172805.fb2 Ein Fremder im Spiegel - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

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ZWEITES BUCH

19.

Toby Temple wurde zum Superstar aufgrund des unwahrscheinlichen Zusammentreffens eines Vaterschaftsprozesses mit einem Blinddarmdurchbruch und dank dem Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Der Presseklub von Washington gab sein alljährliches Bankett, und der Ehrengast war der Präsident. Es war eine Repräsentationsveranstaltung; anwesend waren der Vizepräsident, Senatoren, Kabinettsmitglieder, Oberste Richter und jeder, der eine Eintrittskarte kaufen, leihen oder stehlen konnte. Weil über das Ereignis immer in der internationalen Presse berichtet wurde, war die Rolle des Conferenciers ein hochbezahlter Job geworden. In diesem Jahr war einer von Amerikas Star-Komikern als Conferencier ausersehen worden. Eine Woche, nachdem er zugesagt hatte, wurde er als Beklagter in einem Vaterschaftsprozess genannt, der ein fünfzehnjähriges Mädchen betraf. Dem Rat seines Rechtsanwalts folgend, fuhr der Komiker sofort für unbestimmte Zeit auf Urlaub ins Ausland. Der Organisationsausschuss wandte sich nun an Nummer zwei seiner Wahl, einen beliebten Film- und Fernsehstar. Er kam am Abend vor dem Bankett in Washington an. Am folgenden Nachmittag, dem Tag des Festessens, rief sein Agent an und teilte mit, der Schauspieler sei im Krankenhaus und müsse sich wegen eines Blinddarmdurchbruchs einer plötzlichen Operation unterziehen.

Es waren nur noch sechs Stunden bis zum Beginn des Banketts. Der Ausschuss ging verzweifelt die Liste möglicher Ersatzleute durch. Die geeigneten Künstler waren alle in einem Film oder in einer Fernsehshow beschäftigt oder zu weit weg, um noch rechtzeitig nach Washington kommen zu können. Ein Kandidat nach dem anderen fiel aus, und schließlich, fast am Ende der Liste, tauchte der Name Toby Temple auf. Ein Ausschuss-Mitglied schüttelte den Kopf. »Temple ist Nachtklubkomiker. Er ist zu unbeherrscht. Wir können nicht wagen, ihn auf den Präsidenten loszulassen.«

»Er wäre schon brauchbar, wenn wir ihn veranlassen könnten, seinen Ton zu dämpfen.«

Der Vorsitzende des Ausschusses blickte um sich und sagte: »Ich will Ihnen mal sagen, warum er besonders brauchbar ist, meine Herren. Er ist in New York und kann in einer Stunde hier sein. Das gottverdammte Bankett findet heute abend statt.«

Auf diese Weise entschied sich der Ausschuss für Toby Temple.

Als Toby sich in dem überfüllten Bankettsaal umsah, dachte er, wenn heute abend eine Bombe auf diesen Saal fiele, wäre die Regierung der Vereinigten Staaten mit einem Schlag führerlos.

Der Präsident saß in der Mitte am Tisch des Sprechers auf dem Podium. Ein halbes Dutzend Beamte des Geheimdienstes stand hinter ihm. In der Hast der letzten Minuten, als alles koordiniert werden musste, hatte niemand daran gedacht, Toby dem Präsidenten vorzustellen, aber Toby störte das nicht. Der Präsident wird sich an mich erinnern, dachte er. Er rief sich sein Treffen mit Downey, dem Vorsitzenden des Organisationsausschusses, ins Gedächtnis zurück. Downey hatte gesagt: »Wir mögen Ihre Art von Humor, Toby. Sie sind sehr komisch, wenn Sie die Leute angreifen. Aber -« Er machte eine Pause, um sich zu räuspern. »Das ist – äh – ein empfindlicher Kreis hier heute abend. Verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist nicht so, dass sie einen kleinen Scherz über sich selbst nicht akzeptieren könnten, aber alles, was heute abend in diesem Saal gesagt wird, wird von den Nachrichten-Medien in der ganzen Welt verbreitet, und natürlich will keiner von uns, dass irgend etwas gesagt wird, das den Präsidenten der Vereinigten Staaten oder Mitglieder des Kongresses lächerlich macht. Mit anderen Worten, wir möchten, dass Sie komisch sind, aber wir wollen nicht, dass Sie jemanden verärgern.«

»Verlassen Sie sich ganz auf mich«, hatte Toby lächelnd gesagt.

Das Geschirr war bereits von den Tischen abgeräumt, und Downey stand vor dem Mikrophon. »Herr Präsident, verehrte Gäste, ich habe das Vergnügen, Ihnen unseren Conferencier vorzustellen, einen der intelligentesten jungen Komiker, Mr. Toby Temple!«

Es gab höflichen Applaus, als Toby aufstand und zum Mikrophon ging. Sein Blick glitt über das Publikum und dann zum Präsidenten der Vereinigten Staaten hin.

Der Präsident war ein schlichter, geradliniger Mann. Er hatte nichts übrig für das, was er Zylinder-Diplomatie nannte. »Von Mensch zu Mensch«, hatte er in einer Rede an die Nation gesagt, »das brauchen wir. Wir müssen aufhören, uns auf Computer zu verlassen, und wieder anfangen, unseren Instinkten zu vertrauen. Wenn ich mich mit den Führern ausländischer Mächte zusammensetze, möchte ich auf meinem Hosenboden verhandeln.« Der Satz war immer wieder zitiert worden.

Jetzt sah Toby den Präsidenten der Vereinigten Staaten an und sagte mit stolzerfüllter Stimme: »Mr. Präsident, ich kann Ihnen nicht sagen, was es für mich bedeutet, hier oben auf demselben Podium mit dem Mann zu stehen, der die ganze Welt an seinem Hintern hat.«

Es folgte eine erschrockene, lange Stille, dann grinste der Präsident, lachte laut, und das Publikum brach plötzlich in schallendes Gelächter aus und applaudierte. Von diesem Augenblick an konnte Toby nichts mehr falsch machen. Er attackierte die anwesenden Senatoren, den Obersten Gerichtshof, die Presse. Sie waren begeistert. Sie schrieen und johlten, weil sie wussten, dass Toby kein Wort von dem, was er sagte, ernst meinte. Es war überwältigend komisch, diese Beleidigungen von einem Mann mit einem so jungenhaften, unschuldigen Gesicht zu hören.

An diesem Abend waren auch ausländische Minister anwesend, und Toby wandte sich mit einer unglaublichen Mischung aus ihren Landessprachen an sie, die so echt klang, dass sie zustimmend nickten.

Sie brachten ihm stehend Ovationen dar. Der Präsident kam auf Toby zu und sagte: »Das war brillant, absolut brillant. Wir geben am Montag ein kleines Abendessen im Weißen Haus, Toby, ich würde mich sehr freuen, wenn…«

Am nächsten Tag berichteten alle Zeitungen über Toby Temples Triumph. Seine Bemerkungen wurden überall zitiert. Er wurde als Entertainer ins Weiße Haus eingeladen. Das machte ihn zu einer noch größeren Sensation. Er erhielt Angebote aus der ganzen Welt. Toby trat im Palladium in London auf, gab eine Privatvorstellung für die Königin, wurde gebeten, Wohltätigkeitskonzerte zu dirigieren und sich für das National Arts Committee zur Verfügung zu stellen. Er spielte häufig mit dem Präsidenten Golf und wurde immer wieder ins Weiße Haus eingeladen. Toby lernte Kongressabgeordnete, Gouverneure und die Direktoren von Amerikas größten Wirtschaftsunternehmen kennen. Er beleidigte sie alle, und je mehr er sie attackierte, desto entzückter waren sie. Sie rissen sich um ihn, damit er seinen bissigen Humor über ihre Gäste ausschüttete. Mit Toby befreundet zu sein wurde zum Prestige-Symbol für die feine Gesellschaft.

Die Angebote, die nun kamen, waren phänomenal. Clifton Lawrence war ebenso begeistert darüber wie Toby, und Cliftons Begeisterung hatte nichts mit Geschäft oder Geld zu tun. Toby Temple war das Wunderbarste, was sich seit Jahren in seinem Leben ereignet hatte, und er hatte das Gefühl, als wäre Toby sein eigener Sohn. Er hatte mehr Zeit auf Tobys Karriere verwandt als auf die irgendeines anderen seiner Klienten, aber es hatte sich gelohnt. Toby hatte hart gearbeitet, hatte sein Talent weiterentwickelt, bis es wie ein Diamant funkelte. Und er erwies sich als dankbar und sehr großzügig, was in dieser Branche selten ist.

»Es gibt kein Hotel in Las Vegas, das nicht hinter Ihnen her wäre«, sagte Clifton Lawrence zu Toby. »Geld spielt dabei keine Rolle. Man will Sie haben, Punkt. Auf meinem Schreibtisch stapeln sich Drehbücher von Fox, Universal, Pan-Pacific – alles Hauptrollen. Sie können auf eine Europa-Tournee gehen, jede Gastrolle steht Ihnen frei, und Sie können bei jeder beliebigen Fernsehgesellschaft eine eigene Fernsehshow haben. Das würde Ihnen immer noch Zeit für Las Vegas und einen Film pro Jahr lassen.«

»Wieviel könnte ich mit einer eigenen Fernsehshow verdienen, Cliff?«

»Ich glaube, ich kann sie auf zehntausend pro Woche für eine einstündige Vorstellung heraufdrücken, und sie müssten für zwei Jahre fest abschließen, vielleicht sogar für drei. Wenn sie scharf genug auf Sie sind, werden sie es akzeptieren.«

Toby lehnte sich triumphierend auf der Couch zurück. Zehntausend für eine Vorstellung, sagen wir, vierzig Vorstellungen. In drei Jahren würden das über eine Million Dollar sein dafür, dass er der Welt sagte, was er von ihr hielt! Er blickte zu Clifton hinüber. Der kleine Agent versuchte, sich gelassen zu geben, aber Toby konnte sehen, dass er sehr gespannt war. Er wollte, dass Toby den Fernseh-Vorschlag annahm. Warum nicht? Clifton konnte eine Provision von 120 000 Dollar für Tobys Talent und Schweiß kassieren. Verdiente Clifton dieses Geld? Er hatte sich nie in dreckigen kleinen Nachtbars abschinden, sich nie von einem betrunkenen Publikum leere Bierflaschen an den Kopf werfen lassen oder zu geldgierigen Quacksalbern in namenlosen Dörfern gehen müssen, um einen Tripper behandeln zu lassen, weil die verkommenen Huren im Umkreis der »Klo-Tour« die einzigen Mädchen gewesen waren, die man haben konnte. Was wusste Clifton Lawrence von den Zimmern, die von Küchenschaben wimmelten, und von dem widerlichen Fraß und der endlosen Folge von Nachtfahrten mit dem Bus von einem Höllenloch zum anderen? Er würde das nie verstehen können. Ein Kritiker hatte Toby einen Übernachterfolg genannt, und Toby hatte laut herausgelacht. Jetzt, in Clifton Lawrences Büro, sagte er: »Ich möchte meine eigene Fernsehshow.«

Sechs Wochen später war der Vertrag mit Consolidated Broadcasting unterzeichnet.

»Die Fernsehleute wollen, dass eine Filmgesellschaft eine Ausfallbürgschaft übernimmt«, sagte Clifton Lawrence zu Toby. »Mir gefällt der Gedanke, weil ich vielleicht ein Filmgeschäft daraus machen kann.«

»Welche Gesellschaft?«

»Pan-Pacific.«

Toby runzelte die Stirn. »Sam Winters?«

»Richtig. Wenn Sie mich fragen, er ist der beste Studioleiter in der Branche. Außerdem besitzt er die Rechte an einer Sache, an der ich für Sie interessiert bin. The Kid Goes West.«

Toby sagte: »Ich war mit Winters in der Armee. Okay. Aber er schuldet mir was. Das soll er zu spüren bekommen!«

Clifton Lawrence und Sam Winters waren in der Sauna des Gymnastikraums der Pan-Pacific-Studios und atmeten den Eukalyptusgeruch der heißen Luft ein.

»Das ist das Leben«, seufzte der kleine Agent. »Wer braucht schon Geld?«

Sam grinste: »Warum reden Sie nicht so, wenn wir verhandeln, Cliff?«

»Ich möchte Sie nicht zu sehr verwöhnen, mein Lieber.«

»Wie ich höre, haben Sie bei der Consolidated Broadcasting einen Vertrag für Toby Temple unterzeichnet.«

»O ja. Das größte Geschäft, das die je gemacht haben.«

»Wo kriegen Sie die Ausfallbürgschaft für die Show her?«

»Warum, Sam?«

»Wir wären eventuell daran interessiert. Ich könnte Ihnen sogar zusätzlich einen Filmabschluss bieten. Ich habe gerade die Filmrechte an einer Komödie mit dem Titel The Kid Goes West erworben. Das ist in der Branche noch nicht bekannt. Toby wäre die Idealbesetzung dafür.«

Clifton Lawrence runzelte die Stirn und sagte: »So ein Pech! Schade, dass ich das nicht früher gewusst habe, Sam. Ich habe bereits eine Vereinbarung mit MGM getroffen.«

»Haben Sie fest abgeschlossen?«

»Nun ja, praktisch so gut wie. Ich habe ihnen mein Wort gegeben…«

Zwanzig Minuten später hatte Clifton Lawrence einen lukrativen Vertrag für Toby Temple ausgehandelt, nachdem Pan-Pacific-Studios »Die Toby-Temple-Show« produzieren und ihn als Star in The Kid Goes West herausbringen würden.

Die Verhandlungen hätten an sich länger dauern können, wenn es in der Sauna nicht so unerträglich heiß geworden wäre.

Eine Klausel in Toby Temples Vertrag besagte, dass er nicht an den Proben teilnehmen musste. Tobys Double arbeitete mit den Gast-Stars in den Sketchen und Tanzszenen, und Toby erschien erst zur Schlussprobe und für die Aufnahmen. Auf diese Weise konnte er seinen Part frisch und spontan darbieten.

Am Nachmittag des Premierentags im September 1956 betrat Toby das Theater an der Vine Street, wo die Aufnahmen für die Show gemacht werden sollten, und beobachtete den Ablauf der Probe. Als sie vorbei war, nahm Toby den Platz seines Doubles ein. Plötzlich war das Theater geladen mit Elektrizität. Die Show lebte, knisterte und sprühte. Und als sie an jenem Abend aufgenommen und gesendet wurde, sahen vierzig Millionen Menschen zu. Es war, als ob das Fernsehen extra für Toby Temple erfunden worden wäre. In Großaufnahme war er noch liebenswerter, und jeder wollte ihn in seinem Wohnzimmer haben. Die Darbietung war ein einzigartiger Erfolg. Sie eroberte Platz eins bei den Einschaltquoten und ließ sich von dort nicht mehr verdrängen. Toby Temple war kein Star mehr.

Er war ein Superstar geworden.

20.

Hollywood war aufregender, als Jill Castle es sich je erträumt hatte. Sie machte eine Stadtrundfahrt und sah die Villen der Stars. Und sie wusste, auch sie würde eines Tages ein schönes Heim in Bel-Air oder Beverly Hills besitzen. In der Zwischenzeit wohnte Jill in einem alten Mietshaus, einem hässlichen zweistöckigen Holzgebäude, das in eine noch hässlichere Pension mit zwölf winzigen Schlafkammern verwandelt worden war. Das Zimmer war billig, was bedeutete, dass die zweihundert Dollar, die sie sich gespart hatte, noch eine Weile reichen würden. Das Haus stand in Bronson, ein paar Minuten vom Hollywood Boulevard und der Vine Street, dem Zentrum Hollywoods, entfernt, und auch die Filmstudios lagen ganz in der Nähe.

Das Haus hatte aber noch ein weiteres angenehmes Merkmal. Es beherbergte ein Dutzend Mieter, die alle entweder versuchten, beim Film anzukommen, oder dort als Statisten oder in Nebenrollen arbeiteten oder aber sich bereits aus dem Film-Geschäft zurückgezogen hatten. Die Old-Timers schwirrten in gelben Morgenröcken und Lockenwicklern, in abgetragenen Anzügen und durchgelaufenen Schuhen, denen kein Putzen mehr Glanz verleihen konnte, durchs Haus. Die Mieter sahen eher verbraucht aus als alt. Es gab einen Aufenthaltsraum mit schäbigen und zerschrammten Möbeln, in dem man sich am Abend versammelte, um zu plaudern und Klatsch auszutauschen. Jeder gab Jill Ratschläge, von denen die meisten einander widersprachen.

»Wenn Sie zum Film wollen, meine Liebe, müssen Sie sich einen RA suchen, der Sie mag.« Das kam von einer sauertöpfischen Dame, die kürzlich aus einer Fernsehserie entlassen worden war.

»Was ist ein RA?« fragte Jill.

»Ein Regieassistent.« Der Ton war voll Mitleid über Jills Unwissenheit. »Er ist derjenige, der die Supes einstellt.«

Jill war zu befangen, um zu fragen, was die »Supes« seien.

»Wenn Sie mich fragen, suchen Sie sich einen geilen Besetzungschef. Ein RA kann Sie nur in seinem Film verwenden. Ein Besetzungschef kann Sie überall einsetzen.« Das von einer zahnlosen Frau, die in den Achtzigern sein musste.

»Soo? Die meisten von ihnen sind schwul«, sagte ein glatzköpfiger Charakterdarsteller.

»Was macht das schon? Ich meine, wenn er einen lanciert?« warf ein eifriger, bebrillter junger Mann ein, der darauf brannte, Drehbuchautor zu werden.

»Wie ist es, wenn man als Statist anfängt?« fragte Jill. »Central Casting -«

»Das können Sie vergessen. Die registrieren Sie nicht einmal, es sei denn, Sie sind eine Spezialität.«

»Verzeihung – was ist eine Spezialität?«

»Na, wenn Sie beispielsweise amputiert sind. Das bringt dreiunddreißig- achtundfünfzig statt der regulären einundzwanzig-fünfzig ein. Wenn Sie einen Frack oder Smoking haben oder reiten können, verdienen Sie achtundzwanzig dreiunddreißig. Wenn Sie wissen, wie man Karten ausgibt, oder mit dem Rechen an einem Spieltisch umgehen können, gibt es achtundzwanzig dreiunddreißig. Wenn Sie Fußball oder Baseball spielen können, kriegen Sie dreiunddreißig achtundfünfzig – soviel wie als Amputierter. Wenn Sie auf einem Kamel oder Elefant reiten, gibt es fünfundfünfzig vierundneunzig. Hören Sie auf mich, versuchen Sie gar nicht erst, Statistin zu werden. Bemühen Sie sich um eine Nebenrolle.«

»Ich wüsste nicht, wo da der Unterschied liegt«, bekannte Jill.

»In einer Nebenrolle hat man wenigstens eine Zeile Text zu sagen. Statisten dürfen nicht sprechen, außer den Omnies.«

»Den was?«

»Die Omnies – die machen die Hintergrundgeräusche.«

»Als erstes müssen Sie sich einen Agenten suchen.«

»Wie finde ich einen?«

»Die sind im Screen Actor aufgeführt. Das ist das Fachorgan der Filmschauspieler-Gewerkschaft. Ich habe ein Exemplar in meinem Zimmer. Ich werde es mal holen.«

Gemeinsam mit Jill gingen sie die Liste der Agenten durch und schränkten sie schließlich auf ein Dutzend der kleineren ein. Alle stimmten darin überein, dass Jill in einer großen Agentur keine Chance hätte.

Mit der Liste bewaffnet, machte Jill die Runde. Die ersten sechs Agenten wollten nicht einmal mit ihr sprechen. Sie begegnete dem siebenten, als er gerade sein Büro verließ.

»Entschuldigen Sie«, sagte Jill. »Ich suche einen Agenten.«

Er betrachtete sie einen Augenblick und sagte dann: »Zeigen Sie mir mal Ihr Album.«

Sie starrte ihn verständnislos an. »Mein was?«

»Sie sind wohl gerade erst aus dem Bus gestiegen? Ohne ein Album können Sie in dieser Stadt nichts anfangen. Lassen Sie ein paar Aufnahmen von sich machen. Verschiedene Posen. Glamour-Zeugs. Titten und Arsch.«

Jill fand einen Fotografen in Culver City in der Nähe der David-Selz-nick-Studios, der ihr ein Album für fünfunddreißig Dollar machte. Eine Woche später holte sie die Bilder ab und war sehr angetan von ihnen. Sie fand, dass sie schön aussah. Alle ihre Stimmungen waren von der Kamera eingefangen worden. Sie war nachdenklich… böse… schmachtend… sexy. Der Fotograf hatte die Bilder in eine Mappe mit Cellophan-hüllen geheftet.

»Hier vorne«, erklärte er, »fügen Sie Ihren Rollennachweis ein.«

Rollennachweis. Das war der nächste Schritt.

