172648.fb2 Die Tote im Klosterbrunnen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 5

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Kapitel 3

»Schwester Fidelma! Alles in Ordnung?«

Ross’ Gesicht näherte sich dem Fidelmas, als sie die Augen aufschlug. Sie blinzelte. Sie war nicht wirklich ohnmächtig geworden, bloß ... sie blinzelte erneut und schalt sich insgeheim dafür, Schwäche gezeigt zu haben. Das war aber auch eine böse Überraschung! Was hatte dieses Buch, ihr Abschiedsgeschenk für Bruder Eadulf damals in Rom, jetzt in der Kajüte eines verlassenen gallischen Handelsschiffes vor der Küste von Muman zu suchen? Sie wußte, daß Eadulf sich nicht so ohne weiteres davon trennen würde. Und wenn dem so war, dann mußte er hier in der Kajüte gewesen sein, als Passagier auf diesem Handelsschiff.

»Schwester Fidelma!«

Ross’ Stimme überschlug sich vor Aufregung.

»Es tut mir leid«, erwiderte Fidelma langsam und erhob sich vorsichtig. Ross beugte sich vor, um ihr zu helfen.

»Ist Euch schwindelig geworden?« erkundigte er sich.

Sie schüttelte den Kopf. Erneut schalt sie sich dafür, daß sie ihre Gefühle so deutlich gezeigt hatte. Doch wäre es nicht ein noch größerer Selbstbetrug, sie zu verleugnen? Seit ihrem Abschied von Eadulf von Seax-mund’s Ham hatte sie ihre Gefühle für ihn unterdrückt. Er blieb damals als Sekretär von Theodor von Tarsus, dem neu ernannten Erzbischof von Canterbury, in Rom, während sie in ihre Heimat zurückkehrte.

Doch das vergangene Jahr war erfüllt gewesen von den Erinnerungen an ihn, von Einsamkeit und von Sehnsucht, von einer Art Heimweh nach ihm. Sie war wieder zu Hause, in ihrer Heimat, bei ihrem Volk, doch sie vermißte Eadulf. Sie vermißte ihre Streitgespräche, die Art, wie sie ihn wegen ihrer gegensätzlichen Ansichten und Weltanschauungen necken konnte, die Art, wie er ihr in seiner Gutmütigkeit immer wieder auf den Leim ging. Es gab zwischen ihnen heftige Meinungsverschiedenheiten, jedoch keinerlei Feindseligkeit.

Eadulf von Seaxmund’s Ham hatte in Irland studiert, in Durrow und später in Tuaim Brecain, bevor er sich in Glaubensfragen der Vorherrschaft Roms unterwarf und die Lehren des Heiligen Columban ablehnte.

Er war der einzige Mann in ihrem Alter, in dessen Gesellschaft sie sich wirklich wohlfühlte und sich ungezwungen verhalten konnte, ohne sich hinter ihrem Rang und dem Amt, das sie bekleidete, zu verstecken und ohne eine bestimmte Rolle spielen zu müssen, wie eine Schauspielerin in einem Theaterstück.

Eines wurde ihr jetzt klar: ihre Gefühle für Eadulf waren nicht nur rein freundschaftlicher Natur.

Ihr Abschiedsgeschenk an ihn nun herrenlos auf einem verlassenen Schiff vor der Küste Irlands zu entdecken löste in ihr heftigste Panik aus.

»Ross, dieses Schiff birgt ein Geheimnis.«

Ross verzog das Gesicht.

»Ich dachte, darüber hätten wir uns bereits geeinigt.«

Fidelma streckte ihm das Meßbuch entgegen, das sie in der Hand hielt.

»Das gehörte einem Freund von mir, den ich vor über einem Jahr in Rom zum letzten Mal gesehen habe. Einem guten Freund.«

Ross betrachtete es verlegen und kratzte sich am Kopf.

»Ein Zufall?« murmelte er undeutlich.

»Ein Zufall, in der Tat«, bestätigte Fidelma ernst. »Was mag mit den Leuten auf diesem Schiff geschehen sein? Ich muß es herausfinden. Ich muß herausfinden, was mit meinem Freund geschehen ist.«

Ross blickte verlegen drein.

»Wir müssen zurück auf die barc, Schwester. Der Wind wird wieder stürmischer.«

»Ihr wollt das Schiff zum Ufer schleppen?«

»Genau.«

»Dann werde ich es gründlicher durchsuchen, sobald wir in ruhigeren Gewässern sind. Wohin wollt Ihr es bringen?«

Ross rieb sich das Kinn.

»Nun, der nächste Hafen liegt genau bei Euerm Reiseziel, Schwester. Vor der Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen.«

Fidelma atmete leise aus. Ihre Entdeckung hatte sie vorübergehend vergessen lassen, warum sie eigentlich auf Ross’ Schiff unterwegs war. Gestern morgen hatte der Abt von Ros Ailithir, bei dem sie sich gerade aufhielt, eine Nachricht von der Äbtissin dieser kleinen Gemeinschaft erhalten. Man hatte in der Abtei, die an der Spitze einer Halbinsel im äußersten Westen von Muman lag, eine unbekannte Tote entdeckt und fürchtete, es könnte sich um eine Nonne handeln, auch wenn es kaum eine Möglichkeit der Identifizierung gab. Der Kopf der Leiche fehlte. Die Äbtissin bat um die Unterstützung eines Brehon, eines Beamten der irischen Gerichtsbarkeit, der ihr helfen sollte, die Identität der Toten festzustellen und herauszufinden, wer für diesen Mord verantwortlich war.

Die Gemeinschaft gehörte zum Gerichtsbezirk von Abt Broce von Ros Ailithir, und der hatte Fidelma gebeten, die Untersuchung durchzuführen. Die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen lag nur eine Tagesreise mit dem Schiff entfernt, und so kam es, daß Fidelma nun auf Ross’ barc die zerklüftete Küste entlangfuhr.

Die Entdeckung des verlassenen gallischen Handelschiffes und der Büchertasche, die ihr Abschiedsgeschenk für Bruder Eadulf enthielt, hatte jeden Gedanken an den Anlaß ihrer Reise vorübergehend aus ihrem Gedächtnis verdrängt.

»Schwester«, sagte Ross noch einmal, »wir müssen auf die barc zurück.«

Widerwillig stimmte sie zu, verstaute das Meßbuch in der Ledertasche und schwang sie sich über die Schulter.

Ross’ Männer hatten Taue vom Bug des gallischen Schiffes an das Heck ihres kleineren Fahrzeugs gebunden. Odar und ein weiterer Matrose blieben an Bord, während Ross und Fidelma mit den anderen Besatzungsmitgliedern auf die Foracha zurückkehrten.

Fidelma war ganz in Gedanken versunken. Ross gab Anweisungen, um seine Bark von dem größeren Schiff zu lösen und vor den Wind zu drehen. Bald strafften sich die Abschleppseile, und das kleinere Schiff nahm Fahrt auf und zog das größere, das sich durch die kabbelige See wühlte, hinter sich her. Der Wind war wieder stürmisch, und zweifellos wäre das gallische Schiff ohne Ross’ Eingreifen schon längst an den nahegelegenen, versteckten Felsen und Riffen gesunken.

Ross ließ die straffgespannten Seile und das große, schlingernde Schiff hinter ihnen nicht aus den Augen. Doch Odar war ein ausgezeichneter Steuermann und hielt das Schiff geschickt unter Kontrolle, so daß Ross den Kurs bestimmen konnte: er steuerte eine der großen Buchten an, die von zwei felsigen, sich nach Südwesten erstreckenden Halbinseln gebildet wurde, und hielt auf eine der langgestreckten Landzungen zu, auf der sich in der Ferne, über den Gipfeln einer hohen Bergkette, eine gewaltige Felskuppel erhob. Vor der Halbinsel tauchte der gedrungene, knollenförmige Umriß einer großen Insel auf, und Ross befahl seinem Steuermann, die barc in die Meerenge zwischen diesem Eiland und der Küste der Halbinsel hineinzuma-növieren.

Fidelma hatte sich am Heck auf die Reling gesetzt, mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf, und hing ihren Gedanken nach, so daß sie weder die näherkommende Küste noch die atemberaubende Landschaft bemerkte. Genausowenig schien sie das Stampfen und Schlingern der barc zu beachten, die vor dem Wind trieb und ihre Beute hinter sich herschleppte.

»Bald erreichen wir ruhigere Gewässer«, sagte Ross besänftigend. Er hatte Mitleid mit ihr, denn sie vermochte den Kummer, den ihre Entdeckung ihr bereitete, kaum zu verhehlen.

»Könnten es Sklavenhändler gewesen sein?« fragte sie plötzlich, ohne Vorrede.

Ross überlegte einen Augenblick. Es war bekannt, daß Plünderer auf der Suche nach Sklaven häufig in irische Gewässer vordrangen und gelegentlich sogar Küstendörfer oder Fischerboote überfielen und die Einheimischen verschleppten, um sie auf den Sklavenmärkten in den sächsischen Königreichen zu verkaufen, manchmal sogar weiter weg in Iberien, Franken und Germanien.

»Vielleicht haben Sklavenhändler das Handelsschiff überfallen und alle Anwesenden mitgenommen?« hakte Fidelma nach, als er zögerte.

Ross schüttelte den Kopf.

»Mit Verlaub, Schwester, aber das glaube ich nicht. Wenn, wie Ihr meint, Sklavenhändler das Handelsschiff gekapert hätten, warum haben sie dann nicht einfach ein Prisenkommando an Bord gelassen, um es in ihren Heimathafen zurückzusegeln? Warum sollten sie die Besatzung und, was noch merkwürdiger ist, die Ladung mitnehmen und das Schiff zurücklassen? Sie würden dafür doch genausoviel, wenn nicht noch mehr Geld bekommen als für die Besatzung und die Ladung.«

Fidelma konnte dieser Logik nicht widersprechen. In der Tat, warum sollten sie das gepflegte, gut in Schuß gehaltene Schiff zurücklassen? Sie seufzte hörbar, da sie auf die vielen Fragen, die in ihrem Kopf herumschwirrten, nicht sofort Antworten fand.

Die junge Nonne bemühte sich, nicht noch mehr Energie darauf zu verschwenden, Fragen zu stellen, die sie unmöglich beantworten konnte. Ihr Mentor, Brehon Morann von Tara, hatte sie gelehrt, daß es nutzlos war, Antworten für Probleme zu suchen, bevor sie die Fragen kannte, die zu stellen waren. Doch es gelang ihr nicht, einen klaren Gedanken zu fassen, selbst dann nicht, als sie in der Kunst des dercad Zuflucht suchte, einer Art Meditation, die schon zahllosen Generationen von irischen Mystikern geholfen hatte, nebensächliche Überlegungen und nervliche Überreizung zu bezwingen.

Fidelma beschloß, sich auf die näherkommende Küstenlandschaft zu konzentrieren. Sie hatten jetzt die Einfahrt der großen Bucht erreicht und segelten nah am Südufer der bergigen Halbinsel entlang. Die kalten Windböen und unberechenbaren Wellen ebbten allmählich ab, während sie in die geschützteren Gewässer einfuhren. Als sie die knollenförmige Insel an ihrer Backbordseite liegen sahen, wurde das Meer wesentlich ruhiger, denn das Festland schützte sie nun vor der vollen Wucht des Windes. Nur wenige Wolken zeigten sich am zartblauen Himmel, in dem hoch oben die blaßgelbe Sonnenscheibe hing, ohne die geringste Wärme abzugeben. Die Landschaft schien in durchsichtigen Pastelltönen gemalt zu sein.

»Weiter vorne öffnet sich eine große Meerenge«, kündigte Ross an. »Dort liegt die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen. