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Lady Antonia Fraser (* 1932), die in London geborene Tochter von Lord Longford, schloss ihr Geschichtsstudium am Lady Margaret Hall in Oxford mit dem Bachelor und Magister ab und wirkte als Herausgeberin der Reihe Kings and Queens of England beim Verlag Weidenfeld, bevor sie im Jahre 1956 Hugh Fraser heiratete. Sie schrieb zunächst Kinderbücher über König Arthur und Robin Hood, gefolgt von Dolls (1963; dt. Schöne Puppen) und A History of Toys (1966; dt. Spielzeug). Mit ihrem höchst erfolgreichen Werk Mary Queen of Scots (1969; dt. Maria, Königin der Schotten) wurde sie zur Bestsellerautorin im Bereich britischer Geschichte und Biografie. Es folgten Bücher über Cromwell, Jakob I., Karl II. und über die Ehefrauen Heinrichs VIII. Zu ihrem breiten literarischen Hintergrund gehören auch eine Übersetzung von Christian Diors Autobiografie aus dem Französischen, Hör- und Fernsehspiele sowie die Herausgabe von zahlreichen Lyrikanthologien. Nachdem ihre erste Ehe 1977 auseinander gegangen war, heiratete sie 1980 den Dramatiker Harold Pinter.
Mit Quiet as a Nun (1977) wandte sie sich der Kriminalliteratur zu; es war der erste Roman mit Jemima Shore, eine der ersten und erfolgreichsten Spürnasen aus der Welt des Fernsehjournalismus. In der überarbeiteten Ausgabe seiner Geschichte der Kriminalliteratur, Bloody Murder (1992), schrieb Julian Symons, man könne Fraser» mit Fug und Recht als feministische Autorin, allerdings auch als Vertreterin des anheimelnden, beschaulichen Krimis bezeichnen. Man merkt den Romanen an, mit welcher Freude sie geschrieben wurden, was einen sehr für sie einnimmt, doch ihre besondere Stärke liegt in den überaus klug konstruierten Plots, wobei mir Cool Repentance (1982) am brillantesten erscheint.« In» Jemima Shore am sonnigen Grab «zeigt die Aufklärung eines Rätsels, gepaart mit einer Spur Romantik vor einem exotischen Hintergrund die Autorin und ihre Hauptfigur in Hochform.
«This is your graveyard in the sun — «Der hoch gewachsene, junge Mann, der ihr den Weg verstellte, sang die Worte lässig, aber deutlich. Es dauerte einen Augenblick, bis Jemima Shore merkte, welche Botschaft er zur Melodie jenes berühmten Calypso intonierte. Sie trat einen Schritt zurück. Es war eine unheimliche und nicht besonders einladende kleine Parodie.
«This is my island in the sun Where my people have toiled since time begun — « Seit ihrer Ankunft in der Karibik, wollte ihr scheinen, hatte sie das Lied nun schon im Ohr. Wie alt es wohl war?
Wie viele Jahre war es her, seit es sich durch den unvergleichlichen Harry Belafonte zum ersten Mal in aller Bewusstsein geprägt hatte? Egal. Wie alt er auch sein mochte, der Calypso wurde auf Bow Island auch heute noch mit Charme, Inbrunst und einer gewissen Erbarmungslosigkeit gesungen, ebenso auf den anderen Westindischen Inseln, die sie im Laufe ihrer Reise besucht hatte.
Natürlich war es nicht das einzige Lied, das es dort gab.
Laute Musik, hatte sie festgestellt, gehörte untrennbar zum karibischen Leben dazu, und damit fing es schon am Flughafen an. Der schwere, unwiderstehliche Rhythmus der Steelbands, der weinerliche Schmelz in den Stimmen der Sänger, all das war bis tief in die Nacht immer irgendwo, wenn nicht überall auf den Inseln zu hören: der fröhliche Klang von Freiheit, Tanz, Alkohol (Rumpunsch) und — jedenfalls für die Touristen — der Klang von Urlaub.
Für Jemima Shore, ihres Zeichens Reporterin, waren es keine Urlaubsklänge. Offiziell jedenfalls nicht. Das war aber auch ganz gut, denn Jemima gehörte vom Temperament her zu den Leuten, für die der beste Urlaub immer der war, bei dem sich etwas Arbeit mit reichlich Vergnügen paarte. Sie konnte es kaum glauben, als Megalith Television, ihr Arbeitgeber, eine Sendung genehmigte, die sie Ende Januar aus dem eiskalten Großbritannien in die sonnige Karibik führte. Es war die Umkehrung der üblichen Praxis, nach der Cy Fredericks – Jemimas Chef und auch Chef von Megalith – normalerweise im Februar in der Karibik ausspannte, während Jemima, wenn überhaupt, eher im unangenehm feuchten August dorthin beordert wurde. Noch dazu war es ein faszinierendes Projekt. Dieses Jahr war definitiv ihr Glücksjahr.
«This is my island in the sun — «In Wirklichkeit hatte der junge Mann da vor ihr aber» your graveyard in the sun« gesungen. Friedhof? Ihrer? Oder wessen? Da der Mann zwischen Jemima und dem historischen Grab stand, dem ihr Besuch galt, war es durchaus denkbar, dass er nicht nur aggressiv war, sondern auch irgendein Revier verteidigte.
Aber dann wiederum — wohl eher nicht. Es war ein Scherz, ein fröhlicher Scherz an einem freundlichen, sehr sonnigen Tag. Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes wirkte auf sie allerdings eher bedrohlich.
Jemima erwiderte seinen Blick mit jenem ganz speziellen, zuckersüßen Lächeln, das den Zuschauern im britischen Fernsehen so vertraut war. (Die gleichen Zuschauer wussten aber auch aus Erfahrung, dass Jemima, so süß ihr Lächeln sein mochte, sich von niemandem etwas bieten ließ, jedenfalls nicht in ihrer Sendung.) Bei genauerem Hinsehen war der Mann eigentlich gar nicht so jung. Sie sah sich jemandem in etwa ihrem Alter gegenüber — Anfang dreißig. Er war weiß, wenn auch so tief gebräunt, dass sie ihn nicht für einen Touristen hielt, sondern für ein Mitglied jener kleinen, loyalen Gruppe von Europäern auf Bow Island, einer Insel, die mächtig stolz auf ihre kürzlich erworbene Unabhängigkeit von einem weit größeren Nachbarn war.
Die Körpergröße des Fremden war, im Gegensatz zu seinem jugendlichen Alter, keine Täuschung. Er überragte Jemima, die ihrerseits nicht gerade klein war. Außerdem war er durchaus ansehnlich, oder wäre es jedenfalls gewesen, hätte er nicht diese seltsam geformte, ziemlich große Nase mit hohem Nasenrücken und ausgeprägt hakenförmiger Wölbung gehabt. Und doch war der Eindruck, obgleich die Ebenmäßigkeit seiner Züge durch diese Nase gestört wurde, nicht unattraktiv. Wie so ziemlich jedes männliche Wesen auf Bow Island, ob schwarz oder weiß, trug er rohweiße Baumwollshorts.
Sein orangegelbes T-Shirt zeigte das bekannte Emblem oder Wappen der Insel: die in Schwarz gehaltene Silhouette eines Bogens und eine schwarze Hand, die ihn spannte. Unter dem Emblem war einer der — auch wiederum recht fröhlichen — vielfältigen Slogans aufgedruckt, die aus dem Inselnamen ein Wortspiel machten. Auf diesem hier stand zu lesen: DIES IST DAS ENDE DES SONNENBOGENS!
Nein, bei so einem freundlichen T-Shirt hatte er bestimmt nicht vor, aggressiv zu sein.
Seltsam an der ganzen Begegnung war daher die Tatsache, dass der Fremde Jemima immer noch absolut reglos den Weg verstellte. Sie konnte das große steinerne Archer-Grabmal, das sie von den Postkarten kannte, direkt hinter ihm erspähen. Für so eine relativ kleine Insel war Bow Island bemerkenswert reich an historischen
Überresten. Admiral Nelson hatte die Insel seinerzeit mit seiner Flotte besucht, denn wie die benachbarten Inseln war auch Bow Island in die Napoleonischen Kriege verwickelt gewesen. Etwa zweihundert Jahre davor waren erst die Briten, dann die Franzosen und dann wieder die Briten eingefallen und hatten die Insel besiedelt, die einst den Kariben und davor den Aruaks gehört hatte.
Schließlich waren in diesen Schmelztiegel dann noch gewaltsam Afrikaner verbracht worden, um auf den Zuckerrohrplantagen zu arbeiten, auf denen der Reichtum der Insel basierte. Alle diese Elemente hatten in unterschiedlichem Maße zur Herausbildung des Menschenschlags beigetragen, der sich nun untereinander lässig als Bo’länder bezeichnete.
Das Archer-Grabmal, das Jemima gewissermaßen über den Atlantik hierher geführt hatte, gehörte in die Zeit der zweiten — und letzten — britischen Besiedlung. Hier lag der berühmteste Gouverneur in der Geschichte von Bow Island begraben, Sir Valentine Archer. Sogar der Name der Insel erinnerte an seine lange Herrschaft. Ursprünglich war Bow Island nach einer Heiligen benannt, und während es stimmte, dass die Insel ungefähr die Form eines Bogens besaß, war es Gouverneur Archer gewesen, der die Umbenennung durchgesetzt hatte: um auch rituell darauf hinzuweisen, dass dieser ganz bestimmte» archer« (Bogenschütze) die Herrschaft über diesen ganz bestimmten» bow«(Bogen) innehatte.
Jemima wusste bereits, dass das prächtig gemeißelte Monument Sir Valentine Archer und an seiner Seite seine Gattin Isabella darstellte. Diese doppelte steinerne Totenbahre war mit einem weißen Holzüberbau versehen, der an eine kleine Kirche gemahnte, was entweder dem ganzen Monument zusätzliche Bedeutung verleihen sollte — obwohl es den kleinen Kirchhof sicher seit jeher allein durch seine Größe beherrscht hatte — oder aber es vor der Witterung schützen sollte. Jemima hatte gelesen, dass entgegen der im siebzehnten Jahrhundert gängigen Praxis auf dem Grabstein keine Archer-Kinder verzeichnet waren. Der Grund dafür war, wie ein örtlicher Historiker es feinfühlig ausdrückte, dass Gouverneur Archer sozusagen der Vater der gesamten Insel gewesen war.
Oder in den Worten eines Calypso, den man nur auf Bow Island sang:
«Übers Meer kam der alte Sir Valentine — Und wurde dein Daddy, und wurde der mein’.« Kurz gesagt: Ein einzelnes Monument konnte nicht die Nachkommenschaft eines Mannes umfassen, der angeblich mehr als hundert Kinder gezeugt hatte, ob nun ehelich oder unehelich. Die eheliche Linie war inzwischen allerdings im Aussterben begriffen. Ein Besuch bei Miss Isabella Archer — zumindest offiziell der Letzten ihres Geschlechts — war der eigentliche Grund für Jemimas Reise in die Karibik. Sie hoffte, eine Sendung über die alte Dame und ihr Zuhause zu machen, das Archer Plantation House, dessen Einrichtung angeblich seit fünfzig Jahren nicht verändert worden war. Auch wollte sie Miss Archer generell zu den Veränderungen befragen, die diese zu ihren Lebzeiten in diesem Teil der Welt beobachtet hatte.
«Greg Harrison«, sagte der Mann plötzlich, der Jemima den Weg versperrte.»Und das ist meine Schwester Coralie. «Ein Mädchen, das bislang — von Jemima unbemerkt — im Schatten des geschwungenen Kirchenvordachs gestanden hatte, trat nun schüchtern hervor. Sie war ebenfalls sehr braun, und ihr helles Haar, das die Sonne fast flachsblond gebleicht hatte, war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine Schwester. Bestand da eine Ähnlichkeit? Coralie Harrison trug auch ein orangegelbes T-Shirt, war ihrem Bruder aber sonst nicht sehr ähnlich, da sie ziemlich klein war und eher ansprechende als schöne Züge hatte — außerdem fehlte ihr, was vielleicht ein Glück war, die dominante Nase ihre Bruders.
«Willkommen auf Bow Island, Miss Shore«, setzte sie an, doch ihr Bruder unterbrach sie und streckte Jemima seine große, muskulöse Hand hin, die von der Sonne nussbraun gebrannt war.
«Ich weiß, warum Sie hier sind, und es passt mir nicht«, sagte Greg Harrison.»Um alte Geschichten aufzuwärmen.
Wieso lassen Sie Miss Izzy nicht in Frieden sterben?«Der Kontrast zwischen seinem vermeintlich freundlichen Händedruck und den feindseligen, wenn auch ruhig ausgesprochenen Worten war verstörend.
