173651.fb2 Im Anfang war der Mord - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 16

Im Anfang war der Mord - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 16

Wilder Senfvon MARCIA MULLER

Marcia Muller (*1944) gehört zu den gefeiertsten und vielseitigsten Krimiautorinnen, die im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts in Erscheinung getreten sind.

Geboren in Detroit und an der University of Michigan ausgebildet, lebt sie nun in Nordkalifornien, wo auch die meisten ihrer Werke spielen. Obwohl es bei seinem Erscheinen kaum Aufsehen erregte, wird Mullers Edwin of the Iron Shoes (1977; dt. Es ist nicht alles Gold …) heute eine Vorrangstellung unter einer der Hauptströmungen der vergangenen Jahrzehnte eingeräumt: dem Frauenkrimi.

Alle vorhergehenden Bemühungen in dieser Richtung müssen unter Vorbehalt geführt werden: Figuren wie Carter Browns Mavis Seidlitz, Henry Kanes Maria Trent und G.G. Ficklings Honey West waren Männerfantasien, nicht ernst zu nehmende Wunschträume. Fran Hustons Nicole Sweet in The Rich Get It All (1973) war der Versuch, eine etwas wirklichkeitsnähere Figur zu schaffen, ist aber tatsächlich das Werk eines Mannes (Ron S. Miller), der ein geschlechtsneutrales Pseudonym benutzte. Die erste in einer Reihe von Autorinnen erdachter Privatdetektivinnen, Maxine O’Callaghans Delilah West, tauchte dann 1974 in einer Kurzgeschichte auf, im Roman aber erst 1980.

Sharon McCone kehrte erst wieder in Ask the Cards a Question (1982; dt. Frag die Karten) mit einem zweiten Fall zurück, im gleichen Jahr, in dem ihre beiden berühmtesten Kolleginnen, Sue Graftons Kinsey Millhone und Sara Paretskys V.I. Warshawski, erstmals in Erscheinung traten, taucht seither aber in durchschnittlich einem Buch pro Jahr auf. McCone unterscheidet sich nicht bloß vom Geschlecht her von den meisten früheren privaten Ermittlern: Sie ist keine typische Einzelgängerin, sondern Teil einer Organisation, der All Souls Legal Cooperative, einem Anwaltskollektiv, und die beruflichen und privaten Beziehungen zu ihren Kollegen sind ihr wichtig. Das führt zu dem anderen, etwas subtileren Aspekt, in dem Muller sich hervorhebt: Sie war eine der Pionierinnen der heute allgemein üblichen Praxis, Seriendetektive mit einem Netz an Freunden, Familienmitgliedern und Mitarbeitern auszustatten, die von Buch zu Buch wieder auftauchen. Bedauerlicherweise können ihr von den Autoren, die diese Praxis übernommen haben, in dieser Hinsicht nur wenige das Wasser reichen.

1992 heiratete sie den Romanautor Bill Pronzini, mit dem sie an drei Romanen zusammengearbeitet hat, beginnend mit Double (1984), in dem McCone gemeinsam mit Pronzinis Namenlosem Detektiv die Ermittlungen übernimmt; später folgten eine Kurzgeschichtensammlung, zahlreiche Anthologien und das nützliche Nachschlagewerk 1001 Midnights: The Aficionado’s Guide to Mystery and Detective Fiction (1986). Außerdem hat Muller eine Buchreihe um zwei Amateurdetektivinnen verfasst: Einmal geht es um die Museumskuratorin Elena Oliverez, die in The Tree of Death (1983) und zwei Folgeromanen erscheint, und dann um die Kunstversicherungsmaklerin Joanna Stark, deren erster von drei Auftritten 1986 in The Cavalier in White erfolgte.

Zu Mullers Auszeichnungen zählt auch der 1993 von den Private Eye Writers of America verliehene Preis für ihr Lebenswerk.

«Wilder Senf«, eine der ganz frühen Sharon-McCone-Geschichten, stammt aus der ersten, 1984 bei der PWA erschienenen Anthologie The Eyes Have It.

