sind die Worte Salomos, mit denen er die Hinrichtung von drei Mördern verfügt.

Ich frage mich, ob Inspector Abberline schon auf diese Stelle hingewiesen wurde? Sie könnte bei der Ermittlung der Beweggründe von Nutzen sein, die hinter diesen Morden stehen, vielleicht etwas vom Geisteszustand des Mörders enthüllen …«Er erging sich noch eine Weile in Vermutungen.

Ich faltete die Wäsche, während ich Edward zuhörte. Als er eine Atempause machte, fragte ich ihn nach seinem Hemd aus feinem Baumwollstoff.»Das habe ich seit zwei Wochen nicht mehr gesehen.« «Wie? Das taucht schon wieder auf. Sicher hast du es irgendwohin gesteckt.« Ich war mir ebenso sicher, dass ich nichts dergleichen getan hatte. Sodann brachte ich mit einer gewissen Beklommenheit unsere Auseinandersetzung vom Vorabend wieder zur Sprache.»Edward, könntest du dir vorstellen, dir die Sache mit den wohltätigen Spenden noch einmal zu überlegen? Wenn die Gemeindemitglieder sich nicht einmal Hilfe suchend an ihre Kirche wenden können — « «Erlaube mir, dass ich dich unterbreche, meine Liebe«, sagte er.

«Ich bin überzeugt, dass die Not sich nicht durch wahlloses Verteilen von Geld lindern lässt, sondern nur durch die realistische Beurteilung der Probleme jedes Einzelnen. Solange die unteren Schichten sich darauf verlassen, dass man ihnen mit milden Gaben über Notzeiten hinweghilft, werden sie es nie lernen, zu sparen und möglichst vernünftig mit ihrem Geld zu haushalten.« Edwards» realistische Beurteilung «individueller Probleme endete immer auf die gleiche Weise, nämlich mit kurzen Vorträgen über die sparsame Wirtschaft.»Aber in Fällen von höchster Not«, wandte ich ein,»wäre eine kleine Spende ihrem zukünftigen Wohlergehen doch nicht abträglich.« «Aha, aber wie sollen wir beurteilen, wer wirklich in Not ist? Die lügen doch wie gedruckt, bloß um ein paar Münzen zu ergattern, die sie dann umgehend für Schnaps ausgeben. Und uns wird dann gedroht, wenn die Münzen ausbleiben! Dieses Erbe haben wir meinem Vorgänger in St. Juda zu verdanken, diese Erwartungshaltung, dass die Kirche ihnen Wohltätigkeit schuldig ist!« Das stimmte. Das Pfarrhaus war schon mehr als einmal mit Steinen beworfen worden, wenn Edward Bittsteller abwies.»Aber die Kinder, Edward — den Kindern können wir doch helfen! Sie sind doch nicht schuld an der Verschwendungssucht ihrer Eltern.« Edward setzte sich neben mich und nahm meine Hand.

«Du hast ein weiches Herz und ein großzügiges Gemüt, und ich verehre diese Eigenschaften in dir, Beatrice. Dein natürlicher Hang zur Wohltätigkeit gehört zu deinen bewundernswertesten Zügen. «Er lächelte betrübt.»Und doch, wie sollen diese armen, jämmerlichen Geschöpfe denn je lernen, selbst für ihre Kinder zu sorgen, wenn wir es ihnen abnehmen? Und noch eins: Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, dass Gott vielleicht uns prüfen will? Wie einfach wäre es doch, ein paar Geldstücke zu verteilen und uns einzureden, damit hätten wir unsere Christenpflicht erfüllt! Nein, Beatrice, Gott verlangt von uns mehr als das. Wir müssen standhaft bleiben in unserer Entschlossenheit.« Ich fügte mich, da ich keine Möglichkeit sah, gegen diese unerschütterliche Gewissheit anzukommen, Gott selbst hätte uns diesen Weg diktiert. Außerdem war Edward Wickham mein Ehemann, und ich schuldete ihm Gehorsam, auch wenn mein Herz beunruhigt und voller Ungewissheit war. Er hatte die Entscheidung zu fällen, nicht ich.

«Rechne nicht vor dem Abendbrot mit mir«, sagte Edward, während er sich erhob und seinen Mantel holen ging.»Mr.

Lusk bat mich, an einem Treffen des Bürgerwehr-Komitees von Whitechapel teilzunehmen, und danach muss ich noch meine üblichen Besuche machen. Geh heute lieber nicht aus dem Haus, meine Liebe, wenigstens bis Inspector Abberline diese Unruhen unter Kontrolle hat. «Wegen seiner vielfältigen Verpflichtungen blieb Edward dem Pfarrhaus immer häufiger fern. Manchmal kehrte er erst im Morgengrauen zurück, niedergeschlagen und erschöpft nachdem er versucht hatte, einem Mann bei der Arbeitssuche zu helfen oder für eine obdachlose Witwe und ihre Kinder eine Bleibe zu finden. Bisweilen schien er sich gar nicht zu erinnern, wo er eigentlich gewesen war. Ich machte mir Sorgen um seine Gesundheit und sein geistiges Wohlergehen.

Als er wegging, begann sich der Nebel allmählich zu lichten, doch ich konnte immer noch nicht weit sehen – außer vor meinem inneren Auge. Wenn man die Commercial Street hinunterginge und dann der Aldgate, der Leadenhall und Cornhill folgte bis zu der Stelle, wo bei einem Standbild des Herzogs von Wellington sechs Straßen aufeinander treffen, stünde man direkt vor der imposanten Londoner Börse, deren üppige Wandgemälde und Mosaikböden im Innenraum die passende Umgebung für die dort ablaufenden Transaktionen bilden. Jenseits der Threadneedle Street erheben sich schließlich die beeindruckenden Fassaden der Bank von England mit ihren fensterlosen unteren Stockwerken sowie der klobigen Wertpapierbörse. Wenn man sich dann in die entgegengesetzte Richtung wendete, wurde man mehrerer anderer Bankinstitute ansichtig, die sich um das Mansion House, den Amtssitz des Lord Mayor drängen. Ich finde es immer noch verblüffend, dass sich der Reichtum der Nation an dieser Stelle konzentriert, auf so einer kleinen Fläche … in nächster Nähe zu den schlimmsten Elendsvierteln im ganzen Land.

Ob sich die reichen Geschäftsmänner eigentlich je Gedanken über die entsetzliche Armut von Whitechapel und Spitalfields machen? Die Leute, die im Einzugsbereich der Kirchengemeinde von St. Juda wohnen, sind wie Tiere in einem Labyrinth aus Höfen und Gassen zusammengepfercht, die sich nie mit einer Hauptstraße kreuzen. In den baufälligen, einsturzgefährdeten Gebäuden, die nach vorn hinausgehen, sind in jedem Zimmer ganze Familien untergebracht, manchmal bis zu einem Dutzend Menschen. Unter diesen Bedingungen ist Inzest sehr verbreitet … und wie manche sagen, unvermeidlich. In den Gebäuden riecht es entsetzlich nach dem Abwasser, das sich in den Kellern sammelt, während die Höfe selbst nach Abfall stinken, der Ungeziefer, Hunde und anderes Getier auf der Suche nach Fressbarem anlockt. Oft muss ein einziges Standrohr im Hof sämtliche Bewohner von drei bis vier Gebäuden mit Wasser versorgen, ein Außenrohr, das im Winter mit beharrlicher Regelmäßigkeit einfriert. Einmal waren Edward und ich mitten in der Nacht zu einer Frau gerufen worden, die an Scharlach litt; wir fanden sie in einem übel riechenden Zimmerchen mit drei Kindern und vier Schweinen hausend. Ihr Mann, ein Droschkenkutscher, hatte sich im Vormonat das Leben genommen, und erst als wir wieder gingen, entdeckten wir, dass eins der Kinder bereits seit dreizehn Tagen tot dort gelegen hatte.

Die Nachtquartiere sind sogar noch schlimmer – dreckige, verwanzte Krankheitsherde. In solchen Billigunterkünften kann man für vier Pence die Nacht ein Bett mieten und teilt es sich oft mit einem Fremden, weil keiner allein den vollen Preis aufbringen kann. So etwas wie Privatsphäre gibt es nicht, weil die Betten wie in Schlafsälen in engen Reihen aufgestellt sind. Die Schlafstellen werden wild durcheinander an Männer und Frauen vermietet, und folglich sind viele von diesen Billigquartieren in Wirklichkeit Bordelle, und selbst in denjenigen, die keine sind, findet man nichts dabei, einer Prostituierten ein Bett zu vermieten, wenn sie einen zahlenden Freier mitbringt. Inspector Abberline sagte uns einmal, nach Schätzung der Polizei gebe es allein in Whitechapel zwölfhundert Prostituierte — üppige Jagdgründe also für den Mann, der sich mit dem Abschlachten von Freudenmädchen vergnügt.

Seit der Ripper begann, im East End umzugehen, setzt sich Edward für verstärkte Polizeistreifen in den abgelegenen Gassen und für bessere Straßenbeleuchtung ein. Das Problem ist nur — Whitechapel ist so arm, dass es sich die Kosten für diese notwendigen Verbesserungen nicht leisten kann. Wenn es überhaupt Hilfe gibt, dann muss sie von außen kommen. Deshalb habe ich eine eigene Kampagne ins Leben gerufen. Jeden Tag schreibe ich an Philanthropen, an wohltätige Einrichtungen und Regierungsbeamte. Ich wende mich an alle einflussreichen, zur Hilfe bereiten Persönlichkeiten, deren Name mir bekannt ist, und bitte für die Kinder von Whitechapel, besonders für jene abgerissenen, schmutzigen Gassengören, die irgendwo in einer Ecke schlafen, das essen, was sie eben ergattern oder stehlen können, und im Austausch gegen ein Geldstück, das sie ihr eigen nennen können, jede unaussprechliche Handlung vollziehen, die von ihnen verlangt wird.