«Ich heiße Jemima Shore«, sagte sie, obwohl er das offenbar schon wusste.»Ob es wohl gestattet ist, das Archer-Grabmal zu besichtigen? Oder geht das nur über Ihre Leiche?«Wieder lächelte Jemima ihn zuckersüß an.
«Über meine Leiche!«Greg Harrison erwiderte ihr Lächeln. Es wirkte jedoch nicht sonderlich erwärmend.
«Sind Sie denn bis an die Zähne bewaffnet hergekommen?«Bevor sie antworten konnte, begann er wieder den berühmten Calypso zu summen. Jemima dachte sich den Text dazu:»This is your graveyard in the sun.« Dann fügte er hinzu:»Wäre vielleicht gar keine schlechte Idee, wo Sie doch Sachen ausbuddeln wollen, die besser begraben bleiben sollten.« Nun war Jemima der Ansicht, es war genug geredet worden. Greg Harrison gewandt umgehend, schritt sie entschlossen auf das Archer-Grabmal zu. Dort lag das gemeißelte Paar. Sie las:»Im seligen Angedenken an Sir Valentine Archer, den ersten Gouverneur dieser Insel, und seine einzige Frau Isabella, Tochter von Randal Oxford, Edelmann. «Sie fühlte sich kurz an ihr Lieblingsgedicht von Philip Larkin über das Arundel-Grabmal erinnert. Es begann so:»Seit’ an Seit’ — der Trauerflor hineingewirkt in schweren Stein —, so ruht das Paar «und endete so:
«Was von uns bleibt, ist unsre Liebe nur.« Jenes Paar lag jedoch tausend Meilen entfernt in der klösterlichen Kühle der Kathedrale von Chichester, und hier brannte die tropische Sonne auf ihren unbedeckten Kopf herunter. Sie merkte, dass sie als Zeichen des Respekts ihren großen Strohhut abgenommen hatte, und setzte ihn rasch wieder auf. Auch wuchsen hier im Kontrast zu der sehr englisch wirkenden steinernen Kirche mit den spitzen gotischen Fenstern Palmen statt Eiben zwischen den Gräbern, und ihre schlanken Stämme bogen sich wie Giraffenhälse in der Brise. Einer romantischen Anwandlung folgend, hatte sie am Arundel-Grabmal einmal weiße Rosen niedergelegt. In dem Moment, als sie an diese Geste denken musste, fiel ihr Blick auf die vor ihr auf den Stein gehäuften leuchtend rosa und orangegelben Hibiskusblüten. Ein Schatten fiel darüber.
«Die legt Tina immer hin. «Greg Harrison war ihr gefolgt.
«Jeden Tag, wenn sie es schafft. An den meisten Tagen.
Dann erzählt sie Miss Izzy davon. Rührend, nicht?«Es hörte sich nicht so an, als fände er es besonders rührend.
Tatsächlich lag in seinem Ton so viel Bitterkeit, ja Bösartigkeit, dass es Jemima auf dem sonnigen Friedhof kalt über den Rücken lief.»Oder ist es abstoßend?«, fügte er mit nun ziemlich unverhohlener Feindseligkeit hinzu.
«Greg«, murmelte Coralie Harrison leise, wie unter Protest.
«Tina?«, sagte Jemima.»Das ist doch Miss Archers – Miss Izzys — Gesellschafterin. Wir haben uns geschrieben.
Ich kann mich im Moment nicht an ihren Nachnamen erinnern.« «Heutzutage kennt man sie als Tina Archer, werden Sie feststellen. Als sie Ihnen geschrieben hat, hat sie vermutlich mit Tina Harrison unterzeichnet. «Harrison grinste Jemima hämisch an, doch hatte sie den Nachnamen der Gesellschafterin tatsächlich vergessen gehabt — es war schließlich kein besonders ungewöhnlicher.
Sie wurden von lautem Rufen unterbrochen, das von der Straße herüberschallte. Jemima sah einen jungen Schwarzen am Lenkrad eines dieser praktischen Mini-Cabrios, mit denen auf Bow Island anscheinend jeder herumfuhr. Er stand auf und begann irgendetwas zu rufen.
«Greg! Cora! Kommt ihr auch zum — «Der Rest entging ihr — irgendwie ging es um ein Boot und einen Fisch.
Coralie Harrison strahlte plötzlich, und für einen kurzen Moment wirkte sogar Greg Harrison richtig erfreut.
Er winkte zurück.»He, Joseph. Komm und sag Miss Jemima Shore von der BBC guten Tag!« «Megalith Television«, unterbrach ihn Jemima, jedoch vergeblich. Harrison fuhr fort:»Du weißt schon, Joseph.
Sie macht eine Sendung über Miss Izzy.« Der Mann sprang elegant aus dem Wagen und kam den palmengesäumten Fußweg herauf. Jemima sah, dass auch er ungewöhnlich groß war. Und wie die überwiegende Mehrheit der Bo’länder, denen sie bisher begegnet war, wirkte er auf natürliche Weise athletisch. Wie auch immer sich die Mischung aus Kariben, Afrikanern und anderen Völkern zusammensetzte, aus der sie einmal hervorgegangen waren — auf jeden Fall waren die Bo’länder wunderschön. Er küsste Coralie auf beide Wangen und klopfte ihrem Bruder freundschaftlich auf den Rücken.
«Miss Shore, das hier ist Joseph«— noch bevor Greg Harrison den Nachnamen ausgesprochen hatte, sah Jemima an seinem boshaften Gesichtsausdruck, wie er vermutlich lauten würde —»Joseph Archer. Zweifellos einer von den zehntausend Abkömmlingen des zeugungsfreudigen alten Herrn, dessen Grab Sie da so verzückt betrachten. «Was von uns bleibt, ist unsre Liebe nur … Von wegen, dachte Jemima respektlos, während sie Joseph Archers Hand ergriff. Philip Larkin in allen Ehren, doch wie es schien, war von Sir Valentine weit mehr als das übrig geblieben.
«O, Sie werden feststellen, dass wir hier in der Gegend alle Archer heißen«, brummte Joseph liebenswürdig. Im Gegensatz zu Greg Harrison wirkte sein Willkommensgruß aufrichtig herzlich.
«Und was Sir Val-en-tine betrifft«— er sprach es Silbe für Silbe aus wie den Calypso —,»schenken Sie den Geschichten nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Wie könnte es sonst sein, dass wir nicht alle in dem schönen alten Plantagenhaus wohnen?« «Statt bloß meine Exfrau. Nein, Coralie, sag nichts. Ich könnte sie umbringen für das, was sie da anstellt. «Wieder lief Jemima bei der geballten Gewalt in Greg Harrisons Stimme ein kalter Schauer den Rücken hinunter.»Komm, Joseph, schauen wir mal nach deinem Fisch. Komm, Coralie. «Er marschierte ohne ein Lächeln davon, begleitet von Joseph, der jedoch lächelte. Coralie erkundigte sich noch, ob sie für Jemima irgendetwas tun könnte. Sie gab sich immer noch schüchtern, in Abwesenheit ihres Bruders jedoch weitaus freundlicher. Auch hatte Jemima den starken Eindruck, dass Coralie Harrison ihr etwas mitteilen wollte, etwas, was ihr Bruder nicht unbedingt hören sollte.
«Ich könnte Ihnen vielleicht manche Dinge — «Coralie schwieg. Jemima sagte nichts.»Erklären«, fuhr Coralie fort.»So eine Insel hat so viele unterschiedliche Aspekte.
Auch wenn sie so klein ist, begreift ein Außenseiter trotzdem nicht immer — « «Und ich bin der Außenseiter? Na ja, stimmt ja auch.« Jemima hatte angefangen, zur späteren Verwendung eine Skizze von dem Grabmal zu machen, wofür sie eine kleine, aber nützliche Begabung besaß. Sie verkniff sich die ehrliche, wenngleich etwas platte Bemerkung, dass ein Außenseiter manchmal auch gewisse Eigenheiten des Ortes klarer erkennen könne als die Beteiligten — denn sie wollte wissen, was Coralie sonst noch zu sagen hatte.
Würde sie ihr zum Beispiel erklären, woher Gregs ziemlich unverhohlene Abneigung gegen seine frühere Frau rührte?
Ein ungeduldiger Schrei ihres Bruders, der inzwischen neben Joseph im Wagen saß, bedeutete allerdings, dass Coralie im Moment nichts mehr hinzuzufügen hatte. Sie eilte den Fußweg hinunter, und Jemima blieb allein zurück und wandte sich mit neuem Interesse ihrem bevorstehenden Besuch bei Isabella Archer im Archer Plantation House zu. Zu diesem Besuch gehörte — wie sie annahm — wohl auch eine Begegnung mit Miss Archers Gesellschafterin, die wie ihre Arbeitgeberin gegenwärtig dort in aller Behaglichkeit lebte.
Behaglichkeit! Selbst aus der Entfernung strahlte das klobige, niedrig gebaute Anwesen eine gewisse Behaglichkeit aus, als sie später am Nachmittag dort ankam. Darüber hinaus vermittelte es den Eindruck von anmutiger, etwas altmodischer Geruhsamkeit. Als Jemima ihren gemieteten Mini die lange Auffahrt entlang steuerte — wo die Palmen noch viel höher als auf dem Friedhof waren —, konnte sie sich gut vorstellen, zurück in die Zeit von Gouverneur Archer zu reisen, zu seinen üppigen Banketts, Gesellschaften und Bällen, wo die Gäste von schwarzen Sklaven bedient wurden.
In dem Moment erschien eine junge Frau mit kaffeebrauner Haut und kurzem, schwarz gelocktem Haar auf den Stufen vorm Haus. Anders als die Serviererinnen in Jemimas Hotel, die zum Dinner ein veraltetes Mischmasch von Dienstbotenuniformen trugen – grellfarbige knöchellange Kleider, weiße Musselinschürzen und Turbane —, trug dieses Mädchen ein knallrotes rückenfreies Oberteil und abgeschnittene Shorts, die den größten Teil ihrer glatten braunen Beine offenbarten. Sie stellte sich als Tina Archer vor.
Es überraschte Jemima Shore kein bisschen, dass man mit Tina Archer — ehemalige Harrison — gut auskommen konnte. Jede Frau, die den feindseligen und ungehobelten Greg Harrison verlassen hatte, war bei Jemima schon gut angeschrieben. Mit der munter zwitschernden, so chic und sogar modisch auftretenden Tina Archer an ihrer Seite wirkte das Innere des Hauses auf sie jedoch noch viel schockierender, als es sonst der Fall gewesen wäre. Es hatte nichts, aber auch gar nichts Modernes an sich. Staub und Spinnweben waren zwar nicht tatsächlich vorhanden, deuteten sich aber in der Düsternis, in dem schweren hölzernen Mobiliar — wo waren die leichten, dem Klima so angemessenen Rohrstühle? — und vor allem in seiner Abgeschiedenheit an. Das Archer Plantation House erinnerte sie an das wie aus einer anderen Zeit stammende Haus von Miss Havisham in Große Erwartungen. Noch schlimmer, über dem gesamten Innenraum hing eine Atmosphäre der Traurigkeit. Oder vielleicht war es bloß Einsamkeit, eine Art düstere, sterile Erhabenheit, bei der man irgendwie das Gefühl hatte, dass sie Jahrhunderte in die Vergangenheit zurückreichte.
All dies stand in krassem Gegensatz zu dem auch am späten Nachmittag noch gleißenden Sonnenschein und den leuchtend bunten tropischen Blüten an den üppigen Büschen. Mit alldem hatte Jemima nicht gerechnet. Die in London zusammengetragenen Informationen hatten ihr ein ganz anderes Bild vom Archer Plantation House vermittelt, eines, das eher ihrem ursprünglichen Eindruck entsprach, als sie die palmengesäumte Auffahrt entlang gekommen war — ein Bild altmodischer, sanfter Anmut.
Während Jemima sich noch an diese Überraschung gewöhnte, stellte sie fest, dass Miss Archers Erscheinung genauso erstaunlich war. Nachdem sie sich nämlich von der lockeren, lässigen Tina rasch auf das zerfallende, düstere Haus eingestellt hatte, musste sie sich jetzt mit ebenso großer Geschwindigkeit wieder umgewöhnen.
