172806.fb2 Ein Totenhemd f?r einen Erzbischof - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

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X

«EINES IST JEDENFALLS KLAR», SAGTE

Bruder Eadulf, nachdem Bruder Sebbi das Zimmer verlassen hatte.

Fidelma sah ihn aufmerksam an. Sein spöttischer Unterton war ihr nicht entgangen.

«Nämlich?» fragte sie ernst.

«Bruder Sebbi hegt nicht gerade eine innige Liebe für seinen Abt. Im Gegenteil, er scheint fest entschlossen zu sein, Mißtrauen gegen Puttoc und dessen Diener Eanred zu säen.»

Fidelma neigte zustimmend den Kopf. «Zu fest entschlossen?» fragte sie nachdenklich. «Vielleicht sollten wir uns lieber vorsehen und nicht allzu viel in Bruder Sebbis Aussagen hineinlesen. In puncto Ehrgeiz scheint er seinem Abt offenbar in nichts nachzustehen. Die Frage ist nur: Wie weit ist sein Handeln tatsächlich von diesem Ehrgeiz bestimmt?»

«Vielleicht täten wir gut daran, noch einmal mit Bruder Eanred zu sprechen», schlug Eadulf vor.

Auf Fidelmas Gesicht erschien ein schelmisches Grinsen. «Habt Ihr Bruder Ronan schon vergessen? Ihr zweifelt doch nicht etwa an seiner Schuld?»

Der sächsische Mönch blinzelte verlegen. Er hatte sich tatsächlich von der Befragung Bruder Sebbis so ablenken lassen, daß er den Hauptverdächtigen fast aus den Augen verloren hätte.

«Natürlich nicht», erwiderte er. «Schließlich sprechen die Tatsachen für sich. Aber es ist doch merkwürdig ...» Er verstummte.

«Merkwürdig?» fragte Fidelma nach einer Weile.

Eadulf stieß einen leisen Seufzer aus, kam aber nicht dazu, sich noch weiter zu erklären, weil Furi-us Licinius ins Zimmer trat, ein Tablett mit einem Krug Wein, etwas Brot, kaltem Braten und frischem Obst in der Hand.

«Das war alles, was ich noch auftreiben konnte», verkündete er und stellte das Tablett auf den Tisch. «Ich habe schon gegessen, Ihr könnt Euch also nach Herzenslust bedienen. Übrigens bin ich auf dem Rückweg zufällig dem Mann begegnet, den Ihr vorhin gesucht habt: dem sub-praetor vom mumm peregrinitatis, bei dem Ronan Ragallach gearbeitet hat.»

Mit einem Seufzer des Bedauerns wandte sich Fidelma an Eadulf.

«Dann werden wir erst essen, nachdem wir mit dem Bruder gesprochen haben», verkündete sie entschlossen.

Eadulf verzog das Gesicht, widersprach aber nicht.

Licinius führte einen schlanken, jungen Mann herein, der auf den ersten Blick fast noch knabenhaft wirkte. Er hatte blasse Haut, volle rote Lippen und große, dunkle Augen, die er ständig zusammenkniff, weil er dann offenbar besser sehen konnte. Sein Kopf war vollkommen kahlgeschoren.

«Der sub-praetor vom mumm peregrinitatis», verkündete Licinius.

Fidelma war verblüfft. Sie hatte einen älteren Mann erwartet. Dieser Junge konnte kaum älter als zwanzig Jahre sein.

Nach einigen Schritten blieb er stehen und musterte die beiden Geistlichen mit kurzsichtigem Blick.

«Wie heißt Ihr?» fragte Fidelma.

«Osimo Lando», antwortete der Junge mit einem seltsam lispelnden Akzent.

«Ihr stammt nicht aus Rom?»

«Nein, ich bin Grieche und in Alexandria geboren, aber in Syrakus aufgewachsen.»

«Setzt Euch, Bruder Osimo.» Fidelma deutete auf einen leeren Stuhl. «Hat tesserarius Furius Lici-nius Euch von unserer Aufgabe erzählt?»

Bruder Osimo nahm Platz und zupfte mit einer unerwartet mädchenhaften Geste die Falten seines Gewandes zurecht.

«Ja.»

«Uns wurde gesagt, daß Bruder Ronan Ragal-lach in Eurem Amt gearbeitet hat?»

Der sub-praetor nickte.

«Vielleicht könnt Ihr mir zunächst einmal erklären, womit das munera peregrinitatis beschäftigt ist?» bat ihn Fidelma.

Mit einer graziösen Bewegung lehnte Osimo sich auf seinem Stuhl zurück.

«Durch uns hält der Heilige Vater Verbindung mit unseren Missionen auf der ganzen Welt.»

«Und Bruder Ronan Ragallach ist Euch unterstellt?»

«Ja. Als sub-praetor bin ich für alles zuständig, was unsere Kirchen in Afrika betrifft. Bruder Ronan geht mir bei dieser Aufgabe zur Hand.»

«Und wie lange arbeitet er schon in Eurem Amt?»

«Soweit ich weiß, ist er vor einem Jahr als Pilger nach Rom gekommen, Schwester. Er besitzt eine besondere Begabung für fremde Sprachen, also ist er in Rom geblieben und hat sich in den letzten neun Monaten unter meiner Anleitung in den Dienst unserer Sache gestellt.»

«Was für ein Mensch ist dieser Ronan Ragal-lach, Bruder?»

Osimo Lando schürzte die Lippen und starrte nachdenklich ins Leere. Eine leichte Röte erschien auf seinen blassen Wangen.

«Ein sehr ruhiger Mensch, der weder zur Gereiztheit noch zu Wutausbrüchen neigt. Still und friedfertig, würde ich sagen. Gewissenhaft, was die Erledigung der ihm übertragenen Aufgaben betrifft. Es hat mit ihm nie irgendwelche Schwierigkeiten gegeben.»

«Und seine Ansichten?» warf Bruder Eadulf ein.

Osimo sah ihn verständnislos an. «Was für Ansichten?»

«Ronan Ragallach ist Ire. Wie man uns sagte, trägt er die irische Tonsur anstelle unserer römischen corona spinea. Das heißt, daß er die Lehre Roms ablehnt und sich zur Kirche Columbans bekennt.»

Bruder Osimo schüttelte heftig den Kopf. «Bruder Ronan ist ein Mann der Gewohnheit, das ist alles. Wie viele andere irische und britische Mönche trägt er die Tonsur so, wie es dort Sitte ist. Für uns hat das nie eine Rolle gespielt. Es kommt darauf an, was ein Mensch im Herzen hat, nicht darauf, wie er sich die Haare rasiert.»

Fidelma schaute zu Boden und hielt eine Hand vor den Mund, um nicht zeigen zu müssen, daß Eadulfs beschämtes Erröten sie unwillkürlich lächeln ließ.

«Und was hat Ronan im Herzen?» fragte Ea-dulf, der seinen Ärger darüber, wegen eines Vorurteils öffentlich getadelt worden zu sein, nicht verbergen konnte.

Bruder Osimo schürzte die Lippen. «Wie ich schon sagte, Bruder, ist er ein äußerst verträglicher, friedvoller Mann.»

«Ihr habt ihn niemals schlecht über Rom sprechen hören?»

«Nein. Weshalb auch? Schließlich ist er freiwillig in Rom geblieben.»