Gegen Ende der beiden folgenden Wochen hatte Jill jeden Agenten auf ihrer Liste besucht oder sich um ein Gespräch bemüht. Keiner von ihnen war auch nur entfernt interessiert. Einer hatte zu ihr gesagt: »Sie waren schon gestern hier, Schätzchen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das stimmt nicht.«

»Nein? Sie sah aber genauso aus wie Sie. Das ist es eben. Ihr seht alle wie Elizabeth Taylor oder Lana Turner oder Ava Gardner aus. In jeder anderen Stadt würden Sie sofort einen Job finden. Sie sind schön, sehen sexy aus, und Sie haben eine glänzende Figur. Aber in Hollywood zählt das nicht allzuviel. Schöne Mädchen kommen aus allen Teilen der Welt hierher. Sie haben sich bei den Theateraufführungen in der Schule hervorgetan oder einen Schönheitswettbewerb gewonnen, oder ihr Freund hat ihnen gesagt, sie müssten eigentlich zum Film – und bums! Zu Tausenden strömen sie hier zusammen, und sie sind sich alle gleich. Glauben Sie mir, Schätzchen, Sie waren gestern schon hier.«

Die Mitbewohner halfen Jill beim Zusammenstellen einer neuen Liste von Agenten. Ihre Büros waren kleiner, und sie lagen in einem billigen Stadtviertel, aber das Ergebnis war das gleiche.

»Kommen Sie wieder, wenn Sie eine gewisse schauspielerische Erfahrung gesammelt haben, Kind. Sie sehen gut aus, und vielleicht wird aus Ihnen 'ne neue Greta Garbo, aber ich kann meine Zeit nicht damit vergeuden, das herauszufinden. Bringen Sie mir einen Rollennachweis, und ich werde als Agent für Sie tätig werden.«

»Wie kann ich eine Bescheinigung bekommen, wenn niemand mir eine Rolle gibt?«

»Tja. Das ist eben das Problem. Viel Glück.«

Eine einzige Agentur stand noch auf Jills Liste; sie war ihr von einem Mädchen empfohlen worden, neben dem sie im Mayflower Coffee Shop am Hollywood Boulevard gesessen hatte. Die Dunning Agentur befand sich in einem kleinen Bungalow abseits von La Cienega in einem Wohnbezirk. Jill hatte telefonisch einen Termin ausgemacht, und eine Frauenstimme hatte sie gebeten, um sechs Uhr hinzukommen.

Jill sah sich in dem kleinen Büro um, das einmal als Wohnzimmer gedient hatte. Das Mobiliar bestand aus einem alten, zerkratzten, mit Papieren bedeckten Schreibtisch, einer Kunstledercouch, die mit weißen Klebestreifen ausgebessert war, und drei im Raum verteilten Rohrstühlen. Eine große, korpulente Frau mit einem pockennarbigen Gesicht kam aus einem Nebenzimmer und sagte: »Hallo. Kann ich etwas für Sie tun?«

»Ich bin Jill Castle. Ich habe einen Termin mit Mr. Dunning.« »Miss Dunning«, sagte die Frau. »Das bin ich.« »Oh«, sagte Jill überrascht. »Verzeihung, ich glaubte -« Die Frau lächelte sie freundlich an. »Es spielt keine Rolle.« Aber doch, es spielt eine Rolle, dachte Jill voll plötzlicher Erregung. Warum war ihr das nicht früher eingefallen? Eine Agentin! Jemand, der alle Traumata durchgemacht hatte, jemand, der verstehen würde, wie einem jungen Mädchen zumute war, das erst am Anfang stand. Sie würde verständnisvoller sein, als ein Mann es je sein könnte.

»Wie ich sehe, haben Sie Ihr Album mitgebracht«, sagte Miss Dunning. »Darf ich es sehen?« »Natürlich«, sagte Jill. Sie reichte es ihr hinüber. Die Frau öffnete das Album. »Sie sind fotogen.« Jill wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. »Danke.« Die Agentin betrachtete die Bilder von Jill im Badeanzug. »Sie haben eine gute Figur. Das ist wichtig. Woher kommen Sie?« »Aus Texas«, sagte Jill. »Odessa.« »Wie lange sind Sie schon in Hollywood, Jill?« »Ungefähr zwei Monate.«

»Bei wie vielen Agenten sind Sie gewesen?«

Einen Augenblick war Jill versucht zu lügen, aber sie sah nichts als Mitleid und Verständnis in den Augen der Frau. »Etwa dreißig, schätze ich.«

Die Agentin lachte. »Und schließlich kamen Sie zu Rose Dunning. Nun, Sie hätten Schlimmeres tun können. Ich bin nicht MCA oder William Morris, aber ich sorge dafür, dass meine Leute Arbeit haben.«

»Ich habe keinerlei schauspielerische Erfahrung.«

Die Frau nickte, sie schien nicht überrascht. »Wenn Sie welche hätten, wären Sie bei MCA oder William Morris. Ich bin eine Art Vorschule. Ich verhelfe talentierten Kindern zu einem Start, und dann schnappen mir die großen Agenturen sie weg.«

Zum erstenmal seit Wochen spürte Jill so etwas wie Hoffnung. »Glauben Sie – dass Sie etwas für mich tun könnten?« fragte sie.

Die Frau lächelte. »Ich habe Verträge für Klientinnen ausgehandelt, die nicht halb so hübsch sind wie Sie. Ich glaube schon, dass ich Arbeit für Sie finden könnte. Das ist die einzige Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, stimmt's?«

Jill war ihr unendlich dankbar.

»Das Ärgerliche an dieser Stadt ist, dass man Kindern wie Ihnen keine Chance gibt. Alle Studios tönen laut, dass sie verzweifelt nach neuen Talenten suchen, und dann errichten sie eine hohe Mauer und lassen niemand hinein. Nun, wir werden ihnen ein Schnippchen schlagen. Ich denke da an drei Dinge, für die Sie sich eignen könnten: ein Tagesjob in einem Schmachtfetzen fürs Fernsehen, ein Schlager in dem Toby-Temple-Film und eine Rolle in dem neuen Tessie-Brand-Film.«

Jill hatte das Gefühl, als würde sich alles um sie herum drehen. »Aber würden die -«

»Wenn ich Sie empfehle, werden sie Sie nehmen. Ich schicke keine Klientinnen, die nicht gut sind. Es sind nur Nebenrollen, verstehen Sie, aber es ist immerhin ein Anfang.«

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen wäre«, sagte Jill.

»Ich glaube, ich habe das Drehbuch des Fernsehspiels hier.« Rose Dunning stemmte sich mühsam aus ihrem Sessel, ging ins Nebenzimmer und bat Jill, ihr zu folgen.

Das Zimmer war ein Schlafzimmer mit einem Doppelbett in einer Ecke unter dem Fenster und einem metallenen Aktenschrank in der gegenüberliegenden Ecke. Rose Dunning watschelte zu dem Akten-schrank, öffnete eine Schublade und nahm ein Drehbuch heraus. Sie brachte es Jill.

»Das ist es. Der Besetzungschef ist ein guter Freund von mir, und wenn Sie mit dem da Erfolg haben, wird er Sie weiter beschäftigen.«

»Ich werde Erfolg haben«, versprach Jill leidenschaftlich.

Die Agentin lächelte. »Natürlich kann ich ihm nicht die Katze im Sack

schicken. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir vorzulesen?«

»Nein, natürlich nicht.«

Die Agentin öffnete das Drehbuch und setzte sich aufs Bett. »Nehmen wir diese Szene.«

Jill setzte sich neben sie aufs Bett und sah sich das Drehbuch an.

»Ihre Rolle ist die Natalie. Sie ist ein reiches Mädchen, das mit einem Schlappschwanz verheiratet ist. Sie beschließt, sich von ihm scheiden zu lassen, aber er will nicht. Hier treten Sie auf.«

Jill überflog schnell die Szene. Sie wünschte, sie hätte die Chance gehabt, das Drehbuch über Nacht oder nur eine Stunde durchzugehen. Sie wollte so gern einen guten Eindruck machen.

»Fertig?«

»Ja – ich glaube«, sagte Jill. Sie schloss die Augen und versuchte, sich in ihre Rolle zu versetzen. Eine reiche Frau. Wie die Mütter der Freunde und Freundinnen, mit denen sie aufgewachsen war, Menschen, die es für selbstverständlich hielten, dass sie alles, was sie wollten, im Leben haben konnten, und die glaubten, dass die anderen Leute nur für sie da seien. Die Cissy Toppings der Welt. Sie schlug die Augen auf, sah auf das Drehbuch hinunter und fing an zu lesen. »Ich möchte mit dir reden, Peter.«

»Können wir das nicht aufschieben?« Das war Rose Dunning, die ihr das Stichwort gab.

»Ich fürchte, es ist schon zu lange aufgeschoben worden. Ich fliege heute nachmittag nach Reno.«

»Einfach so?«

»Nein. Ich habe seit fünf Jahren versucht, dieses Flugzeug zu bekommen, Peter. Und diesmal werde ich es nehmen.«

Jill fühlte Rose Dunnings Hand auf ihren Schenkeln. »Das ist sehr gut«, sagte die Agentin beifällig. »Lesen Sie weiter.« Sie ließ ihre Hand auf Jills Bein ruhen.

»Dein Problem ist, dass du noch nicht erwachsen bist. Du spielst immer noch herum. Nun, von jetzt an wirst du allein spielen müssen.«

Rose Dunnings Hand streichelte ihren Schenkel. Es war peinlich. »Fein. Machen Sie weiter«, sagte sie.

»Ich – ich möchte nicht, dass du je wieder mit mir in Verbindung trittst. Hast du mich verstanden?«

Die Hand streichelte Jill jetzt schneller, bewegte sich auf ihre Leistengegend zu. Jill ließ das Drehbuch sinken und sah Rose Dunning an. Das Gesicht der Frau war gerötet, und ihre Augen hatten einen glasigen Ausdruck.

»Lesen Sie weiter«, stieß sie heiser hervor.

»Ich – ich kann nicht«, sagte Jill. »Wenn Sie -«

Die Hand der Frau bewegte sich schneller. »Das ist, um dich in Stimmung zu bringen, Liebling. Es ist ein sexueller Kampf, siehst du. Ich

möchte den Sex in dir fühlen.« Ihre Hand drückte jetzt fester und bewegte sich zwischen Jills Beinen.

»Nein!« Jill sprang zitternd auf.

Speichel tropfte aus dem Mundwinkel der Frau. »Sei gut zu mir, und ich werde gut zu dir sein.« Ihre Stimme klang flehentlich. »Komm her, Baby.« Sie streckte die Arme aus und griff nach ihr, und Jill lief aus dem Zimmer.

Auf der Straße übergab sie sich. Selbst als die quälenden Krämpfe vorüber waren und ihr Magen sich beruhigt hatte, fühlte sie sich nicht besser. Ihre Kopfschmerzen hatten wieder eingesetzt.

Es war nicht fair. Die Kopfschmerzen gehörten nicht zu ihr. Sie gehörten zu Josephine Czinski.

Während der nächsten fünfzehn Monate wurde Jill Castle ein echtes Mitglied der Überlebenden, des Stammes der Menschen am Rande des Showgeschäfts, die Jahre und manchmal ein ganzes Leben lang versuchten, in der Branche Fuß zu fassen, und inzwischen in anderen Berufen arbeiteten. Die Tatsache, dass diese Nebenbeschäftigungen zuweilen zehn oder gar fünfzehn Jahre füllten, entmutigte sie nicht. Wie uralte Volksstämme einst um längst erloschene Lagerfeuer saßen und von tapferen Taten erzählten, so saßen die Überlebenden in Schwabs Drugstore herum und erzählten sich wieder und wieder Heldenepen aus dem Showgeschäft, hüteten sorgsam den Rest kalten Kaffees in ihren Tassen, während sie einander Kostproben des neuesten Klatsches aus erster Hand übermittelten. Sie waren nicht mehr im Geschäft, und doch waren sie auf geheimnisvolle Weise mit seinem Puls und Herzschlag verbunden. Sie konnten berichten, welcher Star ersetzt werden würde, welcher Produzent beim Beischlaf mit seinem Regisseur erwischt worden war und welcher Chef einer Fernsehgesellschaft die Treppe hinauffallen würde. Sie wussten das alles, noch bevor jemand anders es wusste, erfuhren es durch ihre eigene, besondere Art von Urwaldtrommeln. Denn das Geschäft war wie ein Urwald. Darüber hatten sie keine Illusionen. Ihre Illusionen lagen in anderer Richtung. Sie glaubten, einen Weg durch die Studio-Tore finden, die Studiowände erklimmen zu können. Sie waren die Künstler, waren die Auserwählten. Hollywood war ihr Jericho, und Josua würde seine goldene Trompete blasen, und die mächtigen Tore würden vor ihnen zusammenstürzen, und ihre Feinde würden erschlagen werden – und siehe da! Sam Winters würde seinen Zauberstab schwingen, und sie würden seidene Kleider tragen und Stars sein und für immer von ihrem dankbaren Publikum geliebt und angebetet werden. Amen. Der Kaffee bei Schwab war ein berauschender, heiliger Wein, und sie waren die Jünger der Zukunft, drängten sich trostsuchend zusammen, wärmten einander mit ihren Träumen, da sie auf der Schwelle zum Erfolg standen. Sie hatten einen Regieassistenten getroffen, der ihnen ankündigte, einen Produzenten, der sagte, einen Besetzungschef, der versprach, und nur noch eine Sekunde, und der Erfolg würde in Reichweite liegen.

Inzwischen arbeiteten sie in Supermärkten und Garagen, in Schönheitssalons und Autowäschereien. Sie lebten zusammen und heirateten einander und ließen sich wieder scheiden und merkten nie, wie die Zeit sie verriet. Sie waren sich ihrer Falten und der grau werdenden Schläfen nicht bewusst und nicht der Tatsache, dass es morgens eine halbe Stunde länger dauerte, ihr Make-up aufzutragen. Sie waren abgenutzt, ohne gebraucht worden zu sein, gealtert, ohne gereift zu sein, zu alt für eine Karriere bei der Zelluloidindustrie, zu alt, Kinder zu bekommen, zu alt für die jüngeren Rollen, die sie einst so sehr begehrt hatten.

Sie waren jetzt Charakterdarsteller. Aber sie träumten immer noch.

Die jüngeren und hübscheren Mädchen nahmen mit, was sie »Matratzengeld« nannten.

»Warum sich den Hintern verrenken bei einem Ganztagsjob, wenn man sich bloß ein paar Minuten auf den Rücken zu legen braucht und leicht zwanzig Piepen verdienen kann? Nur so lange, bis der Agent sich meldet.«

Jill war daran nicht interessiert. Ihr einziges Interesse galt ihrer Karriere. Ein armes polnisches Mädchen konnte keinen David Kenyon heiraten. Das wusste sie jetzt. Aber Jill Castle, der Filmstar, konnte jeden und alles haben. Sollte sie das nicht erreichen, würde sie sich wieder in Josephine Czinski zurückverwandeln.

Aber das würde sie nie zulassen.

Jill erhielt ihr erstes Engagement durch Harriet Marcus, eine der Überlebenden, die eine Kusine hatte, deren Ex-Schwager zweiter Regieassistent bei einer medizinischen Fernsehserie war, die in den Uni-versal-Studios hergestellt wurde. Er war bereit, Jill eine Chance zu geben. Die Rolle bestand aus einem Satz, für den Jill siebenundfünfzig Dollar erhalten sollte, abzüglich Sozialversicherung, Steuern und Beitrag für den Filmwohlfahrtsfonds. Jill sollte die Rolle einer Krankenschwester spielen. Das Drehbuch sah vor, dass sie in einem Krankenzimmer am Bett eines Patienten saß und ihm den Puls fühlte, wenn der Doktor eintrat.

DOKTOR: »Wie geht es ihm, Schwester?« SCHWESTER: »Ich fürchte, nicht sehr gut, Doktor.«

Das war es.

Jill bekam an einem Montagnachmittag eine einzige vervielfältigte Seite aus dem Drehbuch und wurde für den folgenden Morgen um sechs Uhr zum Schminken bestellt. Sie ging die Szene hundertmal durch. Sie wünschte, das Studio hätte ihr das ganze Drehbuch gegeben. Wie konnten die nur erwarten, dass es ihr gelang, sich aus einer einzigen Seite

eine Persönlichkeit vorzustellen? Jill versuchte zu analysieren, was für eine Art Frau die Schwester sein könnte. War sie verheiratet? Ledig? Sie könnte im geheimen den Doktor lieben. Oder sie hatten eine Liaison miteinander, die inzwischen beendet war. Wie war sie dem Patienten gegenüber eingestellt? Hasste sie den Gedanken an seinen Tod? Oder hielt sie ihn für einen Segen?

»Ich fürchte, nicht sehr gut, Doktor.« Sie versuchte, ihre Stimme besorgt klingen zu lassen.

Sie begann noch einmal: »Ich fürchte, nicht sehr gut, Doktor.« Anklägerisch. Es war die Schuld des Doktors. Wenn er nicht bei seiner Geliebten gewesen wäre…

Jill blieb die ganze Nacht auf und arbeitete an der Rolle, zu überdreht, um schlafen zu können, aber am Morgen, als sie sich im Studio meldete, fühlte sie sich angeregt und belebt. Es war noch dunkel, als sie in einem Wagen, den sie sich von ihrer Freundin Harriet geliehen hatte, am Gittertor ankam. Jill nannte dem Pförtner ihren Namen, der verglich ihn mit der Eintragung in seinem Dienstplan und winkte sie hindurch.

»Studio sieben«, sagte er. »Zwei Blocks weiter, dann rechts.«

Ihr Name stand auf dem Dienstplan. Universal-Studios erwarteten sie. Es war wie ein Traum. Als Jill auf das Studio zufuhr/beschloss sie, ihre Rolle mit dem Regisseur zu besprechen, ihn wissen zu lassen, dass sie fähig war, ihm jede Interpretation zu geben, die er wollte. Jill fuhr auf den großen Parkplatz und ging zum Studio hinüber.

Das Atelier war voller Leute, die geschäftig Scheinwerfer montierten, elektrische Geräte herbeischleppten, die Kamera in Stellung brachten und in einer Fachsprache Befehle gaben, die sie nicht verstand. »Alles Licht auf mich, dreh voll auf, Junge, gib alles, was du hast!«

Jill stand da und sog alles in sich auf: den Anblick, die Gerüche und die Begleitmusik des Showgeschäfts. Das war ihre Welt, ihre Zukunft. Sie würde einen Weg finden, um den Regisseur zu beeindrucken, ihm zu zeigen, was in ihr steckte. Er würde sie als eine Persönlichkeit kennenlernen, nicht als eine x-beliebige Schauspielerin.

Der zweite Regieassistent trieb Jill und ein Dutzend anderer Schauspieler in die Garderobe, wo Jill einen Schwesternkittel ausgehändigt bekam. Dann wurde sie ins Atelier zurückgeschickt, wo sie und die anderen Komparsen in einer Ecke geschminkt wurden. Gerade als sie ihr Make-up beendet hatte, rief der Regieassistent ihren Namen. Jill eilte in die Dekoration des Krankenzimmers, wo der Regisseur neben der Kamera mit dem Star der Serie sprach. Der Star hieß Rod Hanson. Er spielte einen Arzt voller Mitgefühl und Weisheit. Als Jill auf sie zuging, sagte Rod Hanson: »Ich habe einen deutschen Gärtner, der einen besseren Dialog furzen kann als diese Scheiße hier. Warum sind die Drehbuchfritzen nie in der Lage, mir einen blutvollen Charakter zu geben, Gottverdammich?«

»Rod, die Serie läuft schon seit fünf Jahren. Versuchen Sie bloß nicht, an einem Schlager herumzudoktern. Das Publikum mag Sie so, wie Sie sind.«

Der Kameramann trat zum Regisseur. »Alles klar, Chef.«

»Danke, Hai«, antwortete der Regisseur. Er wandte sich an Rod Han-son. »Können wir jetzt? Wir reden später noch mal darüber.«

»Eines Tages werde ich mir mit diesem Studio den Hintern abwischen«, knurrte Hanson und stelzte davon.

Jill wandte sich an den Regisseur, der jetzt allein war. Das war die Gelegenheit, um ihre Interpretation der Rolle darzulegen und ihm zu zeigen, dass sie seine Probleme verstand und ihm helfen würde, die Szene bedeutungsvoll zu machen. Sie lächelte ihn warm und freundlich an. »Ich bin Jill Castle«, sagte sie. »Ich spiele die Krankenschwester. Ich glaube, die Rolle könnte wirklich interessant sein, und ich habe auch schon einige Ideen, die -«

Er nickte abwesend, sagte: »Drüben ans Bett« und ging davon, um mit dem Kameramann zu sprechen.

Jill sah ihm verblüfft nach. Der zweite Regieassistent, der Ex-Schwager von Harriets Kusine, eilte zu Jill und sagte leise: »Um Himmels willen, haben Sie nicht gehört? Hinüber ans Bett!«

»Ich wollte ihn fragen -«

»Machen Sie keinen Mist!« flüsterte er böse. »Gehen Sie auf Ihren Platz!«

Jill ging zum Bett des Patienten hinüber.