Denn schon der erste Blick auf die alte Dame, die mindestens achtzig war, wie Jemima wusste, vertrieb jeden Gedanken an Miss Havisham. Hier hatte sie keine gealterte, verlassene Braut vor sich, die im zerschlissenen Hochzeitskleid von vor fünfzig Jahren versank. Miss Izzy Archer trug einen unter dem Kinn offenbar mit einem Tüchlein zusammengebundenen Landarbeiterstrohhut, ein lockeres weißes Männerhemd und unterm Knie abgeschnittene, ausgebleichte Blue Jeans. An den Füßen hatte sie ein Paar — wie es schien — braune Kindersandalen. So, wie sie aussah, hatte sie in dieser Montur entweder gerade geduscht oder war schwimmen gewesen. Sie war triefend nass, so dass sich auf dem prächtigen Teppich und den dunklen, blank polierten Bodendielen des Salons mit seinem dunkelroten Brokat und den drapierten, fransenbehangenen Vorhängen, in dem sie Jemima empfangen hatte, große Pfützen bildeten.
Dies war sogar in dem gedämpften Licht zu sehen, das durch die schweren braunen Fensterläden drang, die den Blick aufs Meer versperrten.
«Ach, mach doch nicht so ein Theater, Tina, mein Liebes«, rief Miss Izzy ungehalten — obwohl Tina überhaupt nichts gesagt hatte.
«Was machen schon ein paar Tropfen Wasser? Flecken?
Was denn für Flecken?«(Tina hatte immer noch nichts gesagt.)»Das soll die Regierung in Ordnung bringen, wenn es so weit ist.« Obwohl Tina Archer immer noch schwieg und ihre Arbeitgeberin freundlich, ja heiter anblickte, versteifte sich ihr Körper irgendwie, erstarrte sie in ihrer höflich lauschenden Haltung. Instinktiv ahnte Jemima, dass sie ziemlich erregt war.
«Ach, sei nicht so, Tina, reg dich doch nicht auf, Liebes. «Inzwischen schüttelte sich die alte Dame wie ein kleiner, aber kräftiger Hund das Wasser ab.»Du weißt schon, was ich meine. Und wenn du’s nicht weißt, wer dann — wo ich die meiste Zeit nicht mal selber weiß, was ich meine, geschweige denn, was ich sage. Eines Tages kannst du alles in Ordnung bringen, zufrieden? Schließlich hast du dann ja jede Menge Geld dafür und kannst dir ein paar neue Bezüge und Teppiche leisten. «Mit diesen Worten nahm Miss Izzy Jemima bei der Hand und ging mit ihr, begleitet von der immer noch schweigenden Tina, zu dem am entferntesten stehenden dunkelroten Sofa.
Vom Kopf bis zu den Zehenspitzen beträchtlich nass aussehend, setzte sie sich entschlossen mitten darauf.
Auf diese Weise wurde Jemima überhaupt erst klar, dass das Archer Plantation House nach dem Tode seiner Besitzerin nicht zwangsläufig an die neue unabhängige Regierung von Bow Island übergehen würde. Wenn es nach ihr ging, hatte Miss Izzy die Absicht, das Ganze, nämlich Haus und Vermögen, an Tina zu vererben. Dies bedeutete unter anderem, dass Jemima keine Sendung mehr über ein Haus machen würde, das demnächst Nationalmuseum werden sollte — was einen nicht unerheblichen Teil der Vereinbarung ausmachte, die sie auf die Insel geführt und ihr, nebenbei bemerkt, auch die freundliche Unterstützung eben jener neuen Regierung gesichert hatte. War das alles neu? Wie neu? Wusste die neue Regierung darüber Bescheid? Wenn das Testament unterschrieben war, musste sie es ja wissen.
«Heute Morgen habe ich das Testament unterschrieben, Liebes«, erklärte Miss Archer triumphierend, mit ihrer unheimlichen Fähigkeit, unausgesprochene Fragen zu beantworten.»Und bin zur Feier des Tages schwimmen gegangen. Ich feiere nämlich immer alles mit einem schönen Schwimmstündchen — ist doch viel gesünder als Rum oder Champagner. Obwohl davon auch noch genügend im Keller ist.« Sie hielt inne.»So, da sind Sie nun also, meine Liebe!
Oder werden Sie sein. Hier werden Sie sein. Thompson meint natürlich, es wird Ärger geben. Was soll man anderes erwarten heutzutage? Seit der Unabhängigkeit gibt’s nur Ärger. Nicht, dass ich gegen die Unabhängigkeit wäre, absolut nicht. Aber alles Neue bringt auch neuen Ärger, zusätzlich zu all dem alten Ärger, und dadurch wird der Ärger immer größer. Auf Bow Island erledigt sich Ärger nie von selbst. Woran liegt das?« Miss Izzy wartete die Antwort gar nicht ab.»Nein, ich bin ganz für die Unabhängigkeit und werde Ihnen alles darüber erzählen, meine Liebe«— dabei wandte sie sich an Jemima und legte ihr eine feuchte Hand auf den Ärmel —, «in Ihrer Sendung. Ich bin nämlich eine waschechte Bo’länderin, hier geboren und aufgewachsen. «In der Tat sprach Miss Izzy, im Gegensatz etwa zu Tina, in jenem seltsamen, leicht singsanghaften Tonfall der Inselbewohner, der in Jemimas Ohren nicht unattraktiv klang.
«Im April waren es zweiundachtzig Jahre, dass ich hier in diesem Haus geboren wurde«, fuhr Miss Izzy fort.»Sie müssen zu meiner Geburtstagsparty kommen. Ich wurde während eines Wirbelsturms geboren. Ein guter Start!
Meine Mutter starb aber bei der Geburt — sie hätten diesen neumodischen Doktor nicht holen sollen, bloß weil der aus England kam. Ein Vollidiot, ich erinnere mich noch gut an ihn. Eine ordentliche Bo’länder Hebamme hätten sie nehmen sollen, dann wäre meine Mutter nicht gestorben und mein Vater hätte Söhne bekommen …« Miss Izzy verlor sich in einer Reihe von Erinnerungen – und während es genau das war, weswegen Jemima gekommen war und was sie hören wollte, eilten ihre Gedanken nun in eine ganz andere Richtung. Ärger? Was denn für Ärger? Wo stand beispielsweise Greg Harrison in dem Ganzen — Greg Harrison, der wollte, dass man Miss Izzy» in Frieden sterben «ließ? Greg Harrison, der mit Tina verheiratet gewesen war und nun nicht mehr? Mit Tina Archer, mittlerweile Erbin eines großen Vermögens.
Und überhaupt — wieso hatte diese offenherzige alte Dame die Absicht, alles ihrer Gesellschafterin zu hinterlassen? Zunächst einmal wusste Jemima nicht, wie viel Bedeutung sie der Sache mit Tinas Nachnamen beimessen sollte. Joseph Archer hatte die ganze Geschichte mit Sir Valentines unzähligen Abkömmlingen lachend abgetan. Aber vielleicht war die schöne Tina auch auf eine ganz spezielle Weise mit Miss Izzy verbunden.
Womöglich war sie das Produkt einer jüngeren Verbindung zwischen einem unternehmungslustigen Archer und einer Bo’länder Jungfer. Aus weit jüngerer Zeit als dem siebzehnten Jahrhundert.
Ihre Aufmerksamkeit wurde wieder von Miss Izzys Erinnerungsmonolog angezogen, als diese das Archer-Grabmal erwähnte.
«Haben Sie das Grab gesehen? Tina hat herausgefunden, dass das alles Betrug ist. Ein Riesenschwindel, der da unter der Sonne liegt — ja, Tina, mein Liebes, das hast du mal gesagt. Sir Valentine Archer, mein Ururur — «Es folgte eine unendliche Menge von» Urs«, bevor Miss Izzy schließlich das Wort» Großvater «aussprach, doch musste Jemima zugeben, dass sie offenbar mitgezählt hatte.
«Einen Riesenschwindel hat er da auf seinem Grabstein verewigen lassen.« «Was Miss Izzy damit meint — «Es war das erste Mal, seit sie den abgedunkelten Salon betreten hatten, dass Tina sich vernehmen ließ. Sie stand immer noch aufrecht da, während Jemima und Miss Izzy schon saßen.
«Sag du mir nicht, was ich meine, mein Kind«, polterte die alte Dame los; ihr Ton war eher gebieterisch als nachsichtig. Tina hätte für einen Augenblick auch eine Plantagenarbeiterin von vor zweihundert Jahren sein können statt ein unabhängig denkendes Mädchen im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert.»Die Inschrift ist ein Schwindel. Sie war gar nicht seine einzige Frau. Schon die Inschrift hätte uns alarmieren sollen. Tina will, dass der armen kleinen Lucie Anne Gerechtigkeit widerfährt, und das will ich auch. Von wegen Unabhängigkeit! Ich war mein ganzes Leben lang unabhängig und habe nicht vor, jetzt damit aufzuhören. Sagen Sie, Miss Shore, Sie sind doch eine clevere junge Frau vom Fernsehen. Wieso sollte man sich die Mühe machen, etwas abzustreiten, es sei denn, es wäre wahr? So arbeiten Sie beim Fernsehen doch, nicht wahr?« Jemima überlegte, wie sie diese Frage wohl diplomatisch und ohne ihren Berufsstand zu verleumden beantworten sollte, als Tina entschlossen und diesmal auch mit Erfolg ihrer Arbeitgeberin das Heft aus der Hand nahm.
«Ich habe an einer britischen Universität Geschichte studiert, Jemima. Mein Fachgebiet ist Ahnenforschung.
Ich habe Miss Izzy geholfen, ihre Papiere zu ordnen für das Museum — beziehungsweise für das damals geplante Museum. Als dann die Anfrage von Ihrem Sender kam, begann ich etwas tiefer zu graben. Dabei stieß ich auf die Heiratsurkunde. Der alte Sir Valentine hat seine junge karibische Mätresse, bekannt unter dem Namen Lucie Anne, tatsächlich geheiratet. Spät im Leben — lange nachdem seine erste Frau gestorben war. Lucie Anne war die Mutter seiner beiden jüngsten Kinder. Er wurde allmählich alt und beschloss aus irgendeinem Grund, sie zu heiraten. Wegen der Kirche vielleicht. Irgendwie war diese Insel ja immer schon recht gottesfürchtig. Vielleicht setzte Lucie Anne, die sehr jung und sehr schön war, den alten Mann unter Druck und nahm dabei die Kirche zu Hilfe. Jedenfalls wären diese beiden letzten Kinder von all den Hunderten, die er gezeugt hatte, dann ehelich gewesen!« «Und?«, fragte Jemima möglichst aufmunternd.
«Ich stamme von Lucie Anne ab — und von Sir Valentine natürlich. «Ihr süßes Lächeln erwiderte Tina mit einem ebensolchen.»Das habe ich anhand der Kirchenbucheintragungen nachverfolgt — nicht allzu schwierig, wenn man überlegt, wie stark die Kirche hier ist. Nicht allzu schwierig, jedenfalls für eine Expertin. O, ich habe alles mögliche Blut in mir, wie die meisten von uns hier, darunter eine spanische Großmutter und vielleicht auch etwas französisches Blut. Aber die Archer-Abstammung ist absolut direkt und eindeutig.« Tina schien zu merken, dass Jemima sie voll Respekt betrachtete. Ob sie sich allerdings über die eigentliche Richtung von Jemimas Gedanken im Klaren war? Eine gefährliche, nicht zu unterschätzende Person, überlegte Jemima. Reizend ja, aber nicht zu unterschätzen. Und gelegentlich vielleicht auch skrupellos. Und, um ehrlich zu sein, fragte sich Jemima darüber hinaus, wie sie diese völlig neue Perspektive in ihrer Sendung für Megalith Television präsentieren sollte. Einerseits könnte die Entdeckung der verschollenen Erbin als romantische Aschenbrödelgeschichte interpretiert werden. Andererseits — angenommen, Tina Archer war weniger Erbin als vielmehr Erbschleicherin? Was würde Megalith — was würde Jemima Shore — in dem Fall mit einer intelligenten jungen Frau anfangen, die eine unschuldige alte Dame mit einem Haufen gefälschter historischer Fakten täuschte? So gesehen, konnte Jemima die Verachtung gut verstehen, die der Mann am sonnigen Grab für Tina Archer gezeigt hatte.
«Heute Morgen habe ich am Archer-Grabmal Greg Harrison getroffen«, bemerkte Jemima bedächtig.»Ihren Exmann, nehme ich an.« «Natürlich ist er ihr Exmann«, ließ sich Miss Izzy an ihrer Stelle vernehmen.»Dieser Nichtsnutz. Vom Tag seiner Geburt an war Gregory Harrison ein Nichtsnutz.
Und dann diese Schwester von ihm. Lauter Herumtreiber.
Von einem geregelten Job keine Spur. Gehen segeln.
Fischen. Als müsste ihnen alles nur so zufliegen.« «Halbschwester. Coralie ist seine Halbschwester. Und arbeitet in einer Hotelboutique. «Obwohl Tina völlig gelassen sprach, vermutete Jemima wieder, dass sie irgendwie verstimmt war.»Greg ist der Nichtsnutz in der Familie. «Trotz ihrer zur Schau gestellten Ruhe klang in der Bemerkung über ihren früheren Ehemann eine Spur von unterdrückter Wut an. In welcher Bitterkeit müsste diese Ehe geendet haben!
«Nichtsnutzig, alle beide. Die Ehe hast du zum Glück hinter dir, Tina, Liebes«, rief Miss Izzy aus.»Nun setz dich doch endlich, mein Kind — du stehst da wie eine Hausangestellte. Wo steckt überhaupt Hazel? Es ist fast halb sechs. Es wird schon bald dunkel. Wir könnten doch auf die Terrasse hinuntergehen, um uns den Sonnenuntergang anzusehen. Wo ist Henry? Der soll uns einen Punsch bringen. Den Archer-Plantagenpunsch, Miss Shore — warten Sie mal, bis Sie den probiert haben. Eine geheime Zutat, wie mein Vater immer sagte — « Glückselig kehrte Miss Izzy zurück in die Vergangenheit.
«Ich hole uns den Punsch«, sagte Tina, die immer noch stand.
«Sagtest du nicht, Hazel könnte heute frei nehmen? Ihre Schwester hat in Tamarind Creek drüben Hochzeit. Henry hat sie hingefahren.« «Wo ist dann der Junge? Wie heißt er doch gleich? Klein Joseph. «Die alte Dame klang allmählich verdrießlich.
«Einen Jungen gibt es nicht mehr«, erklärte ihr Tina geduldig.
«Bloß Hazel und Henry. Und was Joseph betrifft — der kleine Joseph Archer ist inzwischen ganz schön erwachsen geworden, nicht wahr?« «Aber natürlich ist er das! Ich meine ja auch nicht den Joseph — der hat mich doch letzthin besucht. War da denn nicht auch noch ein anderer Junge namens Joseph?
Vielleicht war das noch vor dem Krieg. Mein Vater hatte mal einen jungen Stallknecht — « «Ich hole uns den Rumpunsch. «Tina empfahl sich geschmeidig und verschwand.
«Hübsches Geschöpf«, murmelte Miss Izzy ihr hinterher.»Archer-Blut. Kommt doch immer durch. Man sagt ja auch, die bestaussehenden Bo’länder hießen immer noch Archer.« Doch als Tina zurückkehrte, hatte sich die Laune der alten Dame schon wieder gewandelt.
«Mir ist kalt und feucht«, verkündete sie.»Ich werde mich noch verkühlen, wenn ich hier sitzen bleibe. Und bald bin ich ganz allein im Haus. Ich hasse es, allein gelassen zu werden. Schon als Kind habe ich das Alleinsein gehasst. Jeder weiß das. Tina, du musst zum Abendessen bleiben. Und Sie, Miss Shore, Sie müssen auch bleiben. Hier am Meer ist es so einsam. Was passiert, wenn jemand einbricht? — Mach nicht so ein Gesicht, böse Menschen gibt’s jede Menge. Das ist jedenfalls etwas, was seit der Unabhängigkeit nicht besser geworden ist.« «Natürlich bleibe ich da«, erwiderte Tina leichthin.»Ich habe es mit Hazel vereinbart. «Schuldbewusst überlegte Jemima, ob sie ebenfalls bleiben sollte. An dem Abend fand jedoch in ihrem Hotel die allwöchentliche Strandparty statt — es wurde gegrillt und danach zu einer Steelband getanzt. Jemima, zu Hause eine begeisterte Tänzerin, wollte es hier unbedingt auch einmal ausprobieren. Am Meer unter Sternen zu tanzen hörte sich idyllisch an. Ob Miss Izzy wirklich zusätzliche Gesellschaft brauchte? Über den strohhutbedeckten Kopf der alten Dame hinweg traf sich ihr Blick mit dem von Tina Archer. Diese schüttelte unmerklich den Kopf.
Nach einem Schluck von dem berühmten Rumpunsch – was auch immer die geheime Zutat war, es war der stärkste, den sie auf der Insel je probiert hatte — gelang es Jemima zu entrinnen. Auf Miss Izzy selbst übte der Punsch eine sichtlich entspannende Wirkung aus. Sie wurde rasch ziemlich beschwipst, und Jemima fragte sich, wie lange sie wohl wach bleiben würde. Nächstes Mal sollten sie sich vielleicht an einem frischen Morgen treffen.
Jemima fuhr gerade davon, als die riesige rote Sonne hinten am Horizont versank. Das Geräusch der ans Ufer schlagenden Wellen folgte ihr. Das Archer Plantation House lag einsam auf einer privaten Landzunge am Ende einer langen privaten Palmenallee. Sie konnte es Miss Izzy kaum verdenken, dass sie hier nicht allein gelassen werden wollte. Jemima lauschte dem Wellenrauschen, bis es vom ganz anderen Klang der Steelband aus dem benachbarten Küstendorf übertönt wurde. Das lenkte ihre Gedanken vorübergehend von den jüngsten Ereignissen im Archer Plantation House auf den Abend, der nun vor ihr lag. Für eine gewisse Zeit würde sie abschalten und überhaupt nicht mehr an Miss Isabella Archer denken.
Denn die Strandparty entsprach Jemimas Erwartungen zunächst ganz genau — entspannt, freundlich und laut. Sie merkte, wie ihre Sorgen sich allmählich davonmachten, während sie zum Rhythmus einer Steelband unermüdlich mit den verschiedenen Partnern tanzte, Engländern, Amerikanern, Bo’ländern. Miss Izzys Rumpunsch mit seiner geheimen Zutat war anscheinend absolut tödlich, denn Stunden später war die Wirkung immer noch zu spüren. Sie kam zu dem Schluss, dass sie die großzügig angebotene hoteleigene Mixtur gar nicht brauchte — die unter der üppig mit Muskatnuss bestreuten Oberfläche um einiges schwächer als Miss Izzys Gebräu war. Andere wiederum fanden, der Hotelpunsch war genau das Richtige für sie. Alles in allem war es eine sehr gelungene Party, schon lange bevor die schmale Mondsichel über den inzwischen schwarzen Wassern der Karibik erschien. Als sie kurz einmal allein war, legte Jemima den Kopf in den Nacken, während sie bei den heraufschwappenden Wellen am Rand der Strandes stand, und fixierte den Mond.
«Wollen Sie sich bei dem neuen Mond was wünschen?« Sie wandte sich um. Ein hoch gewachsener Mann – mindestens einen Kopf größer als sie — stand neben ihr im Sand. Sie hatte ihn nicht gehört, denn das sanfte Geräusch der Wellen hatte seine Schritte übertönt. Erst erkannte sie Joseph Archer in seinem locker sitzenden geblümten Hemd und den langen weißen Hosen nicht, so anders sah er aus als der Fischer, dem sie um die Mittagszeit am Grab zum ersten Mal begegnet war.
Und so kam es, dass sich der zweite Teil der Strandparty ganz anders als erwartet abspielte, zumindest von Jemimas Standpunkt aus.
«Ich sollte mir was wünschen. Ich sollte mir wahrscheinlich wünschen, dass ich eine gute Sendung mache. Das wäre ein guter, professioneller Wunsch.«
«Über Miss Izzy Archer und das alles?« «Miss Izzy, das Archer Plantation House, Bow Island – und das Archer-Grabmal, den alten Sir Valentine und das alles. «Sie beschloss, Tina Archer und das alles vorerst nicht zu erwähnen.
«Das alles!«Er seufzte.»Hören Sie, Jemima — die Band ist echt gut. Wir sagen alle, dass es momentan die beste auf der Insel ist. Wollen wir tanzen? Über das alles können wir ja morgen früh reden. In meinem Büro.« Die Bestimmtheit, mit der Joseph Archer dies sagte, sowie die Tatsache, dass er ein Büro erwähnte, weckte bei Jemima Interesse. Bevor sie sich im Rhythmus des Tanzes verlor — und sie glaubte, dass ihr dies mit Joseph Archers Hilfe in Kürze gelänge —, musste sie unbedingt herausfinden, was genau er meinte. Und wer er überhaupt war.
Die zweite Frage war leicht zu beantworten. Sie lieferte auch die Antwort auf die erste. Wenn er dienstfrei hatte, ging Joseph Archer wohl von Zeit zu Zeit fischen oder auch nicht, ansonsten war er jedoch Mitglied der neu gebildeten Bo’länder Regierung. Noch dazu ein ziemlich wichtiges. Wichtig in den Augen der Welt im Allgemeinen, und besonders wichtig in den Augen von Jemima Shore, Enthüllungsjournalistin. Denn Joseph Archer war der Minister, der sich mit Tourismus befasste, wobei sein Mandat sich auf Angelegenheiten wie Umweltschutz, das historische Bo’länder Erbe und — wie er ihr erläuterte —»das zukünftige Archer Plantation House Nationalmuseum «erstreckte.
Wieder schien es nicht der passende Moment, Tina Archer und ihr mögliches zukünftiges Eigentumsrecht am Plantagenhaus zur Sprache zu bringen. Joseph hatte selbst gesagt, dafür wäre am nächsten Morgen noch Zeit. In seinem Büro in Bowtown.
Sie tanzten noch ein Weilchen, und es war so, wie Jemima es sich vorgestellt hatte: etwas, in dem sie sich – vielleicht sogar ganz gefährlich — verlieren konnte. Die Melodie von» This is my island in the sun «wurde gespielt, und in ihrer Fantasie hörte Jemima die Stelle mit dem» graveyard «kein einziges Mal. Dann sagte Joseph Archer, sehr höflich und offenbar voller Bedauern, er müsse nun gehen. Er habe einen ganz frühen Termin – aber nicht mit einem Fisch, fügte er lächelnd hinzu.
Jemima verspürte einen Stich und hoffte, er wäre ihr nicht anzumerken. Doch es war ja noch jede Menge Zeit, nicht wahr? In den zwei verbleibenden Wochen, bevor sie wieder nach England zurückkehren musste, gäbe es bestimmt noch andere Nächte und andere Partys, andere Nächte am Strand, während der Mond sich rundete.
Jemimas private Party war zu Ende, doch die allgemeine Feier ging weiter bis tief in die Nacht, dehnte sich auf den Sandstrand aus, ja bis ins Meer, lange nachdem die Mondsichel verschwunden war. Jemima, die unruhig schlief und von Träumen heimgesucht wurde, in denen Joseph Archer, Tina und Miss Izzy eine Art komplizierten Tanz vollführten, ganz anders als das fröhliche Gehüpfe, das sie vorhin so genossen hatte, hörte den Lärm in der Ferne.
Weit entfernt auf der einsamen Halbinsel der Archer-Plantage wurde die Stille nicht von Steelbands durchbrochen, sondern vom Tosen der Wellen, die an der äußersten Spitze gegen die Felsen schlugen. Einen Fremden hätte es vielleicht überrascht, dass im großen Salon noch die Lichter brannten, nachdem die Fensterläden aufgeklappt worden waren, sobald die Sonne verschwunden war. Keiner von den Einheimischen auf Bow Island — etwa ein Fischer draußen auf dem Meer – hätte es jedoch im Geringsten merkwürdig gefunden. Es war allgemein bekannt, dass Miss Izzy Archer sich im Dunkeln fürchtete und gern bei Festbeleuchtung zu Bett ging. Besonders nachdem Hazel zur Hochzeit ihrer Schwester gefahren war und Henry sie dorthin gebracht hatte — auch das ein Faktum des Insellebens, über das wohl die meisten Bo’länder Bescheid wussten.
In ihrem Zimmer mit Ausblick aufs Meer warf sich Miss Izzy in dem großen Himmelbett, in dem sie vor über achtzig Jahren geboren worden war, hin und her. Wie Jemima Shore schlief sie recht unruhig. Nach einer Weile stand sie auf und trat an eines der hohen Fenster. Ihre Nachtbekleidung hätte Jemima wie vorher ihr Schwimmkostüm recht bizarr gefunden, denn Miss Izzy trug nicht das formelle viktorianische Nachtkleid, das zum Hause vielleicht ganz gut gepasst hätte. Stattdessen wollte sie den uralten burgunderroten Seidenpyjama ihres Vaters «auftragen«, wie sie es neckisch nannte, den dieser vor ewigen Zeiten bei einem eleganten Herrenausstatter nicht weit vom Piccadilly Circus erstanden hatte. Und da der letzte John Archer, seines Zeichens Baronet, um einiges größer gewesen war als seine stämmige kleine Tochter, schleiften die langen Hosenbeine hinter ihr auf dem Fußboden.
Miss Izzy starrte weiter aus dem Fenster. Ihr Blick ging in Richtung Terrasse, die in einer stufenförmigen Abfolge von einst üppig bepflanzten, nun wild überwucherten Zierbeeten zu den Felsen und zum Meer hinunterführte.