«Und Ihr habt ihn auch niemals über Canter-bury schimpfen hören? Was hielt er zum Beispiel vom Ausgang der Synode von Witebia, bei der die sächsischen Königreiche sich für die Lehren Roms und gegen die irischen Mönche entschieden haben?»

Durch sein Lächeln machte Osimo deutlich, daß er dies für eine abwegige Frage hielt.

«Er hat nie irgendeine Meinung dazu geäußert. Er war mit den afrikanischen Kirchen, nicht mit den Kirchen Irlands und Britanniens beschäftigt. Bruder Ronan ist ein ausgezeichneter Kenner des Griechischen und Aramäischen und hat seine Aufgaben stets zu größter Zufriedenheit erfüllt. Sie wird zunehmend schwieriger, seitdem die Araber sich mit ihrem neuen, fanatischen Glauben an den Propheten Mohammed an der afrikanischen Küste ausgebreitet haben.»

Eadulf unterdrückte ein ärgerliches Aufstöhnen.

«Erstaunt es Euch denn nicht, Bruder Osimo, daß man Bruder Ronan Ragallach des Mordes an Wighard von Canterbury beschuldigt und den Ausgang der Synode von Witebia dabei als Hauptmotiv angibt?» fragte er.

Zu seiner Überraschung legte Osimo den Kopf in den Nacken und stieß ein silberhelles Lachen aus.

«Ich habe davon gehört und gebe nicht das geringste darauf.» Er wurde ernst. «Als ich die Nachricht von dem Mord bekam und hörte, daß man Bruder Ronan verhaftet hat, konnte ich es nicht fassen. Und ich werde auch in Zukunft nicht an seine Schuld glauben. Wenn Ihr den wahren Mörder finden wollt, müßt Ihr woanders suchen.»

Fidelma betrachtete ihn aufmerksam.

«Wieso?» fragte sie. «Warum seid Ihr so sicher, daß Ronan nicht der Mörder ist?»

«Weil ...» Osimo schaute sich im Zimmer um, als suche er dort nach einer Antwort. «Weil es nicht seinem Wesen entspricht. Wenn Ihr mir sagen würdet, der Heilige Vater habe am Bacchusfest teilgenommen und - Gott verzeihe mir - nackt im Bacchustempel an der Sacra Via getanzt, würde ich Euch eher glauben, als wenn Ihr mir erzähltet, Bruder Ronan sei eines Mordes fähig.»

Ein Lächeln spielte um Fidelmas Lippen.

«Ihr setzt Euch ja mächtig für Euren Mitarbeiter ein, Bruder Osimo.»

«Und es ist meine feste Überzeugung», ergänzte der sub-praetor mit fester Stimme.

«Und doch wurde Ronan festgenommen, als er nach Wighards Tod aus dessen Gemächern floh. Bei seiner Festnahme hat er einen falschen Namen angegeben und später ist er aus dem Wachhaus der custodes entwichen», warf Eadulf ein. «Nennt Ihr das die Handlungsweise eines unschuldigen Mannes, Bruder Osimo?»

Osimo sah unglücklich drein, ließ sich aber nicht beirren. «Es könnte die Handlungsweise eines verzweifelten Mannes sein - eines Mannes, der erfahren mußte, wie sich trotz seiner Unschuld alles gegen ihn verschwor. Um seine Unschuld zu beweisen, mußte er als erstes seine Freiheit wiedererlangen.»

Fidelma sah dem jungen Mann schweigend in die Augen, dann fragte sie mit betont ruhiger Stimme: «Hat Bruder Ronan Euch das höchstpersönlich mit diesen Worten erklärt?»

Osimo errötete. «Natürlich nicht.» Seine Stimme zitterte vor Empörung.

In Fidelmas Ohren klang seine Antwort wenig überzeugend. Sie beschloß, noch einmal nachzuhaken. «Ihr habt Bruder Ronan also seit seiner Flucht nicht mehr gesehen? Und doch sprecht Ihr in seinem Sinne.»

«Ich habe in den letzten neun Monaten eng mit ihm zusammengearbeitet, und wir sind . Freunde geworden. Gute Freunde.»

Osimo sah zur Seite und reckte trotzig das Kinn.

Fidelma beugte sich vor. «Euch ist klar, daß Ihr gesetzlich verpflichtet seid, unverzüglich die custo-des zu benachrichtigen, falls Ihr Ronan Ragallach begegnet?»

«Ja, das ist mir klar», erwiderte Osimo mit ruhiger Stimme.

Fidelma lehnte sich wieder zurück und betrachtete den jungen Mann nachdenklich. «Dann ist es ja gut, Bruder Osimo. Glaubt mir, ich habe fest vor, den Mord an Wighard von Canterbury auf den Grund zu gehen. Wenn Bruder Ronan unschuldig ist, werde ich es beweisen. Sollte sich dagegen seine Schuld herausstellen, wird es für ihn kein Entrinnen geben.»

Ihr bestimmter, ehrlicher Ton ließ Osimo aufschauen.

«Ich verstehe», flüsterte er.

«Laßt uns noch einmal auf den Mord zu sprechen kommen», mischte sich Eadulf ein. «Wann habt Ihr Bruder Ronan das letzte Mal gesehen?»

«Am Tag vor der Mordnacht war Bruder Ronan bei uns im munera peregrinitatis, bis es zum Abendangelus läutete.»

«Habt Ihr Wighard oder einen der anderen Pilger aus Canterbury jemals zu sehen bekommen?»

Osimo schüttelte den Kopf.

Fidelma wandte sich an Eadulf. «Ich habe keine weiteren Fragen, es sei denn .?»

Eadulf verneinte.

«Dann, Bruder Osimo ... Ach, eine Sache hätte ich fast vergessen.» Sie griff in ihr marsupium, holte das Papyrusstück heraus und reichte es ihm. «Könnt Ihr mir sagen, was das für eine Sprache ist?»

Bruder Osimos Augen weiteten sich. Obwohl er sich rasch wieder faßte, war sein erschrockener Blick Fidelma nicht entgangen.

«Diese Schriftzeichen entstammen der Sprache der Araber», erklärt er. «Aramäisch wird sie allgemein genannt.»

«Und was haben sie zu bedeuten?»

«Schwer zu sagen. Es handelt sich um einen kleinen Ausriß aus irgendeinem unbekannten Text ... Vielleicht sogar aus einem Brief ... Nur einige wenige Worte sind zu entziffern.»

«Und welche Worte sind das?» fragte Fidelma.

«Die Schrift der Araber wird von rechts nach links gelesen. Ich erkenne die Worte für <Bibliothek> und <heilige Krankheit>, die Endung <ophilus> als Teil eines griechischen Namens und die Worte für <Preis> und <Handel>. Das ist auch schon alles. Ich glaube nicht, daß das irgendeinen Sinn ergibt.»

Nach dem bescheidenen Abendessen, das Fidelma trotz des Nachmittagsschlafs sehr müde machte, schickten sie Furius Licinius aus, um Äbtissin Wul-frun oder Schwester Eafa zu holen. Während er fort war, saßen sich Fidelma und Eadulf eine Weile lang schweigend gegenüber. Fidelma ging in Gedanken noch einmal Bruder Osimos Aussage durch. Eigentlich war sie sich sicher, daß hinter Osimos Beziehung zu Ronan Ragallach mehr steckte als eine gute Zusammenarbeit im munera peregrinitatis - jedenfalls mehr, als er im Gespräch mit ihnen zugegeben hatte. Jedenfalls schien er Ronan Ragallach auch persönlich sehr gut zu kennen. Sie hätte schwören können, daß Ronan nach seiner Flucht bei Osimo Lando Hilfe gesucht hatte. Aber es war nur ein Gefühl, aus dem sie keine Schlüsse ziehen durfte.