»All right. Bitte Ruhe.« Der Regieassistent sah den Regisseur an. »Wollen Sie eine Probe, Chef?«

»Dafür? Nein, wir drehen gleich.«

»Beginnen wir. Ruhe überall, ich bitte um Ruhe: Bitte abfahren!«

Ungläubig sah Jill auf die Klappe. Sie blickte verzweifelt zum Regisseur hinüber, hätte ihn so gern gefragt, wie er die Szene interpretiert haben wollte, in welchem Verhältnis sie zu dem sterbenden Mann stünde, was für ein Mensch sie war -

Eine Stimme rief: »Kamera läuft!«

Alle sahen erwartungsvoll auf Jill. Sie überlegte, ob sie es wagen dürfte zu bitten, die Kamera eine Sekunde zu stoppen, damit sie die Szene diskutieren könnte und -

Der Regisseur brüllte: »Mein Gott im Himmel! Schwester! Hier ist kein Leichenschauhaus – hier ist ein Krankenzimmer. Fühlen Sie schon seinen gottverdammten Puls, ehe er an Altersschwäche eingeht!«

Jill sah ängstlich in das helle Licht um sie herum. Sie holte tief Atem, hob die Hand des Patienten und fühlte seinen Puls. Wenn sie ihr nicht helfen wollten, würde sie die Szene eben auf ihre Weise interpretieren müssen. Der Patient war der Vater des Arztes. Die beiden hatten sich gestritten. Der Vater war in einen Unfall verwickelt worden, und der Arzt war gerade benachrichtigt worden. Jill blickte auf und sah Rod Hanson,

der zu ihr trat und fragte: »Wie geht es ihm, Schwester?«

Jill blickte in die Augen des Arztes und las Besorgnis darin. Sie wollte ihm die Wahrheit sagen, dass sein Vater im Sterben liege und dass es zu spät für sie beide sei, den Streit beizulegen. Doch musste sie es ihm so beibringen, dass es ihn nicht vernichten würde und -

Der Regisseur brüllte: »Aus! Aus! Aus! Gottverdammt noch mal, die Idiotin hat nur einen Satz zu sprechen und kann nicht mal den behalten. Wo habt ihr die denn her – vom Arbeitsamt?«

Jill wandte sich der wütenden Stimme zu. »Ich – ich kann meinen Satz«, sagte sie empört. »Ich wollte bloß -«

»Nun, wenn Sie ihn können, um Himmels willen, warum sagen Sie ihn dann nicht? Die Pause ist viel zu lang! Also, wenn er Ihnen die gottverdammte Frage stellt, dann beantworten Sie sie. Okay?«

»Ich wollte doch bloß wissen, ob -«

»Also alles noch mal von vorn, Kamera ab!«

»Alles bereit, Kamera läuft!«

Jill zitterten die Knie. Es schien, dass sie die einzige war, die für die Szene Interesse zeigte. Alles, was sie wollte, war, etwas Schönes zu schaffen. Die heißen Jupiterlampen machten sie schwindlig, und sie konnte den Schweiß an ihren Armen hinunterrinnen fühlen, spürte, wie er ihre saubere, gestärkte Schwesterntracht ruinierte.

»Also, bitte, Schwester!«

Jill stand über den Patienten gebeugt und fühlte ihm den Puls. Wenn sie die Szene noch mal verpatzte, würde man ihr nie wieder eine Rolle geben. Sie dachte an Harriet und an ihre Freunde in der Pension und an das, was sie sagen würden.

Sie wäre nicht mehr eine von ihnen. Sie wäre eine Zielscheibe des Spotts. Hollywood war eine kleine Stadt. So etwas sprach sich schnell herum.

Der Arzt kam herein und trat zu ihr. »Wie geht es ihm, Schwester?«

»Ich fürchte, nicht sehr gut, Doktor.«

Kein anderes Studio würde sie beschäftigen. Es wäre ihr letzter Job. Es wäre das Ende von allem.

Der Arzt sagte: »Ich möchte, dass dieser Mann auf die Intensivstation verlegt wird, sofort.«

»Gut!« rief der Regisseur. »Gestorben, wird kopiert.«

Jill nahm die Atelierarbeiter, die an ihr vorübereilten, kaum wahr; sie bauten die Dekoration ab, um die nächste aufzubauen. Sie hatte ihren ersten Auftritt gehabt – und dabei an etwas anderes gedacht. Sie konnte einfach nicht glauben, dass es schon vorbei war. Sie fragte sich, ob sie den Regisseur aufsuchen und ihm danken sollte, aber er war auf der anderen Seite des Ateliers und sprach mit einer Gruppe von Leuten. Der Regieassistent trat zu ihr, drückte ihren Arm und sagte: »Das haben Sie gut gemacht, Kindchen. Bloß lernen Sie nächstes Mal Ihren Text.«

Sie war in ihrem ersten Film aufgetreten; hatte ihren ersten Rollennachweis. Von jetzt an, dachte Jill, werde ich nur noch arbeiten.

Jill bekam ihren nächsten Job dreizehn Monate später, als sie bei MGM eine Nebenrolle spielte. Inzwischen arbeitete sie in einer Reihe von bürgerlichen Berufen. Sie wurde Avon-Beraterin, sie bediente in einem Cola-Ausschank und fuhr kurze Zeit ein Taxi.

Als ihr Geld zur Neige ging, beschloss Jill, zusammen mit Harriet Marcus ein Apartment zu mieten. Es war eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern, und Harriet machte von ihrem Schlafzimmer fleißig Gebrauch. Harriet arbeitete als Mannequin in einem Warenhaus. Sie war ein attraktives Mädchen mit kurzem, schwarzem Haar, schwarzen Augen, der knabenhaften Figur eines Mannequins und mit Sinn für Humor.

»Wenn man aus Hoboken kommt«, sagte sie zu Jill, »ist es besser, wenn man Humor hat.«

Anfangs war Jill durch Harriets kühle Selbstsicherheit eingeschüchtert gewesen, aber bald merkte sie, dass Harriet hinter dieser blasierten Fassade ein warmherziges, verschrecktes Kind war. Sie war dauernd verliebt. Als Jill ihr zum erstenmal begegnete, sagte Harriet: »Ich möchte, dass Sie Ralph kennenlernen. Wir werden nächsten Monat heiraten.«

Eine Woche später war Ralph unter Mitnahme von Harriets Auto mit unbekanntem Ziel verzogen.

Ein paar Tage, nachdem Ralph verschwunden war, lernte Harriet Tony kennen. Er war im Import-Export-Geschäft, und Harriet verliebte sich Hals über Kopf in ihn.

»Er ist sehr bedeutend«, vertraute Harriet Jill an. Aber irgend jemand war offensichtlich nicht dieser Meinung, denn Tony wurde einen Monat später im Los Angeles River treibend gefunden.

Alex war Harriets nächste Liebe.

»Er ist der bestaussehende Mann, der dir je begegnet ist«, versicherte Harriet Jill.

Alex sah sehr gut aus. Er trug teure Anzüge, fuhr ein schickes Kabriolett und verbrachte viel Zeit auf der Rennbahn. Die Romanze dauerte so lange, bis Harriet kein Geld mehr hatte. Es regte Jill auf, dass Harriet so wenig Vernunft in Bezug auf Männer zeigte.

»Ich kann nichts dafür«, gestand Harriet. »Ich werde immer wieder von Burschen angezogen, die in Schwierigkeiten stecken. Ich glaube, es ist mein Mutterinstinkt.« Sie grinste und fügte hinzu: »Meine Mutter war eine Idiotin.«

Jill sah Harriets Verlobte in einer Prozession kommen und gehen.

Da waren Nick und Bobby und John und Raymond, bis Jill sich schließlich nicht mehr auf dem Laufenden halten konnte.

Ein paar Monate, nachdem sie zusammengezogen waren, teilte Harriet ihr mit, dass sie schwanger sei.

»Ich glaube, es war Leonard«, witzelte sie, »aber weißt du – im Dun-

keln sehen sie alle gleich aus.«

»Wo ist Leonard?«

»Entweder in Omaha oder Okinawa. In Geographie war ich immer miserabel.«

»Und was wirst du jetzt tun?«

»Ich werde mein Baby bekommen.«

Wegen ihrer schmächtigen Figur war Harriets Schwangerschaft schon nach wenigen Wochen zu sehen, und sie musste ihren Job als Mannequin aufgeben. Jill fand Arbeit in einem Supermarkt, so dass sie sie beide ernähren konnte.

Als Jill eines Nachmittags nach Hause kam, fand sie einen Zettel von Harriet, auf dem stand: »Ich wollte schon immer, dass mein Baby in Ho-boken geboren wird. Ich gehe nach Hause zurück. Ich wette, da wartet ein wundervoller Mann auf mich. Danke für alles.« Der Zettel war unterschrieben mit: »Harriet, die Nonne.«

In dem Apartment war es plötzlich einsam geworden.

21.

Toby Temple befand sich wie in einem Rausch. Er war zweiundvierzig, und ihm gehörte die Welt. Er scherzte mit Königen und spielte Golf mit Präsidenten, doch seinen Millionen biertrinkender Fans machte das nichts aus, weil sie wussten, dass Toby einer von ihnen war, ihr Champion, der alle die heiligen Kühe molk, die Großen und Mächtigen verspottete, die Losungsworte des Establishments zerstörte. Sie liebten Toby, weil sie wussten, dass auch er sie liebte.

In allen seinen Interviews sprach er über seine Mutter, und sie wurde mehr und mehr zu einer Heiligen. Für Toby war das die einzige Möglichkeit, seinen Erfolg mit ihr zu teilen.

Toby erwarb einen herrlichen Besitz in Bel-Air. Das Haus war im Tu-dor-Stil gebaut, hatte acht Schlafzimmer und ein riesiges Treppenhaus mit geschnitzter Täfelung. Es gab ein Kino, ein Spielzimmer, einen Weinkeller, und auf dem Gelände befanden sich ein Swimming-pool, ein Anbau für die Haushälterin und zwei Gästehäuser. Er kaufte sich eine elegante Villa in Palm Springs, eine Anzahl Rennpferde und stellte ein Trio von Handlangern ein. Toby nannte sie alle »Mac«, und sie beteten ihn an. Sie machten Botengänge, chauffierten ihn, beschafften ihm zu jeder Tages- oder Nachtzeit Mädchen, machten Ausflüge mit ihm, massierten ihn. Was immer der Herr wünschte, die drei Macs waren stets bereit, ihm seine Launen zu erfüllen. Sie waren die Spaßmacher für den Spaßmacher der Nation. Toby hatte vier Sekretärinnen, von denen zwei sich ausschließlich um die ungeheure Flut der Fanpost kümmern mussten. Seine Privatsekretärin war eine hübsche einundzwanzigjährige Blondine namens Sherry. Ihr Körper musste von einem Sexbesessenen erschaffen worden sein, und Toby bestand darauf, dass sie kurze Röcke und nichts darunter trug. Es ersparte beiden eine Menge Zeit.

Die Premiere von Toby Temples erstem Kinofilm war bemerkenswert gut über die Bühne gegangen. Sam Winters und Clifton Lawrence

waren im Uraufführungstheater. Anschließend gingen alle zu Chasen, um über den Film zu diskutieren.

Nachdem das Geschäft zustande gekommen war, hatte Toby seine erste Begegnung mit Sam genossen. »Es wäre billiger gewesen, wenn Sie meine Telefonanrufe erwidert hätten«, meinte Toby, und er erzählte Sam, wie er versucht hatte, ihn zu erreichen.

»Mein Pech«, sagte Sam zerknirscht.

Jetzt, bei Chasen, wandte sich Sam an Clifton Lawrence. »Wenn Sie nicht gerade einen Arm und ein Bein von mir verlangen, würde ich gern für eine neue dreiteilige Filmserie mit Toby abschließen.«

»Nur einen Arm. Ich werde Sie morgen früh anrufen«, antwortete der Agent. Er blickte auf seine Uhr. »Ich muss weg.«

»Wohin gehen Sie?« fragte Toby.

»Ich treffe mich mit einem anderen Klienten. Ich habe andere Klienten, mein Junge.«

Toby sah ihn sonderbar an und sagte dann: »Natürlich.«

Die Kritiken am nächsten Morgen glichen Hymnen. Jeder Kritiker prophezeite, Toby Temple werde beim Film ein ebenso großer Star wie beim Fernsehen werden.

Toby las alle Besprechungen und rief dann Clifton Lawrence an.

»Gratuliere, mein Junge«, sagte der Agent. »Haben Sie den Reporter und Variety gelesen? Das sind geradezu Liebesbriefe.«

»Hab ich. Es ist wie im Schlaraffenland, und ich bin eine große, fette Ratte. Kann es für mich noch etwas Schöneres geben?«

»Ich habe Ihnen ja gesagt, dass Ihnen eines Tages die Welt gehören würde, Toby, und nun ist es soweit. Sie haben's geschafft.«

»Cliff, ich hätte gern mit Ihnen gesprochen. Könnten Sie herkommen?«

»Natürlich. Um fünf Uhr könnte ich's einrichten und -«

»Ich meine jetzt.«

Ein kurzes Zögern, dann antwortete Clifton: »Ich habe Verabredungen bis -«

»Oh, wenn Sie zu beschäftigt sind, vergessen Sie's.« Und Toby legte auf.

Eine Minute später rief Clifton Lawrences Sekretärin an und sagte: »Mr. Lawrence ist auf dem Weg zu Ihnen, Mr. Temple.«

Clifton Lawrence saß auf Tobys Couch. »Um Himmels willen, Toby. Sie wissen, dass ich für Sie nie zu beschäftigt bin. Ich habe nicht geahnt, dass Sie mich gleich sprechen wollten, sonst hätte ich keine anderen Verabredungen getroffen.«

Toby starrte ihn schweigend an und ließ ihn schwitzen. Clifton räusperte sich und sagte: »Nun reden Sie schon! Sie sind mein Klient Nummer eins. Wissen Sie das nicht?«

Und das stimmt, dachte Clifton. Ich habe ihn zu dem gemacht, was er ist. Er ist meine Schöpfung. Und ich genieße seinen Erfolg genauso wie er.

Toby lächelte. »Bin ich das wirklich, Cliff?« Er konnte förmlich sehen, wie die Spannung aus dem Körper des kleinen Agenten wich. »Ich fing schon an zu zweifeln…«

»Was soll das heißen?«

»Sie haben so viele Klienten, dass ich manchmal den Eindruck habe, Sie kümmern sich nicht genug um mich.«

»Das ist nicht wahr. Ich widme Ihnen mehr Zeit als -«

»Ich würde es gern sehen, dass Sie nur noch mich vertreten, Cliff.«

Clifton lächelte. »Sie scherzen.«

»Nein. Ich meine es ernst.« Toby sah das Lächeln aus Cliftons Gesicht schwinden. »Ich glaube, ich bin wichtig genug, um meinen eigenen Agenten zu haben – und wenn ich sage, meinen eigenen Agenten, dann meine ich nicht jemanden, der für mich keine Zeit hat, weil er sich um ein Dutzend andere Leute kümmern muss. Es ist wie beim Gruppensex, Cliff. Irgend jemand bleibt immer mit einem Ständer zurück.«

Clifton musterte ihn einen Augenblick und sagte dann: »Machen Sie uns einen Drink.« Während Toby zur Bar hinüberging, saß Clifton grübelnd da. Er kannte das wirkliche Problem – es lag weder an Tobys Egoismus noch an seiner übersteigerten Selbsteinschätzung.

Es hatte mit Tobys Einsamkeit zu tun. Toby war der einsamste Mann, den Clifton je kennengelernt hatte. Clifton hatte miterlebt, wie Toby sich Frauen dutzendweise gekauft hatte und ebenso versucht hatte, sich mit verschwenderischen Geschenken Freunde zu kaufen. Stets bezahlte Toby alle Rechnungen. Clifton hatte einmal einen Musiker zu Toby sagen hören: »Sie haben es nicht nötig, sich Liebe zu kaufen, Toby. Jeder liebt Sie sowieso.« Toby hatte ihm zugezwinkert und geantwortet: »Warum etwas riskieren?«

Der Musiker wurde nie mehr in Tobys Show beschäftigt.

Toby wollte, dass jeder ihm alles gab. Er war von einer Gier besessen, und je mehr er errang, desto stärker wurde seine Gier.

Clifton hatte gehört, dass Toby gleichzeitig mit einem halben Dutzend Mädchen ins Bett ging, um seinen Hunger zu stillen. Aber natürlich funktionierte das nicht. Was Toby brauchte, war ein Mädchen, und das hatte er nie gefunden. Also spielte er weiter mit der großen Zahl.

Er hatte das verzweifelte Verlangen, immer Menschen um sich zu haben.

Einsamkeit. Toby fühlte sie nur dann nicht, wenn er vor seinem Publikum stand, wenn er dessen Beifall vernehmen und dessen Liebe spüren konnte. Es war alles so einfach, dachte Clifton. Wenn Toby nicht auf der Bühne stand, schleppte er sein Publikum mit sich herum. Er war stets von Musikern und Handlangern und Textern und Showgirls und abgetakelten Komikern und wen er sonst in seinen Umkreis ziehen konnte umgeben.

Und nun wollte er Clifton Lawrence. Ganz.

Clifton betreute ein Dutzend Klienten, aber deren Gesamteinkommen war nicht viel größer als Tobys Einkommen aus Auftritten in Nachtklubs, im Fernsehen und in Filmen; denn die Abschlüsse, die Clifton für Toby erzielen konnte, waren phantastisch. Trotzdem traf Clifton seine Entscheidung nicht des Geldes wegen. Er traf sie, weil er Toby Temple liebte und Toby ihn brauchte. So wie er Toby brauchte. Clifton erinnerte sich, wie schal sein Leben gewesen war, bevor Toby auftauchte. Jahrelang hatte er vor keiner neuen Aufgabe gestanden. Er war auf der Woge alter Erfolge geschwommen. Und er dachte jetzt an die knisternde Spannung, die Toby um sich verbreitete, den Spaß und das Gelächter und die herzliche Kameradschaft, die sie miteinander verband.

Als Toby zu Clifton zurückkam und ihm seinen Drink reichte, hob Clif-ton das Glas und sagte: »Auf uns beide, mein Junge.«

Es war eine Zeit der Erfolge und des Amüsements und der Parties, und Toby war immer »obenauf«. Die Leute erwarteten von ihm, dass er komisch war. Ein Schauspieler konnte sich hinter den Worten Shakespeares oder Shaws oder Molieres verstecken, und ein Sänger konnte auf die Hilfe von Gershwin oder Rodger and Hart oder Cole Porter zählen. Ein Komiker jedoch war ganz auf sich gestellt. Seine einzige Waffe war sein Witz.

Toby Temples Stegreifwitze wurden bald in ganz Hollywood berühmt. Auf einer Party für den hochbetagten Begründer eines Studios wurde Toby gefragt: »Ist er tatsächlich schon einundneunzig?«

Toby erwiderte: »Aber ja. Und wenn er hundert wird, wird er bestimmt gegen zwei andere eingetauscht.«

Bei einem Dinner erzählte ein berühmter Arzt, zu dessen Patienten viele Stars gehörten, einer Gruppe von Schauspielern einen langatmigen und gequälten Witz.

»Doc«, bat Toby, »unterhalten Sie uns nicht – retten Sie uns!« Eines Tages brauchte das Studio für einen Film Löwen, und als Toby sie in einem Lastwagen ankommen sah, schrie er gellend: »Christen – noch zehn Minuten!«

Tobys derbe Scherze wurden legendär. Eines Tages sagte ein Produzent zu ihm: »Wie ich höre, finden bei Ihnen dauernd wilde Parties statt. Ich habe noch nie eine Hollywood-Orgie mitgemacht.«

Prompt antwortete Toby: »Sie haben Glück. Freitagabend findet bei mir wieder so was statt. Sie brauchen sich nicht um ein Mädchen zu bemühen. Die sind haufenweise da. Alle nackt.«

Freitagabend erschien der aufgeregte Produzent in Tobys Heim und wurde vom Butler empfangen.

»Hier entlang, bitte, Sir«, sagte der Butler. Er führte den Produzenten in eine große Garderobe, in der sich Kleidungsstücke, Damenwäsche, Unterhosen, Hemden, Krawatten und Jacketts, auf den Stühlen häuften. »Sie können hier ablegen. Die Herrschaften sind im Salon.«

Der Produzent zog sich hastig aus. Vom Salon her konnte er schwatzende und lachende Männer- und Frauenstimmen vernehmen. Nackt tippelte er durch die Halle, stieß die Salontür auf und trat ein. Er sah sich hundert Gästen in Abendkleidung gegenüber.

Eines Tages, als Toby einen Fahrstuhl verließ, drehte er sich zu einem aufgeblasenen Hauptabteilungsleiter einer Fernsehgesellschaft um und fragte: »Übrigens, Peter, wie haben Sie das eigentlich geschafft, aus dem Sittenprozess herauszukommen?« Die Fahrstuhltür schloss sich, und der Abteilungsleiter blieb mit einem halben Dutzend Leuten zurück, die ihn misstrauisch musterten.

Als es wieder soweit war, über einen neuen Vertrag zu verhandeln, ließ sich Toby einen abgerichteten Panther ins Studio liefern. Toby öffnete die Tür des Büros von Sam Winters, der mitten in einer Besprechung war.

»Mein Agent möchte Sie sprechen«, sagte Toby. Er scheuchte den Panther ins Büro und schloss die Tür.

Wenn Toby später die Geschichte erzählte, behauptete er, dass drei von den Burschen im Büro beinahe einen Herzschlag bekommen hätten und es einen Monat gedauert hätte, bis der Gestank des Pantherurins aus dem Zimmer verflogen war.

Toby hatte einen Stab von zehn Textern, an der Spitze O'Hanlon und Rainger. Toby nörgelte ständig über das ihm gelieferte Material. Einmal verpflichtete Toby eine Prostituierte in sein Autorenteam. Als er erfuhr, dass seine Texter die meiste Zeit im Schlafzimmer zubrachten, musste er das Mädchen rauswerfen. Ein anderes Mal brachte Toby einen Leierkastenmann und dessen Affen zu einer Drehbuchbesprechung mit. Es war demütigend und erniedrigend, aber O'Hanlon und Rainger und die anderen Autoren schluckten es, weil Toby ihre Ideen in reines Gold verwandelte. Er war der Beste im Geschäft.