Leichenhalle von Golden Lane, City of London, 12. Oktober 1888 Heute habe ich etwas getan, was ich noch nie getan habe: Ich habe mich meinem Mann mutwillig widersetzt.

Edward hatte mir untersagt, an der gerichtlichen Untersuchung der Todesursache von Catherine Eddowes teilzunehmen, indem er meinte, ich solle mich nicht den unappetitlichen Enthüllungen aussetzen, mit denen dort zu rechnen sei. Auch, sagte er, schicke es sich nicht für die Frau des Pfarrers, unbegleitet aus dem Haus zu gehen, eine Aussage, die mir in eine andere Zeit und Welt zu gehören scheint. Ich wartete ab, bis Edward das Pfarrhaus verlassen hatte, und machte mich dann eilends auf. Mein Weg führte mich an einem der größeren Schlachthöfe in der Gegend vorbei. Das Taschentuch gegen den Gestank auf Mund und Nase gepresst, musste ich die Straße überqueren, um dem Strom aus Blut und Urin auszuweichen, der über den Gehweg floss. Sobald ich Whitechapel jedoch hinter mir gelassen hatte, war der Weg frei.

Vor der Leichenhalle von Golden Lane begegnete ich erfreulicherweise Inspector Abberline, der überrascht war, mich dort zu sehen, und sich mir sofort als Beschützer anbot.»Ist Pfarrer Wickham denn nicht mitgekommen?« «Er hat in Shoreditch zu tun«, antwortete ich wahrheitsgemäß, ohne hinzuzufügen, dass Edward gerichtliche Untersuchungen abgeschmackt fand und sowieso nicht gekommen wäre.

«Die Menge könnte leicht außer Rand und Band geraten, Mrs. Wickham«, sagte Inspector Abberline.»Ich will mal sehen, ob ich uns zwei Plätze gleich neben der Tür besorgen kann.« Er tat es, und die Folge davon war, dass ich mich auf höchst undamenhafte Weise recken musste, um über die Köpfe der anderen Leute hinwegsehen zu können.

«Inspector«, sagte ich,»haben Sie die andere Frau identifizieren können, die in derselben Nacht wie Catherine Eddowes ermordet wurde?« «Ja, eine gewisse Elizabeth Stride — die Lange Liz, wie sie genannt wurde. Etwa fünfundvierzig Jahre alt und hässlich wie die Nacht, wenn Sie gestatten, dass ich von einer Toten schlecht rede. Sie waren alle unattraktiv, die Opfer des Rippers. Eins ist sicher, wegen ihrer Schönheit hat er sie sich nicht ausgesucht.« «War Elizabeth Stride Prostituierte?« «War sie, Mrs. Wickham, wie ich leider sagen muss. Sie hatte auch irgendwo noch neun Kinder und einen Ehemann, bis der ihre Trunksucht nicht mehr ertragen konnte und sie hinauswarf. Eine Frau mit einer so schönen großen Familie und einem Mann, der sie alle ernährte – welche Gründe könnte sie gehabt haben, sich dem Trunk zu ergeben?« Ich konnte mir etwa neun oder zehn denken.»Und Catherine Eddowes? Hatte sie auch Kinder?« Inspector Abberline rieb sich den Nasenflügel.»Nun, wir wissen, dass sie eine Tochter hatte, aber wir haben sie noch nicht ausfindig gemacht.« Die Untersuchung konnte beginnen. Der kleine Raum war voll, an den Wänden und sogar draußen im Flur standen Schaulustige. Der Coroner, der den Vorsitz führte, rief den ersten Zeugen auf, jenen Polizeiwachtmeister, der Catherine Eddowes’ Leiche gefunden hatte.

Das Bemerkenswerteste, was der Wachtmeister zu berichten hatte, war die Aussage, dass ihn sein Streifengang alle vierzehn bis fünfzehn Minuten über den Mitre Square führte, wo er die Leiche gefunden hatte.

Hatte der Ripper also nur eine Viertelstunde Zeit gehabt, um das Unheil anzurichten? Wie flink er vorging, wie sicher er sich seiner Sache war!

Bei der Untersuchung kam heraus, dass die Eddowes erwürgt worden war, bevor ihr der Mörder die Kehle durchgeschnitten hatte, was erklärte, weshalb sie nicht geschrieen hatte. Als Antwort auf meine geflüsterte Frage meinte Inspector Abberline, ja, die anderen Opfer seien ebenfalls erst erwürgt worden. Als die Ärzte aussagten, die bei der Autopsie zugegen gewesen waren, stimmten sie darin überein, dass der Mörder über gute anatomische Kenntnisse verfüge, waren sich jedoch uneins, wie seine Fähigkeiten bei der eigentlichen Entnahme der Organe zu beurteilen seien. Ihre Berichte über das, was mit der Leiche angestellt worden war, klangen höchst beunruhigend, und bei der Beschreibung, wie die Unterleibslappen weggeschält worden waren, um die Eingeweide offen zu legen, wurde mir ganz schwach.

Inspector Abberlines eidesstattliche Erklärung war knapp, prägnant und frei von jeglichen Mutmaßungen. Er legte noch einmal dar, welchen Verlauf die polizeilichen Ermittlungen nach dem Auffinden der Leiche genommen hatten. Weitere Zeugen traten auf, Leute, die Catherine Eddowes in der Mordnacht noch begegnet waren. Sie war dabei gesehen worden, wie sie mit einem Mann mittleren Alters gesprochen hatte, der einen schwarzen Mantel von guter Qualität, inzwischen aber etwas abgetragen, angehabt hatte. Die Beschreibung stimmte mit einer anderen überein, die sich bei den Ermittlungen zu einer früheren Mordtat des Rippers ergeben hatte. Doch am Ende war man, was die Identität des Rippers betraf, keinen Schritt weitergekommen; der Tatbestand lautete» Mord durch Unbekannt«.

Ich lehnte Inspector Abberlines Angebot ab, mich von einem seiner Assistenten nach Hause begleiten zu lassen.

«Demnach hat er also insgesamt sechs Frauen umgebracht, dieser Ripper«, sagte ich.»Da brauchen Sie alle Ihre Leute für die Ermittlungen.« Der Inspector rieb sich den Nasenflügel, eine typische Geste, die ich inzwischen als Zeichen von Unsicherheit deutete.»Um ehrlich zu sein, Mrs. Wickham, ich bin der Meinung, dass nur vier Frauen von ein und demselben Mann getötet wurden. Erinnern Sie sich an die, die in der Nähe von St. Juda ermordet wurde? Und an die in der Osborn Street?«Er schüttelte den Kopf.»Nicht das Werk des Rippers, da bin ich überzeugt.« «Wie kommen Sie darauf, Inspector?« «Weil man diesen beiden Frauen zwar die Kehlen durchgeschnitten hat, aber anders als bei den späteren Opfern. Die Art, wie der Ripper seinen Opfern den Hals aufschlitzt, hat etwas Teuflisches … wir wissen, dass er Linkshänder ist und stets zwei Schnitte macht, einen in jede Richtung. Die Schnitte sind tief, brutal … Annie Chapman hätte er fast den Kopf abgetrennt. Nein, Polly Nichols war sein erstes Opfer, dann die Chapman. Und nun dieser Doppelmord — Elizabeth Stride und Catherine Eddowes. Diese vier sind alle das Werk desselben Mannes.« Ich erschauderte.»Kannten die Frauen einander?« «Das konnten wir noch nicht feststellen«, erwiderte Inspector Abberline.»Offensichtlich hatten sie nichts gemeinsam, abgesehen von der Tatsache, dass sie alle vier Prostituierte waren.« Ich hatte noch weitere Fragen, hatte den Inspector nun aber lange genug aufgehalten. Ich verabschiedete mich und machte mich von der Golden Lane auf den langen Heimweg. Das Tageslicht begann bereits zu schwinden, doch ich hatte kein Geld für eine Droschke bei mir. Also zog ich mein Tuch fester um die Schultern und beschleunigte den Schritt, denn ich wollte nach Einbruch der Dunkelheit nicht draußen erwischt werden. Mein Mann war der Meinung, verheiratete Frauen hätten nichts zu befürchten, da der Ripper nur Prostituierte tötete. Ich war der Meinung, mein Mann vertraue allzu sehr darauf, dass der Ripper den Unterschied erkennen konnte.

Ich war schon fast zu Hause angelangt, als sich ein höchst bedauerlicher Zwischenfall ereignete. Auf der Middlesex Street näherte sich mir eine völlig aufgelöste Frau, auf dem Arm eine Art Lumpenbündel, das sie mir hastig hinstreckte. In die Lumpen gehüllt war ein totes Baby. Ich schrie auf und hätte den kalten kleinen Körper fast fallen gelassen.

«Er hätte bloß ein bisschen Milch gebraucht«, sagte die Mutter mit tränenüberströmtem Gesicht.

«O, das tut mir ja so Leid!«, stieß ich hilflos hervor. Die Ärmste schien selbst halb verhungert.

«In der Kirche um Hilfe bitten hätt’ keinen Sinn, hat’s geheißen«, schluchzte sie,»weil Sie noch nie was gegeben haben, bloß ein freundliches Wort.« Ich musste den Kopf senken, so schämte ich mich. Auch jetzt hatte ich keine zwei Pence in der Tasche, die ich ihr hätte geben können. Ich zog das Umschlagtuch herunter und wickelte es um den kleinen Leichnam.»Begraben Sie ihn darin.« Sie murmelte irgendetwas, während sie mir das Bündel wieder abnahm und davonstolperte. Sicher hatte sie die gute Absicht, ihr Kind in dem Tuch zu begraben, doch im letzten Moment würde sie ihm den warmen Schal wieder wegreißen und ihn für sich nehmen Weinen würde sie dabei um ihr totes Baby, doch sie würde es tun Ich betete darum, dass sie es tat.