Sie hörte Eadulf mit den Fingern auf den Tisch trommeln und sah ihn mißbilligend an.

«Woran denkt Ihr, Eadulf?» fragte sie, als das Trommeln unbeirrt weiterging.

Blinzelnd hielt Eadulf inne. Offenbar merkte er erst jetzt, daß er völlig in Gedanken versunken war.

«Ich habe an Osimo gedacht.»

Fidelma zog erstaunt die Augenbrauen hoch. «Genau wie ich. Und woran genau?»

«An die arabischen Wörter, die er uns übersetzt hat.»

Fidelma war enttäuscht.

«Ach, so», sagte sie achselzuckend. Insgeheim hatte sie wohl gehofft, Eadulf habe sich in Gedanken ebenfalls mit der Beziehung zwischen Osimo und Ronan befaßt. «Aber die haben ja wohl kaum irgendeine Bedeutung.»

Eadulf schüttelte den Kopf. «Vielleicht nicht. Vielleicht aber doch. Sie haben mich an etwas erinnert. Wie Ihr wißt, Fidelma, habe ich in Irland einige Jahre das Kollegium der Medizin in Tuaim Brecain besucht.»

«Was hat das mit den arabischen Wörtern zu tun?»

«Möglicherweise nicht das geringste. Bis auf die Tatsache, daß ich damals einiges über die Medizin erfahren habe.»

«Ich habe keine Ahnung, worauf Ihr hinauswollt, Eadulf.»

«Für den Fall, daß sie in Zukunft irgendwann einmal einen Sinn ergeben, habe ich mir die Wörter aufgeschrieben.»

«Und?»

«Zum Beispiel war das Wort <Bibliothek> darunter. Der Sachverhalt, um den es geht, ist vielleicht irgendwelchen Büchern entnommen. <Heilige Krankheit> waren zwei Wörter, die direkt nebeneinander standen. Die heilige Krankheit heißt ein Traktat von Hippokrates, in dem er den Unterschied zwischen sensorischen und motorischen Nerven beschreibt.»

«Ich fürchte, ich kann Euch nicht folgen, Ea-dulf.»

Eadulf lächelte nachsichtig. «Herophilus von Chalcedon, einer der großen Gründer der medizinischen Schule von Alexandria, hat einen Kommentar zu Hippokrates’ Werken verfaßt. Vielleicht gehörte die Endung <ophilus> zu seinem Namen. Es könnte sich also um irgendeine Botschaft aus Herophilus’ Kommentar zu dem Traktat Die heilige Krankheit handeln, der in der Bibliothek zu finden ist.»

Fidelma lehnte sich belustigt zurück.

«Eine wenig stichhaltige, aber dennoch überle-genswerte Idee, Eadulf. Möglicherweise habt Ihr recht. Aber im Augenblick hilft uns das nicht weiter.»

«Vielleicht kann es uns in Zukunft noch einmal nützlich sein», erwiderte Eadulf, offenbar zufrieden mit seiner scharfsinnigen Schlußfolgerung.

In dem Moment kam Furius Licinius zur Tür herein. Doch noch ehe er irgend etwas sagen konnte, wurde er zur Seite geschoben, und Äbtissin Wul-frun rauschte in das officium. Sie war auffallend groß, selbst größer als Fidelma, und hatte ein schmales, blasses Gesicht mit scharfen Zügen. Ihre Hakennase verlieh ihr einen Ausdruck der Überheblichkeit, die dünnen Lippen hatte sie verächtlich zusammengekniffen. Ihre hellen Augen funkelten vor Wut.

«Also?» fauchte sie ohne jede Einleitung. «Was soll der Unsinn?»

Fidelma öffnete den Mund; Eadulf, der das gefährliche Glitzern in ihren Augen sah, ergriff jedoch an ihrer Stelle rasch das Wort und erhob sich von seinem Platz.

«Das ist kein Unsinn, Mylady», sagte er in dem Versuch, Fidelma durch die Wahl der förmlichen Anrede daran zu erinnern, daß ihr die Schwester der Königin von Kent gegenüberstand. «Hat der tesserarius der custodes Euch nicht von dem Auftrag in Kenntnis gesetzt, den wir von Bischof Gelasius bekommen haben?»

Äbtissin Wulfrun blähte wütend die Nasenflügel. «Doch, aber ich wüßte nicht, was das Ganze mich angeht.»

«Es beschäftigt Euch nicht, daß der Mann, der in einer Woche zu Eurem Erzbischof geweiht werden sollte, ermordet worden ist?» fragte Fidelma mit bedrohlich sanfter Stimme.

Äbtissin Wulfrun funkelte sie zornig an. «Ihr wißt genau, daß ich damit Eure Befragung meinte. Ich weiß nichts über die ganze Sache.»

In dem Versuch, sie zu besänftigen, lächelte Ea-dulf freundlich und deutete auf einen leeren Stuhl.

«Wenn Ihr die Güte besitzen würdet, uns ein wenig von Eurer wertvollen Zeit zu schenken? Beantwortet uns nur ein paar kurze Fragen, damit wir Bischof Gelasius berichten können, daß wir seinen Auftrag ausgeführt haben.»

Angesichts dieser Unterwürfigkeit knirschte Fidelma mit den Zähnen, doch sie wußte, daß es klüger war, Eadulf die Befragung zu überlassen. Es konnte nur allzu leicht geschehen, daß sie in Gegenwart dieser anmaßenden Frau die Beherrschung verlor.

Die Äbtissin nahm Platz und zupfte mit der linken Hand an einem Zipfel ihrer Kopfbedeckung, die sie sich wie einen Schal um den Hals geschlungen hatte.

«Wann habt Ihr den Erzbischof zum letzten Mal lebend gesehen?» begann Eadulf.

«Gestern, gleich nach dem Abendessen. Wir haben einige Worte über die für heute vorgesehene Audienz beim Heiligen Vater gewechselt. Wir standen kaum länger als zehn Minuten zusammen an der Tür zum Refektorium. Anschließend habe ich mich sofort in mein Zimmer zurückgezogen. Schwester Eafa kam und half mir, mich für die Nachtruhe bereitzumachen, und ich habe mich früh schlafen gelegt. Erst beim Frühstück erfuhr ich dann von Wighards Tod.»

«An diesem Abend scheinen alle früh zu Bett gegangen zu sein», murmelte Fidelma. Ohne darauf zu achten, fragte Eadulf weiter: «Sind Eure Gemächer weit von denen Wighards entfernt?»

Die Äbtissin runzelte die Stirn. «Soweit ich im Bilde bin, sind wir auf dem Stockwerk unter den männlichen Mitgliedern unserer Gruppe untergebracht. Das müßtet Ihr doch selbst wissen, Bruder Eadulf.»

«Ich meine, liegen sie direkt unter Wighards Gemächern? Ich versuche nur festzustellen, ob Ihr etwas gehört haben könntet», erklärte er geduldig.

«Die Antwort auf beide Fragen lautet <nein>», entgegnete die Äbtissin ungehalten.

«Und was ist mit Schwester Eafa?»