Toby war freigebig bis zur Verschwendung. Er beschenkte seine Angestellten und Freunde mit goldenen Uhren und Zigarettenanzündern oder mit kompletten Garderoben und Europareisen. Er hatte immer eine Unmenge Geld bei sich und zahlte alles bar, sogar zwei Rolls-Royces. Er hatte ein weiches Herz. Jeden Freitag stellten sich ein Dutzend Schmarotzer bei ihm ein. Einmal sagte Toby zu einem von ihnen: »He, was suchen Sie denn heute hier? Ich habe doch gerade in Variety gelesen, dass Sie ein Engagement bekommen haben.« Der Mann sah Toby an und erwiderte: »Verdammt, habe ich nicht zwei Wochen Kündigungsfrist?«

Es kursierten unzählige Geschichten über Toby, und fast alle entsprachen der Wahrheit. Einmal kam während einer Besprechung einer der Autoren zu spät, eine unverzeihliche Sünde. »Es tut mir leid, dass ich zu spät komme«, entschuldigte er sich. »Mein Junge ist heute früh überfahren worden.«

Toby sah ihn an und fragte: »Haben Sie die Texte fertig?« Alle Anwesenden waren empört. Nach der Sitzung sagte einer der Autoren zu O -Hanlon: »Das ist der kälteste Schweinehund auf der ganzen Welt.«

Toby ließ einen der besten Gehirn-Chirurgen einfliegen, um den verunglückten Jungen zu operieren, und bezahlte sämtliche Krankenhausrechnungen. Zum Vater sagte er: »Wenn Sie irgend jemand etwas davon erzählen, fliegen Sie raus.«

Arbeit war das einzige, was Toby seine Einsamkeit vergessen ließ, das einzige, was ihm echte Freude bereitete. War eine Show ein Erfolg, war Toby der amüsanteste Mensch auf der Welt, lief jedoch etwas schief, war er unausstehlich und machte jeden zur Zielscheibe seiner Wut. Er musste alles besitzen. Einmal nahm er während einer Besprechung Raingers Kopf zwischen seine Hände und rief den Anwesenden zu: »Das ist meiner. Er gehört mir.«

Gleichzeitig wuchs sein Hass auf die Autoren, weil er sie brauchte, aber auf niemanden angewiesen sein wollte. Deshalb strafte er sie mit Verachtung. Am Zahltag machte er Papierflieger aus ihren Schecks und ließ sie herumsegeln. Beim geringsten Lapsus warf er sie hinaus. Eines Tages erschien ein Autor sonnengebräunt, und Toby entließ ihn sofort. »Warum denn?« fragte ihn O'Hanlon. »Er ist einer unserer besten Schreiber.«

»Hätte er gearbeitet«, antwortete Toby, »wäre er nicht braungebrannt.«

Ein neuer Autor brachte einen Witz über Mütter und musste gehen.

Wenn ein Gast in seiner Show einen Lacherfolg hatte, pflegte Toby auszurufen: »Sie sind phantastisch! Ich hätte Sie am liebsten jede Woche in meiner Show.« Er warf dem Regisseur einen Blick zu und sagte: »Verstanden?«, und der Regisseur wusste, dass der Schauspieler nie mehr in Tobys Show auftreten durfte.

Toby vereinte in sich eine Unzahl von Widersprüchen. Er war eifersüchtig auf den Erfolg anderer Komiker, und trotzdem geschah folgendes: Eines Tages, als Toby die Probebühne verließ, kam er an der Garderobe eines alten Komikers vorbei, der einst ein Star gewesen war, mit dessen Karriere es jedoch längst bergab ging, Vinnie Türkei. Vinnie war für seine erste dramatische Rolle in einem Live-Fernsehspiel verpflichtet worden. Er hoffte auf ein Comeback. Als Toby in seine Garderobe guckte, sah er Vinnie betrunken auf der Couch liegen. Der Regisseur der Show kam vorbei und sagte zu Toby: »Kümmern Sie sich nicht um ihn, Toby. Er ist erledigt.«

»Was ist passiert?«

»Nun, Sie wissen, dass Vinnie für seine hohe, tremolierende Stimme berühmt war. Wir begannen mit den Proben, und jedesmal, wenn Vinnie den Mund öffnete und ernst zu sein versuchte, fingen alle an zu lachen. Das gab dem armen Alten den Rest.«

»Er hat mit seiner Rolle gerechnet, nicht wahr?« fragte Toby.

Der Regisseur zuckte die Schultern. »Jeder Schauspieler rechnet mit jeder Rolle.«

Toby nahm Vinnie Türkei mit nach Hause und blieb bei dem alten Komiker, bis er nüchtern war. »Das ist die beste Rolle, die Sie je in Ihrem Leben gehabt haben. Wollen Sie die Sache schmeißen?«

Vinnie schüttelte unglücklich den Kopf. »Ich habe sie schon geschmissen, Toby. Ich krieg's nicht hin.«

»Wer sagt das?« fragte Toby. »Sie können diese Rolle besser spielen als irgendein anderer.«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Sie haben über mich gelacht.«

»Na klar. Und wissen Sie, warum? Weil Sie sie Ihr Leben lang zum Lachen gebracht haben. Sie erwarten einfach von Ihnen, dass Sie komisch sind. Aber wenn Sie bei der Stange bleiben, werden Sie gewinnen. Sie werden sie überwältigen.«

Toby verbrachte den ganzen Nachmittag damit, Vinnies Selbstvertrauen wiederherzustellen. Abends rief er den Regisseur zu Hause an. »Türkei ist wieder in Ordnung«, sagte er. »Sie brauchen sich keine Sorgen mehr zu machen.«

»Ich weiß«, erwiderte der Regisseur. »Ich habe ihn ersetzen lassen.«

»Machen Sie's rückgängig«, sagte Toby. »Sie müssen ihm eine Chance geben.«

»Das Risiko kann ich nicht eingehen, Toby. Er wird sich wieder betrinken und -«

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, unterbrach ihn Toby. »Lassen Sie ihn drin. Wenn Sie ihn auch nach der Kostümprobe nicht mehr wollen, werde ich seine Rolle übernehmen, und zwar umsonst.«

Es gab eine Pause, dann fragte der Regisseur: »Ist das Ihr Ernst?«

»Darauf können Sie Gift nehmen.«

»Gemacht«, sagte der Regisseur rasch. »Bestellen Sie Vinnie, dass er morgen früh um neun zur Probe kommen soll.«

Als das Fernsehspiel gesendet wurde, war es der Schlager der Saison. Und es war Vinnie Türkei, der von den Kritikern in den Himmel gehoben wurde. Er gewann jeden Preis, den das Fernsehen zu vergeben hatte, und eine neue Karriere als dramatischer Schauspieler eröffnete sich ihm. Als er Toby als Zeichen seiner Dankbarkeit ein kostbares Geschenk sandte, schickte Toby es mit einem kurzen Brief zurück: »Nicht ich, Sie waren der Darsteller.« Das war Toby Temple.

Einige Monate später verpflichtete Toby Vinnie Türkei für einen Sketch in seiner Show. Vinnie übertrieb in einem von Tobys Lacherfolgen, und augenblicklich gab Toby ihm die falschen Stichwörter, machte seine Witze kaputt und demütigte ihn vor vierzig Millionen Zuschauern.

Auch das war Toby Temple.

Als O'Hanlon einmal gefragt wurde, wie Toby Temple nun wirklich sei, antwortete er: »Erinnern Sie sich an den Film, in dem Charlie Chaplin den Millionär kennenlernt? Ist der Millionär betrunken, ist er Charlies Kumpel. Ist er nüchtern, wirft er ihn mit einem Tritt in den Hintern raus. Das ist Toby Temple – nur ohne Alkohol.«

Während einer Zusammenkunft mit den leitenden Männern einer Fernsehgesellschaft sprach einer der Jüngeren kaum ein Wort. Hinterher sagte Toby zu Clifton Lawrence: »Ich glaube, er kann mich nicht leiden.«

»Wer?«

»Der junge Mann bei der Besprechung.«

»Was spielt das für eine Rolle? Er ist völlig unwichtig.«

»Er hat nicht ein einziges Wort zu mir gesagt«, war Tobys düstere Antwort. »Er kann mich bestimmt nicht leiden.«

Toby war so außer sich, dass Clifton Lawrence den Jungen ausfindig machen musste. Er rief den bestürzten Mann mitten in der Nacht an und fragte ihn: »Haben Sie etwas gegen Toby Temple?«

»Ich? Ich halte ihn für den witzigsten Mann auf der ganzen Welt!«

»Tun Sie mir dann bitte einen Gefallen, mein Junge: Rufen Sie ihn an, und sagen Sie ihm das.«

»Was?«

»Rufen Sie Toby an, und sagen Sie ihm, dass Sie ihn mögen.«

»Aber natürlich. Ich werde ihn gleich morgen früh anrufen.«

»Rufen Sie jetzt an.«

»Es ist drei Uhr morgens!«

»Spielt keine Rolle. Er wartet darauf.«

Als der junge Mann Toby anrief, wurde der Hörer sofort abgehoben. Tobys Stimme war zu vernehmen: »Hallo.«

Der junge Mann schluckte und sagte: »Ich – ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich Sie großartig finde.«

»Danke, Kamerad«, antwortete Toby und legte auf.

Tobys Hofstaat wurde immer größer. Manchmal, wenn er nachts aufwachte, rief er Freunde an und überredete sie, zu einer Kartenrunde herüberzukommen, oder er weckte O'Hanlon und Rainger und beorderte sie zu einer Drehbuchbesprechung. Oft saß er die ganze Nacht mit den drei Macs und Clifton Lawrence und einem halben Dutzend Starlets und Schmarotzern zu Hause und sah sich Filme an.

Und je mehr Menschen er um sich versammelte, desto einsamer wurde Toby.

22.

Es war November 1963, und der herbstliche Sonnenschein war einem schwachen, kalten Licht gewichen. Die frühen Morgenstunden waren jetzt neblig und kühl, und die ersten Winterregen hatten eingesetzt.

Jill Castle ging immer noch jeden Morgen zu Schwab, aber es kam ihr vor, als wären die Unterhaltungen immer dieselben. Die Überlebenden redeten davon, wer eine Rolle verloren hatte und warum. Sie freuten sich hämisch über jede vernichtende Kritik, die erschien, und missbilligten die guten. Es war das Klagelied der Verlierer, und Jill fragte sich, ob sie wie sie werden würde. Sie war immer noch davon überzeugt, eines Tages ein Star zu werden, aber als sie sich im Kreis der vertrauten Gesichter umsah, merkte sie, dass alle von sich dasselbe glaubten. War es möglich, dass sie keinen Sinn mehr für die Realität hatten, dass sie alle darauf vertrauten, dass ihr Wahn Wirklichkeit werden würde? Sie konnte den Gedanken nicht ertragen.

Jill war die Beichtmutter der Gruppe geworden. Sie kamen mit ihren Problemen zu ihr, und sie hörte zu und versuchte zu helfen; mit Rat, mit ein paar Dollar oder mit einem Schlafplatz für ein oder zwei Wochen. Sie ging selten aus, weil sie auf ihre Karriere versessen war und niemanden kennengelernt hatte, der sie interessierte.

Wann immer Jill ein bisschen Geld beiseite legen konnte, schickte sie es ihrer Mutter mit langen, glühenden Briefen, in denen sie schrieb, wie gut es ihr gehe. Am Anfang hatte Jills Mutter ihr geantwortet und sie gedrängt, Buße zu tun und eine Gottesbraut zu werden. Aber als Jill gelegentlich in Filmen mitwirkte und mehr Geld nach Hause schickte, empfand die Mutter einen gewissen widerstrebenden Stolz. Sie hatte nichts mehr dagegen, dass Jill Schauspielerin war, aber sie beschwor sie, sich um Rollen in religiösen Filmen zu bemühen. »Ich bin sicher, dass Mr. DeMille Dir eine Rolle geben wird, wenn Du ihm Deinen Glauben darlegst«, schrieb sie.

Odessa war eine kleine Stadt. Jills Mutter arbeitete immer noch für die Öl-Leute, und Jill wusste, dass ihre Mutter von ihr reden und dass

David Kenyon früher oder später von ihrem Erfolg hören würde. Und so erfand Jill in ihren Briefen Geschichten über die vielen Stars, mit denen sie zusammen arbeitete, und war stets darauf bedacht, ihre Vornamen zu benutzen. Schnell lernte sie den Trick der Kleindarsteller, sich aufnehmen zu lassen, während sie neben dem Star stand. Von dem Fotografen bekam sie dann zwei Abzüge, von denen sie einen an ihre Mutter schickte und den anderen für sich behielt. Sie ließ in ihren Briefen durchblicken, dass sie kurz vor der großen Karriere stand.

In Südkalifornien, wo es nie schneit, ist es Brauch, dass eine NikolausParade den Hollywood Boulevard hinuntermarschiert und danach jeden Abend bis zum Heiligen Abend ein Nikolaus-Festzug seine Runde macht. Die Bürger von Hollywood feiern das Christkind ebenso gewissenhaft wie

ihre Nachbarn in nördlichen Landstrichen. Man kann sie nicht dafür verantwortlich machen, dass »Ehre sei Gott in der Höhe« und »Stille Nacht« und »Leise rieselt der Schnee« in einer Umgebung, die in einer Temperatur von 40 Grad Celsius schmachtet, aus Heim- und Autoradios strömen. Wie alle anderen rotblütigen, patriotischen Amerikaner sehnen sie sich inbrünstig nach einem altmodischen Weißen Weihnachten, aber da sie wissen, dass Gott diesen Wunsch nicht erfüllen wird, haben sie gelernt, das Fest auf ihre Weise zu begehen. Sie schmücken die Straßen mit Weihnachtskerzen und Christbäumen aus Plastik und mit Nikoläusen samt ihren Schlitten und Rentieren aus Pappmache. Filmstars und Charakterdarsteller wetteifern miteinander um das Vorrecht, in der NikolausParade mitzufahren, nicht etwa, um die Tausenden von Kindern und Erwachsenen, die vom Straßenrand den Umzug bewundern, in Weihnachtsstimmung zu versetzen, sondern weil die Parade live vom Fernsehen übertragen wird und ihre Gesichter von einer Küste zur anderen gesehen werden.

Jill Castle stand für sich an einer Ecke und sah die zahllosen Wagen vorbeifahren, von denen die Stars ihren Fans zuwinkten. Großmarschall der Parade war in diesem Jahr Toby Temple. Die begeisterte Menge jubelte frenetisch, als sein Festwagen vorbeifuhr. Jill erhaschte einen Blick auf Tobys strahlendes, angeregtes Gesicht, dann war er vorbei.

Es folgte die Hollywood High School Band, danach der Festwagen der Freimaurer und eine Marinekorps-Kapelle. Da waren Reiter in Cowboykostümen und ein Posaunenchor der Heilsarmee. Es gab Gesangsgruppen mit Fahnen und Wimpeln, einen Festwagen mit Tieren und Vögeln, die aus Blumen gesteckt waren; Lokomotiven, Clowns und Jazzbands. Es war vielleicht nicht der wahre Weihnachtsgeist, aber es war ein typisches Hollywood-Schauspiel.

Jill hatte früher einmal mit einigen der Darsteller auf den Festwagen gearbeitet. Einer von ihnen winkte ihr zu und rief zu ihr hinunter: »Hallo, Jill! Wie geht's?«

Mehrere Leute in der Menge drehten sich neidisch nach ihr um, und es schmeichelte ihrem Selbstgefühl sehr, dass den Leuten gezeigt wurde, dass auch sie dazugehörte. Eine tiefe, klangvolle Stimme neben ihr fragte: »Entschuldigen Sie – sind Sie Schauspielerin?«

Jill wandte sich um. Der Sprecher war ein großer, blonder, gutaussehender junger Mann von Mitte Zwanzig. Sein Gesicht war gebräunt, und seine Zähne waren weiß und ebenmäßig. Er trug alte Jeans und ein blaues Tweedjackett mit Lederflecken auf den Ellbogen.

»Ja.«

»Ich auch. Ich bin Schauspieler, meine ich.« Er grinste und fügte hinzu: »Hart kämpfend.«

Jill zeigte auf sich und bestätigte: »Genau wie ich.«

Er lachte. »Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?«

Er hieß Alan Preston und kam aus Sah Lake City, wo sein Vater Ältester in der Mormonenkirche war. »Ich wuchs mit zuviel Religion und zuwenig Spaß auf«, vertraute er Jill an.

Es ist beinahe prophetisch, dachte Jill. Wir kommen aus genau den gleichen Verhältnissen.

»Ich bin ein guter Schauspieler, glaube ich«, sagte Alan wehmütig, »aber das hier ist ein hartes Pflaster. Bei uns zu Hause will jeder einem helfen. Hier scheint es, dass jeder nur darauf aus ist, einen hereinzulegen.«

Sie unterhielten sich, bis das Cafe schloss, und inzwischen waren sie gute Freunde geworden. Als Alan fragte: »Kommen Sie mit zu mir?«, zögerte Jill nur einen Augenblick. »Gern.«

Alan Preston wohnte in einer Pension hinter der Highland Avenue, zwei Häuserblocks von der Hollywood Bowl entfernt. Er hatte ein winziges Hinterzimmer.

»Man müsste diese Pension >Die Müllkippe< nennen«, sagte er zu Jill. »Sie sollten die Sonderlinge sehen, die hier wohnen. Alle sind fest davon überzeugt, dass sie es noch schaffen, ganz groß im Showgeschäft herauszukommen.«

Genau wie wir, dachte Jill.

Die Einrichtung von Alans Zimmer bestand aus einem Bett, einer Kommode, einem Stuhl und einem kleinen, wackligen Tisch. »Ich warte nur darauf, dass ich in meinen Palast ziehen kann«, erklärte Alan.

Jill lachte. »Genau wie ich.«

Alan wollte sie in die Arme nehmen, doch sie erstarrte. »Bitte nicht.«

Er sah sie einen Augenblick an und sagte sanft: »Okay«, und Jill war plötzlich verlegen. Was tat sie denn im Zimmer dieses Mannes? Sie wusste die Antwort. Sie war verzweifelt einsam. Sie hungerte danach, mit jemandem sprechen zu können, hungerte danach, die Arme eines Mannes um sich zu fühlen, der sie hielt und sie ermutigte und ihr sagte, dass alles wunderbar werden würde. Es war so lange her. Sie dachte an David Kenyon, aber das war in einem anderen Leben, in einer anderen Welt. Sie verlangte so sehr nach ihm, dass es schmerzte. Etwas später, als Alan Preston seine Arme wieder um Jill legte, schloss sie die Augen, und es war David, der sie küsste und auszog und sie umarmte.

Jill verbrachte die Nacht bei Alan, und ein paar Tage danach zog er zu ihr in ihr kleines Apartment.

Alan Preston war der unkomplizierteste Mann, den Jill je kennengelernt hatte. Er war unbekümmert und locker, nahm jeden Tag, wie er kam, und sorgte sich nicht im Geringsten um das Morgen. Wenn Jill über seine Art Leben mit ihm diskutieren wollte, sagte er: »Erinnerst du dich an >Be-gegnung in Samarra<? Wenn es passieren soll, passiert es. Das Schicksal findet dich. Du brauchst es nicht zu suchen.«

Alan blieb noch lange, nachdem Jill gegangen war, um Arbeit zu suchen, im Bett. Wenn sie nach Hause kam, saß er in einem bequemen Sessel, las oder trank mit Freunden Bier. Er brachte kein Geld nach Hause.

»Du bist dämlich«, sagte eine von Jills Freundinnen zu ihr. »Er teilt dein Bett, trinkt deinen Schnaps. Schmeiß ihn raus.«

Aber Jill tat das nicht.

Zum erstenmal verstand Jill Harriet, verstand alle ihre Freundinnen, die sich verzweifelt an Männer klammerten, die sie nicht liebten.

Es war die Angst vor dem Alleinsein.

Jill war arbeitslos. In ein paar Tagen war Weihnachten, und sie war bei ihren letzten paar Dollar angelangt. Aber sie musste ihrer Mutter ein Weihnachtsgeschenk schicken. Alan löste das Problem. Er war eines

Morgens früh weggegangen, ohne zu sagen, wohin. Als er zurückkehrte, sagte er zu Jill: »Wir haben einen Job.«

»Was für einen?«

»Spielen, natürlich. Wir sind Schauspieler, nicht wahr?«

Jill schaute ihn von plötzlicher Hoffnung erfüllt an. »Ist das dein Ernst?«

»Natürlich. Ich habe einen Freund getroffen, der Filmregisseur ist. Er beginnt morgen mit einem Film. Es sind Rollen für uns beide drin. Pro Person hundert Piepen, für nur einen Tag Arbeit.«

»Das ist ja großartig!« rief Jill aus. »Hundert Dollar!« Damit konnte sie ihrer Mutter wunderschönen englischen Wollstoff für einen Wintermantel kaufen und genug übrigbehalten, um für sich eine elegante Handtasche zu erstehen.

»Es ist allerdings nur ein kleiner Filmemacher. Es wird in irgendeiner Garage gedreht.«

Jill sagte: »Was können wir verlieren? Es ist eine Rolle.«

Die Garage lag im Süden von Los Angeles, in einem Bezirk, der innerhalb einer Generation seine Exklusivität verloren hatte und auf ein Mittelklasse-Niveau herabgesunken war.

Sie wurden von einem kleinen dunkelhäutigen Mann an der Tür begrüßt, der Alan die Hand gab und sagte: »Hast es geschafft, Kumpel? Großartig.«

Er wandte sich Jill zu und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Du hast nicht übertrieben, Kumpel. Sie kann sich sehen lassen.«

Alan sagte: »Jill, das ist Peter Terraglio. Jill Castle.«

»Sehr erfreut!« sagte Jill.

»Pete ist der Regisseur«, erklärte Alan.

»Regisseur, Produzent, Cheftellerwäscher. Ich mache ein bisschen von allem. Kommt rein.« Er führte sie durch die leere Garage in einen Anbau, in dem einst Dienstboten untergebracht gewesen sein mochten. Vom Korridor gingen zwei Schlafzimmer ab. Die Tür zu dem einen stand offen. Als sie näher kamen, konnten sie das Geräusch von Stimmen hören. Jill ging zur Tür, blickte hinein und blieb erschrocken und ungläubig stehen.

Mitten im Zimmer lagen vier nackte Menschen auf einem Bett; ein Schwarzer, ein Mexikaner und zwei Mädchen, eines weiß und eines schwarz. Ein Kameramann leuchtete die Szene aus, während eines der Mädchen den Mexikaner leckte. Das Mädchen machte eine kurze Pause und sagte atemlos: »Los, los, du Schwanz. Werd hart.«

Jill fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Sie drehte sich in der Tür rasch um und wollte zurückgehen, spürte aber, wie ihre Beine nachgaben. Alan hatte seinen Arm um sie gelegt und stützte sie.

»Alles in Ordnung?«

Sie konnte ihm nicht antworten. Sie hatte rasende Kopfschmerzen, und ihr Magen drohte zu rebellieren.

»Warte hier«, befahl Alan.

In einer Minute war er mit einem Glas mit roten Pillen und einer Flasche Wodka wieder da. Er nahm zwei Pillen heraus und gab sie Jill. »Mit denen wirst du dich besser fühlen.«

Jill steckte die Pillen in den Mund, ihr Kopf hämmerte.

»Spül es mit dem da hinunter«, sagte Alan zu ihr.

Sie gehorchte.

»Hier.« Alan gab ihr noch eine Pille. Sie schluckte sie mit Wodka. »Du musst dich einen Augenblick hinlegen.«

Er führte Jill in das leere Schlafzimmer, und sie legte sich auf das Bett. Sie konnte sich nur langsam bewegen. Die Pillen begannen zu wirken. Ihr wurde allmählich besser. Die gallenbittere Flüssigkeit kam ihr nicht mehr hoch.

Fünfzehn Minuten später verschwanden die Kopfschmerzen. Alan gab ihr noch eine Pille. Ohne nachzudenken, schluckte Jill sie. Sie nahm noch einen Schluck Wodka. Es war so ein Segen, dass der Schmerz verschwand. Alan benahm sich seltsam, bewegte sich um das Bett herum. »Setz dich ruhig hin«, sagte sie.

»Ich sitze ganz ruhig.«

Jill fand das komisch und brach in Lachen aus. Sie lachte, bis ihr die Tränen das Gesicht herunterliefen. »Was – was waren das für Pillen?«

»Gegen deine Kopfschmerzen, Liebling.«

Terraglio schaute herein und sagte: »Wie geht's uns? Alles in Ordnung?«

»Alles – alles in bester Ordnung«, murmelte Jill.

Terraglio sah Alan an und nickte. »Fünf Minuten«, sagte er und eilte davon.

Alan beugte sich über Jill, streichelte ihre Brust und ihre Schenkel, hob ihren Rock und griff ihr zwischen die Beine. Es fühlte sich wunderbar aufregend an, und Jill wollte ihn plötzlich in sich haben.

»Hör zu, Baby«, sagte Alan, »ich würde dich nie bitten, etwas Schlechtes zu tun. Aber liebe mich einfach. Das tun wir sowieso, nur dass wir dieses Mal dafür bezahlt werden. Zweihundert Piepen; Und sie gehören dir ganz allein.«

Sie schüttelte den Kopf, aber es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie ihn von der einen Seite zur anderen bewegen konnte. »Das könnte ich nicht tun«, sagte sie undeutlich.

»Warum nicht?«

Sie musste sich konzentrieren, um sich zu erinnern. »Weil ich – ich ein Star werde. Kann keine Pornofilme machen.«

»Möchtest du, dass ich mit dir schlafe?«

»O ja! Ich will dich haben, David.«

Alan wollte etwas sagen, dann grinste er. »Klar, Baby. Ich will dich auch. Komm.«

Er nahm Jills Hand und zog sie vom Bett. Jill hatte das Gefühl, als würde sie schweben.

Sie waren im Gang und betraten das zweite Schlafzimmer.

»Okay«, sagte Terraglio, als er sie sah. »Wir behalten dieselbe Einstellung bei. Hier kommt frische Ware.«

»Soll ich die Laken wechseln?« fragte jemand.

»Was zum Donnerwetter glaubst du? Sind wir MGM?«

Jill klammerte sich an Alan. »David, es sind Leute hier.«

»Die gehen gleich«, versicherte ihr Alan. »Da.« Er nahm noch eine Pille heraus und gab sie Jill. Er hielt ihr die Flasche Wodka an die Lippen, und sie schluckte die Pille. Von diesem Augenblick an geschah alles wie in einem Nebel. David zog sie aus und sagte tröstliche Dinge. Dann waren sie beide auf dem Bett, nackt. Ein helles Licht flammte auf, blendete sie.

»Nimm ihn in den Mund«, sagte er, und es war David, der sprach.

»O ja.« Sie streichelte ihn liebevoll und steckte ihn in den Mund, und jemand im Zimmer sagte etwas, was Jill nicht verstehen konnte, und David rückte weg, so dass Jill gezwungen war, ihr Gesicht ins Licht zu drehen und in den grellen Glanz zu blinzeln. Sie wurde auf das Bett hin-untergestossen, und dann war David in ihr und liebte sie, und zur selben Zeit hatte sie seinen Penis im Mund. Sie liebte ihn so sehr. Die Lichter störten sie und das Gerede im Hintergrund. Sie wollte David sagen, er solle sie zum Schweigen bringen, aber sie war in einem Taumel der Verzückung, hatte einen Orgasmus nach dem anderen, bis sie glaubte, ihr Körper würde auseinanderreißen. David liebte sie, nicht Cissy, und er war zu ihr zurückgekommen, und sie waren verheiratet. Sie verbrachten wundervolle Flitterwochen.

»David…« sagte sie. Sie schlug die Augen auf, und der Mexikaner War auf ihr, strich mit der Zunge an ihrem Körper hinunter. Sie wollte ihn fragen, wo David war, aber sie konnte die Worte nicht herausbekommen. Sie schloss die Augen, während der Mann phantastische Dinge mit ihrem Körper tat. Als Jill wieder die Augen aufschlug, hatte sich der Mann auf irgendeine Weise in ein Mädchen mit langem roten Haar und großen Brüsten verwandelt, die über Jills Bauch strichen. Dann begann die Frau, etwas mit ihrer Zunge zu tun, und Jill schloss die Augen und wurde bewusstlos.

Die beiden Männer blickten auf die Gestalt auf dem Bett hinunter.

»Kommt sie wieder in Ordnung?« fragte Terraglio.

»Klar«, sagte Alan.

»Du schaffst wirklich was ran«, sagte Terraglio bewundernd. »Sie ist großartig. Sieht am besten von allen aus bisher.«

»Es ist mir ein Vergnügen.« Er streckte die Hand aus.

Terraglio zog ein dickes Bündel Banknoten aus der Tasche und blätterte zwei davon ab. »Hier. Willst du zu einem kleinen Weihnachtsessen vorbeikommen? Stella würde sich freuen, dich zu sehen.«

»Kann ich nicht«, sagte Alan. »Ich verbringe Weihnachten mit Frau und Kindern. Ich nehme das nächste Flugzeug nach Florida.«

»Diesmal haben wir einen tollen Film im Kasten.« Terraglio nickte zu dem bewußtlosen Mädchen hinunter. »Unter welchem Namen sollen wir sie laufen lassen?«

Alan grinste. »Warum nicht unter ihrem richtigen? Sie heißt Josephine Czinski. Wenn der Film in Odessa läuft, gibt das 'ne echte Überraschung für ihre Freunde.«

23.

Es war gelogen. Die Zeit war kein Freund, der alle Wunden heilte; sie war ein Feind, der die Jugend verwüstete und zerstörte. Die Jahreszeiten kamen und gingen, und jede Jahreszeit brachte eine neue Ernte nach Hollywood. Die Konkurrenz kam per Anhalter, auf Motorrädern und in Zügen und Flugzeugen. Sie waren alle achtzehn Jahre alt, wie Jill einst gewesen war. Sie waren langbeinig und geschmeidig, mit frischen, begierigen jungen Gesichtern und mit strahlendem Lächeln, für das sie keine Pillen brauchten. Und mit jeder neuen Ernte, die hereinkam, wurde Jill ein Jahr älter. Eines Tages blickte sie in den Spiegel, und es war das Jahr 1964, und sie war fünfundzwanzig geworden.

Zuerst hatte die Tatsache, dass sie diesen pornographischen Film gemacht hatte, sie entsetzt. Sie hatte in der Angst gelebt, dass ein Besetzungschef davon erfahren und sie auf die schwarze Liste setzen würde. Aber als die Wochen und dann die Monate vergingen, vergaß Jill allmählich ihre Ängste. Doch sie hatte sich gewandelt. Jedes der folgenden Jahre hatte seinen Stempel auf ihr hinterlassen, eine Patina der Härte, wie die Jahresringe an einem Baum. Sie begann, alle Leute zu hassen, die ihr keine Chance boten, die Leute, die Versprechungen machten, ohne sie je zu halten.

Sie hatte sich auf eine endlose Reihe monotoner, undankbarer Jobs eingelassen. Sie war Sekretärin und Empfangsdame und Köchin und Babysitter und Modell und Kellnerin und Telephonistin und Verkäuferin. Natürlich nur, bis sie »den Anruf« bekam.

Aber »der Anruf« kam nie. Und Jills Verbitterung wuchs. Sie machte gelegentlich ein paar Schritte oder sprach einen einzelnen Satz, aber das führte zu nichts. Sie sah in den Spiegel und nahm die Botschaft der Zeit wahr: Eile. Wenn sie ihr Spiegelbild sah, war es wie eine Rückschau in die Schichten der Vergangenheit. Es gab immer noch Spuren von dem frischen jungen Mädchen, das vor sieben endlosen Jahren nach Hollywood gekommen war. Aber das frische junge Mädchen hatte Fältchen in den Augenwinkeln und tiefere Linien, die von den Nasenflügeln zum Kinn hinunterliefen, Warnsignale der schnell dahinfließenden Zeit und des nicht errungenen Erfolges, Erinnerungen an all die zahllosen, trostlosen kleinen Niederlagen. Eile, Jill, eile!

Deshalb beschloss sie, dass es an der Zeit sei, ja zu sagen, als Fred Kapper, ein achtzehnjähriger Regieassistent bei der Fox, ihr sagte, er habe eine gute Rolle für sie, wenn sie mit ihm ins Bett ginge.

Sie traf ihn im Studio in seiner Mittagspause.

»Ich habe bloß eine halbe Stunde«, sagte er. »Mal überlegen, wo wir ein ruhiges Plätzchen finden können.« Er stand einen Augenblick stirnrunzelnd, in Gedanken versunken da, dann hellte sich seine Miene auf. »Der Synchronisierraum. Los.«

Der Synchronisierraum war eine kleine, schalldichte Vorführkammer, wo alle Tonstreifen auf einer Spule vereinigt waren.

Fred Kapper blickte sich in dem kahlen Raum um und sagte: »Scheiße! Hier war früher eine kleine Couch.« Er sah auf seine Uhr. »Es muss auch so gehen. Zieh dich aus, Schätzchen. Die Synchronisier-Crew wird in zwanzig Minuten zurück sein.«

Jill sah ihn einen Augenblick an, kam sich wie eine Hure vor und Hasste ihn. Aber sie zeigte es nicht. Sie hatte es auf ihre Art versucht und war gescheitert. Jetzt versuchte sie es auf die andere Art. Sie zog ihr Kleid und ihren Slip aus. Kapper gab sich keine Mühe, sich auszuziehen. Er öffnete nur seinen Reißverschluss und holte seinen geschwollenen Penis heraus. Er sah Jill an und grinste: »Was für ein schöner Arsch. Beug dich vor.«

Jill blickte sich nach etwas um, worauf sie sich stützen könnte. Vor ihr stand die Lachmaschine, eine Musiktruhe auf Rädern, die durch einen Knopfdruck von außen bedient werden konnte.

»Los, beug dich vor.«

Jill zögerte einen Augenblick, beugte sich dann vor, stützte sich mit den Händen ab. Kapper näherte sich ihr von hinten, und Jill fühlte seine Finger ihre Backen teilen. Einen Augenblick später spürte sie, wie die Spitze seines Penis gegen ihren After drückte. »Warte«, sagte Jill. »Nicht da! Ich – ich kann nicht -«

»Schrei für mich, Baby!«, und er stieß sein Glied in sie hinein, riß sie in einem schrecklichen Schmerz auf. Mit jedem Schrei drang er tiefer in sie ein. Sie versuchte krampfhaft zu entkommen, aber er packte ihre Hüften und hielt sie fest. Sie verlor das Gleichgewicht. Als sie die Hand ausstreckte, um sich abzustützen, berührten ihre Finger die Knöpfe der Lachmaschine, und unverzüglich war der Raum von wahnsinnigem Gelächter erfüllt. Während Jill sich in Schmerzen wand, schlugen ihre Hände auf die Maschine, und eine Frau kicherte, und eine Menge lachte schallend, und ein Mädchen kicherte, und hundert Stimmen schnatterten und kicherten und brüllten über einen obszönen Witz. Das Echo hallte von den Wänden wider, während Jill vor Schmerzen aufschrie.

Dann spürte sie eine Folge von Zuckungen, und einen Augenblick später wurde das fremde Stück Fleisch aus ihrem Innern zurückgezogen, und langsam verklang das Gelächter im Raum. Jill stand still, mit geschlossenen Augen und kämpfte gegen den Schmerz an. Als sie sich schließlich aufrichten und umdrehen konnte, zog Fred Kapper seinen Reißverschluss hoch.

»Du warst sensationell, Liebling. Diese Schreie bringen mich richtig in Fahrt.«

Und Jill fragte sich, was für ein Ungeheuer er sein würde, wenn er neunzehn war.

Er sah, dass sie blutete. »Mach dich sauber und komm zum Studio zwölf hinüber. Heute nachmittag geht's los.«

Nach dieser ersten Erfahrung war das übrige leicht. Jill arbeitete regelmäßig in allen Studios: Warner Brothers, Paramount, MGM, Universal, Columbia, Fox. Wirklich überall, außer bei Disney, wo es keinen Sex gab.

Jill bereitete sich auf die Rolle, die sie im Bett spielte, so ernsthaft vor, als wäre es eine Hauptrolle in einem Film. Sie las Bücher über orientalische Erotik und kaufte Liebestränke und Reizmittel in einem Sex-Laden am Santa Monica Boulevard. Sie benutzte eine Lotion, die ihr eine Stewardeß aus dem Orient mitbrachte, mit einem Hauch von Immergrün darin. Sie lernte, ihre Liebhaber langsam und sinnlich zu massieren. Sie rieb die Lotion in die Brust ihres Partners und über seinen Magen hinunter in die Leistengegend ein, machte sanft kreisende Bewegungen. »Schließ die Augen und entspanne dich«, flüsterte sie.

Ihre Finger waren so leicht wie Schmetterlingsflügel, bewegten sich an seinem Körper hinunter und liebkosten ihn. Sobald er eine Erektion bekam, nahm Jill das anschwellende Glied in die Hand und streichelte es sanft, strich mit ihrer Zunge zwischen seinen Beinen hinunter, bis er sich vor Wollust wand, und wanderte langsam bis zu seinen Zehen hinunter. Dann drehte Jill ihn herum, und alles fing von vorn an. War das Glied eines Mannes schlaff, führte sie es sanft zwischen die Lippen ihrer Scheide und fühlte es hart und steif werden. Sie brachte den Männern bei, wie sie kurz vor dem Orgasmus aufhören und erneut einen Höhepunkt erreichen konnten, so dass ihr Orgasmus schließlich wie eine Explosion kam. Sie hatten ihr Vergnügen, zogen sich an und gingen. Keiner blieb lange genug, um ihr die schönsten fünf Minuten des Liebesspiels zu geben, die Ruhe danach, den friedlichen Ausklang in den Armen eines Geliebten.

Eine Rolle für Jill war ein geringer Preis in Anbetracht des Vergnügens, das sie den entscheidenden Männern, den Regieassistenten, den Regisseuren und den Produzenten, bot. In der ganzen Stadt war sie als »heiße Ware« bekannt, und jeder wollte seinen Teil davon haben. Und Jill gab ihn. Jedesmal war weniger Selbstachtung und mehr Hass und Verbitterung dabei.

Sie wusste nicht, wie oder wann, aber sie wusste, dass diese Stadt eines Tages für das bezahlen würde, was sie ihr angetan hatte.

Im Laufe der nächsten fünf Jahre erschien Jill in Dutzenden von Filmen, Fernsehshows und Reklamesendungen. Sie war die Sekretärin, die »Guten Morgen, Mr. Stevens« sagte, und der Babysitter, der sagte: »Machen Sie sich keine Sorgen, genießen Sie den Abend. Ich bringe die Kinder zu Bett«, und die Fahrstuhlführerin, die meldete: »Sechster Stock«, und das Mädchen, das vertraulich mitteilte: »Alle meine Freundinnen benutzen elegante Unterwäsche.« Aber etwas wirklich Entscheidendes geschah nicht. Sie war ein namenloses Gesicht in der Menge. Sie war im Geschäft, und doch war sie es nicht, und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie den Rest ihres Lebens so verbringen würde.

1969 starb Jills Mutter, und Jill fuhr zur Beerdigung nach Odessa. Es war ein Spätnachmittag, und knapp ein Dutzend Leute nahmen an der Feier teil. Keine der Frauen, für die ihre Mutter die ganzen Jahre gearbeitet hatte, war anwesend. Einige der Trauergäste waren Mitglieder der Erweckungsbewegung. Jill erinnerte sich, wie verängstigt sie bei diesen Versammlungen gewesen war. Aber ihre Mutter hatte einen gewissen Trost darin gefunden.

Eine vertraute Stimme sagte ruhig: »Hallo, Josephine.« Sie drehte sich um, und er stand neben ihr, und sie blickte ihm in die Augen, und es war, als wären sie nie getrennt gewesen, als hätten sie einander immer gehört. Die Jahre hatten seinen Gesichtszügen mehr Reife verliehen, seinen Schläfen eine Spur von Grau hinzugefügt. Aber er hatte sich nicht verändert, war immer noch David, ihr David. Und doch waren sie Fremde.

Er sagte: »Darf ich dir mein Beileid aussprechen.«

Und sie hörte sich erwidern: »Danke, David.«

Wie in einem Theaterstück.

»Ich muss dich sprechen. Können wir uns heute abend treffen?« Seine Stimme war ein einziges Flehen.

Sie dachte an ihr letztes Zusammensein und an sein Verlangen und das Versprechen und die Träume. Und sie sagte: »Na gut, David.«

»Am See? Hast du einen Wagen?«

Sie nickte.

»Ich bin in einer Stunde da.«

Cissy stand nackt vor dem Spiegel und wollte sich gerade zu einem Abendessen anziehen, als David nach Hause kam. Er betrat ihr Schlafzimmer und musterte sie. Er konnte seine Frau ganz leidenschaftslos betrachten, denn er empfand nichts für sie. Sie war schön. Cissy hatte auf ihre Figur geachtet, hatte sie mit Diät und Gymnastik in Form gehalten. Ihr Körper war ihr Aktivposten, und David hatte Grund zu der Annahme, dass sie ihn großzügig mit anderen teilte, mit ihrem Golflehrer, ihrem Skilehrer, ihrem Flugausbilder. Aber er konnte ihr keinen Vorwurf machen. Es war schon lange her, dass er mit ihr geschlafen hatte.

Anfangs hatte er wirklich geglaubt, dass sie in eine Scheidung einwilligen würde, wenn Mama Kenyon starb. Aber seine Mutter lebte immer noch und fühlte sich wohl. David konnte nicht sagen, ob er überlistet worden oder ob ein Wunder geschehen war. Ein Jahr nach ihrer Heirat hatte David zu Cissy gesagt: »Ich glaube, wir sollten jetzt über die Scheidung reden.«

Cissy hatte geantwortet: »Was für eine Scheidung?« Und als sie sein Erstaunen sah, lachte sie. »Ich bin gerne Mrs. David Kenyon, Liebling. Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich für diese kleine polnische Hure aufgeben?«

Er hatte sie geohrfeigt.

Am nächsten Tag war er zu seinem Anwalt gegangen. Nachdem David die Situation geschildert hatte, sagte der Anwalt: »Ich kann Ihnen die Scheidung verschaffen. Aber wenn Cissy entschlossen ist, sich nicht von Ihnen zu trennen, David, wird es Sie verdammt teuer zu stehen kommen.«

»Verschaffen Sie sie mir.«

Nachdem Cissy die Scheidungsklage erhalten hatte, schloss sie sich in Davids Badezimmer ein und nahm eine Überdosis Schlaftabletten.

Es hatte Davids und zweier seiner Diener bedurft, die schwere Tür einzuschlagen. Cissy hatte zwei Tage mit dem Tode gerungen. David hatte sie in dem Privatkrankenhaus besucht, in das sie gebracht worden war.

»Tut mir leid, David«, hatte sie gesagt. »Ich könnte nicht ohne dich leben. So einfach ist das.«

Am nächsten Morgen hatte er die Scheidungsklage zurückgezogen.

Das war vor fast zehn Jahren gewesen, und Davids Ehe war zu einer Art Waffenstillstand geworden. Er hatte das Kenyon-Imperium übernommen und verwandte seine ganze Energie auf dessen Leitung. Er fand körperlichen Trost bei einer Kette von Mädchen, die er sich in den verschiedenen Städten der Welt hielt, wohin seine Geschäfte ihn führten.

Josephine aber konnte er nicht vergessen.

David hatte keine Ahnung, wie sie über ihn dachte. Er wollte es wissen, und doch fürchtete er sich davor, es herauszufinden. Sie hatte allen Grund, ihn zu hassen. Als er die Nachricht vom Tod ihrer Mutter erhalten hatte, war er zur Beerdigung gegangen, nur um sie zu sehen. Bei ihrem Anblick wusste er, dass sich nichts geändert hatte. Jedenfalls nicht für ihn. Die Jahre waren in einem Augenblick hinweggefegt, und er liebte sie noch genauso wie damals.

Ich muss dich sprechen… können wir uns heute abend treffen… Na gut,

David…

Am See.

Cissy drehte sich um, als sie Davids prüfenden Blick im Spiegel bemerkte. »Du solltest dich umziehen, David. Wir kommen zu spät.«

»Ich treffe mich mit Josephine. Wenn sie mich noch will, werde ich sie heiraten. Ich glaube, es ist wirklich an der Zeit, diese Farce zu beenden, findest du nicht auch?«

Sie stand da und sah David an, ihr nackter Körper wurde im Spiegel reflektiert.

»Ich muss mich anziehen«, sagte sie.

David nickte und ging hinaus. Er betrat das große Wohnzimmer, schritt auf und ab und bereitete sich auf die Auseinandersetzung vor. Cissy würde sich nach all diesen Jahren sicherlich nicht an eine Ehe klammern wollen, die nur noch eine leere Hülle war. Er würde ihr alles geben, was sie -

Er hörte, wie Cissys Wagen gestartet wurde, und dann das Kreischen von Reifen, als er die Auffahrt hinunterschoss. David rannte zur Eingangstür und blickte hinaus. Cissys Maserati raste auf die Landstraße zu.

Hastig stieg David in seinen Wagen, ließ den Motor an und folgte Cissy die Auffahrt hinunter.

Als er die Landstraße erreichte, verschwand ihr Wagen gerade in der Entfernung. Er trat aufs Gaspedal. Der Maserati war schneller als Davids Rolls-Royce. Er gab noch mehr Gas: 105… 120… 135 km/h. Ihr Wagen war nicht mehr in Sichtweite.

150… 165… immer noch nichts von ihr zu sehen.

Er erreichte eine kleine Anhöhe, und da sah er den Wagen wie ein winziges Spielzeugauto um eine Kurve schießen. Die Reifen schienen kaum noch den Boden zu berühren, der Wagen schlingerte gefährlich über die Landstraße, fing sich dann wieder und erreichte die nächste Kurve. Doch plötzlich schoss er über den Straßenrand hinaus, wurde in die Luft katapultiert, überschlug sich und landete auf einem Feld.

David zog den wie leblosen Körper gerade noch aus dem Wagen, bevor der geborstene Benzintank Feuer fing.

Es war sechs Uhr am nächsten Morgen, als der Chefarzt den Operationssaal verließ und zu David sagte: »Sie wird es schaffen.«

Jill erreichte den See kurz vor Sonnenuntergang. Sie fuhr dicht an das Wasser heran, stellte den Motor ab und lauschte auf das Rauschen des Windes in der Luft. Ich weiß nicht, wann ich je so glücklich gewesen bin, dachte sie. Und dann korrigierte sie sich: Doch, hier, mit David. Und sie erinnerte sich an seinen Körper und wurde beinahe bewusstlos vor Verlangen. Was immer ihr Glück zerstört hatte, es zählte nicht mehr. Das hatte sie im selben Augenblick gefühlt, als sie David gesehen hatte. Er liebte sie noch immer. Sie wusste es.

Sie sah die blutrote Sonne in das ferne Wasser tauchen, und die Dunkelheit brach herein. Sie wünschte, David würde sich beeilen.

Eine Stunde verstrich, dann zwei, und die Luft wurde kühl. Sie saß im Wagen, ganz still. Sie betrachtete den riesigen, am Himmel treibenden Mond. Sie horchte auf die Nachtgeräusche ringsum und sagte sich: David wird kommen.

Sie saß die ganze Nacht so da, und am Morgen, als die Sonne den Horizont zu färben begann, ließ sie den Wagen an und fuhr heim nach Hollywood.

24.

Jill saß vor ihrem Frisiertisch und musterte ihr Gesicht im Spiegel. Sie entdeckte ein kaum sichtbares Fältchen im Augenwinkel und runzelte die Stirn. Es ist unfair, dachte sie. Ein Mann kann sich einfach gehenlassen. Er kann graues Haar, einen Spitzbauch und ein Gesicht wie eine Landkarte haben, niemand findet etwas dabei. Aber wenn eine Frau auch nur eine winzige Falte hat… Sie begann ihr Make-up aufzutragen. Bob Schiffer, Hollywoods Star unter den Maskenbildnern, hatte ihr einige Tricks beigebracht. Sie trug eine flüssige Grundierung anstelle des Puders auf, den sie früher benutzt hatte. Puder trocknete die Haut aus, während die Grundierung sie feucht hielt. Als nächstes konzentrierte sie sich auf ihre Augenpartie, trug das Make-up unter den Augen drei oder vier Schattierungen heller auf als das übrige, um die Augenringe abzudecken, verteilte ein wenig Lidschatten, um die Augen zu betonen, befestigte dann sorgfältig falsche Wimpern über ihren eigenen und bog sie nach oben. Sie bürstete ein wenig Mastix auf ihre eigenen und die falschen Wimpern, um so die Augen noch größer erscheinen zu lassen. Dann tupfte sie zarte Punkte auf das Unterlid. Danach trug Jill Lippenstift auf und puderte die Lippen, ehe sie eine zweite Schicht Lippenstift auftrug. Auf die Wangen kam ein wenig Rouge, bevor sie sich puderte, wobei sie die Partien um die Augen aussparte, wo der Puder die schwachen Fältchen nur noch hervorheben würde.

Jill setzte sich im Sessel zurück und prüfte die Wirkung im Spiegel. Sie

sah hinreißend aus. Eines Tages würde sie zum Klebetrick greifen müssen, aber das hatte Gott sei Dank noch viele Jahre Zeit. Jill kannte ältere Schauspielerinnen, die zu dieser Täuschung griffen. Sie befestigten winzige Klebestreifen dicht unter ihrem Haaransatz, an denen Fäden befestigt waren, die sie um den Kopf banden und unter ihrem Haar verbargen. Mit deren Hilfe sollte die erschlaffte Gesichtshaut gestrafft werden, eine Art Gesichts-Lifting ohne die Kosten und den Schmerz eines chirurgischen Eingriffs. Ähnlich ging man vor, um Hängebrüste zu kaschieren. Ein um die Brust gelegter und weit oben befestigter Klebestreifen ermöglichte eine einfache Lösung dieses Problems. Jills Brüste waren noch fest.

Nachdem sie ihr weiches, schwarzes Haar gekämmt hatte, sah sie noch einmal in den Spiegel, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass sie sich beeilen musste.

Sie hatte eine Besprechung wegen der »Toby-Temple-Show«.

25.

Eddie Berrigan, der Besetzungschef für Tobys Show, war verheiratet. Einer seiner Freunde stellte ihm dreimal in der Woche sein Apartment zur Verfügung. Einer der Nachmittage war für Berrigans Geliebte reserviert, die anderen beiden für das, was er als »altes Talent« und »neues Talent« bezeichnete.

Jill Castle war ein »neues Talent«. Mehrere Kollegen hatten Eddie erzählt, dass Jill phantastische Vorspiele kannte und auch sonst nicht untalentiert war. Eddie war scharf darauf, sie auszuprobieren. Jetzt war eine Rolle in einem Sketch zu besetzen, die genau das richtige für sie war. Für diese Rolle brauchte man nur sexy auszusehen, ein paar Sätze zu sprechen und abzugehen.

Jill las Eddie vor, und er war zufrieden. Sie war keine Kate Hepburn, aber das verlangte auch niemand. »Sie können die Rolle haben«, sagte er.

»Danke, Eddie.«

»Hier ist Ihr Text. Die Proben beginnen morgen früh Punkt zehn. Seien Sie pünktlich und haben Sie Ihren Text parat.«

»Selbstverständlich.« Sie wartete.

»Äh – wie war's mit einer Tasse Kaffee heute nachmittag?«

Jill nickte.

»Ein Freund von mir hat ein Apartment im Allerton.«

»Ich weiß, wo es ist«, sagte Jill.

»Apartment sechs D. Drei Uhr.«

Die Proben verliefen glatt. Es würde eine gute Show werden. Zu den Hauptattraktionen gehörten ein großartiges Tanzensemble aus Argentinien, eine Rock-and-Roll-Band, ein exzellenter Zauberer und ein berühmter Gesangsstar. Nur Toby Temple war nicht anwesend. Jill sprach Eddie Berrigan darauf an. »Ist er krank?«

Eddie brummte: »Das Fußvolk probt, während der alte Toby sich amüsiert. Er wird zur Aufnahme aufkreuzen und dann verduften.«

Toby Temple erschien Sonnabend früh und rauschte wie ein König ins Atelier. Aus einer Ecke des Studios beobachtete Till, wie er, seine drei Handlanger, Clifton Lawrence und zwei abgetakelte Komiker im Gefolge, hereinkam. Der Auftritt erfüllte Jill mit Verachtung. Sie wusste alles über Toby Temple. Er war krankhaft selbstgefällig und prahlte, wie es hieß, damit, dass er mit jeder hübschen Schauspielerin in Hollywood im Bett gewesen sei. Keine hatte ihm bisher einen Korb gegeben. O ja, Jill wusste Bescheid über den großen Toby Temple.

Der Regisseur, ein reizbarer, nervöser Mann namens Harry Durkin, stellte Toby die Mitwirkenden vor. Mit den meisten hatte Toby bereits gearbeitet. Hollywood war ein Dorf, und die Gesichter wurden einem bald vertraut. Jill Castle war Toby noch nie begegnet. Sie sah in ihrem beigefarbenen Leinenkleid schön, kühl und elegant aus.

»Und was spielen Sie, Süße?« fragte Toby.

»Ich bin im Astronauten-Sketch, Mr. Temple.«

Er schenkte ihr ein warmes Lächeln und sagte: »Meine Freunde nennen mich Toby.«

Man begann mit der Arbeit. Die Probe verlief ungewöhnlich glatt, und Durkin merkte schnell, weshalb. Toby wollte Jill imponieren. Er hatte jedes andere Mädchen in der Show aufs Kreuz gelegt, und Jill bedeutete eine neue Herausforderung für ihn.

Der Sketch, den Toby mit Jill spielte, war der Höhepunkt der Show. Toby fügte für Jill ein paar zusätzliche komische Zeilen ein. Nach der Probe sagte er zu ihr: »Wie war's mit einem Drink?«

»Herzlichen Dank, ich trinke nicht.« Jill lächelte und verschwand.

Sie hatte eine Verabredung mit einem Besetzungschef, und das war wichtiger als Toby Temple. Der war eine Eintagsfliege. Ein Besetzungschef dagegen bedeutete regelmäßige Beschäftigung.

Als die Show an jenem Abend gesendet wurde, war sie ein Riesenerfolg, eine der besten, die Toby Temple je gemacht hatte.

»Wieder ein Wurf«, sagte Clifton zu Toby. »Dieser Astronauten-Sketch war erstklassig.«

Toby grinste. »Yeah. Mir gefällt das Hühnchen darin. Die hat was Besonderes.«

»Sie ist hübsch«, bestätigte Clifton. Jede Woche gab es ein anderes Mädchen. Alle hatten was Besonderes, und alle gingen mit Toby ins Bett und waren am nächsten Tag vergessen.

»Arrangieren Sie ein Abendessen für uns drei, Cliff.«

Es war keine Bitte. Es war ein Befehl. Vor einigen Jahren noch hätte

Clifton Toby geantwortet, er solle sich selbst darum kümmern. Doch heute war das anders. Wenn Toby etwas von einem verlangte, tat man es. Er war ein König, und dies war sein Königreich, und wer nicht ausgestoßen werden wollte, musste sich seine Gunst erhalten.

»Klar, Toby«, sagte Clifton. »Ich werde es arrangieren.«

Clifton ging durch den Flur zur Garderobe, wo die Tänzerinnen und Schauspielerinnen sich umzogen. Er klopfte einmal an und trat ein. Im Raum befand sich ein Dutzend mehr oder weniger bekleidete Mädchen. Sie erwiderten seinen Gruß, schenkten ihm aber weiter keine Aufmerksamkeit. Jill hatte sich abgeschminkt und zog gerade ihren Mantel an. Clifton ging auf sie zu. »Sie waren sehr gut«, sagte er.

Jill warf ihm im Spiegel einen uninteressierten Blick zu. »Danke.« Es hatte eine Zeit gegeben, da es aufregend gewesen wäre, Clifton Lawrence so nahe zu sein. Er hätte ihr jede Tür in Hollywood öffnen können. Jetzt aber wusste jeder, dass er nur noch Toby Temples Handlanger war.

»Ich habe eine gute Nachricht für Sie. Mr. Temple möchte mit Ihnen zu Abend essen.«

Jill strich sich mit den Fingerspitzen durchs Haar und sagte: »Bestellen Sie ihm, dass ich müde bin. Ich gehe schlafen.« Und sie ging hinaus.

Das Essen an jenem Abend war höchst trübselig. Toby, Clifton Lawrence und Durkin, der Regisseur, saßen im La Rue in einer der Nischen. Durkin hatte vorgeschlagen, ein paar Mädchen aus der Show einzuladen, aber Toby hatte das wütend abgelehnt.

Der Kellner fragte: »Möchten Sie etwas bestellen, Mr. Temple?«

Toby wies auf Clifton und antwortete: »Ja. Bringen Sie dem Idioten dort eine Portion Zunge.«

Clifton stimmte in das Gelächter der anderen ein, um so zu tun, als handele es sich um einen Scherz.

Toby fuhr ihn an: »Ich habe Sie um die einfachste Sache der Welt gebeten: ein Mädchen zum Essen einzuladen. Wer hat Sie geheißen, sie zu verscheuchen?«

»Sie war müde«, erklärte Clifton. »Sie sagte -«

»Kein Weibsbild ist zu müde, um mit mir zu essen. Sie müssen etwas gesagt haben, was sie in Rage gebracht hat.« Toby hatte seine Stimme erhoben. Die Leute in der benachbarten Nische starrten zu ihnen herüber. Toby schenkte ihnen sein jungenhaftes Lächeln und sagte: »Das ist ein Abschiedsessen, Herrschaften.« Er zeigte auf Clif-ton. »Er hat sein Gehirn dem Zoo gespendet.«

Gelächter klang herüber. Clifton zwang sich zu einem Grinsen, aber unter dem Tisch hatte er seine Hände zu Fäusten geballt.

»Wollen Sie wissen, wie dumm er ist?« fragte Toby. »In Polen erzählt man sich Witze über ihn.«

Das Gelächter schwoll an. Clifton wäre am liebsten aufgestanden und gegangen, doch er wagte es nicht. Durkin saß bestürzt da, war aber klug genug, nichts zu sagen. Toby hatte jetzt die Aufmerksamkeit mehrerer benachbarter Nischen auf sich gezogen. Er hob wieder die Stimme und setzte dazu sein bezauberndstes Lächeln auf. »Cliff Lawrence hat seine Dummheit redlich verdient. Als er geboren wurde, hatten seine Eltern einen mächtigen Streit seinetwegen. Seine Mutter behauptete, er sei nicht ihr Kind.«

Glücklicherweise ging der Abend schließlich zu Ende. Doch schon am nächsten Morgen würden in der ganzen Stadt Clifton-Lawrence-Geschichten kursieren.

In jener Nacht lag Clifton Lawrence schlaflos im Bett. Er fragte sich, warum er es geduldet hatte, dass Toby ihn so demütigte. Die Antwort war einfach genug: Geld. Tobys Einnahmen brachten ihm jährlich mehr als eine viertel Million Dollar. Cliftons Lebensstil war teuer und aufwendig, und er hatte nicht einen Cent gespart. Da er keine anderen Klienten mehr hatte, brauchte er Toby. Das war der springende Punkt. Toby wusste das, und Clifton zu quälen war für ihn ein Sport geworden. Clifton musste aussteigen, ehe es zu spät war.

Aber er wusste, dass es bereits zu spät war.

In diese Lage war er durch seine Zuneigung zu Toby geraten: er hatte ihn wirklich sehr gern gehabt. Er hatte miterlebt, wie Toby andere vernichtete – Frauen, die sich in ihn verliebt hatten; Komiker, die mit ihm konkurrieren wollten; Kritiker, die ihn verrissen. Doch das waren immer die anderen gewesen. Clifton hätte nie geglaubt, dass Toby sich auch auf ihn stürzen würde. Sie standen sich einfach zu nahe, Clifton hatte zu viel für ihn getan. ,

Aber er fürchtete sich vor dem Gedanken, was die Zukunft für ihn bereithalten mochte.

Normalerweise hätte Toby Jill Castle keines zweiten Blickes mehr gewürdigt. Aber Toby war es nicht gewöhnt, dass man ihm etwas verweigerte, was er haben wollte. Jills abschlägige Antwort saß wie ein Stachel in ihm. Er lud sie erneut zum Essen ein. Als sie wieder ablehnte, tat Toby das als dummes Spiel ab und beschloss, sie zu vergessen. Nun war es aber so, dass Jill Toby nie hätte täuschen können, wenn es wirklich ein Spiel gewesen wäre, weil Toby die Frauen zu gut kannte. Nein, er vermutete, dass Jill tatsächlich nicht mit ihm ausgehen wollte, und dieser Gedanke fraß an ihm. Er konnte sie nicht aus seinen Gedanken verbannen.

Beiläufig erwähnte Toby Eddie Berrigan gegenüber, dass es vielleicht ein guter Gedanke wäre, Jill Castle in der nächsten Show wieder einzusetzen. Eddie rief sie an. Sie sagte ihm, sie hätte eine Nebenrolle in einem Western angenommen. Als Eddie das Toby mitteilte, war der Komiker außer sich.

»Sagen Sie ihr, sie soll alles absagen, ganz egal, was«, fuhr er ihn an. »Wir werden ihr mehr bezahlen. Um Himmels willen, das ist die Fernsehshow Nummer eins! Was ist los mit diesem dämlichen Weibsbild?«

Eddie rief Jill wieder an und sagte ihr, was Toby meinte. »Er möchte Sie unbedingt wieder in seiner Show haben, Jill. Können Sie das einrichten?«

»Tut mir leid«, erwiderte Jill. »Ich habe einen Vertrag mit Universal. Aus dem komme ich nicht heraus.«

Sie würde es auch gar nicht versuchen. Eine Schauspielerin kam in Hollywood nicht voran, wenn sie aus einem Vertrag ausstieg. Toby Temples Show bedeutete für Jill lediglich eine Eintagsfliege. Am nächsten Abend rief der Große Mann sie höchstpersönlich an. Seine Stimme klang warm und verführerisch.

»Jill? Hier ist Ihr kleiner alter Co-Star, Toby.«

»Hallo, Mr. Temple.«

»Ach-, lassen Sie das! Was soll der Mister-Quatsch?« Keine Antwort. »Mögen Sie Baseball?« fragte Toby. »Ich habe Logenplätze.«

»Nein.«

»Ich auch nicht«, sagte er lachend. »Das war nur eine Testfrage. Hören Sie, wie war's mit einem Dinner am Sonnabendabend bei mir? Ich habe den Chefkoch vom Pariser Maxim anheuern können. Er -«

»Tut mir leid. Ich habe eine Verabredung, Mr. Temple.« Nicht eine Andeutung von Interesse war in ihrer Stimme.