Als ich die alte Japanerin zum ersten Mal sah, war ich gerade beim Brunch in dem Restaurant oberhalb der Ruinen der Sutro Baths in San Francisco. Die Frau kauerte am Abhang, auf halber Höhe zwischen der zypressenbestandenen Anhöhe und den überfluteten Trümmern des alten Badehauses. Sie rupfte Grünzeug aus und stopfte es in eine grüne Plastiktüte.

«Ich frage mich, was sie da sammelt«, sagte ich zu meinem Freund Greg.

Er blickte aus dem Fenster, hob eine dunkelblonde Augenbraue und schätzte die Szenerie mit seinem Kriminalerblick ein.»Wahrscheinlich irgendwas Essbares, was dort wild wächst. Sie sieht arm aus; ist eine gute Art, sich das Geld fürs Gemüse zu sparen.« Tatsächlich sah sie aus wie eine der mittellosen alten Frauen, die man manchmal in Japantown sah. Sie trug eine unförmige Jacke und Hosen, und ihre Füße steckten in Turnschuhen. Um den Kopf hatte sie ein graues Tuch geschlungen.

«Warst du schon mal dort unten?«, fragte ich Greg, auf die Ruinen deutend. Die einst elegante Badeanstalt war vom Feuer zerstört worden. Inzwischen waren nur noch die abbröckelnden, halb im Wasser versunkenen Grundmauern übrig. Möwen schwammen auf der glänzenden Wasserfläche, und dahinter schlug die Brandung gegen die Felsen.

«Nein. Du?« «Nein. Ich wollte immer schon mal hin, aber der Weg ist so steil, und ich habe nie die richtigen Schuhe an, wenn ich hierher komme.« Greg spöttelte grinsend:»Du würdest es zulassen, Sharon, dass dein Instinkt als Privatdetektivin einem Paar fehlender Wanderstiefel geopfert wird?« Ich zuckte die Achseln.»Vielleicht interessiert es mich einfach nicht besonders.« «Vielleicht.« Greg machte sich oft lustig über meinen «Spürnaseninstinkt«, in Wirklichkeit hatte ich jedoch den Verdacht, dass er auf meinen Beruf stolz war. Als Ermittlerin für das Anwaltskollektiv All Souls Cooperative hatte ich mit einer breiten Palette von Fällen zu tun — von Mord bis zum Rätsel eines nicht ganz wasserdichten Redwood-Whirlpools. Ein paar der Mordfälle, die ich aufgeklärt hatte, waren in Gregs Amtsbezirk gewesen, was sowohl eine gewisse Rivalität wie auch eine Romanze nach sich gezogen hatte.

In den folgenden Monaten wuchs mein Interesse an der alten Japanerin zusehends. Jeden Sonntag, wenn wir in das Restaurant gingen — und wir gingen oft hin, weil es zu unseren Lieblingslokalen zählte — suchte die Frau den Hang ab, auf Nahrungssuche … wonach?

An einem Sonntag zu Frühlingsanfang saßen Greg und ich in unserer Fensternische und sahen zu, wie die Frau langsam den Schotterpfad hinunterkletterte. Passend zur Jahreszeit hatte sie ihr graues Kopftuch gegen ein leuchtend gelbes ausgetauscht. Auf dem Hang wimmelte es von Leuten, die das Ende des Winterregens genossen.

Auf der kahlen Seite weiter hinten, wo sich keine Vegetation angesiedelt hatte, thronte ein verlassener Lastwagen im gewagten Winkel am Fuß der Klippen bei den Bädern. Manche kletterten hinunter, inspizierten den alten Laster und setzten ihren Weg dann auf den Betonfundamenten fort oder verschwanden in einer nahe gelegenen Höhle.

Als die Bedienung uns die Rechnung brachte, sagte ich:

«Jetzt hab ich lange genug zugesehen. Komm, wir gehen runter und schauen uns die Sache an.« Greg grinste und angelte in seiner Hosentasche nach Kleingeld.

«Du hast aber doch nicht die richtigen Schuhe an.« «Was soll’s, ich werd nie die richtigen Schuhe anhaben.