«Sie hat das Zimmer gleich neben mir. Auf die Weise ist sie gleich zur Stelle, wenn ich sie brauche.»

«Ist Schwester Eafa Eure Dienerin?» erkundigte sich Fidelma mit scharfer Stimme.

Äbtissin Wulfrun funkelte sie wütend an. «Sie gehört zu meiner Klostergemeinschaft in Sheppey, ist meine Reisegefährtin und steht mir bei Bedarf hilfreich zur Seite.»

«Ah», stellte Fidelma betont unbefangen fest, «und haltet Ihr es im umgekehrten Fall ebenso?»

Eadulf versuchte, das Gespräch wieder an sich zu ziehen. «Ihr wurdet in der Nacht nicht gestört? Ihr habt nichts gehört und gesehen?»

Wulfrun wandte sich wieder an Eadulf. «Das habe ich schon gesagt», erwiderte sie knapp.

«Wie ich erfuhr, haben die custodes bei der Verhaftung von Bruder Ronan Ragallach einen solchen Lärm veranstaltet, daß Bruder Sebbi davon aufgewacht ist», bemerkte Fidelma. «Und doch habt Ihr nicht das geringste bemerkt?»

Äbtissin Wulfruns Wangen röteten sich. «Ein einfaches irisches Mädchen zieht meine Worte in Zweifel?» Sie erhob drohend die Stimme. «Wißt Ihr denn nicht, mit wem Ihr sprecht?»

Fidelmas grüne Augen blitzten gefährlich. «Ich spreche mit einer Schwester im Glauben, und wie es die Höflichkeit zwischen Gleichgestellten verlangt, erwarte ich eine Antwort auf meine Frage.»

Äbtissin Wulfruns Zorn wuchs mit jeder Sekunde. «Ich bin Wulfrun, die Tochter Annas, König der Ostangeln. Meine Schwester Seaxburgh ist die Gemahlin Eorcenbrehts und herrscht als Königin von Kent.»

«Ihr seid Äbtissin Wulfrun vom Kloster Shep-pey», stellte Fidelma mit betont ruhiger Stimme richtig. «Als Ihr in den Orden eintratet, wurdet Ihr eins mit der Kirche und habt keinen Anspruch auf irgendeinen anderen Rang als den, den Euch die Kirche verliehen hat.»

Äbtissin Wulfrun richtete sich kerzengerade auf. Einen Augenblick lang ließ sie sogar den Stoffzipfel um ihren Hals los. Sie starrte Fidelma entgeistert an.

«Ihr wagt es, so mit mir zu sprechen?» Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. «Ich bin eine sächsische Prinzessin!»

«Was Ihr einmal wart, ist ohne Bedeutung. Was Ihr heute seid, ist wichtig: eine Dienerin Christi.»

Wulfruns Mund öffnete und schloß sich mehrere Male, ohne daß ein Laut zu hören war. Endlich stieß sie hervor: «Wie könnt Ihr es wagen! Ein fremdes Bauernmädchen! Ich bin eine Prinzessin von Kent. Ich wette, Ihr wißt nicht einmal, wer Euer Vater ist?»

Mit stummem Entsetzen sah Eadulf, wie Fidelmas Wangen sich ebenfalls röteten und wie sie die hochfahrende Äbtissin finster anfonkelte. Fast befürchtete er, die irische Geistliche könnte angesichts dieser Beleidigung die Beherrschung verlieren. Doch Fidelma nahm sich zusammen und lehnte sich lächelnd auf ihrem Stuhl zurück. Als sie sprach, klang ihre Stimme ruhig und besonnen.

«Mein Vater, Äbtissin Wulfrun, ist der gleiche wie Eurer: der eine, wahre Gott, dem wir gemeinsam dienen ...»

Äbtissin Wulfrun schnaubte verächtlich, aber ehe sie antworten konnte, fuhr Fidelma fort. «Da Ihr Euch jedoch offenbar mehr mit weltlichen Dingen beschäftigt als mit dem Glauben, der für Euch eigentlich an erster Stelle stehen sollte, will ich Euch verraten, daß mein weltlicher Vater Failbe Fland mac Aedo, König von Cashel und Munster war und mein Bruder Colgü heute an seiner Statt regiert. Nicht, daß ich damit prahlen möchte, denn meine Taten sind alles, was in diesem Leben zählt. Als Advokatin an den Gerichtshöfen meines Heimatlandes setze ich mich für die Gerechtigkeit ein. Wohl auch aus diesem Grund haben mich der superista und der nomenclator Seiner Heiligkeit beauftragt, in diesem Mordfall zu ermitteln.»

Eadulf war überrascht. Es war das erste Mal, daß Fidelma über ihre Herkunft gesprochen hatte. Unbeirrt von den wütenden Blicken der hochmütigen Äbtissin sprach sie weiter: «Als ich in den Dienst des auferstandenen Christus trat, unterwarf ich mich seiner Lehre, die besagt, daß wir vor ihm alle gleich sind. Kennt Ihr nicht die Stelle aus dem Brief des Timotheus: <Sagt den Reichen und Mächtigen, sie sollen weder stolz noch hochfahrend sein noch sich auf ungewisse Reichtümer stützen. Ihre Hoffnung richte sich ganz allein auf den lebendigen Gott>?»

Äbtissin Wulfruns Gesicht zuckte vor Zorn. Sie sprang so heftig auf, daß ihr Stuhl nach hinten fiel. Wegen der heftigen Bewegung verrutschte ihre Kopfbedeckung und gab einen Teil ihres Halses frei. Erschrocken betrachtete Fidelma den auffälligen roten Striemen an der Kehle der Äbtissin, der offenbar von einer alten Wunde herrührte. Wul-frun, die das gar nicht bemerkt hatte, zischte aufgebracht: «Ich lasse mich nicht beleidigen von . von .»

Ihr fehlten die Worte. Wütend stürmte sie aus dem Zimmer. Furius Licinius sah ihr hilflos nach.

Kopfschüttelnd lehnte Bruder Eadulf sich zurück. «Die Äbtissin habt Ihr Euch auf jeden Fall zur Feindin gemacht, Fidelma», sagte er mit Bedauern.

Fidelma wirkte äußerlich ruhig, aber ihre Wangen waren noch immer gerötet, und ihre grünen Augen blitzten. «Wer sich keine Feinde macht, wird auch keine Freunde gewinnen», entgegnete sie. «Schließlich kann man einen Menschen nach seinen Feinden beurteilen, und ich ziehe es vor, eine solche Frau zur Feindin anstatt zur Freundin zu haben.» Sie wandte sich an Furius Licinius. «Sucht nach Schwester Eafa und bringt sie zu uns, ohne daß Äbtissin Wulfrun etwas davon erfährt.»

Der verwirrte tesserarius salutierte. Es war das erste Mal, daß er einen Befehl von Fidelma mit einem militärischen Gruß entgegennahm.

«Warum die Geheimniskrämerei?» fragte Eadulf neugierig, als Furius Licinius gegangen war.

«Diese Äbtissin Wulfrun ist wirklich auffallend herrisch. Steckt bloß Dummheit dahinter, oder hat ihr Gehabe irgendeinen Sinn? Versucht sie, durch ihren Hochmut etwas zu verbergen?»

Der sächsische Bruder verzog das Gesicht. «Sie hat sehr mächtige Verwandte, Fidelma. Ich an Eurer Stelle würde vorsichtiger sein.»