Toby merkte, dass er den Hörer fester packte. »Und wann haben Sie mal Zeit?«

»Ich bin ein schwer arbeitendes Mädchen. Ich gehe kaum aus. Trotzdem danke für die Einladung.«

Und die Leitung war tot. Die Kanaille hatte aufgelegt – eine miese kleine Komparsin hatte ein Gespräch mit Toby Temple abgebrochen. Keine einzige der Frauen, die Toby Temple kannte, hätte nicht ein Jahr ihres Lebens hingegeben, um eine Nacht mit ihm zu verbringen, und dieses dumme Miststück hatte ihn abblitzen lassen! Er war außer sich vor Wut, und er ließ sie an jedem in seiner Umgebung aus. Nichts war ihm recht. Das Drehbuch war zum Kotzen, der Regisseur war ein Idiot, die Musik war entsetzlich und die Schauspieler miserabel. Er beorderte Eddie Ber-rigan, den Besetzungschef, in seine Garderobe.

»Was wissen Sie über Jill Castle?« fragte Toby.

»Nichts«, antwortete Eddie sofort. Er war doch nicht verrückt. Wie jeder Mitwirkende der Show wusste er genau, was los war. Wie immer die Sache ausging, er hatte keine Lust, da hineingezogen zu werden.

»Hurt sie rum?«

»Nein, Sir«, sagte Eddie bestimmt. »Wenn sie es täte, wüsste ich's.«

»Holen Sie Erkundigungen über sie ein«, befahl Toby. »Stellen Sie fest, ob sie einen Freund hat, wo sie sich herumtreibt, was sie tut – Sie wissen schon, was ich meine.«

»Ja, Sir«, erwiderte Eddie angelegentlich.

Um drei Uhr früh wurde Eddie vom Telefon neben seinem Bett geweckt.

»Was haben Sie herausbekommen?« fragte eine Stimme.

Eddie setzte sich im Bett auf und versuchte, sich wachzublinzeln. »Wer zum Teufel -« Plötzlich ging ihm auf, wer am anderen Ende der Leitung war. »Ich habe mich erkundigt«, sagte er hastig. »Sie hat ein einwandfreies Gesundheitszeugnis.«

»Ich habe Sie nicht nach ihrem verdammten Gesundheitszeugnis gefragt«, fuhr er ihn an. »Hurt sie rum?«

»Nein, Sir. Ganz im Gegenteil. Ich habe mit allen meinen Kollegen in der Branche gesprochen. Alle mögen Jill und verpflichten sie, weil sie eine großartige Schauspielerin ist.« Er sprach jetzt schneller, weil er seinen Gesprächspartner unbedingt überzeugen wollte. Wenn Toby Temple je erfuhr, dass Jill mit Eddie geschlafen hatte – ihn Toby Temple vorgezogen hatte -, wäre Eddie für immer erledigt. Er hatte mit allen ihm bekannten Besetzungschefs gesprochen, und alle waren in derselben Lage wie er. Niemand wollte sich Toby Temple zum Feind machen, und sie waren übereingekommen zu schweigen. »Sie gibt sich mit niemandem ab.«

Tobys Stimme wurde ruhiger. »Aha. Dann hat sie wohl so 'ne Art Fimmel, was?«

»Sieht so aus«, meinte Eddie erleichtert. »O je! Hoffentlich habe ich Sie nicht aufgeweckt?« »Aber nein, natürlich nicht, Mr. Temple.«

Trotzdem lag Eddie noch lange wach und grübelte darüber nach, was ihm passieren würde, wenn die Wahrheit jemals herauskäme. Denn dies war Toby Temples Stadt.

Toby und Clifton Lawrence aßen Mittag im Hillcrest Country Club. Der Klub war gegründet worden, weil nur wenige der führenden Landklubs in Los Angeles Juden aufnahmen und die anderen das Verbot der Zulassung so streng einhielten, dass Groucho Marx' zehnjährige Tochter Me-linda aus dem Swimming-pool eines dieser Klubs herausgeholt worden war, in den eine nichtjüdische Freundin sie mitgenommen hatte. Als Groucho das erfuhr, rief er den Manager des Klubs an und sagte: »Hören Sie mal – meine Tochter ist nur Halb-]üdin. Würden Sie ihr erlauben, bis zu den Hüften ins Wasser zu gehen?«

Infolge von Zwischenfällen dieser Art gründeten einige wohlhabende Juden, die gern Tennis, Golf und Romme spielten und den Antisemiten eins auswischen wollten, ihren eigenen Klub, zu dem ausschließlich Juden als Mitglieder zugelassen wurden. Hillcrest entstand inmitten eines herrlichen Parks, einige Meilen von Beverly Hills entfernt, und wurde rasch für seine Gastronomie und die anregendste Unterhaltung in der Stadt bekannt. Nicht-Juden drängten sich danach, dort Mitglied zu werden, und mit einer toleranten Geste beschloss der Ausschuss, einige Nicht-Juden in den Klub aufzunehmen.

Toby saß stets an dem Tisch, an dem die Komiker Hollywoods zusammenkamen, um Witze auszutauschen und sich gegenseitig zu übertreffen. Heute hatte Toby jedoch andere Dinge im Kopf. Er nahm mit Clifton einen Ecktisch. »Ich brauche Ihren Rat, Cliff«, sagte Toby.

Der kleine Agent warf ihm einen überraschten Blick zu. Es war lange her, dass Toby ihn um Rat gefragt hatte. »Selbstverständlich, mein Junge.«

»Es geht um das Mädchen«, begann Toby, und Clifton wusste sofort, was kommen würde. Die halbe Stadt kannte bereits die Geschichte. Es war der größte Witz in Hollywood. Einer der Kolumnisten hatte sie sogar anonym glossiert. Toby hatte es gelesen und geäußert: »Wer mag dieser Schmierfink sein?« Der große Liebhaber war an einem Mädchen in der Stadt hängengeblieben, das ihn abblitzen ließ. Es gab nur eine Möglichkeit, diese Situation zu meistern.

»Jill Castle«, sagte Toby, »erinnern Sie sich an sie? Das junge Ding in der Show.«

»O ja, ein sehr attraktives Mädchen. Was für ein Problem gibt's denn da?«

»Das weiß ich zum Donnerwetter eben nicht«, gestand Toby ein. »Sie scheint was gegen mich zu haben. Jedesmal, wenn ich mich mit ihr verabreden will, gibt sie mir einen Korb. Ich komme mir allmählich wie der letzte Dreck vor.«

»Warum lassen Sie es dann nicht bleiben?«

»Mann, das ist ja das Verrückte! Ich kann nicht. Unter uns und bei meinem Schwanz gesagt, in meinem ganzen Leben war ich noch nie so scharf auf ein Weibsbild wie jetzt. Ich kann an nichts anderes mehr denken.« Er lächelte beklommen und meinte: »Ich sagte Ihnen ja, es ist verrückt. Sie haben schon manche harte Nuss geknackt, Cliff. Was soll ich tun?«

Einen unbesonnenen Augenblick war Clifton versucht, Toby die Wahrheit zu sagen. Aber er konnte ihm nicht erzählen, dass sein Traummädchen mit jedem Regieassistenten in der Stadt schlief, der ihr eine kleine Rolle geben konnte. Nicht, wenn er Toby als Klient behalten wollte. »Ich habe eine Idee«, sagte Clifton zögernd. »Meint sie es ernst mit der Schauspielerei?«

»Ja. Sie ist sehr ehrgeizig.«

»Na gut. Dann schicken Sie ihr eine Einladung, die sie annehmen muss.«

»Wie meinen Sie das?«

»Geben Sie eine Party in Ihrem Haus.«

»Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, dass sie nicht -«

»Lassen Sie es mich erklären. Laden Sie Filmbosse, Produzenten, Regisseure ein – Leute, die etwas für sie tun könnten. Wenn sie als Schauspielerin wirklich etwas erreichen will, wird sie scharf darauf sein, sie

kennenzulernen.«

Toby wählte ihre Nummer. »Hallo, Jill.«

»Wer ist dort?« fragte sie.

Jeder im Land kannte seine Stimme, und sie fragte!

»Toby. Toby Temple.«

»Oh.« In einem Ton, der gar nichts bedeutete.

»Hören Sie, Jill, ich gebe nächsten Mittwoch abend eine kleine Party in meinem Haus, und es« – er hörte, wie sie zu einer Ablehnung ansetzte, und fuhr hastig fort – »es werden Sam Winters, der Leiter von Pan-Pacific, und einige andere Filmbosse und mehrere Produzenten und Regisseure da sein. Ich dachte, es wäre wichtig für Sie, diese Leute kennenzulernen. Werden Sie kommen?«

Nach einer kurzen Pause antwortete Jill Castle: »Mittwoch abend. Ja, ich werde kommen. Danke, Toby.«

Und keiner von beiden wusste, dass es eine »Begegnung in Samarra« war.

Auf der Terrasse spielte ein Orchester, während livrierte Kellner Platten mit Cocktailhappen und Champagner herumreichten.

Als Jill mit fünfundvierzigminütiger Verspätung eintraf, eilte Toby an die Tür, um sie zu begrüßen. Sie trug ein schlichtes weißes Seidenkleid, und ihr schwarzes Haar fiel sanft auf ihre Schultern. Sie sah hinreißend aus. Toby konnte die Augen nicht von ihr lassen. Jill wusste, dass sie schön aussah. Sie hatte ihr Haar gewaschen, sich besonders sorgfältig zurechtgemacht und viel Zeit auf ihr Make-up verwendet.

»Es sind eine Menge Leute hier, die Sie kennenlernen sollten.« Toby nahm Jill an der Hand und führte sie durch die große Empfangshalle in den Salon. Jill blieb an der Tür stehen und starrte auf die Gäste. Nahezu jedes Gesicht im Raum war ihr vertraut. Sie kannte sie von den Titelblättern von Time und Life und Newsweek und Paris Match und OGGJ oder hatte sie auf der Leinwand oder dem Bildschirm gesehen. Dies war das wahre Hollywood. Dies waren die Filmemacher. Jill hatte es sich tausendmal vorgestellt, mit diesen Leuten zusammenzusein, sich mit ihnen zu unterhalten. Angesichts der Wirklichkeit konnte sie es kaum fassen, dass es tatsächlich eingetreten war.

Toby reichte ihr ein Glas Champagner. Er nahm ihren Arm und führte sie zu einem Mann, der Mittelpunkt einer Gruppe war. »Sam, ich möchte, dass Sie Jill Castle kennenlernen.«

Sam drehte sich um. »Hallo, Jill Castle«, sagte er liebenswürdig.

»Jill, das ist Sam Winters, Häuptling der Pan-Pacific-Studios.«

»Ich weiß, wer Mr. Winters ist«, sagte Jill.

»Jill ist Schauspielerin, Sam, eine verdammt kluge Schauspielerin. Sie könnten sie verwenden. Geben Sie Ihrer Bude ein bisschen Klasse.«

»Ich werde es mir merken«, erwiderte Sam höflich.

Toby griff nach Jills Hand und hielt sie fest. »Kommen Sie, meine Liebe«, sagte er. »Ich möchte, dass Sie alle kennenlernen.«

Noch ehe der Abend vorüber war, hatte Jill drei Filmbosse, ein halbes Dutzend bedeutender Produzenten, drei Regisseure, einige Autoren, mehrere Zeitungs- und Fernsehkolumnisten und ein Dutzend Stars kennengelernt. Während des Dinners saß Jill zur Rechten von Toby. Sie lauschte den verschiedenen Unterhaltungen und genoss das Gefühl, zum erstenmal dazuzugehören.

»… das Dumme an diesen Klassikern ist, dass bei einem Misserfolg die ganze Gesellschaft draufgehen kann. Fox ist bis über die Ohren verschuldet und muss abwarten, wie Cleopatra läuft.«

»… haben Sie schon den neuen Billy-Wilder-Film gesehen? Sensationell!«

»So? Ich fand ihn besser, als er mit Brackett zusammenarbeitete. Bra-ckett ist Klasse.«

»Billy besitzt Intelligenz.«

»… schickte ich also letzte Woche Peck einen Krimi, und er ist ganz wild darauf. Er sagte, er werde mir in ein oder zwei Tagen endgültig Bescheid geben.«

»… bekam ich diese Einladung, den neuen Guru, Krishi Pramana-nada, kennenzulernen. Und was soll ich Ihnen sagen, meine Liebe, es stellte sich heraus, dass ich ihn bereits kannte.«

»… da will man einen Film mit zwei finanzieren, und in dem Augenblick, wo man die Bürgschaft hat, sind die Kosten durch die Inflation plus die verdammten Gewerkschaften auf drei oder vier gestiegen.«

Millionen, dachte Jill aufgeregt. Drei oder vier Millionen. Sie erinnerte sich an die endlosen Unterhaltungen über Pfennigbeträge bei Schwab, wo die Schmarotzer, die Überlebenden sich gegenseitig mit Krumen von Informationen über die derzeitigen Vorhaben der Studios fütterten. Nun, die Leute an diesem Tisch heute abend waren die echten Überlebenden, diejenigen, von denen in Hollywood alles abhing.

Das waren die Leute, die ihre Türen verschlossen gehalten hatten, sich geweigert hatten, ihr eine echte Chance zu geben. Jeder an diesem Tisch hätte ihr helfen können, hätte ihr Leben ändern können, aber keiner hatte auch nur fünf Minuten Zeit für Jill Castle übrig gehabt. Sie sah zu einem Produzenten hinüber, der mit einem neuen Musical-Film angab. Er hatte sich geweigert, mit Jill überhaupt zu sprechen.

Am anderen Ende des Tisches war ein berühmter Lustspiel-Regisseur in eine angeregte Unterhaltung mit dem Star seines letzten Films versunken. Er hatte sich geweigert, Jill zu empfangen.

Sam Winters sprach mit dem Direktor einer anderen Gesellschaft. Jill hatte Winters ein Telegramm geschickt, worin sie ihn bat, sich ihren Auftritt in einer Fernsehshow anzusehen. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht zu antworten.

Sie würden für ihre Geringschätzung und Kränkungen bezahlen, sie

und jeder in dieser Stadt, der sie schäbig behandelt hatte. Selbst jetzt bedeutete sie diesen Leuten hier nichts, aber das würde sich ändern. O ja. Eines Tages würden sie bezahlen.

Das Essen war vorzüglich, aber Jill war zu sehr in Anspruch genommen, als dass sie bemerkte, was sie aß. Nach dem Dinner stand Toby auf und sagte: »Auf jetzt! Wir müssen uns beeilen, sonst fängt der Film ohne uns an.« Jill am Arm, ging er in den großen Vorführraum, wo sie sich einen Film ansehen würden.

Der Raum war so eingerichtet, dass sechzig Personen bequem auf Couchen und in Sesseln die Vorführung ansehen konnten. Ein offener Schrank mit Süßigkeiten stand auf der einen Seite des Eingangs, auf der anderen ein Popcorn-Automat.

Toby hatte sich neben Jill gesetzt. Sie wusste während der ganzen Vorstellung, dass seine Augen mehr auf ihr als auf der Leinwand ruhten. Als der Film zu Ende war und das Licht anging, wurden Kaffee und Kuchen serviert. Eine halbe Stunde später begann sich die Party aufzulösen. Die meisten Gäste mussten früh in ihren Studios sein.

Toby stand an der Haustür und verabschiedete sich von Sam Winters, als Jill im Mantel herankam. »Wo wollen Sie hin?« fragte Toby. »Ich werde Sie nach Hause bringen.«

»Ich habe meinen eigenen Wagen«, antwortete Jill liebenswürdig. »Herzlichen Dank für den reizenden Abend, Toby.« Damit ging sie.

Toby stand ungläubig da und sah sie fortfahren. Er hatte aufregende Pläne für den weiteren Verlauf des Abends gehabt. Er wollte Jill nach oben ins Schlafzimmer führen, und – er hatte sogar die Bänder herausgesucht, die er abspielen würde! Jede Frau, die heute abend hier war, wäre mit Freuden in mein Bett gehopst, dachte Toby. Und es handelte sich um Stars, nicht um irgendeine dämliche Kleindarstellerin. Jill Castle war einfach zu verdammt blöde, um zu begreifen, was sie ausschlug. Was Toby betraf, war es aus. Er hatte seine Lektion gelernt.

Er würde nie mehr mit Jill sprechen.

Toby rief Jill um neun Uhr am nächsten Morgen an, und es meldete sich der automatische Anrufbeantworter. »Hallo, hier ist Jill Castle. Es tut mir leid, dass ich gerade nicht zu Hause bin. Wenn Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer angeben, rufe ich Sie nach meiner Rückkehr an. Bitte warten Sie, bis Sie den Signalton hören. Danke.« Dann kam ein scharfes Piep.

Toby stand da und umklammerte den Hörer in seiner Hand, dann schmetterte er ihn auf die Gabel, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Er sollte verdammt sein, wenn er eine Unterhaltung mit einer automatischen Stimme führte. Eine Sekunde später wählte er die Nummer noch einmal. Er lauschte wieder auf das Band und sprach dann: »Sie besitzen den nettesten Stimmenübermittler in der Stadt. Sie sollten ihn einpacken. Normalerweise rufe ich Mädchen, die essen und dann weglaufen, nicht an, aber ich habe beschlossen, in Ihrem Fall eine Ausnahme zu machen. Was haben Sie zum Dinner heu -« Die Verbindung war unterbrochen. Er hatte für das gottverdammte Band zu lange gesprochen. Er erstarrte, weil er nicht wusste, was er tun sollte, und sich wie ein Esel vorkam. Es versetzte ihn in Wut, dass er noch einmal anrufen musste, aber er wählte die Nummer zum drittenmal und sagte: »Wie ich schon sagte, bevor der Rabbi mich beschnitt, wie wäre es mit einem Dinner heute abend? Ich werde auf Ihren Anruf warten.« Er hinterließ seine Nummer und legte auf. Toby wartete voll Unruhe den ganzen Tag und hörte nichts von ihr. Um sieben dachte er: Zum Teufel mit dir. Das war deine letzte Chance, Baby. Und diesmal war es endgültig. Er holte sein Privat-Telefonbuch heraus und blätterte es durch. Es stand niemand drin, der ihn interessierte.

26.

Es war die phantastischste Rolle in Jills Leben.

Sie hatte keine Ahnung, weshalb Toby gerade sie besitzen wollte, wo er doch jedes Mädchen in Hollywood haben konnte, und es war ihr auch egal. Tatsache blieb, dass er sie wollte. Tagelang war Jill nicht fähig gewesen, an etwas anderes zu denken als an die Dinner-Party und wie jeder – alle diese wichtigen Leute – Toby geschmeichelt hatte. Sie würden alles für ihn tun. Nun musste Jill einen Weg finden, dass Toby etwas für sie tat. Sie wusste, dass sie sehr klug vorgehen musste. Toby hatte den Ruf, dass er jedes Interesse an einem Mädchen verlor, sobald er es im Bett gehabt hatte. Jill verbrachte viel Zeit damit, darüber nachzudenken, wie sie sich Toby gegenüber verhalten sollte.

Er rief sie jeden Tag an, aber sie ließ eine Woche vergehen, ehe sie seine Einladung zu einem Abendessen annahm. Er war in einer so euphorischen Stimmung, dass im Studio über nichts anderes gesprochen wurde.

»Wenn es so etwas überhaupt gäbe«, sagte Toby zu Clifton, »würde ich annehmen, dass ich verliebt bin. Jedesmal, wenn ich nur an Jill denke, kriege ich eine Erektion.« Er grinste und fügte hinzu: »Und wenn ich eine Erektion kriege, mein Lieber, könnte ich genausogut eine Anschlagtafel auf dem Hollywood Boulevard anbringen.«

Am Abend ihrer ersten Verabredung holte Toby Jill in ihrem Apartment ab und sagte: »Wir haben einen Tisch bei Chasen.« Er war sicher, ihr damit eine Freude zu machen.

»Oh?« Es lag etwas wie Enttäuschung in ihrer Stimme.

Er blinzelte. »Würden Sie gern woanders hingehen?« Es war Sonnabend abend, aber Toby wusste, dass er überall einen Tisch bekommen würde: bei Perino, im Ambassador, im Derby. »Sagen Sie's nur.«

Jill zögerte und sagte dann: »Sie werden lachen.«

»Nein, werde ich nicht.«

»Bei Tommy.«

Toby wurde von einem der Macs am Schwimmbecken massiert, während Clifton Lawrence zusah. »Sie werden es nicht glauben«, erzählte Toby, noch immer verblüfft. »Wir stellten uns in dieser Hamburger-Bude zwanzig Minuten lang an. Wissen Sie, wo zum Teufel Tommy ist? In der Unterstadt von Los Angeles. Die einzigen Leute, die in die Unterstadt von Los Angeles kommen, sind illegale Einwanderer aus Mexiko. Sie ist verrückt. Ich bin bereit, hundert Piepen an sie zu verschwenden, mit französischem Champagner und dem ganzen Getue, und stattdessen kostet mich der Abend zwei Dollar und vierzig Cents. Ich wollte sie danach zu Pip mitnehmen. Wissen Sie, was wir stattdessen taten? Wir gingen am Strand von Santa Monica spazieren. Ich kriegte Sand in meine Guccis. Kein Mensch wandert bei Nacht den Strand entlang.« Er schüttelte voller Bewunderung den Kopf. »Jill Castle. Nehmen Sie ihr das ab?«

»Nein«, sagte Clifton trocken.