Gehen wir! Wir können die alte Frau doch fragen, was sie da sammelt.« Er stand auf.»Ich bin froh, dass du endlich beschlossen hast, sie dir genauer anzusehen. Vielleicht führt sie ja Finsteres im Schilde.« «Red doch kein dummes Zeug.« Er achtete gar nicht auf mich.»Yeah, deine Spürnase hat sich letztlich durchgesetzt. Oder liegt’s an deinem Indianerblut? Am Fährtenleserinstinkt, Indianerbaby?« Ich funkelte ihn wütend an und beschloss, dass er für diese Bemerkung die Rechnung bezahlen musste. Wegen meines einen Achtels Shoshone-Herkunft — das bei mir aus irgendeinem Grund in der schwarzen Haarfarbe durchschlägt, während der Rest meiner Familie aus schottisch-irischen Blondschöpfen besteht — hatte Greg mir den Spitznamen» Indianerbaby «verpasst, den ich nicht besonders schätzte.

Wir verließen das Restaurant und traten durch den Maschendrahtzaun auf den Fußpfad. Ein kräftiger Wind peitschte mir das lange Haar um den Kopf, und ich blieb stehen, um es hinten zusammenzubinden. Der Weg schlängelte sich in Serpentinen an riesigen, knorrigen Geranien vorbei durchs Dickicht. Jenseits davon kauerte die Frau und zog etwas aus der Erde, was wie Unkraut aussah. Als ich näher kam und sie mich anlächelte, blitzte ein Goldzahn auf.

«Hallo«, sagte ich.»Wir haben Ihnen zugesehen und uns gefragt, was Sie da sammeln.« «Hier wachsen viele gute Sachen. Diesen Monat kommt der wilde Senf. «Sie hielt ein Zweiglein in die Höhe. Ich nahm es und schnupperte den stechenden Geruch.

«Sollten Sie probieren«, fügte sie hinzu.»Ist gesund.« «Mach ich vielleicht. «Ich steckte mir die gelbe Blüte ins Knopfloch und wandte mich zu Greg um.

«Wer’s glaubt, wird selig«, sagte er.»Wann isst du schon mal was Gesundes?« «Bloß wenn du mich dazu zwingst.« «Muss ich ja. Sonst gab’s tagaus, tagein bloß Schokoriegel.« «Na und? Ich bin nicht schlecht in Form. «Es stimmte; sogar auf diesem steilen Abhang geriet ich nicht in Atemnot.

Greg lächelte, während sein Blick anerkennend über mich wanderte.»Nein, bist du nicht.« Wir gingen weiter hinunter in Richtung Ruinen, vorbei an einem Schild, das uns warnte: VORSICHT! KLIPPEN- UND BRANDUNGSBEREICH EXTREM GEFÄHRLICH ES WURDEN SCHON LEUTE VON DEN FELSEN GEWEHT UND ERTRANKEN Ich hielt inne, balancierte mit der Hand auf Gregs Arm und zog mir die Schuhe aus.»Besser wunde Füße als weggeweht werden.« Dem gleichen Impuls folgend, der schon andere Kletterer dazu bewegt hatte, näherten wir uns dem verlassenen Laster. Die blaue Farbe war rostfleckig, und im Motorraum hatte es gebrannt. Alles, auch Sitze und Lenkrad, war herausgerissen worden.

«Jemand hat sogar versucht, die Vorderachse rauszumachen«, ließ sich eine Stimme neben mir vernehmen,»aber bei dem Feuer sind die Bolzen miteinander verschmolzen.« Ich drehte mich um und sah einen freundlich aussehenden, sonnengebräunten Jugendlichen von etwa fünfzehn Jahren vor mir. Er trug schmutzige Jeans und ein zerrissenes T-Shirt.

«Ja«, fügte eine andere Stimme hinzu. Dieser Junge war ungefähr im gleichen Alter; auf seiner Oberlippe spross ein spärlicher Schnurrbart.»Es ist kaum noch was dran, dabei steht der erst seit ein paar Wochen hier.« «Vandalismus«, sagte Greg.

«Genau. «Der erste Junge nickte.»Die Leute lungern hier rum und saufen. Und spätabends wird ihnen dann langweilig. «Er deutete mit dem Kopf zu einer Gruppe unappetitlich aussehender Männer hinüber, die mit ein paar Sechserpacks am Rand der Badebecken saßen.

«Sachen kaputtmachen ist heutzutage fast ein Volkssport.« Greg beobachtete die Männer eine Weile mit professionellem Blick und tippte dann an meinen Ellbogen. Wir gingen um die Ruinen herum und steuerten auf die Höhle zu. An deren Eingang blieb ich stehen und lauschte dem Dröhnen der Brandung.

«Komm«, sagte Greg.

Ich folgte ihm ins Innere und versank dabei mit den Füßen im grobkörnigen Sand, der rasch zu festem Schlamm wurde. Die Höhle war eigentlich ein etwa zweieinhalb Meter hoher Tunnel. Durch Spalten auf der Meerseite sah ich, wie die Gischt von den rollenden Wellen am Fuß der Klippe hochgesprüht wurde. Zwischen diesen zerklüfteten Felsen durchgetrieben zu werden wäre tödlich.

Greg erreichte das andere Ende. Ich eilte weiter, so schnell es meine bloßen Füße erlaubten, und blieb neben ihm stehen. Beim Anblick des steil abfallenden Hangs zum Meer hinunter packte ich seinen Arm. Über uns ragten Felsen empor.

«Als guter Kletterer würde man es vermutlich bis da rauf schaffen und von dort zur Straße«, sagte ich.

«Vielleicht, ich würd’s aber nicht riskieren. Auf dem Schild steht doch …« «Stimmt. «Plötzlich drehte ich mich besorgt um. Am Tunneleingang standen zwei der zwielichtigen Gestalten, Bierdosen in der Hand.»Komm, Greg, wir gehen.« Falls er die Nervosität in meiner Stimme bemerkte, so ging er nicht darauf ein. Schweigend trotteten wir durch den Tunnel. Die Männer verschwanden. Als wir ins Sonnenlicht hinaustraten, waren sie wieder bei den anderen und machten frische Bierdosen auf. Die Jungen, mit denen wir vorhin gesprochen hatten, hockten auf dem verlassenen Laster und winkten uns zu, während wir den Fußweg hinaufgingen.

Und so besuchten wir sonntags im Frühling immer wieder unser Lieblingsrestaurant und warteten, bis wir eine Fensternische bekamen. Die alte Japanerin tauschte ihr gelbes Kopftuch gegen ein rotes aus. Der verlassene Lastwagen blieb stehen, die Schnauze in Richtung der Badebecken, was starke Kritik an der Parkbehörde hervorrief. Leute führten ihre Hunde auf dem Hang spazieren. Kinder balancierten trotz der Warntafel leichtsinnig auf den Trümmern. Die Männer lungerten herum und tranken Bier. Die Jugendlichen kamen jede Woche her, und oft gesellten sich am Lastwagen noch Freunde zu ihnen.

Eines Sonntags tauchte die alte Frau dann plötzlich nicht auf.

«Wo ist sie?«, fragte ich Greg und schaute zum dritten Mal auf meine Armbanduhr.

«Vielleicht hat sie alles gesammelt, was es dort unten zu sammeln gibt.« «Unsinn. Da gibt’s immer was zu sammeln. Wir haben sie jetzt fast ein Jahr lang beobachtet. Die beiden Alten führen dort unten ihren Schäferhund spazieren. Die Teenager sind hier. Das junge Pärchen, mit dem wir uns letzte Woche unterhalten haben, steht da am Tunnel drüben. Wo ist die alte Japanerin?« «Sie könnte doch krank sein. Im Moment geht die Grippe um. Himmel noch mal, vielleicht ist sie gestorben.

So jung war sie schließlich auch nicht mehr.« Bei seinen Worten verging mir der Appetit auf meine Schokoladencremetorte.»Vielleicht sollten wir nach ihr sehen.« Greg seufzte.»Sharon, spar dir die Rumschnüffelei für zahlende Kunden auf. Mach nicht aus allem einen Kriminalfall.« Greg hatte mich schon oft bezichtigt, ich ordne meine Logik dem unter, was er meine» weibliche Intuition« nannte — was mich sogar noch mehr störte als seine Anspielungen auf meinen» Fährtenleserinstinkt«. Ich wusste, dass das nicht stimmte; ich ließ einfach den Ahnungen, denen jeder gute Ermittler nachgeht, ungehindert Spielraum. Da ich dieses Thema im Moment jedoch nicht erörtern wollte, ließ ich es fallen.

Doch am nächsten Morgen, einem Montag, saß ich in dem Zimmerchen — einst ein begehbarer Schrank — das mir bei All Souls als Büro diente, und rätselte immer noch, was es mit der verschwundenen Frau auf sich hatte. Eine Akte über einen besonders langweiligen Mieterstreit lag offen vor mir auf dem Schreibtisch. Schließlich klappte ich sie zu und polterte durch den Korridor des viktorianischen Backsteinbaus auf die Eingangstür zu.

«Bin in ein paar Stunden wieder da«, sagte ich zu Ted, dem Sekretär.

Er nickte, während er weiter emsig die Tasten seiner neuen Selectric betätigte. Ich warf der Schreibmaschine einen bösen Blick zu. Sie war meiner Meinung nach ein Luxus — das Geld, das sie kostete, hätte man besser für Gehälter ausgegeben. All Souls, wo man den Kunden die Honorare nach einem Staffeltarif je nach Einkommen berechnete, bezahlte so wenig, dass einige der Anwälte zum Ausgleich kostenlos im ersten Stock wohnen konnten. Ich wohnte in einem Apartment im Mission District, das mir so vorkam, als würde es täglich kleiner.

Vor mich hin brummelnd, ging ich zu meinem Wagen hinaus und fuhr zum Restaurant oberhalb der Sutro Baths.

«Die alte Frau, die auf der Klippe wilden Senf sammelt«, sagte ich zu dem Mann an der Kasse,»war die gestern hier?« Er überlegte.»Ich glaub schon. Gestern war doch Sonntag. Sonntags ist sie immer hier. Ich hab sie so um acht gesehen, als wir aufgemacht haben. Sie kommt immer früh und bleibt bis etwa um zwei.« Doch um elf war sie schon weg gewesen.»Kennen Sie sie? Wissen Sie, wo sie wohnt?« Er musterte mich neugierig.»Nein, keine Ahnung.« Ich dankte ihm und ging hinaus. Ich kam mir dumm vor, wie ich da eine Weile neben dem Great Highway stehen blieb und begann dann den Trampelpfad hinunterzusteigen, auf die Stelle zu, wo der wilde Senf wuchs. Auf halber Strecke begegnete ich den beiden Jugendlichen. Wieso waren die nicht in der Schule?

Hatten sie vermutlich geschmissen.

Sie hasteten vorbei, wichen wie die meisten Kids meinem Blick aus. Ich hielt sie auf.»He, ihr wart doch gestern hier, stimmt’s?« Der mit dem Schnurrbärtchen nickte.

«Habt ihr die alte Japanerin gesehen, die immer Unkraut zupft?« Er runzelte die Stirn.»An die erinner ich mich nicht.« «Wann seid ihr hergekommen?« «Ach, spät! Echt spät. Am Samstagabend war nämlich

’ne Party.« «Ich erinner mich auch nicht, dass ich sie gesehen hätte«, sagte der andere,»aber vielleicht war sie auch schon wieder weg, als wir gekommen sind.« Ich dankte ihnen und steuerte auf die Ruinen unten zu.

Ein Stückchen weiter im Dickicht, durch das sich der Fußweg schlängelte, fiel mir etwas ins Auge, und ich blieb abrupt stehen. Ein ordentliches Häuflein grüner Plastiktüten lag dort und obendrauf ein Paar abgestoßene schwarze Schuhe. Offenbar war sie mit dem Bus hergefahren, in Straßenschuhen, und hatte sich erst für die Arbeit die Turnschuhe angezogen. Wieso sollte sie weggehen, ohne ihr Schuhwerk zu wechseln?

Ich eilte durchs Dickicht auf die Stelle mit dem wilden Senf zu.

Dort im Grünzeug lag noch eine Tüte, deren Farbe mit dem Blattwerk verschmolz. Ich machte sie auf. Sie war bis zu einem Viertel gefüllt mit welkendem Senfgemüse. Sie hatte nicht viel Zeit gehabt, auf Nahrungssuche zu gehen, gar nicht viel Zeit.