Pfarrhaus von St. Juda, 16. Oktober 1888 Heute Morgen ließ ich mir von einem arbeitslosen Maurer für vier Pence unsere Feuerstellen säubern. In dem großen Kamin in der Küche machte er eine überraschende Entdeckung: Die rußgeschwärzten Knöpfe von dem vermissten Baumwollhemd meines Mannes kamen zum Vorschein. Als ich Edward später fragte, wieso er denn sein bestes Hemd verbrannt hätte, sah er mich völlig entgeistert an und wollte wissen, wieso ich es verbrannt hätte. Dabei lebt außer uns beiden sonst niemand im Pfarrhaus.

Spitalfields Market, 22. Oktober 1888 Der Apotheker teilte mir bedauernd mit, dass der Preis von Arsen gestiegen sei, woraufhin ich notgedrungen weniger als das übliche Quantum erstand und hoffte, dass Edward sich mit der geringeren Menge begnügte. Das Pfarrhaus rattenfrei zu halten war eine kostspielige Angelegenheit. Als wir in St. Juda einzogen, glaubten wir erst, die Ratten kämen aus den Lagerhallen an der Commercial Street herüber, doch dann stellte sich heraus, dass jedes Gebäude in Whitechapel mit Ungeziefer verseucht war. Sobald man einen Schädling tötete, tauchten an seiner Stelle andere auf.

Vor einer Bierschenke war eine Zeitung angeschlagen, die meine Aufmerksamkeit erregte. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, alles zu lesen, was über den Ripper veröffentlicht wurde. Das einzig Neue war, dass alle Bemühungen, die Familie von Catherine Eddowes ausfindig zu machen, dem letzten Opfer des Rippers, gescheitert seien. Ein Leitartikel auf der Titelseite forderte den Rücktritt des Polizeipräsidenten und verschiedener anderer hoch gestellter Persönlichkeiten. Drei Wochen waren vergangen, seit der Ripper zwei Opfer in einer Nacht geholt hatte, und die Polizei hatte noch immer keine brauchbaren Hinweise und keine Ahnung, wer der Ripper war oder wann er das nächste Mal zuschlagen würde.

Denn dass er wieder zuschlagen würde, bezweifelte niemand; und dass die Polizei die Frauen von Whitechapel schützen konnte, glaubte keiner.

In der nächsten Straße stieß ich auf einen Aufruf, in dem jeder, der etwas über die Identität des Mörders wusste, aufgefordert wurde, sich zu melden und der Polizei Mitteilung zu machen. Die Aufforderung machte mich traurig; deutlicher hätte die Polizei das Eingeständnis ihres Scheiterns nicht formulieren können.

Pfarrhaus von St. Juda, 25. Oktober 1888 Edward ist krank. Als er gestern zur Abendbrotzeit noch nicht im Pfarrhaus aufgetaucht war, begann ich mir Sorgen zu machen. Ich verbrachte einen unruhigen Abend, während ich auf ihn wartete. Es war schon weit nach Mitternacht, als ich endlich seinen Schlüssel in der Tür hörte.

Er sah aus wie ein Fremder. Seine Augen glänzten, und seine Kleidung war völlig in Unordnung. Statt in seiner sonst so stolzen Haltung ging er gebückt und mit gekrümmten Schultern, als wäre ihm kalt. Sobald er meiner ansichtig wurde, begann er mir Vorhaltungen zu machen, ich hätte das Arsen nicht gekauft, das er brauchte, um die Ratten zu vernichten. Erst als ich ihn in die Speisekammer führte, wo er das giftige Pulver selbst um die Rattenlöcher gestreut hatte, hörten seine Beschimpfungen auf. Seine Haut war heiß und trocken, und ich konnte ihn nur mit Mühe überreden, sich ins Bett zu legen.

Doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Ich saß an Edwards Bett und sah zu, wie er sich unter der Decke hin und her warf und das kühle Tuch, das ich ihm auf die Stirn gelegt hatte, von sich schleuderte. Dabei wedelte er unablässig mit den Händen, als wollte er jemanden abwehren. Was für Albträume er wohl unter diesen geschlossenen Augenlidern sah? In seinem Fieberwahn begann er laut zu schreien. Erst waren die Worte nicht deutlich, doch dann verstand ich, was mein Mann da sagte.

«Huren! Huren! Alles Huren!« Als sich sein Fieber bis um zwei Uhr morgens nicht gesenkt hatte, wusste ich, dass ich Hilfe holen musste. Ich hüllte mich in meinen Umhang und machte mich auf den Weg, wobei ich mir jeden Gedanken daran verbot, was da im Schatten lauern könnte. Ich gestehe es ungern, aber ich verging fast vor Angst; nichts Geringeres als Edwards Krankheit hätte mich nachts auf die Straßen von Whitechapel treiben können. Doch erreichte ich mein Ziel ohne Zwischenfälle, weckte Dr. Phelps aus tiefem Schlaf und fuhr in seiner Kutsche mit ihm zurück zum Pfarrhaus.

Als Dr. Phelps sich über das Bett beugte, riss Edward plötzlich die Augen weit auf. So heftig packte er den Arzt am Oberarm, dass dieser gequält zusammenzuckte.»Man muss ihnen Einhalt gebieten!«, flüsterte mein Mann heiser.»Man … muss ihnen Einhalt gebieten!« «Wir werden ihnen Einhalt gebieten«, erwiderte Dr. Phelps sanft und schob Edwards Hand weg. Mein Mann schloss die Augen und begann wieder, sich wild umherzuwerfen.

Der Arzt untersuchte ihn flüchtig.»Wegen des Fiebers hat er Halluzinationen«, teilte er mir mit.»Das beste Heilmittel ist Schlaf, gefolgt von ausreichend Bettruhe.« Er nahm ein kleines Röhrchen aus seiner Tasche und bat mich um ein Glas Wasser. Dann gab er ein paar Tropfen von der Flüssigkeit in das Wasser, das er Edward einflößte, während ich meinem Mann den Kopf hielt.

«Was haben Sie ihm gegeben?«, fragte ich.

«Laudanum, damit er einschläft. Ich lass Ihnen das Röhrchen da. «Dr. Phelps rieb sich den Arm an der Stelle, wo Edward ihn gepackt hatte.»Komisch, aber ich erinnere mich gar nicht, dass Mr. Wickham Linkshänder ist.« «Er ist beidhändig. Dieses Fieber … Wird er wohl bald wieder gesund?« «In ein paar Stunden werden wir es wissen. Geben Sie ihm noch von dem Laudanum, aber nur wenn er aufwacht und wieder so verwirrt ist, und dann auch nur einen einzigen Tropfen auf ein Glas Wasser. Ich komme später wieder, um zu sehen, wie es ihm geht.« Nachdem Dr. Phelps gegangen war, legte ich Edward ein frisches kühles Tuch auf die Stirn und nahm wieder meinen Platz an seinem Bett ein. Edward schien tatsächlich ruhiger, er hatte aufgehört, sich so herumzuwerfen, und nur die gelegentlich zuckenden Hände deuteten noch auf seine innere Aufgewühltheit hin.

Bis zum Morgengrauen schlief er schließlich tief und fest, und auch das Fieber schien sich gelegt zu haben.

Ich war innerlich zu aufgeregt, als dass ich hätte schlafen können, und beschloss, mich mit Hausarbeit zu beschäftigen. Edwards schwarzer Mantel musste kräftig abgebürstet werden, und damit wollte ich beginnen. Dabei entdeckte ich die rostfarbenen Flecken an den Ärmelaufschlägen. Sie sahen nicht neu aus, doch ich war mir nicht sicher. Um sie zu entfernen, musste ich behutsam vorgehen, denn der Mantel hatte schon bessere Tage gesehen und der Stoff würde einer energischen Behandlung nicht standhalten. Schließlich bekam ich die schlimmsten Flecken jedoch heraus und hängte den Mantel in den Kleiderschrank.

Dann kniete ich mich am Schlafzimmerfenster nieder und betete. Ich bat Gott, den Argwohn zu bezwingen, der sich wie eine düstere Wolke über mein Gemüt gelegt hatte.

Whitechapel hatte Edward verändert. Seit er die Pfarrei von St. Juda übernommen hatte, war er immer abweisender geworden, immer entrückter. Er war schon immer ein zurückhaltender Mensch gewesen, hatte selten von sich und niemals von seiner Vergangenheit gesprochen. Ich wusste nichts von seiner Kindheit, nur dass er in London geboren war. Er hatte immer abgewehrt, wenn ich ihn nach der Zeit fragte, bevor wir uns begegnet waren. Hätten meine Eltern noch gelebt, als Edward um mich zu werben begann, sie hätten mir niemals gestattet, einen Mann zu empfangen, der keine Vorgeschichte hatte, keine Familie und keinen Bekanntenkreis. Doch inzwischen hatte ich das Alter überschritten, das man gemeinhin als das heiratsfähige betrachtet, und war hoch beglückt, als aus dem Nichts plötzlich ein Herr von verwandter Denkungsart auftauchte, der sich wünschte, dass ich mit ihm durchs Leben ging. Das Einzige, was ich von Edward wusste, war die Tatsache, dass er ein wenig älter war als die meisten frisch ordinierten Vikare, was darauf hindeutete, dass er früher einen anderen Beruf ausgeübt oder zumindest darin ein Ausbildung gemacht hatte, bevor er Priester wurde. Wir hatten gemeinsam zwölf friedliche Jahre verbracht, und ich hatte meine Entscheidung nie bereut.

Doch obwohl er es nach Kräften zu verbergen versucht hatte war Edwards Haltung während unserer Pfarrzeit in Whitechapel immer unnachgiebiger geworden. Leider brachte er den Menschen, denen er hier geistlichen Beistand zu leisten hatte, keinerlei Achtung entgegen.