«Ihre Macht beschränkt sich auf die sächsischen Königreiche. Ich habe nicht die Absicht, dorthin zurückzukehren, wenn ich hier fertig bin.»

Eadulf wunderte sich, warum der Gedanke an ihre Abreise ihm einen so schmerzlichen Stich versetzte.

«Wie dem auch sei», erwiderte er. «Offenbar kann Äbtissin Wulfrun ein Licht auf die Sache werfen.»

Fidelma sah ihn nachdenklich an. «Immerhin ist deutlich geworden, daß sie nicht offen ist und es vorzieht, sich hinter ihrem Hochmut zu verstecken. War es nicht Ovid, der sagte, Angriff sei die beste Verteidigung?»

Eadulf blickte finster vor sich hin. «Aber was könnte sie uns verheimlichen wollen?»

Fidelma grinste. «Ich glaube, es liegt an uns, das zu entdecken.»

Eadulf nickte. «Aber welche Bedeutung hätte das für unsere Untersuchung?»

Fidelma beugte sich vor und legte eine Hand auf Eadulfs Arm. «Ich fürchte, Ihr dreht Euch im Kreis, Eadulf. Laßt uns das Ganze doch einmal durchdenken.» Sie lehnte sich zurück. «Warum fühlt die Äbtissin sich so bedrängt, daß sie ihr Heil im Angriff sucht? Verhält sie sich immer so, oder weiß sie etwas, das sie zu diesem Gebaren zwingt?»

Eadulf musterte sie ratlos.

«Ich glaube», fuhr Fidelma nach einer Weile fort, «daß es vermutlich an ihrer Art liegt. Ich habe von ihrem Vater, diesem König Anna, gehört. Der frühere Anhänger Wotans hat sich zum wahren Glauben bekehren lassen. Soweit ich im Bilde bin, hatte Anna mehrere Töchter, die er in seiner Begeisterung allesamt zu Dienerinnen Christi machte. Wir wissen, was geschehen kann, wenn Väter ihren Töchtern einen Lebensweg aufzwingen, den sie freiwillig nie eingeschlagen hätten.»

«Aber Töchter haben kaum eine andere Wahl, als ihren Vätern zu gehorchen», erwiderte Eadulf. «Schreibt der heilige Paulus nicht: <Kinder, seid gehorsam euren Eltern in allen Dingen, auf daß ihr dem Herrn gefällig seid>?»

Fidelma lächelte nachsichtig. «Und schreibt Paulus nicht weiter: <Väter, erbittert eure Kinder nicht, auf daß sie nicht scheu werden>? Aber ich vergesse manchmal, daß wir aus zwei sehr unterschiedlichen Welten stammen. Bei den Sachsen scheint es Sitte zu sein, daß Väter ihre Töchter verkaufen wie Vieh.»

«Aber das Gesetz der Sachsen steht in größerer Übereinstimmung mit Paulus’ Lehre», sagte Ea-dulf, der aus Erfahrung wußte, welch gleichberechtigte Stellung die Frauen in Irland genossen. «Paulus schreibt: <Frauen, seid euren Männern Untertan, wie es gottgefällig ist. Denn der Mann ist des Weibes Haupt, gleichwie auch Christus das Haupt ist der Gemeinde ...> Dieser Lehre folgen wir.»

«Ich ziehe die Sitte meines Heimatlandes vor, wo den Frauen zumindest eine gewisse Wahl zugebilligt wird», entgegnete Fidelma gereizt. «Wir brauchen Paulus nicht in all seinen Ansichten zu gehorchen, denn er war ein Mann seiner Kultur, die nicht meine Kultur ist. Außerdem stimmten nicht einmal alle Gläubigen in Paulus’ Umgebung mit seinen Lehren überein. Paulus setzte sich für den Zölibat aller Geistlichen ein und betrachtete alles Geschlechtliche als hinderlich für die höheren Ziele der Seele. Wer könnte das allen Ernstes glauben?»

Eadulf räusperte sich verlegen. «Aber es muß doch so sein. Schließlich war es die Ursache für Adams und Evas Sündenfall.»

«Wie kann die Geschlechtlichkeit Sünde sein, wenn die Fortpflanzung für das Überleben der Menschheit notwendig ist? Sollen wir glauben, daß Gott uns zum Untergang verdammte, indem er die Fortpflanzung zur Sünde machte? Und wenn es eine Sünde ist, warum hat er uns dann überhaupt die Mittel zur Fortpflanzung gegeben?»

«Paulus schrieb an die Korinther, die Ehe und die Zeugung von Nachkommen seien keine Sünde», hielt Eadulf dagegen.

«Nicht ohne jedoch hinzuzufugen, daß sie weniger heilbringend seien als der Zölibat. Ich glaube, daß Roms Forderung an seine Geistlichen, der geschlechtlichen Liebe zu entsagen, große Gefahren in sich birgt.»

«Es ist nicht mehr als ein Vorschlag», sagte Eadulf. «Seit dem Konzil von Nicäa bis zum heutigen Tag hat die römische Kirche ihren Geistlichen, die im Rang unter dem eines Abts oder Bischofs stehen, nur nahegelegt, ihren Ehefrauen nicht beizuwohnen oder möglichst gar nicht zu heiraten. Sie hat es ihnen nicht verboten.»

«Über kurz oder lang wird sie es ihnen verbieten», antwortete Fidelma. «Johannes Chrysosto-mus hat sich in Antiochia gegen jegliches Zusammenleben von männlichen und weiblichen Ordensleuten ausgesprochen.»

«Ihr glaubt also, daß der Zölibat ein Fehler ist?»

Fidelma verzog das Gesicht. «Sollen all jene, die im Zölibat leben wollen, dies auch tun. Aber alle dazu zu zwingen ist ganz gewiß ein Fehler. Wäre es nicht Blasphemie, zu behaupten, man könne Gott nur dienen, indem man eines der größten Wunder seiner Schöpfung ablehnt? Heißt es nicht in der Schöpfungsgeschichte: <Gott schuf sie als Mann und Weib und segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch .> Sollen wir das verleugnen?»

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür ließ sie innehalten. Auf ihren Zuruf trat Schwester Eafa ein und blickte mit ängstlichem Blick von einem zum anderen.

«Da bin ich, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, warum Ihr mich gerufen habt», sagte sie und rang die schwieligen, sehnigen Hände.

Fidelma lächelte ihr aufmunternd zu und deutete auf den leeren Stuhl. Eadulf bemerkte, daß Fidelmas Wut über Äbtissin Wulfrun verflogen war. Offenbar hatte der Streit über den Zölibat sie von ihrem Zorn abgelenkt.

«Eine reine Formsache, Eafa», versuchte sie, das verängstigte Mädchen zu beruhigen. «Wir wollten von Euch wissen, wann Ihr Wighard das letzte Mal lebend gesehen habt?»

Das Mädchen blinzelte unsicher. «Das verstehe ich nicht, Schwester.»

«Hat der tesserarius Euch nicht erklärt, daß wir den Auftrag haben, Wighards Tod näher zu untersuchen?»

«Schon, aber .»

«Sicherlich habt Ihr Wighard gestern beim Abendessen im Refektorium gesehen, an dem Ihr gemeinsam mit Äbtissin Wulfrun teilgenommen habt?»

Das Mädchen nickte.

«Und danach?» ermutigte sie Fidelma.

«Nein, danach nicht mehr. Ich ging, als Äbtissin Wulfrun gerade mit ihm an der Tür zum Refektorium stand. Sie haben ... über irgend etwas gestritten. Ich zog mich in meine Kammer zurück. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.»

Neugierig beugte sich Eadulf vor. «Äbtissin Wulfrun hat mit Wighard gestritten?»

Eafa nickte.

«Worum ging es bei diesem Streit?»

Eafa zuckte die Achseln. «Ich bin mir nicht sicher. Ich habe nicht zugehört.»

Fidelma sah das Mädchen freundlich an. «Ihr seid also in Euer Zimmer neben dem von Äbtissin Wulfrun zurückgekehrt?»

«Ja.»

«Und habt Ihr Euer Zimmer an dem Abend noch einmal verlassen?»

«Nein, nein!»

Fidelma zog die Augenbrauen hoch. «Wirklich nicht?»

Das Mädchen runzelte die Stirn, zögerte und verbesserte sich: «Einige Zeit später hat mich Äbtissin Wulfrun in ihr Zimmer gerufen.»

«Zu welchem Zweck?»

Die Frage schien Eafa zu überraschen. «Um ihr bei der Vorbereitung auf die Nachtruhe zu helfen.»

«Kommt das öfter vor?»

Das Mädchen lächelte fragend. «Was meint Ihr damit, Schwester.»

«Ihr seid doch Äbtissin Wulfruns Reisegefährtin.»

Eafa nickte.

«Warum erledigt Ihr niedrige Dienste für sie, um die sie sich auch gut alleine kümmern könnte.»

«Weil . » Eafa suchte nach den passenden Worten. «Weil ... sie eine hochgestellte Dame ist.»

«Das war sie vielleicht einmal. Inzwischen ist sie nicht mehr als wir alle: ein Mitglied der Schwesternschaft. Auch eine Äbtissin kann von einer Nonne ihres Hauses nicht erwarten, wie eine Herrin bedient zu werden.»

Eafa schwieg.

«Offenbar habt Ihr dennoch das Gefühl, Äbtissin Wulfrun dienen zu müssen?»

Das Mädchen hob den Kopf und sah Fidelma ins Gesicht. Sie schien ihr antworten zu wollen, senkte dann aber wieder ihren Blick und nickte schwach.

«Warum?» hakte Fidelma nach. «Ob sie nun eine große Dame ist, eine Äbtissin oder nur eine einfache Schwester im Glauben - Wulfrun hat kein Recht, Euch wie eine Dienerin zu behandeln. Ihr seid nur Gott als Dienerin verpflichtet.»

«Ich kann es nicht erklären», sagte das Mädchen mit gepreßter Stimme. «Ich kann nur sagen, daß ich Äbtissin Wulfrun an jenem Abend bedient habe und danach in meine eigene Kammer zurückgekehrt und eingeschlafen bin.»

Fidelma wollte weiter in sie dringen, besann sich aber eines Besseren. Das Mädchen unter Druck zu setzen wäre zwecklos gewesen. «Und um wieviel Uhr war das, Eafa?»

«Ich weiß nicht. Einige Zeit vor Mitternacht jedenfalls.»

«In der Hinsicht seid Ihr Euch aber sicher?»

«Ja. Ich wurde vom Läuten zum Mitternachtsangelus geweckt und bin dann wieder eingeschlafen.»

«Seid Ihr danach noch einmal aufgewacht?»

«Ich glaube nicht.»

«Ihr glaubt es nicht? Was soll das heißen?»

«Nun ja», antwortete das Mädchen, «es kommt mir so vor, als wäre ich später noch einmal aufgewacht und hätte irgendwelche Geräusche gehört, aber ich war so müde, daß ich mich umdrehte und innerhalb kürzester Zeit wieder einschlief. Beim Frühstück am nächsten Morgen sagte dann jemand, ein irischer Mönch habe Wighard getötet und sei verhaftet worden. Stimmt das denn nicht?» Mit großen Augen sah sie die beiden an.

«Es ist tatsächlich ein irischer Mönch verhaftet worden», räumte Fidelma ein. «Ob er Wighard ermordet hat, ist allerdings noch nicht erwiesen.»

Das Mädchen öffnete den Mund, schloß ihn aber wieder. Fidelma war diese unwillkürliche Bewegung nicht entgangen.

«Wolltet Ihr noch etwas sagen?» fragte sie.

«Nun ja, ich dachte nur daran, daß ich am Morgen vor dem Mord einen irischen Geistlichen im Innenhof vor dem domus hospitale gesehen habe. Es war ein dicker, mondgesichtiger Mann mit der seltsamen Tonsur der irischen Glaubensbrüder.»

Eadulf beugte sich vor. «Ihr habt diesen Bruder gesehen?»

«Oh, ja. Er hat mich angesprochen und mir einige Fragen über Wighards Gefolge gestellt. Er wollte ganz genau wissen, wer Wighard während seines Besuches in Rom begleitete. Aber dann kam Äbtissin Wulfrun, und ich mußte ihr folgen. Wie ich gehört habe, soll der Mönch, nach dem die custodes suchen, groß und mondgesichtig sein.»

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Nachdenklich lehnte Fidelma sich zurück.

«Wie lange seid Ihr schon im Kloster Sheppey?» fragte sie plötzlich.

Verwirrt über den unvermittelten Themenwechsel sah das Mädchen sie an. «Fünf Jahre vielleicht.»

«Und wie lange kennt Ihr Äbtissin Wulfrun?»

«Ein wenig länger .»

«Das heißt, Ihr kanntet Wulfrun schon, ehe Ihr nach Sheppey gekommen seid?»

«Ja», räumte das Mädchen ein.

«Wo habt Ihr sie kennengelernt? In einem anderen Kloster?»

«Nein. Wulfrun half mir, als ich in Not geraten war.»

«In Not?»

Das Mädchen nickte nur.

«Wo war das?» drang Fidelma in sie.

«In Swithhelms Königreich.»

«Ach?» fragte Eadulf verblüfft. «Ihr stammt aus dem Königreich der Ostsachsen?»

Das Mädchen schüttelte den Kopf. «Nein. Ursprünglich stamme ich aus Kent. Als Kind kam ich dann in Swithhelms Königreich und kehrte erst nach Kent zurück, als Äbtissin Wulfrun mich einlud, in ihr Kloster in Sheppey einzutreten.»

«Und seitdem habt Ihr Euch Äbtissin Wulfrun verpflichtet gefühlt?» schloß Eadulf.

Eafa zuckte die Achseln, als wollte sie ihn auffordern, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Fidelma verspürte Mitleid mit dem Mädchen.

«Entschuldigt, Eafa, daß wir Euch all diese Fragen stellen, aber wir sind fast fertig. Nur eines noch: Ihr wißt, daß Ihr nach dem Gesetz der Kirche ein freier Mensch seid?»

Eafa runzelte die Stirn. «Gehorsam ist doch sicherlich die wichtigste Ordensregel?» fragte sie nicht ohne Trotz zurück. «Ich bin nur eine einfache Nonne und muß den Anordnungen meiner Mutter Oberin in jeder Hinsicht Folge leisten.»

Aus Angst, das Mädchen unnötig aufzuregen, wollte Fidelma nicht deutlicher werden.

«Solange Ihr wißt, daß Ihr Euch von keinem Mann bedrängen lassen müßt, ganz egal, welchen Rang er innehat.»

Errötend hob Eafa den Kopf und sah Fidelma an. Offenbar war ihr klar, was Fidelma damit sagen wollte.