Inzwischen ernsthaft besorgt, rannte ich zum Great Highway hinauf. Von der Telefonzelle im Restaurant aus wählte ich Gregs Durchwahlnummer im San Francisco Police Department. Belegt. Ich holte meine Münze wieder heraus und rief bei All Souls an.

«Irgendwelche Anrufe?« Im Hintergrund ratterte Teds Schreibmaschine.»Nein, aber Hank will dich sprechen.« Hank Zahn, mein Chef. Zerknirscht fiel mir plötzlich die Besprechung ein, die vor einer halben Stunde hätte beginnen sollen. Er kam an den Apparat.

«Wo zum Teufel steckst du?« «Ah, in einer Telefonzelle.« «Was ich sagen will, wieso bist du nicht hier?« «Ich kann’s erklären — « «Ich hätte es wissen müssen.« «Was?« «Greg hat mich schon gewarnt, du wärst unterwegs und würdest irgendwas ermitteln.« «Greg? Wann hast du denn mit ihm gesprochen?« «Vor ’ner Viertelstunde. Du sollst ihn anrufen. Es sei wichtig.« «Danke!« «Moment mal — « Ich hängte auf und wählte wieder Gregs Nummer. Er meldete sich, klang gehetzt. Ohne lange Vorrede erklärte ich ihm, was ich im wilden Senf gefunden hatte.

«Deswegen hab ich dich angerufen. «Seine Stimme klang ungewöhnlich sanft.»Wir haben es heute früh erfahren.« «Was erfahren?«Mein Magen krampfte sich zusammen.

«Die Identifizierung einer Leiche, die gestern Abend in der Nähe von Devil’s Slide angespült wurde. Sie ist anscheinend bei Ebbe ins Wasser, sonst wäre sie viel weiter ins Meer hinausgetrieben worden.« Ich schwieg.

«Sharon?« «Ja, ich bin noch dran.« «Du weißt, wie es dort draußen ist. Auf den Schildern wird vor dem Klettern gewarnt. Die Strömung ist tückisch.« Aber ich hatte die alte Japanerin nie, fast ein ganzes Jahr lang nicht, in der Nähe des Meeres gesehen. Sie war immer auf dem Hang, wo ihr Grünzeug wuchs.»Wann war Ebbe, Greg?« «Gestern? Etwa morgens um acht.« Ungefähr um die Zeit, als der Kassierer des Restaurants sie bemerkt hatte, und einige Stunden, bevor die Jugendlichen angekommen waren. Und dazwischen? Was war dort draußen geschehen?

Ich hängte auf und blieb nachdenklich auf dem Hang oben stehen. Wonach sollte ich Ausschau halten? Was konnte ich überhaupt finden?

Ich wusste es nicht, hatte jedoch das sichere Gefühl, dass die alte Frau nicht aus Versehen ins Meer gefallen war.

Sie war immer so geschickt auf diesen Klippen herumgeklettert.

Ich begann hinunterzusteigen, bemerkte dabei die Schuhe und die Tüten im Dickicht, und stapfte entschlossen am wilden Senf vorbei auf den verlassenen Laster zu. Ich ging einmal ganz herum, begutachtete ihn innen und außen, konnte aber nichts Verdächtiges finden.

Dann steuerte ich auf den Tunnel in der Klippe zu.

Die Stelle, an Sonntagen so überfüllt, war jetzt kaum belebt. Die Bewohner von San Francisco gingen ihren Alltagsgeschäften nach, und die Besucher aus den beim nahe gelegenen Cliff House geparkten Reisebussen trauten sich nicht, dorthinunter zu klettern. Nur die Jugendlichen waren zu sehen. Sie standen am Tunneleingang und beobachteten mich. Etwas an ihrer Haltung verriet mir, dass sie Angst hatten. Ich beschleunigte meinen Schritt.

Die Jungen steckten die Köpfe zusammen. Dann wirbelten sie herum und rannten in die Tunnelmündung hinein.

Ich lief ihnen nach. Wieder hatte ich die falschen Schuhe an. Ich kickte sie von den Füßen und rannte durch den groben Sand. Die Jungen hatten den Tunnel zur Hälfte durchquert.

Der eine blieb stehen und untersuchte aufgeregt einen Spalt in der Wand. Ich betete, dass er nicht dort durchstürzte, in die tosenden Wellen darunter.