Obwohl das Wasser eine überwiegend schwarze Fläche bildete, herrschte in dieser karibischen Nacht keine völlige Finsternis. Außerdem ergoss sich das Licht aus den Salonfenstern auf die nahe gelegenste Terrasse. Miss Izzy rieb sich die Augen und wandte sich wieder in ihr Schlafzimmer um, wo das berühmte Ölgemälde von Sir Valentine, aufgehängt über dem Kamin, den Raum beherrschte. Ziemlich verwirrt — sie musste viel zu viel von diesem Punsch getrunken haben — redete sie sich ein, ihr Ahnherr wolle sie ermutigen, im Angesicht der Gefahr zum ersten Mal in ihrem Leben tapfer und mutig zu sein.
Sie, die kleine Isabella Archer, die verwöhnte, verhätschelte Izzy, sein letzter ehelicher Abkömmling – nein, nicht sein letzter ehelicher Abkömmling, doch es war schwer, eine lebenslange Gewohnheit abzulegen — wurde vom Adlerblick des wilden alten Autokraten zum Heldenmut getrieben.
Ich bin doch so alt, dachte Miss Izzy. Dann: Aber nicht zu alt. Wenn man die Leute erst mal wissen lässt, dass man doch kein Feigling ist …
Sie sah noch einmal zum Fenster hinaus. Die Wirkung des Punsches verflog allmählich. Mittlerweile war sie sich ziemlich sicher, was sie da sah. Etwas Dunkles, dunkel Gekleidetes, Dunkelhäutiges — was auch immer, jemand Dunkles war dem Meer entstiegen und näherte sich nun stumm dem Haus.
Ich muss tapfer und mutig sein, dachte Miss Izzy. Laut sagte sie:»Dann wird er stolz auf mich sein. Auf sein tapferes Mädchen.« Wessen tapferes Mädchen? Nein, nicht das von Sir Valentine — Daddys tapferes Mädchen. Ihre Gedanken begannen wieder in die Vergangenheit zu driften. Ob Daddy mich wohl zur Feier des Tages zum Schwimmen mitnimmt?
Miss Izzy begann, die Treppe hinunterzugehen. Sie hatte gerade die Tür zum Salon erreicht und blickte in den vom brüchigen roten Samt beherrschten, immer noch hell erleuchteten Innenraum, als der schwarz gekleidete Eindringling durch das offene Fenster ins Zimmer trat.
Noch bevor der Eindringling begann — die dunkel behandschuhten Hände ausgestreckt —, sich lautlos auf sie zuzubewegen, wusste Miss Izzy Archer ohne jeden Zweifel in ihrem rasch pochenden alten Herzen, dass das Archer Plantation House, das Haus, in dem sie geboren war, auch das Haus war, in dem sie nun sterben sollte.
«Miss Izzy Archer ist tot. Jemand hat sie gestern Nacht umgebracht. Ein Einbrecher vielleicht. «Joseph Archer war es, der Jemima die Neuigkeit am nächsten Morgen mitteilte.
Er sprach quer über den breiten Schreibtisch in seinem offiziellen Büro in Bowtown. Seine Stimme klang hohl und distanziert, nur durch den Bo’länder Singsang ließ er sich mit Jemimas attraktivem Tanzpartner vom vorigen Abend in Verbindung bringen. In seinem kurzärmligen, aber amtlich wirkenden weißen Hemd und den dunklen langen Hosen sah er wieder völlig anders aus als der fröhliche, etwas abgerissene Fischer, als den Jemima ihn zunächst kennen gelernt hatte. Hier hatte sie tatsächlich den aufsteigenden jungen Bo’länder Politiker vor sich: ein Mitglied der neu gebildeten Regierung von Bow Island.
Selbst der tragische Tod — die Ermordung, wie es schien – einer alten Dame entlockte ihm offenbar keine emotionale Regung.
Als Jemima aber genauer hinsah, entdeckte sie etwas in Joseph Archers Augen, was verdächtig nach Tränen aussah.
«Ich habe es selbst gerade erst gehört, wissen Sie. Der Polizeichef Sandy Marlow ist mein Cousin. «Er machte sich nicht die Mühe, die Tränen wegzuwischen. Wenn es denn welche waren. Doch waren seine Worte vermutlich als Erklärung gemeint. Wofür? Für den Schock? Für Trauer? Einen Schock hatte es ihm sicherlich versetzt, aber ob er auch Trauer empfand? Jemima entschied, sie könne sich jetzt zumindest behutsam nach seinem genauen Verhältnis zu Miss Izzy erkundigen.
Ihr fiel wieder ein, dass er die alte Dame ja in der vergangenen Woche besucht hatte, falls Miss Izzys ziemlich vager Bemerkung über» Klein Joseph «zu trauen war. Sie dachte weniger an eine mögliche Blutsverwandtschaft als an irgendeine andere Verbindung.
Ersteres hatte Joseph Archer auf dem Friedhof schließlich selbst abgestritten. Seine Bemerkung über Sir Valentine und dessen zahlreiche Nachkommenschaft kamen ihr in den Sinn:»Schenken Sie den Geschichten nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Wie könnte es sonst sein, dass wir nicht alle in dem schönen alten Plantagenhaus wohnen?« Worauf Greg Harrison dann so zornig bemerkt hatte:
«Statt bloß meine Exfrau. «Jetzt, wo sie die Stellung von Tina Harrison, heute Tina Archer, in Miss Izzy Testament kannte, ergab der Wortwechsel für sie natürlich viel mehr Sinn.
Das Testament! Jetzt würde Tina erben! Und zwar gemäß eines Testaments, das am Morgen von Miss Izzys Todestag unterzeichnet worden war. Joseph hatte offensichtlich Recht gehabt, als er den Anspruch vieler Bo’länder namens Archer abgetan hatte, in irgendeiner bedeutsamen Weise von Sir Valentine abzustammen.
Zwischen Tina, außer Miss Izzy angeblich der einzige eheliche Abkömmling, und den übrigen Bo’länder Archers bestand bereits ein beträchtlicher Unterschied. Wenn Tina ihr Erbe erst mal angetreten hätte, würde sich die Kluft sogar noch verbreitern.
Es war unheimlich heiß in Josephs Büro, was weniger daran lag, dass Bow Island kein kultivierter Ort war, als vielmehr daran, dass Klimaanlagen bei der ständigen Brise in der Regel unnötig waren. Die nordamerikanischen Touristen, überlegte Jemima, die in den Hotels inzwischen Klimaanlagen verlangten, würden bloß dafür sorgen, dass diese perfekteste Art natürlicher Ventilation am Ende zerstört wurde. Ein Regierungsbüro in Bowtown war jedoch etwas anderes. Ein riesiger Deckenventilator ließ die Papiere auf Josephs Schreibtisch unruhig zittern.
Jemima fühlte, wie eine schmale Schweißspur unter ihrem langen, lockeren weißen T-Shirt nach unten tröpfelte, das sie zu einem Kleid gegürtet hatte, um für den Besuch bei einem Bo’länder Minister zu Geschäftszeiten angemessen gekleidet zu sein.
Allmählich wich Jemimas benommene Fassungslosigkeit über Miss Izzys Ermordung. Sie staunte über die ahnungsvolle Wehmut, von der jene letzte Begegnung in der verfallenden Pracht des Archer Plantation House geprägt gewesen war. Schlimmer noch – inzwischen verfolgte sie der Gedanke an die jämmerliche Angst, welche die alte Dame vor der Einsamkeit gehabt hatte. Miss Izzy war so leidenschaftlich entschlossen gewesen, nicht allein gelassen zu werden.»Schon als Kind habe ich das Alleinsein gehasst. Jeder weiß das. Hier am Meer ist es so einsam. Was passiert, wenn jemand einbricht?« Nun, jemand war eingebrochen. Nahm man jedenfalls an. Joseph Archers Worte:»Ein Einbrecher vielleicht.« Und dieser Einbrecher hatte — vielleicht — die alte Dame dabei umgebracht.
Zögernd begann Jemima:»Es tut mir so Leid, Joseph.
Was für eine entsetzliche Tragödie! Kannten Sie sie? Na ja, ich nehme an, jeder hier muss sie gekannt haben — « «Seit jeher, seit ich ein kleiner Junge war. Meine Mama war eins ihrer Dienstmädchen. War selber nur ein kleines Ding, und dann ist sie gestorben. Sie liegt dort auf dem Friedhof, wissen Sie, in einem Eckchen. Miss Izzy war sehr gut zu mir, als meine Mama gestorben ist, o ja. Sie war nett zu mir. Nun sollte man meinen, die Unabhängigkeit, unsere Unabhängigkeit wäre für eine alte Dame wie sie schwer zu ertragen, aber Miss Izzy, der gefiel sie wirklich gut. ›England ist nichts mehr für mich, Joseph‹ sagte sie, ›ich bin eine Bo’länderin, so wie ihr alle.‹« «Sie haben sie letzte Woche besucht, glaube ich. Miss Izzy hat es mir selbst erzählt.« Joseph blickte Jemima unverwandt an — die Emotion war verflogen.»Ich bin hingegangen, um mit ihr zu reden, ja.
Sie hatte den verrückten Einfall, sich alles noch mal anders zu überlegen. Nur so eine Anwandlung, wissen Sie.
Aber das ist vorbei. Möge sie in Frieden ruhen, die liebe alte Miss Izzy. Wir kriegen jetzt unser Nationalmuseum, so viel ist sicher, und es wird uns immer an sie erinnern.
Daraus wird ein gutes Museum für unsere Geschichte. Hat man Ihnen das in London nicht gesagt, Jemima?«Stolz lag in seiner Stimme, als er abschließend sagte:»In ihrem Testament hat Miss Izzy alles den Leuten von Bow Island vermacht.« Jemima musste schwer schlucken. Stimmte das? Oder besser gefragt: Stimmte es immer noch? Hatte Miss Izzy gestern wirklich ein neues Testament unterzeichnet? Sie hatte sich zu dem Thema ziemlich vorsichtig geäußert, nur einen gewissen Thompson erwähnt — zweifellos ihr Anwalt —, der glaubte, es würde»Ärger «nach sich ziehen.
«Joseph«, sagte sie,»Tina Archer war gestern Nachmittag im Archer Plantation House auch dabei.« «Ach, die, was die für Ärger gemacht hat, hat es jedenfalls versucht. Tina und ihr Geschwätz und ihre tolle Ausbildung und ihre Geschichte. Und sie ist ja so hübsch!«Josephs Stimme klang erst aggressiv, dann endete er etwas ruhiger.»Die Polizei wartet im Krankenhaus. Sie kann noch nicht sprechen, sie ist nicht einmal bei Bewusstsein. «Und dann noch ruhiger:»Wie ich höre, ist sie nicht mehr so hübsch. Der Einbrecher hat sie nämlich zusammengeschlagen.« In dem Büro in Bowtown war es inzwischen noch heißer, so dass sich selbst die Papiere auf dem Schreibtisch im Luftzug des Ventilators kaum noch bewegten. Jemima sah Josephs Gesicht ganz verschwommen vor sich. Sie durfte auf keinen Fall in Ohnmacht fallen — sie fiel doch nie in Ohnmacht.
Angestrengt konzentrierte sie sich auf das, was Joseph Archer sagte, auf das Bild, das er von der Mordnacht zeichnete. Ihr Schock, als sie hörte, dass Tina Archer zum Zeitpunkt von Miss Izzys Ermordung ebenfalls im Haus gewesen war, war irrational, das war ihr klar. Hatte Tina der alten Dame nicht versprochen, dass sie bei ihr bleiben würde?
Joseph erzählte ihr, Miss Izzys Leiche sei von Hazel, der Köchin, im Salon gefunden worden, als diese im Morgengrauen von der Hochzeit ihrer Schwester zurückgekehrt war. Der Gedanke war gruselig: Weil Miss Izzy einen roten Seidenpyjama — den von ihrem Daddy – getragen hatte und die Ausstattung im Salon ebenfalls dunkelrot war, hatte die arme Hazel das wahre Ausmaß der Verletzungen ihrer Herrin zunächst nicht erkannt.
Nicht nur war überall Blut, sondern auch Wasser — ganze Pfützen. Was auch immer — wer auch immer Miss Izzy getötet hatte, war aus dem Meer gekommen. Hatte Gummischuhe — oder Badeschlappen — getragen und vermutlich auch Handschuhe.
Einen Augenblick später hatte Hazel keinen Zweifel mehr, womit Miss Izzy niedergeschlagen worden war. Die Keule, immer noch blutbefleckt, war auf dem Fußboden in der Eingangshalle zurückgelassen worden. (Hazel war, nachdem Henry sie abgesetzt hatte, ursprünglich durch die Küchentür hereingekommen.) Die Keule, zwar nicht auf Bow Island hergestellt, gehörte ins Haus. Sie war eines der Andenken, vermutlich afrikanischer Herkunft, die Sir John Archer von seinen Reisen in die anderen Teile des ehemaligen Britischen Empire mitgebracht hatte, und hing schwer und mit kurzem Griff an der Wand im Salon.
Möglicherweise hatte Sir John vorgehabt, das Ding gegen unerlaubte Eindringlinge zu schwingen, doch für Miss Izzy war es bloß ein weiteres Familienerinnerungsstück gewesen. Sie fasste es nie an. Nun hatte es sie getötet.
«Nirgendwo Fingerabdrücke«, sagte Joseph.»Bis jetzt.« «Und Tina?«, fragte Jemima mit trockenen Lippen. Der Gedanke an die Pfützen auf dem Fußboden im Salon, vermischt mit Miss Izzys Blut, rief ihr die alte Dame bei ihrer ersten und letzten Begegnung höchst lebhaft in Erinnerung — wie sie sich klatschnass in ihrem bizarren Schwimmkostüm eigensinnig auf ihr Sofa gesetzt hatte.
«Der Einbrecher hat das Haus vollkommen auf den Kopf gestellt. Sogar den Keller. Die Champagnerkisten, von denen Miss Izzy gern erzählt hat, waren ihm aber anscheinend zu schwer. Er trank von dem Rum. Die Polizei weiß noch nicht, was er mitgenommen hat – silberne Schnupftabaksdosen vielleicht, davon standen jede Menge herum. «Joseph seufzte.»Dann ging er nach oben.« «Und fand Tina?« «In einem der Schlafzimmer. Er schlug aber nicht mit derselben Waffe auf sie ein — ein Glück für sie. sonst hätte er sie genauso umgebracht wie Miss Izzy. Das Ding ließ er unten und nahm etwas beträchtlich Leichteres zur Hand.
Hat wahrscheinlich nicht damit gerechnet, sie dort zu sehen, oder überhaupt jemanden. Außer natürlich Miss Izzy. Tina muss ihn überrascht haben. Vielleicht ist sie aufgewacht. Einbrecher — also, ich kann nur sagen, hier bei uns bringen Einbrecher die Leute im Allgemeinen nicht um, außer sie kriegen Angst.« Unverhofft sackte Joseph plötzlich vor ihr zusammen und nahm den Kopf zwischen die Hände. Er murmelte etwas, das ungefähr so klang:»Wenn wir den finden, der Miss Izzy das angetan hat …« Erst am nächsten Tag war Tina Archer in der Lage, mit der Polizei zu sprechen, wenn auch nur stockend. Wie der Großteil der übrigen Bevölkerung von Bow Island erfuhr Jemima Shore diese Tatsache fast umgehend. Claudette, die Geschäftsführerin ihres Hotels, eine sympathische, wenn auch etwas geschwätzige Person, hatte zufällig eine Nichte, die Krankenschwester war. Auf diese Art verbreiteten sich alle Neuigkeiten über die Insel — man brauchte keine Zeitungen und kein Radio, denn dieses private Telegrafensystem war viel effizienter.
Jemima hatte die vergangenen vierundzwanzig Stunden ziemlich planlos mit Schwimmen und Sonnenbaden verbracht und mit ihrem Mini kleine Spritztouren über die Insel unternommen. Sie überlegte, wann sie Megalith Television von der rabiaten Art, in der ihre geplante Sendung beendet worden war, informieren und Vorbereitungen für die Rückreise nach London treffen sollte. Nach einer Weile meldete sich ihr Forscherdrang, diese unausrottbare, unstillbare Neugier. Sie merkte, dass sie schon die ganze Zeit Spekulationen über Miss Izzy Tod anstellte. Ein Einbrecher? Ein Einbrecher, der auch versucht hatte, Tina Archer umzubringen? Oder ein Einbrecher, der lediglich von ihrer Anwesenheit im Haus überrascht worden war? Welche Verbindung gab es zwischen all dem und Miss Izzys Testament, wenn es überhaupt eine gab?
Wieder dieses Testament. Darüber brauchte Jemima allerdings nicht sehr lange zu spekulieren. Denn Claudette, die Geschäftsführerin, war zufällig auch mit dem Bruder von Miss Izzys Köchin Hazel verheiratet. Auf diese Weise erfuhr Jemima — bestimmt zusammen mit dem Rest von Bow Island —, dass Miss Izzy in der Tat am Morgen ihres Todestages in Bowtown ein neues Testament unterzeichnet hatte, dass Eddie Thompson, der Notar, sie inständig gebeten hatte, es nicht zu tun, dass Miss Izzy es aber doch getan hatte, dass Miss Izzy Hazel wie versprochen immer noch ganz ordentlich bedacht hatte (und auch Henry, der sogar noch länger in ihren Diensten gewesen war) und dass etwas Schmuck an eine Cousine in England gehen würde,»da die Juwelen von Miss Izzys Mutter sowieso schon seit ewigen Zeiten in einer englischen Bank liegen. «Im Übrigen, nun ja, würde es jetzt kein Bo’länder Nationalmuseum geben, so viel war sicher. Der Rest — das schöne alte Archer Plantation House, und Miss Izzys Vermögen, das ja enorm sein sollte, aber sicher wusste man es nicht — würde an Tina Archer fallen.
Natürlich nur, wenn sie sich wieder erholte. Doch laut dem neuesten vorsichtigen Ärztebulletin, das Claudette von ihrer Krankenschwester-Nichte hatte und das von ein paar redseligen Inselleuten bestätigt wurde, erholte Tina Archer sich tatsächlich. Die Polizei hatte sie bereits befragt. In ein paar Tagen würde sie das Krankenhaus verlassen können. Und sie war fest entschlossen, an Miss Izzys Begräbnis teilzunehmen, das selbstverständlich in der kleinen, englisch aussehenden Kirche mit der unpassend anmutenden tropischen Vegetation über dem sonnigen Grab stattfinden würde. Denn Miss Izzy hatte schon vor langer Zeit ihre feste Entschlossenheit bekundet, im Archer-Grab neben Gouverneur Sir Valentine und «seiner einzigen Ehefrau Isabella «bestattet zu werden.
«Als Letzte der Archers. Sie musste trotzdem die Genehmigung einholen, weil es ja ein Nationaldenkmal ist. Die Regierung hat sich natürlich für sie überschlagen und es ihr gestattet. Damals. Ironie des Schicksals, nicht?« Die Sprecherin, die absolut keinen Hehl aus ihrer Verachtung machte, war Coralie Harrison.»Und jetzt erfahren wir, dass sie gar nicht die letzte Archer war, jedenfalls nicht offiziell, und plötzlich ist die so genannte Miss Tina Archer die Haupttrauernde. Und während die Bo’länder Regierung verzweifelt nach Möglichkeiten sucht, das Testament zu umgehen und sich das Haus für ihr kostbares Museum unter den Nagel zu reißen, war niemand so geschmacklos zu sagen, die ungezogene alte Miss Izzy dürfe nun doch nicht im Archer-Grab beerdigt werden, weil sie den Leuten von Bow Island schließlich keinen Penny vermacht hat.« «Das wird bestimmt eine interessante Veranstaltung«, murmelte Jemima. Sie saß mit Coralie Harrison unter dem spitzen Strohdach der Hotelstrandbar. Hier hatte sie damals mit Joseph Archer geplaudert und mit ihm getanzt — in jener Nacht, in der Miss Izzy umgebracht worden war.
Jetzt glitzerte das Meer in der Sonne, als wären Kristalle über seine Oberfläche verstreut. Heute herrschte überhaupt kein Wellengang, und fröhliche Wasserskifahrer fuhren kreuz und quer über die breite Bucht mit ihrer palmengesäumten Küste. Riesige braune Pelikane hockten auf den Pfählen, mit denen die Lage der Felsen gekennzeichnet war. Ab und zu hob einer wie ein schwerfälliges Flugzeug ab und schwebte langsam und neugierig über die Köpfe der Schwimmenden. Es war ein friedlicher, fast idyllischer Anblick, doch irgendwo auf der fernen Halbinsel lag das Archer Plantation House, wo inzwischen, stellte Jemima sich vor, nicht nur die Fensterläden geschlossen waren, sondern die Polizei auch noch alles versiegelt hatte.
Coralie war vom Strand herauf an die Bar geschlendert.
Sie überquerte das kurze Stück mit scheinbarer Lässigkeit — alle Bo’länder übten häufig ihr Recht aus, ungehindert am Sandstrand entlang zu spazieren (wie auf den meisten Karibikinseln gehörte auch auf Bow Island der gesamte Strand dem Volk, selbst die Abschnitte, die vor hochherrschaftlichen Anwesen wie dem Archer Plantation House lagen). Jemima hegte allerdings keinen Zweifel, dass der Besuch geplant war. Sie hatte jenes erste Treffen nicht vergessen, auch nicht Coralies zögerlichen Annäherungsversuch, der von Gregs gebieterischem Schrei unterbrochen worden war.
Es war der Tag nach der gerichtlichen Untersuchung der Todesursache. Miss Izzys Leiche war von der Polizei freigegeben worden, und bald würde das Begräbnis stattfinden. Wie Jemima sich eingestand, war ihr Interesse an der gesamten Archer-Familie mit all ihren Verzweigungen groß genug, um daran teilnehmen zu wollen, unabhängig von der zärtlichen Zuneigung, die sie aufgrund jener kurzen Begegnung für die alte Dame empfand. In dem Telex, das sie Megalith Television aus Bowtown schickte, hatte sie nur erwähnt, sie wolle noch ein paar Sachen zum Abschluss bringen, die sich aus dem Absetzen ihrer Sendung ergeben hatten.
Bei der gerichtlichen Untersuchung hatte man, da die näheren Umstände noch nicht geklärt waren, auf unbestimmte Todesursache erkannt. Tina Archers eidesstattliche Aussage hatte kaum etwas ergeben, was nicht schon bekannt war oder vermutet wurde.
Tina hatte im Obergeschoss in einem der ziemlich heruntergekommenen Schlafzimmer geschlafen, die für eventuelle Übernachtungsgäste bereitgehalten wurden.
Das Schlafzimmer, das Miss Izzy für sie ausgesucht hatte, lag nicht zur Meerseite hinaus. Die Chintzvorhänge in diesem hinteren Zimmer, mit einem altmodischen Rosenmuster aus einer längst vergangenen Epoche, waren weniger ausgebleicht und ramponiert, da sie vor Sonne und Salz geschützt gewesen waren.
Miss Izzy war frohgemut zu Bett gegangen, beruhigt durch die Tatsache, dass Tina Archer im Hause übernachten würde. Sie hatte noch einige Gläser Rumpunsch getrunken und vorgeschlagen, Henry solle etwas von dem berühmten Champagner ihres Vaters aus dem Keller holen. Dieses Angebot machte Miss Izzy nach einigen Schlucken Punsch übrigens oft, doch als Tina sie daran erinnerte, dass Henry nicht da war, wurde das Thema fallen gelassen.
In ihrer Aussage gab Tina zu Protokoll, sie habe keine Ahnung, was die alte Dame geweckt und dazu bewogen haben mochte, die Treppe hinunterzugehen — ihrer Meinung nach war es vollkommen untypisch für sie.
Isabella Archer war eine Dame von unabhängiger Denkungsart, hatte jedoch, wie allgemein bekannt war, im Dunkeln schrecklich Angst. Deshalb hielt Tina sich ja auch überhaupt in ihrem Hause auf. Was ihre persönliche Erinnerung an die Attacke betraf, so hatte Tina bisher nur sehr wenige Einzelheiten aus ihrem Gedächtnis hervorholen können — der Schlag auf ihren Hinterkopf hatte alle unmittelbaren Gegebenheiten zeitweilig oder permanent aus ihrem Bewusstsein gelöscht. Sie erinnerte sich vage an ein helles Licht, doch selbst diese Erinnerung war einigermaßen konfus und rührte vielleicht von dem Schlag her, den sie erlitten hatte. Im Grunde konnte sie sich zwischen dem Zubettgehen in dem ramponierten, rosengemusterten Himmelbett und dem Aufwachen im Krankenhaus an nichts mehr erinnern.