«Ich kann gut auf mich selbst aufpassen, Schwester. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen und von früher Kindheit an durch eine harte Schule gegangen.»

Fidelma lächelte traurig. «Mir war nur wichtig, daß Ihr das wißt.»

«Wie auch immer.» Eafa reckte störrisch das Kinn. «Ich habe keine Ahnung, was diese Fragen mit dem Mord an Wighard zu tun haben sollen.»

Offenbar wollte sie nicht über Puttoc und seine Aufdringlichkeiten sprechen. Fidelma hoffte, daß Eafa klargeworden war, wo sie im Notfall Hilfe und Unterstützung finden würde.

«Wir haben Eure Zeit lange genug in Anspruch genommen, Schwester Eafa. Das war alles ... fürs erste jedenfalls.»

Das Mädchen stand auf und eilte hinaus. An der Tür stieß sie fast mit dem hageren, bleichen Bischof Gelasius zusammen. Schwester Eafa machte eine ehrerbietige Kniebeuge, während Eadulf und Fidelma sich von ihren Plätzen erhoben, um den nomenclator des päpstlichen Palasts willkommen zu heißen.

Zerstreut lächelte Gelasius Schwester Eafa zu, die sich erhob und davonhuschte. Dann betrat er mit großen Schritten das Zimmer. Furius Licinius stand stramm, als dem Bischof auch superista Marinus in das officium folgte.

«Ich dachte, wir schauen einmal vorbei und erkundigen uns, ob Ihr schon zu irgendeinem Ergebnis gekommen seid», erklärte Gelasius.

«Wenn Ihr damit meint, ob wir den Fall gelöst haben», erwiderte Fidelma, «müssen wir leider verneinen.»

Mit enttäuschter Miene ließ sich der Bischof auf dem freien Stuhl nieder.

«Ich muß Euch sagen, daß der Heilige Vater die Sache so rasch wie möglich zu bereinigen wünscht.»

«Da geht es ihm nicht anders als mir», entgegnete Fidelma.

Erstaunt sah Gelasius auf und fragte sich, ob er ihre Antwort als Unverschämtheit werten sollte. Dann erinnerte er sich, wie freimütig die irischen Frauen sein konnten, und beschränkte sich auf ein tiefes Seufzen.

«Wie weit seid Ihr mit Eurer Untersuchung vorangeschritten?»

«Das ist schwer zu sagen», antwortete Fidelma achselzuckend.

«Soll das heißen, daß Euch an der Schuld Bruder Ronans Zweifel gekommen sind?» fragte Marinus erstaunt. «Aber meine custodes waren Augenzeugen. Sie haben ihn bei der Flucht vom Tatort festgenommen, und daß er später aus ihrem Gewahrsam geflohen ist, kann den Verdacht gegen ihn doch nur erhärten.»

Gelasius sah den superista nachdenklich an und wandte sich dann an Fidelma.

«Ist das wahr? Ihr bezweifelt Ronan Ragallachs Schuld?»

«Nur ein schlechter Richter fällt ein Urteil, ehe er alle Beweise gesammelt hat.»

«Was für Beweise braucht Ihr denn noch?»

«Die bisher vorliegenden Indizien geben nicht viel her. Bei näherer Betrachtung erweisen sie sich als von so untergeordneter Bedeutung, daß ein gewissenhafter Brehon-Richter sie nicht einmal in Erwägung ziehen würde.»

Gelasius wandte sich an Bruder Eadulf. «Seid Ihr der gleichen Meinung wie die Schwester?»

Eadulf streifte Fidelma mit einem raschen, schuldbewußten Seitenblick. «Ich glaube, daß Bruder Ronan Ragallach schuldig ist, auch wenn es den Indizien in der Tat noch an Beweiskraft mangelt. Aber die Hinweise auf seine Täterschaft verdichten sich. Inzwischen gibt es eine Zeugin, die ausgesagt hat, daß Ronan Ragallach in den Tagen vor dem Mord Wighard und sein Gefolge auskundschaftete.»

Nur mit Mühe hielt Fidelma einen verärgerten Seufzer zurück. Sie hatte Eafas Aussage noch eine Weile für sich behalten wollen.

Bischof Gelasius wirkte niedergeschlagen. Ohne auf Eadulfs Erwähnung einer weiteren Zeugin einzugehen, sagte er: «Was ich jetzt von Euch hören muß, ist leider genau das, was ich am meisten gefürchtet habe: Ihr seid in Eurem Urteil gespalten. Wir haben einen Iren, der in Rom einen sächsischen Bischof getötet hat. Der sächsische Richter hält ihn für verdächtig, die irische Richterin verneint seine Schuld. Das Schreckgespenst eines Krieges zwischen Sachsen und Iren ist damit noch immer nicht gebannt.»

Fidelma schüttelte den Kopf. «Ganz so, wie Ihr es darstellt, ist es nicht, Gelasius. Bruder Eadulf und ich stimmen darin überein, daß unsere Ermittlungen noch längst nicht abgeschlossen sind, da es in diesem Zusammenhang noch viel zu bedenken gibt. Daß wir heute zu keinem einmütigen Schluß gekommen sind, heißt nicht, daß das so bleiben muß.»

«Aber Ihr habt doch inzwischen sicherlich mit Ausnahme des Täters alle beteiligten Personen befragt .»

Eadulf räusperte sich. «Ich glaube, im Augenblick sollten wir Bruder Ronan Ragallach doch lieber als Verdächtigen bezeichnen .»

Marinus stieß ein wütendes Zischen aus. «Spitzfindigkeiten! Wir haben keine Zeit für solche Wortklaubereien. Wenn Ihr alle befragt habt, müßt Ihr doch zu einem Urteil gelangt sein.»

Fidelma preßte die Lippen zusammen.

Gelasius, dem ihre Verärgerung nicht entgangen war, erhob besänftigend die Hand. «Wollt Ihr uns damit sagen, daß Ihr einfach noch mehr Zeit braucht, Schwester?»

«Genau», antwortete Fidelma mit fester Stimme.

«Dann sollt Ihr diese Zeit auch bekommen», erwiderte Gelasius. «Das wichtigste ist doch, daß uns bei der Aufklärung dieses Falls kein Fehler unterläuft, damit später niemand das Urteil anzweifeln kann.»

«Damit bin ich voll und ganz einverstanden», stimmte ihm Fidelma zu. «Etwas anderes käme für mich nicht in Frage. Wir suchen die Wahrheit, nicht irgendeinen Sündenbock.»

Würdevoll erhob sich Bischof Gelasius von seinem Stuhl. «Denkt bitte nur daran», sagte er in bedächtigem Ton, «daß der Heilige Vater ein besonderes Interesse an der Sache hat. Er steht bereits unter einigem Druck, weil er nicht weiß, was er dem Gesandten der sächsischen Könige über Wighards Tod mitteilen soll.»

Fidelma zog eine Augenbraue hoch. «Sprecht Ihr von Puttoc?»

«Von Abt Puttoc», wies Gelasius sie mild zurecht und fügte hinzu: «Da er der persönliche Gesandte Oswius von Northumbrien ist, der als Führer aller sächsischen Königreiche gilt, muß ich Eure Frage beiahen.»

«Und Abt Puttoc hat zweifellos seine eigenen Gründe, eine rasche Entscheidung herbeizuführen», meinte Fidelma spöttisch lächelnd. «Womöglich hat er sich sogar selbst als Wighards Nachfolger vorgeschlagen.»