Einmal hörte ich ihn zu einem anderen Pfarrer sagen:»Die unteren Schichten leisten keine nützlichen Dienste. Sie schaffen keinen Wohlstand — sondern zerstören ihn eher noch. Was sie auch anfassen, verdirbt ihnen, und der Einzelne ist kaum imstande, seine Lage zu verbessern.

Sparsamkeit und gutes Haushalten bedeuten ihnen nichts.

Ich möchte sie nicht gerade als unrettbar bezeichnen, aber vielleicht sind sie das ja.« Der Edward Wickham, den ich geheiratet habe, hätte nie so gesprochen.

«Beatrice.« Ich blickte zum Bett hinüber; Edward war wach und beobachtete mich. Ich erhob mich und ging zu ihm hinüber.»Wie fühlst du dich, Edward?« «Schwach, als ob ich viel Blut verloren hätte. «Er wirkte verwirrt.»Bin ich krank?« Ich erklärte ihm die Sache mit dem Fieber.»Dr. Phelps sagt, du brauchst viel Ruhe.« «Dr. Phelps? War er hier?«Edward wusste nicht mehr, dass der Arzt da gewesen war. Er konnte sich auch nicht erinnern, wo er in der vorigen Nacht gewesen oder dass er überhaupt nach Hause gekommen war.»Das macht mir Angst«, sagte er mit zitternder Stimme. Er sprach schleppend, was auf das Laudanum zurückzuführen war.

«Mir fehlen einige Stunden meines Lebens, und ich habe keinerlei Erinnerung daran?« «Darum kümmern wir uns später. Jetzt versuche erst mal, noch ein wenig zu schlafen.« «Schlafen … ja. «Ich setzte mich hin und hielt seine Hand, bis er wieder einschlummerte.

Als er ein paar Stunden später erneut aufwachte, brachte ich ihm eine Schale Brühe, die er mit wiedergewonnenem Appetit zu sich nahm. Mein Mann war deutlich auf dem Wege der Besserung und erwog sogar aufzustehen, als Dr. Phelps vorbeikam. per Arzt freute sich über Edwards Fortschritte.»Ruhen Sie sich den Rest des Tages noch aus«, sagte er,»dann dürfen Sie morgen aufstehen. Geben Sie Acht, dass Sie sich nicht überanstrengen, sonst kommt das Fieber wieder.« Edward tat zwar so, als wollte er protestieren, doch ich glaube, er war insgeheim froh, dass man von ihm nichts anderes verlangte, als den ganzen Tag im Bett liegen zu bleiben. Ich begleitete den Arzt zur Tür.

«Sorgen Sie dafür, dass er isst«, sagte er zu mir.»Er muss wieder zu Kräften kommen.« Ich versprach, mich darum zu kümmern. Dann zögerte ich, ich musste es einfach unbedingt erfahren.»Dr. Phelps, ist gestern Nacht irgendetwas passiert?« «Wie bitte?« Er wusste nicht, was ich meinte.»Hat der Ripper wieder zugeschlagen?« Dr. Phelps lächelte.»Ich freue mich, das verneinen zu können. Vielleicht ist es ja jetzt vorbei mit diesen entsetzlichen Morden, hmm?« Meine Erleichterung war so groß, dass ich beinahe in Tränen ausgebrochen wäre. Als der Arzt gegangen war, fiel ich erneut auf die Knie, um zu beten, und diesmal bat ich Gott um Vergebung für die treulosen Gedanken, die ich gegenüber meinem eigenen Gatten gehegt hatte.

Polizeiwache Leman Street, Whitechapel, 1. November 1888 Und so verließ ich das Pfarrhaus an diesem hellen, frischen Dienstagmorgen unbeschwert und leichten Herzens. Mein Mann hatte sich von seiner Unpässlichkeit erholt und ging seinen alltäglichen Verpflichtungen nach.

Ich hatte zwei ermutigende Antworten auf meine Petitionen erhalten, in denen ich um wohltätige Unterstützung für die Kinder von Whitechapel bat. Und London hatte den ganzen Monat Oktober überstanden, ohne dass der Ripper noch einmal gemordet hätte.

Ich war gerade unterwegs, um zwei Briefe aufzugeben, meine Antworten an die Philanthropen, die geneigt waren, meiner Bitte Gehör zu schenken. Ich hatte sie davon unterrichtet, dass über die Hälfte aller in Whitechapel geborenen Kinder sterben, bevor sie fünf Jahre alt geworden sind. Und diejenigen, die nicht sterben, sind geistig und körperlich unterentwickelt. Viele von denen, die in Armenschulen gehen, werden für abnorm dumm, wenn nicht regelrecht schwachsinnig erklärt. Häufig kommen Kinder vor Hunger weinend in der Schule an und brechen in ihren Schulbänken zusammen. Im Winter ist ihnen so kalt, dass sie nicht in der Lage sind, Lesen und Schreiben zu lernen oder ihre Rechenaufgaben zu machen.

Die Schulen selbst werden schandbar schlecht geführt und die Kinder dort oft misshandelt. Es gibt Schuldirektoren, die den größten Teil des Budgets in die eigene Tasche stecken und die Kinder als billige Arbeitskräfte an die Besitzer von Ausbeutungsbetrieben verleihen.

Mein Vorschlag beruhte nun darauf, für die Kinder von Whitechapel ein Internat einzurichten, einen Ort, wo den jungen Menschen hygienische Lebensbedingungen, gesunde Ernährung und warme Kleidung geboten würden — noch bevor sie überhaupt einen Fuß ins Klassenzimmer setzten. Wenn ihre leiblichen Bedürfnisse dann gestillt wären, würden sie auch noch die richtige schulische und moralische Erziehung bekommen. Das Internat sollte von einem ehrlichen und gewissenhaften Direktor verwaltet werden, bei dem man sich darauf verlassen konnte, dass er die bemitleidenswerten Geschöpfe niemals ausbeuten würde. All das würde eine Menge Geld kosten.

Meine Briefe wanderten in den Kasten, begleitet von einem stummen Gebet. Ich befand mich in der Leman Street, nicht weit von der Polizeiwache. Ich ging hinein und fragte, ob Inspector Abberline da sei.

Er war da. Er begrüßte mich freundlich und bot mir einen Stuhl an. Nachdem er sich nach dem Befinden meines Mannes erkundigt hatte, lehnte er sich zurück und sah mich erwartungsvoll an.

Nun, da ich dort war, verspürte ich plötzlich eine Spur Verlegenheit.»Ich weiß, es klingt vermessen«, sagte ich, «aber darf ich Ihnen vielleicht einen Hinweis geben? Den Ripper betreffend, meine ich.

Sie haben zweifellos jeden möglichen Ansatz in Betracht gezogen, aber …«Ich sprach den Satz nicht zu Ende, denn er lachte.

«Verzeihen Sie, Mrs. Wickham«, sagte er, immer noch lächelnd.

«Ich möchte Ihnen etwas zeigen. «Er ging in ein anderes Zimmer und kam gleich wieder mit einer großen Schachtel voller Papiere zurück.»Das hier sind Briefe«, erklärte er, «von lauter besorgten Bürgern wie Ihnen. Jeder bietet einen anderen Plan zur Ergreifung des Rippers an. Und wir haben noch zwei weitere solche Schachteln.« Ich errötete und schickte mich an zu gehen.»Dann werde ich Sie nicht länger — « «Bitte, Mrs. Wickham, bleiben Sie doch sitzen. Wir lesen jeden Brief, den wir bekommen, und berücksichtigen jeden Hinweis. Ich zeige Ihnen diese Schachtel nur, um Sie davon zu überzeugen, dass wir Hinweise gern annehmen.« Nicht völlig überzeugt, aber dennoch bestärkt von der zuvorkommenden Art des Inspectors, nahm ich meinen Platz wieder ein.

«Also gut. «Ich versuchte mich zu sammeln.»Das erste Opfer des Rippers war Ihrer Überzeugung nach Polly Nichols?« «Korrekt. In der Buck’s Row, am letzten Augusttag.« «In der Illustrated Times stand, sie war zweiundvierzig Jahre alt und lebte getrennt von ihrem Mann, dem sie fünf Kinder geboren hatte. Der Grund für ihre Trennung war ihr Hang zur Trunksucht. Laut Times setzte Mr. Nichols seiner Frau eine gewisse Summe aus, bis er erfuhr, dass sie sich prostituierte — woraufhin er jegliche finanzielle Unterstützung einstellte. Ist mein Bericht bis hierhin korrekt?« «Jawohl.« «Das nächste Opfer des Rippers war Annie Chapman, etwa vierzig, die Anfang September ermordet wurde?« «In der Nacht des Achten«, ergänzte Inspector Abberline,»obwohl man ihre Leiche erst am nächsten Morgen um sechs gefunden hat. Sie wurde in der Hanbury Street getötet, weniger als eine halbe Meile von der Buck’s Row entfernt, wo Polly Nichols ermordet worden war.« Ich nickte.»Annie Chapman landete auch wegen Trunksucht in der Gosse. Sie erfuhr vom Tod ihres Mannes erst, als ihre Zahlungen aufhörten. Als sie versuchte, ihre beiden Kinder zu finden stellte sie fest, dass diese getrennt und in zwei verschiedene Schulen verschickt worden waren, eine davon im Ausland.« Inspector Abberline zog eine Augenbraue hoch.»Wie haben Sie das in Erfahrung gebracht, Mrs. Wickham?« «Eines unserer Gemeindemitglieder kannte sie«, erwiderte ich.