Coralies Lippen bebten. Sie neigte den Kopf und nippte durch einen Strohhalm an ihrem Drink — sie und Jemima tranken eine alkoholfreie exotische Fruchtsaftmischung, die Matthew, der Barkeeper, kreiert hatte. Vom Meer wehte eine wunderbare sanfte Brise herüber. Coralie trug ein weites geblümtes Baumwollkleid, wirkte aber aufgewühlt und verärgert.»Tina hat schon immer intrigiert, um ihre Schäfchen ins Trockene zu bekommen, und jetzt hat sie’s erreicht. Davor wollte ich Sie an dem Morgen damals auf dem Friedhof warnen — trauen Sie Tina Archer nicht, wollte ich sagen. Jetzt ist es zu spät, sie hat alles bekommen. Als sie mit Greg verheiratet war, habe ich mich bemüht, sie gern zu haben, Jemima, ehrlich.
Die kleine Tina, so niedlich und so clever, aber immer gab’s Ärger …« «Joseph Archer scheint ähnlich über sie zu denken«, sagte Jemima. Bildete sie es sich bloß ein oder wurde Coralies Gesicht wirklich etwas weicher, als sie Josephs Namen hörte?
«Tatsächlich? Das freut mich. Er war früher auch ziemlich angetan von ihr. Sie ist ja recht hübsch. «Ihre Blicke kreuzten sich.
«Na ja, so hübsch nun auch wieder nicht, aber wenn man den Typ mag …«Jemima und Coralie lachten beide.
Tatsache war, dass Coralie Harrison recht anziehend war, wenn man ihren Typ mochte, dass Tina Archer jedoch nach jedem Maßstab hinreißend aussah.
«Greg hasst sie jetzt natürlich abgrundtief«, fuhr Coralie mit fester Stimme fort,»besonders seit er das mit dem Testament erfahren hat. Als wir Sie damals an dem Morgen bei der Kirche getroffen haben, hatte man es ihm gerade gesagt. Deshalb war er, äh, tut mir Leid, aber er war ziemlich grob, stimmt’s?« «Eher feindselig als grob. «Jemima war jedoch schon dabei, sich den zeitlichen Ablauf auszurechnen.»Soll das heißen, Ihr Bruder wusste von dem Testament, bevor Miss Izzy getötet wurde?«, rief sie.
«O ja. Jemand aus Eddie Thompsons Kanzlei sagte es ihm — Daisy Marlow vielleicht, mit der geht er manchmal aus. Wir wussten natürlich alle, was da im Busch steckte, obwohl wir gehofft hatten, Joseph könnte es Miss Izzy ausreden. Er hätte es ihr ja auch ausgeredet, wenn er nur Zeit gehabt hätte. Joseph bedeutet dieses Museum alles.« «Ihr Bruder und Miss Izzy — das war wohl kein einfaches Verhältnis.« Obwohl Jemima glaubte, sie hätte ihren freundlichsten und überzeugendsten Interviewerton angeschlagen, entgegnete Coralie fast trotzig:»Sie klingen wie die Polizei!« «Wieso, haben die — ?« «Aber sicher!«Coralie beantwortete die Frage, noch bevor Jemima sie vollends stellen konnte.»Jeder weiß doch, dass Greg Miss Izzy total hasste — dass er sie beschuldigte, sie hätte seine Ehe zerstört, ihm die kleine Tina weggenommen und ihr Flausen in den Kopf gesetzt!« «War es denn nicht umgekehrt — dass Tina sich wegen des Museums und dann wegen meiner Sendung in die Familiengeschichte vertiefte? Sie sagten doch, sie sei intrigant.« «Oh, ich weiß, dass sie intrigant ist. Aber Greg, der wusste es nicht. Damals jedenfalls nicht. Er war doch damals in sie verknallt, also musste er der alten Dame die Schuld zuschieben. Sie haben sich fürchterlich gestritten – in aller Öffentlichkeit. Eines Abends suchte er sie zu Hause auf, kam übers Meer herüber, brüllte sie zusammen.
Hazel und Henry hörten es, und so erfuhren es natürlich alle. Damals sagte ihm Tina, sie würde sich scheiden lassen und sich ab sofort mit Miss Izzy zusammentun. Ich fürchte, mein Bruder ist ein ziemlich extremer Mensch – jedenfalls hat er ein extremes Temperament. Er hat sie bedroht — « «Aber die Polizei glaubt doch wohl nicht — «Jemima verstummte. Es war klar, was sie damit sagen wollte.
Coralie schwang die Beine vom Barhocker. Jemima reichte ihr die riesige Strohtasche mit dem Bogenschützen-Emblem, die sie sich in typischer Bo’länder Manier über die Schulter hängte.
«Wie hübsch«, bemerkte Jemima höflich.
«Die verkaufe ich in dem Hotel am North Point. Damit verdiene ich mir meinen Lebensunterhalt. «Die Bemerkung klang etwas scharf.»Nein«, fuhr Coralie rasch fort, bevor Jemima zu dem Thema noch etwas sagen konnte,»die Polizei glaubt es natürlich nicht, wie Sie es ausdrücken. Greg hätte vielleicht Tina angreifen können – aber Miss Izzy umbringen, wo er doch haargenau weiß, dass er seiner Exfrau dadurch ein Vermögen sichert? Nie und nimmer. Das würde nicht mal die Bo’länder Polizei glauben.« In jener Nacht traf Jemima Shore Joseph Archer wieder am Strand unter den Sternen. Der Mond hatte seit ihrer ersten Begegnung jedoch zugenommen und begann nun, einen silbernen Pfad auf das nächtliche Wasser zu werfen.
Anders als das erste war dieses Treffen nicht ungeplant.
Joseph hatte sie benachrichtigt, dass er Zeit habe, und sie hatten vereinbart, sich unten an der Bar zu treffen.
«Was halten Sie davon, wenn ich mit Ihnen eine Nachtfahrt rund um unsere Insel mache, Jemima?« «Nein. Machen wir es wie richtige Bo’länder, gehen wir am Strand spazieren. «Jemima wollte mit ihm allein sein, nicht an Reihen hell erleuchteter Touristenhotels vorbeifahren und dem unablässigen Rhythmus der Steelbands lauschen. Sie fühlte sich so verwegen, dass es ihr egal war, was Joseph von dieser Änderung des Plans hielt.
Eine Weile spazierten sie schweigend am Meer entlang, nur das sanfte Plätschern der Wellen war zu hören. Dann zog Jemima ihre Sandalen aus und hüpfte durch das warme, zurückweichende Wasser, und ein Weilchen später nahm Joseph sie an der Hand und führte sie wieder auf den Sandstrand. Der Wellengang wurde deutlich rauer, als sie die Spitze der ersten breiten Bucht umrundeten. Einen Augenblick blieben sie nebeneinander stehen, Joseph und Jemima, er den Arm kameradschaftlich um ihre Taille gelegt.
«Jemima, auch ohne jungen Mond wünsche ich mir — « Joseph verkrampfte sich plötzlich. Er ließ den Arm sinken, packte sie an der Schulter und wirbelte sie herum.»Herr im Himmel, sehen Sie das?« Seine heftige Bewegung ließ Jemima zusammenzucken.
Einen Augenblick wurde sie vom unstet glitzernden Mondlicht auf der dunklen Wasseroberfläche abgelenkt.
Fernab des Ufers waren Heerscharen weißer — silberner – Pferde zu sehen, wo hohe Wellen über eine Felsengruppe brachen. Sie glaubte, Joseph würde aufs Meer hinaus deuten. Dann sah sie die Lichter.
«Das Archer-Haus!«, rief sie.»Ich dachte, es wäre abgesperrt!« Es sah aus, als ergössen sich sämtliche Lichter des Hauses über die erhöhte Landzunge, auf der das Haus lag.
So hell war die Beleuchtung, dass man hätte meinen können, es fände ein großer Ball statt, als wären wie zu Zeiten von Gouverneur Archer Tausende von Kerzen angezündet. In einer melancholischen Anwandlung stellte Jemima sich vor, dass das Plantagenhaus in Miss Izzys Todesnacht so ausgesehen haben musste. Tina Archer und andere hatten bezeugt, mit welcher Hartnäckigkeit die alte Dame darauf bestanden hatte, dass ihr Haus niemals im Dunkeln lag. In der Nacht, in der ihr Mörder übers Meer gekommen war, musste sich ihm dieser Anblick geboten haben.
«Kommen Sie!«, sagte Joseph. Der kurze Moment der Unbeschwertheit — oder vielleicht der Liebe? — war vorüber. Er klang grimmig und entschlossen.
«Zur Polizei?« «Nein, zum Haus. Ich muss wissen, was dort vor sich geht.« Während sie fast über den Sand rannten, sagte Joseph:
«Dieses Haus hätte uns gehören sollen.« Uns: den Leuten von Bow Island.
Seit sie mit Coralie Harrison gesprochen hatte, fiel Jemima seine Unruhe wegen des Museums wieder verstärkt auf. Wie weit würde ein Mann — oder auch eine Frau — für eine Erbschaft wohl gehen? Und hier hatten sie es mit mehr als einer Art von Erbschaft zu tun. War ein Nationalerbe für manche Leute nicht ebenso wichtig wie für andere ein privates? Vor allem anderen war Joseph Archer patriotischer Bo’länder. Und am Morgen nach Miss Izzys Tod hatte er noch nichts von der Testamentsänderung gewusst. Das konnte sie selbst bezeugen. Würde ein Mann wie Joseph Archer, der den Aufstieg in seiner Welt durch pure Entschlossenheit geschafft hatte, sich wohl dazu entschließen, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen, um das Museum für seine Leute zu sichern, solange noch Zeit dazu war?
Doch die alte Dame umzubringen, die sich seiner angenommen hatte, als er noch ein Kind war? Sie totzuprügeln? Während Joseph hoch aufgerichtet im Mondlicht dahinschritt, wurde er für Jemima plötzlich zu einem vollkommenen und daher bedrohlichen Rätsel.
Sie hatten den Felsvorsprung erreicht, waren hochgeklettert und bis zur ersten Terrasse gekommen, als im Haus auf einmal sämtliche Lichter erloschen. Es war, als wäre ein einziger Schalter betätigt worden. Nun blieb nur noch das kalte, unheimliche Schimmern des Mondes über dem Meer hinter ihnen, das die wild überwucherten Büsche und hängenden Balustraden beleuchtete.
Joseph schritt jedoch unbeirrt weiter und half Jemima die steinernen Stufen hinauf, von denen einige uneben waren und tiefe Sprünge hatten. Im Dunkeln konnte Jemima undeutlich erkennen, dass die Fenster des Salons noch offen standen. Jemand musste dort drin sein, hinter den ramponierten, von Miss Izzys Blut befleckten Vorhängen aus rotem Brokat.
Joseph, der Jemima bei der Hand hielt, zog sie durch das mittlere Fenster herein.
Es ertönte ein kurzer Schrei, eine Art unterdrücktes Kreischen, dann folgte ein leises Geräusch, als ob im Dunkeln jemand über sie lachte. Gleich darauf wurden sämtliche Lichter gleichzeitig angeknipst.
Tina stand an der Tür, die Hand am Schalter. Sie trug einen weißen Kopfverband wie einen Turban — und lachte auch nicht, sondern schluchzte.
«Ach, ihr seid es, Jo-seph und Je-mi-ma Shore. «Zum ersten Mal fiel Jemima der Bo’länder Singsang in Tinas Stimme auf.»Ich hatte sol-che Angst.« «Alles in Ordnung, Tina?«, fragte Jemima hastig, um die Tatsache zu überspielen, dass sie selbst auch ganz schön Angst gehabt hatte. Die Atmosphäre wütender Anspannung zwischen den beiden Leuten im Raum, die so unterschiedlich aussahen, jedoch zufällig beide Archer hießen, war fast mit Händen zu greifen. Jemima fühlte sich praktisch zu dem Versuch verpflichtet, die Spannung zu lösen.»Sind Sie ganz allein hier?« «Die Polizei meinte, ich könnte herkommen. «Tina ignorierte die Frage.»Die sind hier mit allem fertig.
Außerdem«— ihr verängstigtes Schluchzen war verebbt, und sie nahm eine bewusst provokante Haltung ein, während sie sich ihnen näherte —»warum auch nicht?«Sie brauchte es den beiden nicht näher zu erklären. Die Worte «weil mir ja sowieso alles gehört «lagen in der Luft.
Zum ersten Mal, seit sie den Raum betreten hatten, ließ sich Joseph vernehmen.»Ich will mir das Haus ansehen«, sagte er barsch.
«Jo-seph Archer, raus mit dir. Geh dahin zurück, wo du herkommst, zurück in dein Büro, das ist kein großartiges schönes Haus. «Dann wandte sie sich beschwichtigend an Jemima, fast wieder auf ihre übliche charmante Art:
«Verzeihung, aber, wie Sie sehen, sind wir schon lange keine Freunde mehr. Außerdem haben Sie mir einen ganz schönen Schreck eingejagt.« Joseph drehte sich auf dem Absatz um.»Wir sehen uns dann auf der Beerdigung, Miss Archer. «Es gelang ihm, die Worte außerordentlich bedrohlich klingen zu lassen.