Er drehte sich um und rannte seinem Gefährten nach. Sie verschwanden am Ende des Tunnels.

Ich erreichte den festgetrampelten Erdboden und beschleunigte mein Tempo. Am Ausgang wurde ich langsamer und kam etwas vorsichtiger näher. Zuerst dachte ich, die Jungen wären verschwunden, doch dann sah ich hinunter. Dort unten auf einem Vorsprung kauerten sie. Ihre Gesichter waren verängstigt und jung, so jung.

Ich blieb stehen, wo sie mich sehen konnten, und machte eine beruhigende Geste.»Kommt wieder rauf«, sagte ich.

«Ich tu euch nichts.« Der mit dem Schnurrbärtchen schüttelte den Kopf.

«Ihr könnt aber doch nirgends hin. In der Brandung könnt ihr nicht schwimmen.« Sie schauten gleichzeitig nach unten. Dann sahen sie wieder mich an und schüttelten beide den Kopf.

Ich machte einen Schritt auf sie zu.»Egal, was passiert ist, es hätte nicht — «Plötzlich spürte ich, wie der Boden nachgab. Mein Fuß glitt aus, und ich stürzte vornüber. Ich fiel auf ein Knie, meine Arme suchten aufgeregt nach Halt.

«O Gott!«, rief der schnurrbärtige Junge.»Sie nicht auch noch!« Er stand schwankend auf, die Arme ausgestreckt.

Ich rutschte immer weiter abwärts. Der Junge griff herauf und packte mich am Arm. Er taumelte an den Rand zurück, und wir fielen zusammen auf den harten, felsigen Untergrund. Einen Augenblick blieben wir beide keuchend liegen. Als ich mich schließlich aufsetzte, stellte ich fest, dass wir uns nur Zentimeter vom steilen Abfall zur Brandung befanden.

Der Junge setzte sich ebenfalls auf, den angstvollen Blick auf mich gerichtet. Sein Gefährte presste sich an die Klippenwand.

«Schon okay«, sagte ich mit zitternder Stimme.

«Ich dachte, Sie fallen runter, wie die alte Frau«, sagte der Junge neben mir.

«Es war ein Unfall, nicht wahr?« Er nickte.»Wir wollten nicht, dass sie runterfällt.« «Habt ihr sie gehänselt?« «Ja. Haben wir immer, bloß so zum Spaß. Aber diesmal sind wir zu weit gegangen. Wir haben uns ihre Tasche geschnappt. Da ist sie uns nach.« «Durch den Tunnel, bis hierher.« «Ja.« «Und dann ist sie ausgerutscht.« Der andere Junge rückte von der Wand weg.»Wir wollten nicht, dass es passiert, ehrlich. Es war bloß — sie war so alt. Sie ist ausgerutscht.« «Wir haben sie fallen sehen«, sagte sein Gefährte.»Wir konnten gar nichts machen.« «Was habt ihr mit der Tasche gemacht?« «Haben wir ihr hinterher geschmissen. Es waren bloß zwei Dollar drin. Zwei lausige Dollar. «In seiner Stimme schwang Verwunderung mit.»Können Sie sich das vorstellen, rennt uns den ganzen Weg hinterher wegen zwei Dollar?« Ich stand vorsichtig auf und hielt mich dabei an dem Felsen fest.»Okay«, sagte ich.»Und jetzt raus hier.« Sie sahen einander an, dann in die Brandung hinunter.

«Na los. Wir reden noch drüber. Ich weiß, ihr wolltet nicht, dass sie stirbt. Und ihr habt mir das Leben gerettet.« Sie rappelten sich auf, hielten aber Abstand zu mir. Ihre Gesichter unter der Sonnenbräune waren bleich, ihre Augen voller Angst. Sie waren so jung. Für sie, Kinder des Kreditkartenzeitalters, war es unvorstellbar, dass jemand wegen zwei Dollar bis zum Tod kämpfen würde.

Und die Japanerin war so alt gewesen. Für sie, die sich mühsam mit wildem Senf durchschlug, hatten die zwei Dollars wahrscheinlich den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeutet.

Ich fragte mich, ob sie es je begreifen würden.