«Als nächstes kam der Doppelmord an Elizabeth Stride und Catherine Eddowes in den frühen Morgenstunden des dreizehnten September. In der Berner Street und am Mitre Square, fünfzehn Gehminuten voneinander entfernt. Die Stride war von Geburt Schwedin und angeblich Witwe, aber ich habe gehört, dass das vielleicht nicht stimmt. Sie war eine stadtbekannte Säuferin, zumindest sagt das einer der Wachtmeister, die in der Fairclough Street auf Streife gehen. Vielleicht hat sie sich ja so geschämt, dass sie nicht zugeben wollte, dass ihr Mann ihr den Zugang zu ihren Kindern verwehrt hat — zu ihren neun Kindern. Sagen Sie, ist das ebenfalls korrekt?« Der Inspector bejahte ziemlich verblüfft.

«Über Catherine Eddowes weiß ich sehr wenig. Aber in der Times steht, dass sie die Nacht vor ihrem Tode in einer Zelle auf der Polizeiwache in der Cloak Lane verbrachte, weil man sie irgendwo in Aldgate betrunken von der Straße aufgelesen hatte. Hatte sie ebenfalls einen Ehemann, Inspector?« Er nickte bedächtig.»Einen Mann namens Conway. Wir konnten ihn aber noch nicht ausfindig machen.« In jedem Fall das gleiche Muster.»Sie haben mehr als einmal gesagt, die vier Opfer hätten nur eines gemeinsam, nämlich dass sie alle Prostituierte waren. In Wirklichkeit, Inspector, hatten sie jedoch eine ganze Menge gemeinsam.

Sie waren alle in den Vierzigern. Allen gebrach es an Schönheit. Sie waren alle verheiratet gewesen. Alle hatten ihr Zuhause aufgrund eines Hangs zur Flasche verloren.« Ich holte tief Atem.»Und es waren alles Mütter.« Inspector Abberline sah mich fragend an.

«Es waren alles Mütter, die ihre Kinder im Stich gelassen hatten. « Er ließ sich das durch den Kopf gehen.»Sie meinen, der Ripper war als Kind im Stich gelassen worden?« «Könnte das denn nicht sein? Oder vielleicht hatte er auch eine Frau, die er wegen ihrer Trunksucht hinausgeworfen hat. Ich weiß nicht, wie er in das Muster passt. Aber überlegen Sie mal. Die Art, wie diese Morde verübt wurden, macht es doch ganz deutlich, dass diese Frauen nicht bloß wie das unglückliche Opfer eines Straßenräubers umgebracht wurden — diese Frauen wurden bestraft. «Es behagte mir nicht, über solche Dinge zu sprechen, doch ich musste es einfach tun.»Die Art, wie sie zu Tode gekommen sind, ist eine groteske Spielart dessen, wie sie sich ihren Lebensunterhalt verdient haben, könnte man sagen.« Der Inspector fühlte sich ebenfalls unbehaglich.»Sie wurden aber nicht vergewaltigt, Mrs. Wickhain.« «Aber natürlich wurden sie das, Inspector«, sagte ich leise.»Sie wurden mit einem Messer vergewaltigt.« Ich hatte ihn verlegen gemacht.»Wir sollten über diese Dinge nicht sprechen«, sagte er, umso bekümmerter, als er auch noch den Anschein erweckte, er wollte die Frau des Pfarrers zurechtweisen.

«Von diesen Dingen sind Sie doch nicht betroffen.« «Ich möchte Sie nur bitten, das, was ich gesagt habe, in Betracht zu ziehen.« «O, das verspreche ich Ihnen«, antwortete er gequält, und ich glaubte ihm.»Ich habe aber auch hoffnungsvolle Neuigkeiten«, fuhr er fort, bestrebt, das Thema zu wechseln.»Wir haben mehr Leute für die Streife zugeteilt bekommen — mehr als jemals in einem Teil von London zusammengezogen wurden! Das nächste Mal, wenn der Ripper zuschlägt, sind wir auf ihn vorbereitet.« «Dann glauben Sie also, er schlägt wieder zu.« «Ich befürchte es. Er ist noch nicht fertig.« Diese Meinung war zwar allgemein verbreitet, doch aus dem Mund eines polizeilichen Ermittlers klang sie noch unheilvoller. Ich dankte Inspector Abberline, dass er sich die Zeit genommen hatte, und ging.

Etwas, was mich an den Ermittlungen in den Ripper-Mordfällen schon lange störte, war die Weigerung der Untersuchungsbeamten, den gewissermaßen fleischlichen Aspekt dieser Gewalttaten zu erkennen. Die Morde waren das Werk eines Wahnsinnigen, darin waren sich Polizei und Zeitungen einig … als ob das alles erklärte. Wenn Inspector Abberline und die übrigen Verantwortlichen aber den wilden Frauenhass, der den Ripper antrieb nicht erkannten, gab ich alle Hoffnung auf, dass er je gefasst würde.

Miller’s Court, Spitalfields, 10. November 1888 Um drei Uhr morgens wartete ich, immer noch vollständig angekleidet, dass Edward ins Pfarrhaus zurückkehrte. Ich hatte es bereits vor Stunden aufgegeben, seine Abwesenheit vor mir selbst zu rechtfertigen. Seine Verpflichtungen zwangen ihn zwar häufig, lang auszubleiben, aber nie so lang. Ich überlegte gerade, ob ich zu Dr. Phelps gehen und um Hilfe bitten sollte, als ein aufgeregtes Klopfen an der Tür zu hören war.

Es war ein junger Dienstmann vom Markt namens Macklin, der gelegentlich in St. Juda zum Gottesdienst kam. Er war völlig außer sich.»Meine Frau«, keuchte er.

«Es ist so weit, und die Hebamme ist sturzbesoffen.

Können Sie kommen?« Ich sagte ja.»Lassen Sie mich nur ein paar Sachen holen. «Ich war außer mir vor Sorge und hätte ihn am liebsten weggeschickt, doch war es für die Macklins das erste Kind, und so konnte ich ihm seine Bitte um Hilfe nicht abschlagen.

Wir eilten in Richtung Spitalfields davon; das Ehepaar hatte vor kurzem ein Zimmer in einem Elendsquartier gegenüber von Miller’s Court gemietet. Die Gegend kannte ich ungefähr. Dort waren Edward und ich einmal in eine Unterkunft zu einem Sterbenden gerufen worden.

Damals war ich zum ersten Mal in einer dieser Absteigen gewesen. Ein riesiger Bau mit über dreihundert Betten, von denen jedes für die Nacht vermietet war.

Miller’s Court lag dieser Unterkunft direkt gegenüber.

Als wir den Hof betraten, kam ein etwa zwölfjähriges Mädchen aus der Tür, wo sie gekauert hatte, und zupfte an meinem Rockzipfel.

«Vier Pence für ’nen Platz zum Pennen, Lady?« «Raus hier«, schrie Macklin.»Weg mit dir!« «Einen Moment«, unterbrach ich ihn. Ich fragte das Mädchen, ob sie denn kein Zuhause hätte.

«Mam hat mich weggeschickt«, antwortete das Mädchen verdrießlich.»Ich soll mich nicht blicken lassen, bis es hell wird.« Ich verstand; hier schickten die Frauen ihre Kinder oft auf die Straße, wenn sie ihr Zimmer für unzüchtige Zwecke vermieten wollten.»Ich habe kein Geld«, sagte ich zu dem Mädchen,»du kannst aber mit hereinkommen.« «Aber nicht in mein Zimmer!«, rief Macklin.

«Sie kann vielleicht mit anpacken, Mr. Macklin«, sagte ich bestimmt.

Mürrisch gab er nach. Das Mädchen, Rose Howe mit Namen, folgte uns hinein. Ich fing sofort an zu niesen, denn die Luft war voll mit winzigen Tierfellpartikeln.

Jemand im Gebäude rupfte Hunde-, Kaninchen- oder sogar Rattenfelle, um sie dann an einen Kürschner zu verkaufen. Es herrschten auch noch andere Gerüche; im Gebäude war mindestens ein Fisch, der nicht erst gestern gefangen worden war. Ich konnte Kleister riechen, höchstwahrscheinlich von trocknenden Streichholzschachteln. Es war alles ziemlich

überwältigend.

Macklin führte uns eine Treppe hinauf, von der das Geländer entfernt worden war — zweifellos als Feuerholz.

Tapeten, von Ungeziefer wimmelnd, hingen in Fetzen über unseren Köpfen. Macklin öffnete die Tür zu einem Zimmerchen, in dem seine Frau in den Wehen lag.

Mrs. Macklin, selbst noch ein Kind, war nur ein paar Jahre älter als Rose Howe. Sie lag auf einer zweifellos ebenfalls von Flöhen wimmelnden Strohmatratze auf einem kaputten Bettgestell. Ein paar Kisten standen an eine Wand gestapelt; das übrige Mobiliar bestand aus einem quer über zwei Stapel Ziegelsteine gelegten Holzbrett. Ich schickte Macklin nach einem Eimer Wasser aus der Leitung im Hof und ließ Rose Howe dann ein paar Lappen auswaschen, die ich in einer Ecke fand.

Es waren lange Wehen. Rose rollte sich auf dem Fußboden zusammen und schlief ein. Macklin ging ein paar Biere kippen.

Es war bereits Tag geworden, als das Baby schließlich kam. Macklin war wieder da und wurde mit jedem Schmerzensschrei seiner jungen Frau nüchterner. Weil es schon hell war, hätte Rose Howe eigentlich in ihr eigenes Zimmer zurückkehren können, blieb aber da, um zu helfen. Standhaft ließ sie Mrs.

Macklin beim letzten Pressen ihr dünnes Handgelenk packen. Das Baby war viel zu klein, aber als ich der Kleinen Mündchen und Nase säuberte, stieß sie einen kräftigen Schrei aus, der unmissverständlich ihre Ankunft auf der Welt verkündete.

Ich sah, wie ein Lächeln die Gesichter der beiden jungen Mädchen erhellte, während Rose die Kleine wusch und sie ihrer Mutter in den Arm legte. Dann hielt Rose die Nabelschnur, die ich an zwei Stellen mit Faden abband und mit meiner Nähschere durchschnitt.

Macklin war ganz der liebende Gatte.»Mach dir nix draus, Schatz«, sagte er zu seiner Frau.»Das nächste wird

’n Junge.« Ich sagte zu Rose Howe, den Rest würde jetzt ich sauber machen und sie solle nach Hause gehen. Dann sagte ich zu Macklin, er solle seine Tochter in St. Juda taufen lassen.

Als ich endlich fertig war und gehen konnte, stand die Morgensonne bereits hoch am Himmel.

Zu meiner Verwunderung war der kleine Innenhof voller Leute, darunter ein Polizeiwachtmeister. Ich versuchte, mich bis zur Straße durchzukämpfen, aber keiner wollte mir Platz machen. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass sie mich bemerkten. Jeder versuchte, durch das zerbrochene Fenster in ein Zimmer im Erdgeschoss zu spähen.

«Wachtmeister?«, rief ich dem Mann zu.»Was ist denn hier passiert?« Er erkannte mich, stellte sich vor das Fenster, damit ich nichts sehen konnte, und sagte:»Schauen Sie da lieber nicht rein, Mrs. Wickham.« Eine Faust aus Eis schloss sich um mein Herz. Obwohl der Gesichtsausdruck des Wachtmeisters es mir bereits verriet, musste ich fragen. Ich schluckte.»Der Ripper?« Er nickte bedächtig.»Scheint so, Madam. Ich habe Inspector Abberline schon verständigt — he, Sie da, zurückbleiben!«Dann wandte er sich wieder mir zu:»Er hat bisher noch nie drinnen gemordet. Das ist was Neues bei ihm.« Ich hatte Mühe, Luft zu bekommen.»Das heißt … dass er sich diesmal nicht beeilen musste. Das heißt, er konnte sich so lange Zeit lassen, wie er wollte.« Der Wachtmeister verzog gequält das Gesicht.»So ist es. Er hat sich Zeit gelassen.« Du lieber Gott. »Wer ist es, wissen Sie das schon?« «Der Mieteintreiber hat sie gefunden. He, Thomas, wie heißt sie noch gleich?« Ein verängstigtes Männchen meldete sich.»Mary …

Mary Kelly. Drei Monate mit der Miete im Rückstand war sie. Ich dachte, die versteckt sich vor mir.« Der Wachtmeister sah ihn finster an.»Und da haben Sie das Fenster zertrümmert, um reinzukommen?« «Also hören Sie, das Fenster is schon seit sechs Wochen hin! Ich hab den Lumpen rausgezogen, wo sie in das Loch gesteckt hat, damit ich reingreifen konnte und den Vorhang wegziehen — so wie Sie grade, Chef, wie Sie reingucken wollten!«Der Mieteintreiber wollte noch mehr sagen, doch seine Worte wurden vom wachsenden Lärm der Menge erstickt, die inzwischen so angeschwollen war, dass sie sich von Miller’s Court bis in einen Durchgang zur Straße ergoss. Ein paar Frauen schluchzten, eine war einem Schreikrampf nahe.

Inspector Abberline kam mit zweien seiner Leute an, alle drei grimmigen Blickes. Der Inspector versuchte es erst an der Tür und stellte dann fest, dass sie verschlossen war.

«Brechen Sie das Fenster vollends heraus«, befahl er.

«Alle anderen, zurückbleiben. Mrs.

Wickham, was machen Sie denn hier? Das Fenster rausbrechen, sag ich!« Einer seiner Leute brach den Rest der Scheibe heraus und kletterte über das Fensterbrett. Wir hörten einen kurzen, gedämpften Aufschrei, dann wurde die Tür von innen geöffnet. Inspector Abberline und sein anderer Mann schoben sich in den Raum … worauf letzterer unter heftigem Würgen gleich wieder herausrannte. Der Wachtmeister eilte ihm zu Hilfe, und ohne weiter nachzudenken, trat ich ins Zimmer.

Was von Mary Kelly noch übrig war, lag auf einem Klappbett neben einem kleinen Tisch. Ihre Kehle war so brutal durchgeschnitten worden, dass der Kopf beinahe abgetrennt war. Ihre linke Schulter war abgehackt worden, so dass ihr Arm nur noch mit einem Hautlappen am Körper hing. Ihr Gesicht war aufgeschlitzt und völlig entstellt, die Nase abgehackt … und behutsam auf den kleinen Tisch neben dem Klappbett gelegt worden. Ihre Brüste waren abgeschnitten und auf dem gleichen Tisch abgelegt worden. Von der Stirn war ihr die Haut abgeschält, die Schenkel waren ebenfalls gehäutet worden.

Die Beine selbst waren in einer unanständigen Pose gespreizt und dann bis auf die Knochen aufgeschlitzt worden. Mary Kellys Unterleib war aufgerissen worden, und zwischen ihren Füßen lag eines ihrer inneren Organe

… möglicherweise die Leber. Auf dem Tisch lag ein weiteres Organ, in ein Stückchen von dem braun karierten wollenen Unterrock des Opfers gewickelt. Die fehlende Haut war sorgfältig neben die anderen Körperteile auf dem Tisch geschichtet, als hätte der Ripper sein Opfer neu zusammensetzen wollen. Anders als zuvor hatte der Mörder dem Opfer die Eingeweide jedoch nicht auf die Schulter gehäuft, diesmal hatte er sie mitgenommen. Und als letzte Zierde hatte er Mary Kelly die rechte Hand in den aufgerissenen Bauch gesteckt.

Hast du sie auch genug gestraft, Jack? Willst du ihr nicht noch mehr wehtun?

Ich fühlte, wie mich eine Hand am Arm packte und mich energisch nach draußen bugsierte.»Sie sollten nicht hier drin sein, Mrs. Wickham«, sagte Inspector Abberline. Ich blieb an die Wand des Gebäudes gelehnt stehen, während er wieder hineinging. Eine Hand berührte mich an der Schulter, und Thomas, der Mieteintreiber, sagte:»Da können Sie sich hinsetzen, da drüben. «Er führte mich zu einer umgedrehten Holzkiste, auf der ich mich dankbar niederließ. Eine Weile saß ich mit dem Kopf über die Knie gebeugt da, dann hatte ich mich so weit gesammelt, dass ich ein Gebet für Mary Kellys Seele sprechen konnte.

Inspector Abberlines Leute fragten in der ganzen Menge herum. Als einer auf mich zutrat, erklärte ich, ich hätte Mary Kelly überhaupt nicht gekannt und sei nur deswegen hier, weil im gleichen Gebäude das Macklin-Baby auf die Welt gekommen sei. Der Inspector kam selbst herüber und gebot mir, sofort nach Hause zu gehen; ich hatte nicht die Absicht, mich dem Befehl zu widersetzen.

«Dieses letzte Opfer passt offenbar nicht in Ihr Muster«, sagte der Inspector, als ich gerade gehen wollte.»Mary Kelly war Prostituierte, aber erst Anfang zwanzig. Und soviel wir wissen, hatte sie keinen Mann und keine Kinder.« Das letzte Opfer war also weder mittleren Alters noch verheiratet, noch Mutter gewesen. Es war nicht festzustellen, ob die arme Mary Kelly hässlich gewesen war oder nicht. Diesmal jedoch hatte sich der Ripper ganz klar eine Frau ausgesucht, die sich deutlich von den früheren Opfern unterschied, hier war er von seinem üblichen Muster abgewichen. Ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte. War in seinem verzerrten, bösartigen Gehirn eine Veränderung eingetreten? War er ein Stück tiefer im Wahnsinn versunken?

Auf dem Weg von Miller’s Court nach Hause dachte ich darüber nach. Darüber dachte ich nach und über Edward.

Pfarrhaus von St. Juda, 10. November 1888 Es war fast zwölf Uhr mittags, als ich schließlich im Pfarrhaus ankam. Edward schlief tief und fest.

Normalerweise schlief er tagsüber nie, doch das Fläschchen Laudanum, das Dr. Phelps ihm dagelassen hatte, stand auf dem Nachttisch. Edward hatte sich betäubt und schlief den Schlaf des Vergessens.

Ich hob seine Kleider vom Boden auf, wo er sie hatte fallen lassen, und begutachtete sorgfältig jedes einzelne Stück; nirgends ein Tropfen Blut. Aber Mary Kelly war ja drinnen abgeschlachtet worden, und der Schlächter hätte seine Sachen einfach ausziehen können, bevor er mit seiner» Arbeit «anfing. Als nächstes überprüfte ich sämtliche Feuerstellen, doch in keiner war etwas verbrannt worden. Es konnte auch Zufall sein, sagte ich mir. Ich wusste nicht, wie lange Edward weggetreten war.

Vermutlich war es gar nicht so eigentümlich, wie ich dachte, wenn einer seiner Anfälle mit einer Mordtat des Rippers zusammenfiel. Das redete ich mir ein.

Ich war von der letzten Nacht ganz erschöpft. Appetit hatte ich keinen, konnte aber eine Tasse Tee gebrauchen.

Ich wollte gerade in die Küche gehen, als mich ein Klopfen an der Tür aufhielt. Es war der Wachtmeister, mit dem ich in Miller’s Court gesprochen hatte.

Er überreichte mir einen Briefumschlag.»Inspector Abberline sagte, das soll ich Ihnen geben. «Er tippte sich an die Mütze und ging.

Ich stellte mich ans Fenster, wo das Licht besser war. In dem Umschlag befand sich eine hastig hingekritzelte Mitteilung.

Meine liebe Mrs. Wickham, Es sind inzwischen weitere Neuigkeiten ans Licht gekommen, die es so erscheinen lassen, als wäre Ihre Theorie von einem Muster bei den Ripper-Morden doch nicht so abwegig. Obwohl Mary Kelly gegenwärtig keinen Ehemann hatte, war sie doch früher einmal verheiratet gewesen. Im Alter von sechzehn Jahren heiratete sie einen Bergmann, der ein knappes Jahr danach starb. Während ihrer Witwenschaft begegnete sie einer Reihe von Männern, die sie jeweils eine Zeit lang unterstützten, bis sie schließlich in der Gosse endete. Und ebenso wie die vier anderen Opfer war auch sie der Trunksucht ergeben. Am aufschlussreichsten ist jedoch die Tatsache, dass Mary Kelly schwanger war.

Das würde erklären, weshalb sie um so viel jünger war als die früheren Opfer des Rippers: Er gebot ihr Einhalt, bevor sie ihre Kinder im Stich lassen konnte.

Gruß, Ihr Frederick Abberline Aha. Gestern Nacht hatte der Ripper also zwei Menschen statt einem das Leben genommen und dafür gesorgt, dass eine gebärfähige junge Frau niemals Kinder austragen würde, die dann Gefahr liefen, verlassen zu werden. Es lag nicht in der Natur des Rippers, sich darum zu scheren, dass seine Opfer in ihrem Elend selbst einmal im Stich gelassen worden waren. Polly Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride und Catherine Eddowes hatten sich alle der Trunksucht ergeben, und das aus Gründen, die niemand je erfahren würde, und waren daraufhin vor die Tür gesetzt worden. Und nun auch noch Mary Kelly, verwitwet, während sie selbst fast noch ein Kind war, und ohne Auskommen — bestimmt hatte sie weder über die Ausbildung noch über die Mittel verfügt, sich ihren Lebensunterhalt auf ehrbare Weise zu verdienen. Polly, Annie, Elizabeth, Catherine und Mary … Sie alle hatten unmoralisch und in Schande gelebt, jede von ihnen. Doch keine einzige von ihnen hatte sich bewusst dafür entschieden.

Ich legte Inspector Abberlines Mitteilung in eine Schreibtischschublade und kehrte in die Küche zurück.

Um Tee zu kochen, würde ich Feuer machen müssen.

Weil der Holzkasten erst kürzlich neu gefüllt worden war, musste ich die größeren Stücke wegschieben, um zum Anzündholz darunter zu gelangen. Da war noch etwas darunter. Ich zog einen langen Streifen aus braun kariertem Wollstoff hervor, auf dem braune Flecken waren. Braun karierte Wolle. Mary Kellys Unterrock.

Mary Kellys Blut.

Der Raum begann sich um mich zu drehen. Da hatte ich es. Schluss mit den Ausreden. Schluss mit dem Leugnen.

Ich war mit dem Ripper verheiratet.

Zwölf Jahre lang hatte Edward das abscheuliche Geheimnis seines abnormalen inneren Wesens verborgen gehalten, sich hinter einer Maske aus Ehrbarkeit, ja sogar Frömmigkeit versteckt. Er hatte sein Geheimnis gut bewahrt. Aber damit war es vorbei. Die Maske war gefallen. Ich sank auf die Knie und bat um Führung. Mein inständiger Wunsch war es, nach Inspector Abberline zu schicken, damit er das Ungeheuer mitnahm, das dort im oberen Stockwerk schlief. Doch wenn der vom Laudanum herbeigeführte Schlaf genauso wirkte wie zuvor während seiner Krankheit, würde Edward als der gewohnt vernünftige Mensch aufwachen. Wenn ich mit ihm reden, ihm begreiflich machen könnte, was er getan hatte, ihm Gelegenheit geben könnte, sich freiwillig der Polizei zu stellen … es wäre das Gottgefälligste, was ich unter diesen entsetzlichen Umständen tun konnte. Wenn Edward überhaupt Erlösung gewährt werden könnte, musste er sowohl Gott als auch die Menschen um Vergebung bitten.

Mit zitternden Händen steckte ich den Stoffstreifen in meine Tasche und versuchte, mich auf die Teezubereitung zu konzentrieren. Der große Kessel war schon ausgegangen, doch als ich ihn mit Wasser füllen wollte, fühlte er sich schwer an. Ich hob den Deckel und sah mich plötzlich einem Haufen menschlicher Gedärme gegenüber.

Ich fiel nicht in Ohnmacht … höchstwahrscheinlich war ich inzwischen schon völlig gefühllos. Ich versuchte zu denken. Das Stoffstück hatte Edward vielleicht benutzt, um das Messer abzuwischen. Dann hatte er den Stoff wohl in den Holzkasten gesteckt, um ihn später zu verbrennen.

Weshalb jedoch warten? Und die Gedärme im Teekessel

… sollte ich die etwa finden? Wollte Edward mich auf diese Weise um Hilfe bitten? Und wo war das Messer? Ich begann systematisch danach zu suchen, konnte jedoch auch nach fast zweistündiger intensiver Suche nichts finden. Er hätte sich des Messers ja auch auf dem Nachhauseweg entledigen können. Hätte es in der Kirche verstecken können. Er könnte es auch unter dem Kissen haben.

Ich ging ins Wohnzimmer und zwang mich dazu, mich hinzusetzen. Ich hatte fürchterliche Angst. Ich wollte nicht unter einem Dach mit ihm bleiben, nicht um seine Seele kämpfen. Hatte er überhaupt noch eine Seele? Der Edward Wickham, neben dem ich zwölf Jahre lang jede Nacht gelegen hatte, war falsch, ein Heuchler, dessen sorgsam erfundenes Wesen und Gebaren dazu ersonnen waren, den in ihm gefangenen Dämon zu kontrollieren und zu zügeln.

Die Täuschung hatte funktioniert, bis wir nach Whitechapel kamen. Dann hatten sich die Zügel gelockert, und der Dämon entwich. Was hatte den Wandel bewirkt – lag es an der Umgebung? An der ständigen Anwesenheit von Prostituierten auf den Straßen? Ich konnte es einfach nicht begreifen.

Die Anstrengungen der vergangenen vierundzwanzig Stunden waren schließlich doch zu viel für mich; mein Kopf fiel vornüber, und ich schlief ein.

Als ich Edwards Hand auf meiner Schulter spürte, wachte ich auf. Ich fuhr zusammen und starrte ihn furchtsam an, doch sein Gesicht zeigte nur Güte und Besorgnis.»Stimmt etwas nicht, Beatrice? Warum schläfst du denn am Nachmittag?« Ich presste die Fingerspitzen auf meine Augen.»Letzte Nacht habe ich nicht geschlafen. Das Macklin-Baby ist heute früh auf die Welt gekommen.« «Ach! Mutter und Kind sind wohlauf, hoffe ich? Du hast dem jungen Macklin hoffentlich eingeschärft, wie wichtig eine frühe Taufe ist. Aber, Beatrice, wenn du das nächste Mal weggerufen wirst, wäre ich dir sehr dankbar, wenn du mich irgendwie benachrichtigen könntest. Als du Mitternacht nicht zu Hause warst, begann ich mir schon Sorgen zu machen.« Das war die erste Unwahrheit, die ich von Edward zu hören bekam und die ich als solche erkannte. Ich war es gewesen, die um Mitternacht auf ihn gewartet hatte. Sein Gesicht war so offen, so scheinbar ohne Falsch … Hatte er wirklich keine Erinnerung mehr an die vorige Nacht, oder war er einfach außergewöhnlich geschult in der Kunst der Täuschung? Ich stand auf und begann auf und ab zu gehen.»Edward, wir müssen über gestern Nacht reden …

über das, was du letzte Nacht getan hast.« Seine Augenbrauen fuhren hoch.»Ich?« Ich konnte ihn nicht ansehen.»Ich habe ihre Eingeweide im Teekessel gefunden. Mary Kellys Eingeweide.« «Eingeweide?«Ich konnte den Ekel in seiner Stimme hören.

«Was soll das heißen, Beatrice? Und wer ist Mary Kelly?« «Das ist die Frau, die du gestern Nacht umgebracht hast!«, rief ich.»Bestimmt wusstest du ihren Namen!«Ich drehte mich um und starrte ihn an … und sah mich einem Ausdruck solchen Abscheus gegenüber, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurücktrat.

«O!«Da stockte mir doch der Atem.»Bitte, schau mich nicht …« Edward? Jack?

Der Ausdruck verschwand sofort — er wusste es, er wusste, was er tat!» Du sagst, ich habe gestern Nacht jemanden umgebracht?«, fragte er, sich wieder vernünftig gebärdend.»Und dann ihre Eingeweide … in den Teekessel gesteckt? Dann zeig es mir doch, Beatrice!« Ich misstraute dem Vorschlag, ging aber trotzdem voran in die Küche. Wie ich schon fast erwartet hatte, war der Teekessel leer und makellos sauber. Schweren Herzens zog ich das Stückchen braun karierten Stoff aus meiner Tasche.»Aber hier ist etwas, das du versehentlich nicht vernichtet hast.« Er sah mich finster an.»Ein schmutziger Lappen?« «Ach Edward, hör auf, so zu tun, als wüsstest du nichts davon! Das ist ein Stück von Mary Kellys Unterrock, wie dir wohl klar sein dürfte! Edward, du musst zur Polizei gehen. Gestehe alles, mach deinen Frieden mit Gott.

Niemand sonst kann deine nächtlichen Touren ein Ende bereiten — du musst dir selber Einhalt gebieten! Geh zu Inspector Abberline.« Er hielt die Hand auf.»Gib mir den Lappen«, sagte er ausdruckslos.

«Denk an deine Seele, Edward! Es ist deine einzige Gelegenheit zur Rettung! Du musst gestehen!« «Den Lappen, Beatrice.« «Ich kann nicht! Edward, begreifst du denn nicht? Du bist verflucht — deine eigenen Taten haben dich verdammt!

Du musst niederknien und um Vergebung bitten!« Edward ließ die Hand sinken.»Du bist krank, meine Liebe. Deine Wahnvorstellung, ich sei der Ripper — darauf läuft deine Anschuldigung doch hinaus, nicht wahr? Diese Geistesstörung ist höchst unziemlich für die Frau des Pfarrers von St. Juda. Der Gedanke ist mir unerträglich, dass man dich womöglich schon bald völlig umnachtet von der Straße auflesen wird. Wir werden zusammen beten und Gott bitten, er möge dir Selbstbeherrschung verleihen.« Ich glaubte zu verstehen, was er damit sagen wollte.

«Nun gut … wenn du dich der Polizei nicht stellen willst, bleibt dir nur noch eins zu tun. Du musst dich selbst töten.« «Beatrice!«Er war schockiert.»Selbstmord ist Sünde!« Seine Reaktion war so absurd, dass ich ein hysterisches Lachen unterdrücken musste. Doch nun begriff ich, dass weiteres inständiges Bitten nichts fruchten würde. Er war hoffnungslos wahnsinnig; ich würde nie bis zu ihm durchdringen können.

Edward schüttelte den Kopf.»Nun bin ich aber doch sehr beunruhigt, Beatrice. Diese geistige Verwirrung bei dir sitzt tiefer, als ich zunächst dachte. Ich muss gestehen, ich bin mir nicht sicher, ob ich für dich sorgen kann, solange du unter Wahnvorstellungen leidest. Vielleicht ist eine Anstalt die richtige Lösung.« Ich war sprachlos.»Du würdest mich in eine Anstalt stecken?« Er seufzte.»Wo sonst finden wir Ärzte, die sich auf die Behandlung geistiger Verwirrung verstehen? Wenn du diese irren Wahnvorstellungen nicht kontrollieren kannst, sehe ich keinen anderen Ausweg. Du musst beten, Beatrice, du musst beten um die Fähigkeit, deine Gedanken zu beherrschen.« Er konnte mich sehr wohl wegsperren lassen; er konnte mich wegsperren lassen und dann mit seinen abscheulichen Morden ungehindert fortfahren, ohne sich um eine Ehefrau scheren zu müssen, die zu viel merkte. Es dauerte eine Weile, bis ich sprechen konnte.

«Nun gut, Edward. Ich werde tun, was du sagst. Ich werde beten.« «Ausgezeichnet! Ich werde mit dir beten. Aber zuerst – den Lappen, bitte.« Langsam, widerstrebend reichte ich ihm den Streifen von Mary Kellys Unterrock. Edward nahm ein Streichholz und zündete es an, und das Beweisstück, das ihn mit dem Mord in Verbindung brachte, löste sich in dünnem schwarzem Rauch auf, der sich spiralförmig in den Kamin hinaufwand. Dann beteten wir; wir baten Gott, mir die geistige und spirituelle Willenskraft zu verleihen, an der es mir gebrach.

Nach diesem scheinheiligen Akt meinte Edward, ich solle uns nun Tee machen. Ich stellte den großen Kessel beiseite und benutzte meinen kleineren. Während der Teestunde ging es um mehrere kirchliche Verpflichtungen, die Edward noch zu erledigen hatte. Ich sprach nur, wenn das Wort an mich gerichtet wurde, und bemühte mich, mir nichts zuschulden kommen zu lassen. Ich tat alles, was ich konnte, um meinem Mann das Gefühl zu geben, dass ich mich seiner Autorität fügte.

Kurz vor sechs verkündete Edward, er werde bei einem Treffen des Bürgerwehr-Komitees von Whitechapel erwartet. Ich wartete, bis er verschwunden war, und ging dann erst an den Schrank, um ein Speisemesser zu holen, und dann zum Schreibtisch, aus dem ich ein Blatt Schreibpapier nahm. Dann betrat ich die Speisekammer und begann, von den Rattenlöchern so viel Arsen wegzukratzen, wie ich konnte.

Wohltätigkeitsinstitut für bedürftige Kinder, Whitechapel, 23. Februar 1892 Inspector Abberline saß in meinem Büro und äußerte mit wohlwollendem Nicken seine Zustimmung für alles, was er gesehen hatte.»Schwer zu glauben«, meinte er,»dass das die selben dünnen, schmutzigen Kinder sind, die noch vor drei Monaten in Hauseingängen und unter Holzkisten geschlafen haben. Sie haben wahre Wunder vollbracht, Mrs. Wickham. Das Kuratorium hätte gar keine bessere Leiterin finden können. Lernen die Kinder Lesen und Schreiben? Können sie denn lernen?« «Manche schon«, antwortete ich.»Andere sind etwas langsamer. Die jüngsten sind die flinksten, scheint mir.

Auf sie setze ich große Hoffnungen.« «Ich frage mich, ob sie begreifen, was für ein Glück sie haben. Wie schade, dass Pfarrer Wickham es nicht mehr erleben kann. Er hätte sich so gefreut über das, was Sie da zustande gebracht haben.« «Ja. «Wirklich? Edward war immer der Meinung gewesen, die Armen sollten für sich selber sorgen.

Der Inspector weilte in Gedanken immer noch bei meinem verstorbenen Mann.»Ich hatte einmal eine Tante, die einer Bauchentzündung erlag«, sagte er.»Schreckliche Art zu sterben, schrecklich. «Er merkte plötzlich, dass ich vielleicht gar nicht so gern daran erinnert wurde, auf welche qualvolle Weise Edward dahingeschieden war.

«Ich bitte Sie sehr um Verzeihung — das war gedankenlos von mir.« Ich sagte, er solle sich deswegen keine Sorgen machen.

«Ich habe mich mit seinem Tod abgefunden, soweit es eben geht. Mein Leben ist jetzt hier, in der Schule, und es ist eine wirklich dankbare Aufgabe, mit der ich hier meine Tage verbringen darf.« Er lächelte.»Ich sehe, Sie sind in Ihrem Element. «Dann wurde er nüchtern.»Ich bin nicht nur gekommen, um Ihre Schule zu besichtigen, sondern auch, um Ihnen etwas zu sagen. «Er beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn.»Die Akte mit dem Fall des Rippers ist offiziell geschlossen.

Seit seinem letzten Mord sind jetzt über zwei Jahre vergangen. Aus welchem Grund auch immer er aufhörte, er hat aufgehört. Diese Schreckensherrschaft ist jedenfalls vorbei. Der Fall ist abgeschlossen.« Ich verspürte Erleichterung. Um etwas zu erwidern, sagte ich:»Wieso, glauben Sie, hat er aufgehört, Inspector?« Er rieb sich den Nasenflügel.»Entweder, weil er tot ist oder weil er irgendwo eingesperrt ist, in einer Anstalt oder vielleicht im Gefängnis wegen eines anderen Verbrechens.

Verzeihen Sie meine Unverblümtheit, Mrs.

Wickham, aber ich hoffe doch sehr, dass es Ersteres ist. Man hört ja manchmal, dass Strafgefangene aus Anstalten oder Gefängnissen entkommen.« «Ich verstehe. Glauben Sie, die Akte wird je wieder eröffnet?« «Erst in hundert Jahren. Wenn ein Mordfall als abschlossen gekennzeichnet ist, werden die Akten versiegelt, und es wird darauf vermerkt, wann sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können. Es wird ein Jahrhundert dauern, bevor sich wieder jemand diese Papiere ansieht.« Offizieller konnte es nicht sein; der Fall war tatsächlich abgeschlossen.»Ein Jahrhundert … warum denn so lange?« «Nun, die Hundertjahrregel wurde eingeführt, um die Anonymität all derer zu wahren, die im Laufe der Ermittlungen bei der Polizei vertrauliche Aussagen gemacht haben. Es ist am besten so. Jetzt wird niemand die Nase in unsere Berichte über den Ripper stecken, jedenfalls nicht vor 1992. Es ist vorbei.« «Dem Himmel sei Dank dafür.« «Amen.« Inspector Abberline schwatzte noch ein wenig, dann verabschiedete er sich. Ich schlenderte gemächlich durch die Korridore meiner Schule, eines ehemaligen Kirchenbaus, der den neuen Erfordernissen angepasst worden war. In einem der Klassenzimmer verweilte ich.

Einige der Kinder passten auf, was die Lehrerin sagte, andere träumten vor sich hin, ein paar malten. Genau wie Kinder anderswo auch.

Nicht allen Kindern, die hier bei uns sind, kann geholfen werden; manche werden sich ein besseres Los erarbeiten, andere aber werden wieder in das Leben in der Gosse zurückfallen. Ich kann keines von ihnen retten. Ich darf zu meinen anderen Verfehlungen nicht auch noch den Hochmut hinzufügen, indem ich mir die Rolle der Retterin anmaße. Einer wie mir vertraut Gott nicht das Werk der Erlösung an. Doch ist es mir vergönnt, den Kindern eine Chance zu bieten, ihnen die Gelegenheit zu geben, über ein Leben voll Elend und Verbrechen hinauszuwachsen, das einzige, das sie je gekannt haben. Ich danke Gott aus tiefstem Herzen, dass er mir dieses Vorrecht vergönnt.

In regelmäßigen Abständen kehre ich zum Miller’s Court zurück. Nicht weil es der Schauplatz von Edwards letztem Mord ist, sondern weil ich dort Rose Howe zum letzten Mal gesehen habe, das junge Mädchen, das mir geholfen hat, das Macklin-Baby auf die Welt zu bringen.

In meiner Schule ist ein Platz für Rose reserviert. Ich habe sie noch nicht gefunden, werde aber weiter nach ihr suchen.

Mein Leben gehört jetzt den Kindern von Whitechapel.

Ihnen gelten meine Gebete; diese Gebete sind die einzigen, die wahrscheinlich je erhört werden. Wenn ich einmal für mich selbst bete dann nur, um zu bitten, dass mir in der Hölle ein leichterer Platz beschieden wird.