In jener Nacht schien es Jemima Shore, als würde sie kaum schlafen, obwohl die bruchstückhaften, halb erinnerten Träume sie verwirrten und ihr zu verstehen gaben, dass sie in den frühen Morgenstunden tatsächlich in eine Art Dämmerschlaf gefallen sein musste. Das Licht war noch grau, als sie durch ihre Läden spähte. Die Wipfel der hohen Palmen bogen sich — es herrschte ein ziemlicher Wind.
Wieder im Bett, versuchte Jemima sich zu erinnern, was sie gerade geträumt hatte. Es hatte ein Muster ergeben, dessen war sie sich sicher. Ziemlich ungehalten hoffte sie, dass plötzlich Licht in ihre verschlafenen Gedanken bräche, so wie die Sonne schon bald durch die Palmenreihe auf dem östlichen Teil des Hotelgeländes brechen sollte. Ein Sonnenaufgang in der Karibik war keine sanfte, allmählich sich entwickelnde rosenrote Dämmerung — hier kündigte er sich mit einem gleißenden Strahl am Horizont an, und fast unmittelbar danach herrschte für den Rest des Tages erbarmungsloses Sonnenlicht. Eine solche schlagartige Klarheit brauchte sie nun auch.
Feindseligkeit. Auch darum ging es bei dem allen — um das Wesen der Feindseligkeit. Die Feindseligkeit zwischen Joseph und Tina Archer vom vorigen Abend etwa, so bösartig und offen vorgeführt — mit ihr selbst als Publikum
–, dass man hätte meinen können, sie wäre absichtlich zur Schau gestellt worden.
Und wie alles manipuliert worden war: Tina Archer, die ständig herumlavierte, ständig intrigierte (hatte Coralie Harrison behauptet — und Joseph Archer ebenfalls). Das brachte sie auf das andere Paar in diesem seltsamen, vierschichtigen Drama: die Harrisons, Bruder und Schwester, oder vielmehr Halb bruder und Halb schwester (worauf Tina Miss Izzy korrigierend hingewiesen hatte).
Und noch mehr Feindseligkeit: Greg, der Tina vielleicht früher einmal geliebt hatte und sie nun hasste. Joseph, der Tina vielleicht ebenfalls früher einmal geliebt hatte.
Coralie, die Joseph vielleicht einmal — sehr wahrscheinlich — geliebt hatte und Tina abgrundtief hasste. Die süße, clevere kleine Tina, das Archer-Grabmal, die gemeißelten Figuren von Sir Valentine und seiner Frau, die Inschrift.
Jemima driftete wieder in den Schlaf zurück, während die vier Gestalten, alles Bo’länder, alle mit einer irgendwie gemeinsamen Vergangenheit, zu einem Calypso zu tanzen begannen, dessen Liedtext ebenfalls wirr durcheinander war:
«This is your graveyard in the sun Where my people have toiled since time begun — « Ein unglaublicher Lärm auf dem Wellblechdach über ihrem Kopf brachte sie wieder zu sich. Sie zitterte. Das Getöse war ziemlich gewaltig gewesen, fast als hätte es eine Explosion gegeben oder als hätte jemand ein Geschoss auf den Strandbungalow gefeuert. Beim Gedanken an ein Geschoss ging ihr auf, dass es sich tatsächlich um ein Geschoss gehandelt hatte: Es musste eine Kokosnuss gewesen sein, die auf das Wellblechdach gefallen war und sie so erschreckt hatte. Die Hotelgäste wurden ganz offiziell davor gewarnt, sich zu dicht unter die Palmen zu setzen, deren harmlos wirkende grüne Wedel die tödlichen Nüsse plötzlich abwerfen konnten.
KOKOSNÜSSE KÖNNEN VERLETZUNGEN VERURSACHEN stand auf dem Hinweisschild.
So ein Schlag auf meinen Kopf hätte bestimmt eine Verletzung verursacht, dachte Jemima, wenn nicht gar zum Tod geführt. Verletzung, wenn nicht gar Tod. Und das Archer-Grabmal: meine einzige Ehefrau.
Wie aufs Stichwort fiel in diesem Moment der erste Sonnenstrahl durch die geneigten Palmwedel im Osten und auf ihre Fensterläden. Und plötzlich wusste Jemima nicht nur, warum, sondern auch, wie es getan worden war.
Wer dafür verantwortlich war, dass Miss Izzy Archer dem Friedhof in der Sonne anvertraut werden würde.
Die Szenerie am Archer-Grabmal ein paar Stunden später war die gleiche seltsame Mischung aus englischer Tradition und Bo’länder Exotik, die Jemima schon bei ihrem ersten Besuch fasziniert hatte. Nur dass es für sie diesmal ein tieferer, traurigerer Anlass war als reines Sightseeing. Beim Gottesdienst wurden traditionelle englische Kirchenlieder gesungen, doch draußen spielte auf Miss Izzys ausdrücklichen Wunsch eine Steelband auf.
Weil sie auf dieser Insel geboren war, hatte sie um ein typisches Bo’länder Begräbnis gebeten.
Die in großer Anzahl erschienenen Bo’länder waren fast alle extrem formell gekleidet — dunkler Anzug, weißes Hemd, Krawatte, dunkles Kleid, dunkler Strohhut, sogar weiße Handschuhe —, was Jemima schon bei den sonntäglichen Kirchgängern beobachtet hatte und bei den Bo’länder Kindern, die alle ordentlich in Uniform auf dem Weg zur Schule waren. Man sah keine Bow-Island-TShirts, obwohl viele der farbenfrohen, kunstvoll gestalteten und üppigen Kränze die Bogenform des Inselemblems besaßen. Das Ausmaß der Menschenmenge war zweifellos ein Zeichen von tief empfundenem Respekt. So enttäuscht die Regierung über das Testament auch sein mochte, für die Bo’länder war Miss Izzy Archer Teil des gemeinsamen Erbes gewesen.
Tina Archer trug ein schwarzes Tuch um den Kopf, das ihren Verband fast vollständig kaschierte. Joseph Archer, der ziemlich weit von ihr entfernt stand und nicht in ihre Richtung sah, wirkte in seiner Bürokleidung gleichermaßen elegant und förmlich, ein respektables Mitglied der Regierung. Die Harrisons standen beieinander, Coralie mit gesenktem Kopf. Greg wollte mit seiner trotzigen Haltung, den Kopf stolz erhoben, offensichtlich jede Vermutung Lügen strafen, er hätte sich nicht im besten Einvernehmen mit jener Frau befunden, deren Leichnam nun ins Familiengrab hinabgelassen wurde.
Während der Sarg — so klein und deshalb so anrührend – aus dem Blickfeld verschwand, erhob sich ein Seufzen unter den Trauernden. Sie begannen wieder zu singen: ein Kirchenlied, doch mit der sanften Begleitung der Steelband im Hintergrund.
Jemima ging diskret durch die Menge und stellte sich neben den hoch gewachsenen Mann.
«Sie werden ihr niemals trauen können«, sagte sie mit leiser Stimme.»Sie hat Sie schon mal manipuliert und wird es wieder tun. Nächstes Mal wird ein anderer die Dreckarbeit machen. Dann sind Sie dran. Sie werden ihr niemals trauen können, stimmt’s? Einmal Mörderin, immer Mörderin. Eines Tages werden Sie vielleicht wünschen, Sie hätten sie vollends fertig gemacht.« Der hoch gewachsene Mann blickte auf sie herunter.
Dann warf er einen kurzen, wild zweifelnden Blick zu Tina Archer hinüber. Zu Tina Archer Harrison, seiner einzigen Frau.
«Sie elende — «Einen Augenblick dachte Jemima schon, Greg Harrison würde sie am Rand des Grabes niederschlagen, so wie er die alte Miss Izzy niedergeschlagen hatte und — wenn auch nur zum Schein – Tina selbst niedergeschlagen hatte.
«Greg, Liebling. «Das war Coralie Harrisons Mitleid erregendes Protestgemurmel.»Was sagen Sie da zu ihm?«, wollte sie von Jemima wissen. Ihre Stimme war ebenso leise wie die von Jemima. Doch die Erklärungen – an Coralie und den Rest von Bow Island — zur Verschwörung von Tina Archer und Greg Harrison hatten gerade erst angefangen.
Der Rest war Sache der Polizei. In ihrer geduldigen Ermittlungsarbeit würde sie den Fall erst groß ausbreiten, dann aufklären und ihn schließlich abschließen. Im Verlauf der Ermittlungen würden die Verschwörer dann zusammenbrechen, diesmal aber wirklich. Der Polizei fiel die unangenehme Aufgabe zu, die neuen Lügen von Tina Archer zu entwirren, die nun schwor, sie erinnere sich wieder und es sei Greg gewesen, der sie in jener Nacht beinahe umgebracht hatte, sie selbst habe absolut nichts damit zu tun. Und Greg Harrison bezichtigte umgekehrt Tina, diesmal mit echter Bösartigkeit:»Es war ihr Plan, die ganze Zeit schon. Sie hat alles eingefädelt. Ich hätte nie auf sie hören sollen!« Bevor sie von Bow Island abreiste, stattete Jemima Joseph Archer in seinem Büro in Bowtown einen Abschiedsbesuch ab. Abgesehen von Miss Izzy selbst hatte die Archer-Tragödie viele Opfer gefordert. Eins davon war die arme Coralie: Sie war überzeugt gewesen, dass ihr Bruder — trotz seines berüchtigten aufbrausenden Temperaments — Miss Izzy niemals niederschlagen würde, um seine Exfrau zu begünstigen. Wie der Rest von Bow Island hatte sie keine Ahnung von der ausgeklügelten Intrige, wonach Greg und Tina öffentlich ihre Feinseligkeit zur Schau stellten und ihre Scheidung bekannt machten, während sie die ganze Zeit vorhatten, Miss Izzy umzubringen, sobald das neue Testament unterzeichnet war. Auf Greg, der seine Frau ostentativ hasste, würde kein Verdacht fallen, und Tina, die ja sichtbare Verletzungen davontrüge, würde bloß Mitleid erregen.
Ein weiteres kleines, viel unwichtigeres Opfer war die zarte Romanze, die sich zwischen Joseph Archer und Jemima Shore hätte entspinnen können. In seinem brütend heißen Büro mit dem sich ständig drehenden Ventilator sprachen sie jetzt über ganz andere Dinge als über den neuen Mond und neue Wünsche.
«Sie sind bestimmt glücklich, dass Sie nun Ihr Museum bekommen«, sagte Jemima.
«Aber dass es auf diese Art zustande kommt, wollte ich ganz bestimmt nicht«, erwiderte Joseph und fügte dann hinzu:»Aber wissen Sie, Jemima, nun hat doch noch die Gerechtigkeit ihren Lauf genommen. Und im tiefsten Herzen wollte Miss Izzy wirklich, dass wir dieses Nationalmuseum bekommen. Wäre sie am Leben geblieben, hätte ich ihr gut zugeredet und sie wäre wieder zur Vernunft gekommen.« «Deshalb haben die ja auch sofort gehandelt. Sie haben sich nicht getraut zu warten, weil sie ja wussten, dass Miss Izzy großen Respekt vor Ihnen hatte«, vermutete Jemima.
Dann schwieg sie, doch ihre Neugier gewann die Oberhand. Eines musste sie noch erfahren, bevor sie ging.
«Das Archer-Grabmal und das alles. Und dass Tina von Sir Valentines zweiter rechtmäßiger Ehe abstammt.
Stimmt das?« «Ja, das stimmt. Vielleicht. Aber für die meisten von uns hier ist das unwichtig. Wissen Sie was, Jemima? Ich stamme auch von dieser berühmten zweiten Ehe ab.
Vielleicht. Und ein paar andere vielleicht auch. Vergessen Sie nicht, Lucie Anne hatte zwei Kinder, und allgemein haben Bo’länder große Familien. Für Tina Archer war es wichtig, für mich nicht. Mir kommt es nicht darauf an.
Das alles ist Vergangenheit. So wie ich das sehe, war Miss Izzy die Letzte der Archers. Soll sie in ihrem Grabe ruhen.« «Was wünschen Sie sich denn für sich selber? Oder für Bow Island, wenn Ihnen das lieber ist?« Joseph lächelte, und in seinem Lächeln schimmerte plötzlich jener gut aussehende Fischer durch, der sie auf Bow Island willkommen geheißen hatte, und ihr fröhlicher Tanzpartner.»Kommen Sie eines Tages nach Bow Island zurück, Jemima. Machen Sie eine Sendung über uns, über unsere Geschichte und das alles, dann erzähle ich’s Ihnen.« «Mach ich vielleicht sogar«, sagte Jemima Shore.