Gelasius wirkte überrascht, dann verzog sich sein Gesicht zu einem traurigen Lächeln. «Natürlich, Ihr habt mit dem Abt gesprochen. Ja, ich glaube, er hat angedeutet, er selbst sei der richtige Mann für das Amt des Erzbischofs von Canterbury. Seine Heiligkeit hat jedoch andere Vorstellungen. Abt Puttoc besitzt zuviel Ehrgeiz, was letztlich gegen ihn spricht. Noch vor zwei Tagen hat er Bedenken gegen Wighards Kandidatur erhoben, weil dieser früher verheiratet war und Kinder hatte.»

Eadulf und Fidelma wechselten erstaunte Blicke.

«Puttoc wollte Wighard mit dem Hinweis auf dessen Familie die Bischofsweihe streitig machen?» fragte Eadulf.

«So klar hat er es nicht ausgedrückt, aber seine Absicht war unmißverständlich. Wie Ihr wißt, darf in unserer Kirche ein Geistlicher vom Rang eines Abtes aufwärts nicht verheiratet sein. Auch geschlechtliche Beziehungen einfacher Geistlicher werden von Rom mißbilligt, obwohl sie nicht verboten sind. Jedenfalls hat Puttoc einen entsprechenden Einwand gegen Wighard erhoben, der aber sofort fallengelassen wurde, als sich herausstellte, daß Wighards Familie schon vor langer Zeit ums Leben gekommen ist. Allein daß er versucht hat, Wighard in ein schlechtes Licht zu setzten, läßt Puttocs Eignung für das Amt allerdings höchst fraglich erscheinen.»

«Dann gibt es also einen anderen Kandidaten?» fragte Fidelma.

«Seine Heiligkeit ist mit dieser Frage befaßt.»

Eadulf war erstaunt. «Ich dachte, es gäbe nur wenige Sachsen, die für das Amt in Canterbury die nötigen Voraussetzungen mitbringen?»

«Das ist allerdings wahr», stimmte Gelasius zu. «Seine Heiligkeit neigt deshalb auch zu der Ansicht, daß die Zeit nicht günstig dafür sei, Roms wichtigsten Stützpunkt in den sächsischen Königreichen in die Hände eines Sachsen zu legen.»

«Das wird auf Seiten der Sachsen sicherlich auf einigen Widerspruch stoßen», platzte Eadulf heraus.

Gelasius sah ihn mit ernster Miene an. «Gehorsam ist die oberste Glaubensregel», sagte er drohend. «Die sächsischen Königreiche müssen sich den Entscheidungen Roms widerstandslos beugen. Ich kann Euch im Augenblick nicht mehr verraten, aber, unter uns gesagt, könnt Ihr davon ausgehen, daß Abt Puttoc nicht in die engere Wahl gezogen wird. Vorerst muß dies jedoch noch ein Geheimnis bleiben.»

«Natürlich», lenkte Eadulf ein. «Ich habe bloß laut gedacht.» Dann hielt er inne und fügte hinzu: «Weiß Abt Puttoc von dieser Entscheidung?»

«Ich habe gesagt, daß die Sache unter uns bleiben soll. Puttoc wird davon erfahren, sobald die Zeit dafür gekommen ist.»

Als Eadulf zu einer weiteren Frage ansetzen wollte, brachte Fidelma ihn mit einem warnenden Seitenblick zum Schweigen.

«Das wichtigste ist jetzt erst einmal, den Mord an Wighard zweifelsfrei aufzuklären», fuhr Gelasius fort. «Und in dieser Frage zählen wir auf Euch ... beide!»

Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und verließ das Zimmer.

«Warum wolltet Ihr, daß ich über Puttoc schweige?» fragte Eadulf, als sie gegangen waren. «Ich wollte nur in Erfahrung bringen, ob er noch immer glaubt, Aussichten auf den Thron des Erzbischofs zu haben.»

«Wir müssen unsere Überlegungen für uns behalten. Wenn Puttoc tatsächlich so ehrgeizig ist .»

«. und wir wissen, daß Menschen schon aus sehr viel geringerem Ehrgeiz getötet haben . », ergänzte Eadulf.

«. müssen wir abwarten, bis er sich in der eigenen Schlinge fängt. Er darf von unserem Verdacht nichts erfahren.»

Eadulf zuckte die Achseln. «Eigentlich richtet sich mein Verdacht nur gegen Ronan Ragallach, und das Gespräch mit Schwester Eafa hat mich darin bestärkt. Wir können beweisen, daß Ronan in der Nacht vor dem Mord um das domus hospitale herumgeschlichen ist, am nächsten Morgen Erkundigungen über Wighard und sein Gefolge eingezogen hat und kurz nach der Entdeckung des Mordes bei der Flucht aus dem domus hospitale festgenommen wurde. Ist das nicht Beweis genug?»

«Nein», erwiderte Fidelma mit fester Stimme. «Ich brauche mehr als ein paar bruchstückhafte Indizien .»

Ein plötzliches Gähnen, das sie nicht unterdrücken konnte, beendete ihren Satz. Die Anstrengungen des langen, ereignisreichen Tages forderten nun ihren Tribut. Trotz des kurzen Nachmittagschlafes war sie völlig erschöpft, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und hatte auch keinen Appetit auf den kleinen Imbiß, den Furius Licinius mitgebracht hatte.

«Ich fürchte, ich muß mich erst einmal hinlegen, Eadulf.» Fidelma unterdrückte ein weiteres Gähnen. «Ich schlage vor, wir treffen uns morgen vormittag wieder hier und gehen noch einmal alle bisherigen Hinweise durch.»

«Soll ich Euch zu Eurer Herberge begleiten?» fragte Eadulf.

Sie wollte gerade dankend ablehnen, als Furius Licinius, der junge custodes, in die Bresche sprang.

«Ich werde Euch begleiten, Schwester. Meine Unterkunft liegt ohnehin in Eurer Richtung.» Sein Tonfall verriet, daß er keinen Widerspruch erwartete, und Fidelma war viel zu erschöpft, um seiner Entschlossenheit noch irgend etwas entgegenzusetzen. Schläfrig wünschte sie Eadulf eine gute Nachtruhe und folgte dem jungen custodes durch die Marmorsäle des Lateranpalasts, die große Halle und den Portikus bis zur Via Merulana.

Als sie die kleine Herberge neben dem Oratorium der heiligen Prassede erreichten, hätte sie fast im Stehen einschlafen können.

Diakonin Epiphania stand am Tor und lief auf sie zu, um sie zu begrüßen. Seit sie wußte, daß Fidelma im Lateranpalast eine wichtige Aufgabe erfüllte, die Vertraute von Bischof Gelasius war und sogar einem tesserarius von den custodes Befehle erteilen konnte, tat sie alles, um ihren Ehrengast zufriedenzustellen. Als Epiphania Fidelmas erschöpften Zustand sah, überschüttete sie sie mit mütterlicher Fürsorge, nahm sie am Arm und führte sie in ihr cubiculum. Noch ehe ihr Kopf das Kissen berührte, war Fidelma schon fest eingeschlafen. Es war ein tiefer, wenn auch nicht traumloser Schlaf, aber die Träume halfen ihr, all die während des Tages aufgenommenen Worte und Bilder zu ordnen und ihren Geist für neue Eindrücke freizumachen.