»Sie wollte nicht auf einen kleinen Schlummertrunk zu mir hinaufkommen, so dass ich annahm, ich würde bei ihr eine Schlafstelle finden, logisch?«

»Logisch.«

»Falsch. Sie ließ mich nicht mal über die Türschwelle. Ich bekam einen Kuss auf die Wange und fand mich auf dem Heimweg, allein. Was ist denn das für eine Nacht in der Stadt für Charlie-Superstar?«

»Werden Sie sie wiedersehen?«

»Was denken Sie? Darauf können Sie sich verdammt verlassen!«

Danach waren Toby und Jill beinahe jeden Abend zusammen. Wenn Jill Toby sagte, sie könne ihn nicht sehen, weil sie zu tun habe oder einen Anruf früh am Morgen erwarte, war Toby verzweifelt. Er rief Jill ein dutzendmal am Tag an.

Er führte sie in die zauberhaftesten Restaurants und die exklusivsten Privatklubs in der Stadt. Als Gegenleistung nahm Jill ihn in das alte Speisehaus in Santa Monica und das Trancas Inn und das kleine französische Familienbistro namens Taix mit und zu Papa de Carlos und zu allen anderen abgelegenen Orten, die eine hart kämpfende Schauspielerin ohne Geld kennenlernt. Toby war es egal, wohin er ging, solange Jill bei ihm war.

Sie war die erste Person in seinem Leben, die ihm das Gefühl der Einsamkeit zu vertreiben vermochte.

Toby fürchtete sich jetzt beinahe, mit Jill ins Bett zu gehen, aus Angst, die Verzauberung würde weichen. Und trotzdem begehrte er sie mehr, als er jemals in seinem Leben eine Frau begehrt hatte. Einmal, am Ende eines gemeinsam verbrachten Abends, als Jill ihm einen flüchtigen Gutenachtkuss gab, griff er ihr zwischen die Beine und sagte: »Gott, Jill, ich werde noch verrückt, wenn ich dich nicht haben kann.« Sie zog sich zurück und sagte kalt: »Wenn du das willst, kannst du es dir überall in der Stadt für zwanzig Dollar kaufen.« Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Danach lehnte sie sich an die Tür, zitternd vor Furcht, dass sie zu weit gegangen sein könnte. Sie lag die ganze Nacht wach und grübelte.

Am nächsten Tag schickte Toby ihr ein Brillantarmband, und Jill wusste, dass alles in Ordnung war. Sie sandte das Armband mit ein paar Worten zurück, die sie sich sorgfältig überlegt hatte: »Trotzdem – vielen Dank. Du gibst mir das Gefühl, sehr schön zu sein.«

»Es hat mich dreitausend gekostet«, sagte Toby stolz zu Clifton, »und sie schickt es zurück!« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Was halten Sie von einem solchen Mädchen?«

Clifton hätte ihm genau sagen können, was er von ihr hielt, aber alles, was er sagte, war: »Sie ist in der Tat ungewöhnlich, mein Lieber.«

»Ungewöhnlich!« rief Toby aus. »Jedes Weibsstück in dieser Stadt ist scharf auf alles, worauf es seine heißen kleinen Hände legen kann. Jill ist das erste Mädchen, das ich kennengelernt habe, das sich einen Dreck um materielle Dinge schert. Machen Sie mir einen Vorwurf, dass ich verrückt nach ihr bin?«

»Nein«, sagte Clifton. Aber er machte sich Sorgen. Er wusste alles über Jill und fragte sich, ob er nicht früher hätte deutlich werden sollen.

»Ich hätte nichts dagegen, wenn Sie Jill als Klientin annehmen würden«, sagte Toby zu Clifton. »Ich wette, sie könnte ein großer Star werden.«

Clifton parierte das geschickt, aber bestimmt: »Nein, danke, Toby. Ein Superstar am Hals ist genug«, sagte er lachend.

Am Abend wiederholte Toby diese Bemerkung Jill gegenüber.

Nach seinem erfolglosen Versuch achtete Toby darauf, das Thema Bett nicht mehr anzuschneiden. Und wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er stolz auf Jill war, weil sie sich ihm verweigerte. Alle anderen Mädchen, mit denen er gegangen war, waren Fußmatten gewesen. Jill nicht. Wenn Toby etwas tat, was Jill nicht für richtig hielt, sagte sie ihm das. Eines Abends fuhr Toby einen Mann an, der ihn wegen eines Autogramms belästigte. Später sagte Jill: »Wenn du auf der Bühne sarkastisch bist, Toby, bist du komisch, aber diesen Mann hast du beleidigt.«

Toby war zurückgegangen und hatte sich bei dem Mann entschuldigt.

Jill sagte ihm auch, dass das viele Trinken nicht gut für ihn sei. Er setzte seinen Alkoholkonsum herab. Sie machte gelegentlich eine kritische Bemerkung über seine Anzüge, und er wechselte die Schneider. Toby erlaubte Jill, Dinge zu sagen, die er von niemandem sonst in der Welt hingenommen hätte. Niemand hatte je gewagt, ihn herumzukommandieren oder zu kritisieren.

Ausgenommen natürlich seine Mutter.

Jill weigerte sich, von Toby Geld oder teure Geschenke anzunehmen,

aber er wusste, dass sie nicht viel Geld haben konnte, und ihre Haltung machte ihn noch stolzer auf sie. Eines Abends, als Toby in Jills Apartment darauf wartete, dass sie sich zu einem Dinner umzog, bemerkte er einen Stapel Rechnungen im Wohnzimmer. Toby steckte sie in die Tasche und wies Clifton am nächsten Tag an, sie zu bezahlen. Toby kam sich vor, als hätte er einen Sieg errungen. Aber er wollte etwas Großes, etwas Entscheidendes für Jill tun. Und plötzlich wusste er, was er tun würde.

»Sam – ich möchte Ihnen einen ganz großen Gefallen tun!«

Vorsicht vor Stars, die einem Geschenke machen wollen, dachte Sam Winters gequält.

»Sie haben wie verrückt nach einem Mädchen für Kellers Film gesucht, stimmt's?« fragte Toby. »Nun, ich habe eines für Sie.« »Eine, die ich kenne?« fragte Sam.

»Sie haben sie in meinem Haus kennengelernt. Jill Castle.« Sam erinnerte sich an Jill. Schönes Gesicht, gute Figur und schwarzes Haar. Viel zu alt, um den Teenager in dem Keller-Film zu spielen. Aber wenn Toby Temple durchaus wollte, dass man Probeaufnahmen von ihr machte, würde Sam ihm den Gefallen tun. »Schicken Sie sie heute nachmittag zu mir«, sagte er.

Sam sorgte dafür, dass bei Jill Castles Probeaufnahmen sorgfältig gearbeitet wurde. Man gab ihr einen der besten Kameramänner des Studios, und Keller leitete persönlich die Probe.

Sam sah sich am nächsten Tag die Aufnahmen an. Wie er vermutet hatte, war Jill zu reif für die Rolle. Davon abgesehen, war sie nicht schlecht. Was ihr fehlte, war Charisma, der Zauber, der von der Leinwand ausstrahlt.

Er rief Toby Temple an. »Ich habe mir heute früh Jills Probeaufnahmen angesehen, Toby. Sie ist fotogen, und sie kann ihren Text sprechen, aber sie ist keine Hauptdarstellerin. Sie könnte mit kleineren Rollen Erfolg haben; wenn sie allerdings ihr Herz daran hängt, ein Star zu werden, ist sie, glaube ich, auf dem falschen Dampfer.«

Toby holte Jill an jenem Abend ab, um sie zu einem Essen zu Ehren eines berühmten englischen Regisseurs, der eben in Hollywood eingetroffen war, mitzunehmen. Jill hatte sich sehr darauf gefreut.

Sie öffnete Toby die Tür, und im selben Augenblick, in dem er eintrat, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. »Du hast etwas über meine Probeaufnahmen erfahren«, sagte sie.

Er nickte widerstrebend. »Ich habe mit Sam Winters gesprochen.« Er erzählte ihr, was Sam gesagt hatte, und versuchte, den Schlag zu mildern.

Jill stand da, hörte zu und sagte kein Wort. Sie war ihrer Sache so sicher gewesen. Die Rolle hatte so richtig geschienen. Wie aus dem Nichts kam die Erinnerung an den goldenen Pokal im Schaufenster des Waren-

hauses. Das kleine Mädchen hatte vor Verlangen und Verlust Schmerzen gelitten; Jill spürte jetzt dieselbe Verzweiflung.

Toby sagte: »Hör zu, Liebling, mach dir keine Sorgen. Winters weiß nicht, wovon er redet.«

O ja, er wusste es! Sie würde es nicht schaffen. All die Qual und der Schmerz und die Hoffnung waren umsonst gewesen. Es war, als ob ihre Mutter Recht behalten hätte und ein rächender Gott Jill für etwas strafte, von dem sie nicht wusste, was es war. Sie konnte den Prediger schreien hören: Seht ihr dieses kleine Mädchen? Es wird für seine Sünden in der Hölle brennen, wenn es seine Seele nicht Gott anempfiehlt und bereut. Sie war voll guten Willens und mit vielen Träumen in diese Stadt gekommen, und die Stadt hatte sie gedemütigt.

Sie wurde von unerträglicher Trauer überwältigt und war sich nicht bewusst, dass sie schluchzte, bis sie Toby s Arm um sich fühlte.

»Seht! Es ist ja alles in Ordnung«, sagte er, und seine Sanftmut bewirkte, dass sie noch mehr weinte.

Und während er sie in den Armen hielt, erzählte sie ihm davon, dass ihr Vater gestorben war, als sie geboren wurde, und von dem goldenen Pokal und den Missionsabenden und den Kopfschmerzen und den mit Entsetzen erfüllten Nächten, während sie darauf wartete, dass Gott sie erschlug. Sie erzählte ihm von den unzähligen trostlosen Jobs, die sie angenommen hatte, um Schauspielerin zu werden, und von den Serien von Niederlagen. Ein tiefverwurzelter Instinkt hinderte sie, die Männer in ihrem Leben zu erwähnen. Obgleich sie angefangen hatte, mit Toby ein Spiel zu spielen, war sie jetzt jenseits aller Arglist. In diesem Augenblick tiefsten Verletztseins drang sie zu ihm durch. Sie berührte eine tief in ihm verborgene Saite, die kein anderer je angeschlagen hatte.

Er trocknete ihre Tränen mit seinem Taschentuch. »Ja, wenn du glaubst, dass du es schwer gehabt hast«, sagte er, »dann hör dir das an. Mein Alter war Fleischer und…«

Sie unterhielten sich bis drei Uhr morgens. Es war das erstemal in seinem Leben, dass Toby mit einer Frau wie mit einem menschlichen Wesen sprach. Er verstand sie. Wie konnte er sie nicht verstehen; sie war wie er.

Keiner von ihnen wusste, wer den ersten Schritt getan hatte. Was als ein sanfter Versuch des Tröstens begonnen hatte, wurde langsam zu sinnlichem, animalischem Begehren. Sie küssten sich gierig, und er hielt sie fest. Sie konnte seine Männlichkeit an sich spüren. Sie verlangte nach ihm, und er zog sie aus, und sie half ihm, und dann war er nackt in der Dunkelheit neben ihr, und es war ein Drängen in ihnen beiden. Sie legten sich auf den Boden. Toby drang in sie ein, und Jill stöhnte über seine Größe, und Toby fing schon an, sich zurückzuziehen. Aber sie zog ihn dichter an sich heran und hielt ihn fest. Er umarmte sie, füllte sie völlig aus. Er war sanft und liebevoll, führte sie von einem Höhepunkt zum anderen, und Jill schrie: »Liebe mich, Toby! Liebe mich, liebe mich!« Sein zuckender Körper war auf ihr und in ihr, war Teil von ihr, und sie waren eins.

Sie liebten sich die ganze Nacht und unterhielten sich und lachten, und es war, als hätten sie immer zueinander gehört.

Wenn Toby schon vorher geglaubt hatte, Jill gern zu haben, so war er jetzt geradezu verrückt nach ihr. Sie lagen im Bett, und er hielt sie schützend in den Armen, und er dachte erstaunt: So also ist Liebe. Er drehte sich um und blickte sie an. Sie sah warm und zerzaust aus und war atemberaubend schön, und er hatte nie jemanden so sehr geliebt. Er sagte: »Ich möchte dich heiraten.«

Es war die natürlichste Sache der Welt.

Sie drückte ihn zärtlich an sich und sagte: »O ja, Toby.« Sie liebte ihn und würde ihn heiraten.

Und erst nach Stunden erinnerte sich Jill, warum all dies überhaupt angefangen hatte. Sie hatte Tobys Macht gewollt. Sie hatte es allen Leuten heimzahlen wollen, die sie ausgenutzt, verletzt, erniedrigt hatten. Sie hatte Rache gewollt.

Jetzt würde sie sie bekommen.

27.

Clifton Lawrence war in Schwierigkeiten. Er nahm an, dass es irgendwie seine eigene Schuld war; er hatte die Dinge zu weit treiben lassen. Er saß an Tobys Bar, und Toby sagte: »Ich habe ihr heute morgen einen Heiratsantrag gemacht, Cliff, und sie hat ja gesagt. Ich komme mir wie ein sechzehnjähriger Junge vor.«

Clifton versuchte, seinen Schock nicht sichtbar werden zu lassen. Er musste diese Angelegenheit außerordentlich behutsam behandeln. Eines aber wusste er: Er konnte dieses kleine Luder nicht Toby Temple heiraten lassen. In dem Augenblick, in dem das Aufgebot erschien, würde jeder Schwanz in Hollywood aus dem Balkenwerk kriechen und melden, dass er zuerst da hineingekommen sei. Es war ein Wunder, dass Toby noch nichts über Jill erfahren hatte, aber es konnte ihm nicht für alle Zeiten verborgen bleiben. Wenn er die Wahrheit erführe, würde Toby morden. Er würde auf jeden in seiner Nähe einschlagen, auf jeden, der erlaubt hatte, dass ihm dies widerfuhr, und Clifton Lawrence wäre der erste, der die volle Wucht seines Zorns zu spüren bekäme. Nein, Clifton konnte diese Heirat nicht zulassen. Er fühlte sich versucht, darauf hinzuweisen, dass Toby zwanzig Jahre älter als Jill war, aber er hielt an sich. Er blickte zu Toby hinüber und sagte vorsichtig: »Es wäre vielleicht nicht gut, die Dinge zu überstürzen. Es braucht eine gewisse Zeit, einen Menschen wirklich kennenzulernen. Vielleicht ändern Sie Ihre -«

Toby schob das beiseite. »Sie werden mein Trauzeuge sein. Glauben Sie, wir sollten die Hochzeit hier oder in Las Vegas stattfinden lassen?«

Clifton wusste, dass er in den Wind redete. Es gab nur eine Möglichkeit, diese Katastrophe zu verhindern. Er musste einen Weg finden, Jill zu bremsen.

Am selben Nachmittag rief der kleine Agent Jill an und bat sie, in sein Büro zu kommen. Sie kam eine Stunde zu spät, ließ sich auf die Wange küssen, setzte sich auf den Rand der Couch und sagte: »Ich habe nicht viel Zeit. Ich bin mit Toby verabredet.«

»Es wird nicht lange dauern.«

Clifton musterte sie. Das war eine andere Jill. Sie hatte beinahe keine Ähnlichkeit mehr mit dem Mädchen, das er vor ein paar Monaten kennengelernt hatte. Sie besaß jetzt ein Selbstvertrauen, eine Selbstsicherheit, die sie früher nicht gehabt hatte. Nun, er hatte mit solchen Mädchen mehr als einmal zu tun gehabt.

»Jill, ich will mit offenen Karten spielen«, sagte Clifton. »Sie sind eine Gefahr für Toby. Ich möchte, dass Sie aus Hollywood verschwinden.« Er nahm einen weißen Umschlag aus einer Schublade. »Hier sind fünftausend Dollar in bar. Das ist genug, um überall hinzugelangen, wohin Sie wollen.«

Sie starrte ihn einen Augenblick an, einen überraschten Ausdruck auf dem Gesicht, dann lehnte sie sich auf der Couch zurück und lachte.

»Ich scherze nicht«, sagte Clifton Lawrence. »Glauben Sie, dass Toby Sie heiraten würde, wenn er herausfände, dass Sie mit allen und jedem in der Stadt ins Bett gegangen sind?«

Sie blickte Clifton einen langen Augenblick an. Sie hätte ihm gern gesagt, dass er für alles, was ihr passiert war, die Verantwortung trug. Er und alle die anderen Leute an der Macht, die es abgelehnt hatten, ihr eine Chance zu geben. Sie hatten sie gezwungen, mit ihrem Körper, ihrem Stolz, ihrer Seele zu bezahlen. Aber sie wusste, er würde sie nie verstehen. Er versuchte, sie zu bluffen. Er würde es nicht wagen, Toby etwas über sie zu erzählen; sein Wort würde gegen das ihre stehen.

Jill erhob sich und ging.

Eine Stunde später erhielt Clifton einen Anruf von Toby.

Clifton hatte Toby noch nie so aufgeregt gehört. »Ich weiß nicht, was Sie Jill gesagt haben, Mann, aber ich muss es Ihnen zuschreiben - sie will nicht warten. Wir sind im Begriff, nach Las Vegas zu fliegen, um zu heiraten!«

Der Lear-Jet war fünfunddreißig Meilen vom Los Angeles International Airport entfernt und machte 250 Meilen. David Kenyon nahm Kontakt mit der LAX Anflug-Kontrolle auf und gab ihr seine Position durch.

David war bester Laune. Er war auf dem Weg zu Jill.

Cissy hatte sich von den meisten Verletzungen, die sie sich bei dem Auto-Unfall zugezogen hatte, erholt, aber ihr Gesicht war schlimm zugerichtet worden. David hatte sie zu dem besten Chirurgen der Welt für plastische Operationen geschickt, einem Arzt in Brasilien. Sie war sechs Wochen weg, und in dieser Zeit hatte sie ihm glühende Berichte über den Arzt geschickt.

Vor vierundzwanzig Stunden hatte Cissy ihn angerufen und ihm mitgeteilt, dass sie nicht zurückkehren würde. Sie hatte sich verliebt.

David konnte gar nicht an sein Glück glauben.

»Das ist – das ist wundervoll«, brachte er stammelnd heraus. »Ich hoffe, du und der Arzt, ihr werdet glücklich sein.«

»Oh, es ist nicht der Doktor«, erwiderte Cissy. »Es ist jemand, der hier eine kleine Plantage hat. Er sieht genauso aus wie du, David. Der einzige Unterschied ist der, dass er mich liebt.«

Das Knattern des Funkgeräts unterbrach seine Gedanken. »Lear Drei Alpha Papa, hier ist die Los Angeles Anflug-Kontrolle. Alles klar für den Anflug auf Landebahn fünfundzwanzig links. Hinter Ihnen folgt eine United Sieben-Null-Sieben. Nach der Landung rollen Sie bitte zur Rampe rechts von Ihnen.«

»Okay.« David begann herunterzugehen, und sein Herz fing an zu klopfen. Er war auf dem Weg zu Jill, um ihr zu sagen, dass er sie noch immer liebe, und um sie zu bitten, ihn zu heiraten.

Er durchquerte die Flughafenhalle, als er an einem Zeitungsstand vorüberkam und die Schlagzeile las:

TOBY TEMPLE HEIRATET SCHAUSPIELERIN.

Er las die Geschichte zweimal, drehte sich dann um und ging in die Flughafen-Bar. Er war drei Tage lang betrunken und flog dann nach Texas zurück.

28.

Es waren Flitterwochen wie aus dem Bilderbuch. Toby und Jill flogen in einem Privat-Jet nach Las Hadas, wo sie Gäste der Patinos auf ihrem märchenhaften Besitz waren, der aus dem mexikanischen Dschungel und dem Strand herausgemeißelt schien. Man gab den Jungverheirateten eine Privatvilla, umgeben von Kakteen, Hibiskus-Sträuchern und Bougainvilleas in den leuchtendsten Farben, wo exotische Vögel ihnen die ganze Nacht Ständchen brachten. Sie verbrachten zehn Tage mit Ausflügen, Jachtfahrten und Einladungen zu Parties. Sie wurden im Le-gazpi mit den köstlichsten Speisen verwöhnt und schwammen in Süßwasser-Pools. Jill kaufte in den exquisiten Boutiquen am Plaza ein.

Von Mexiko flogen sie nach Biarritz, wo sie im Hotel du Palais wohnten, dem eindrucksvollen Palast, den Napoleon III. für seine Kaiserin

Eugenie bauen ließ. Die Hochzeitsreisenden spielten im Casino, gingen zu den Stierkämpfen und zum Fischen und liebten sich die ganze Nacht.

Von der baskischen Küste fuhren sie ostwärts nach Gstaad, rund tausend Meter über dem Meer im Berner Oberland gelegen. Sie machten Rundflüge zwischen den Berggipfeln, glitten über den Mont Blanc und das Matterhorn hinweg. Sie liefen auf Skiern die blendend weißen Hänge hinab, fuhren in Hundeschlitten, gingen zu Fondue-Parties und tanzten. Toby war noch nie so glücklich gewesen. Er hatte die Frau gefunden, die sein Leben vollkommen machte. Er war nicht mehr einsam.

Toby hätte die Flitterwochen ewig weitergehen lassen können, aber Jill zog es nach Hause zurück. Sie war an keinem dieser Orte, auch nicht an diesen Leuten interessiert. Sie fühlte sich wie eine neugekrönte Königin, die von ihrem Land ferngehalten wird. Jill Castle brannte darauf, nach Hollywood zurückzukehren.

Mrs. Toby Temple hatte Rechnungen zu begleichen.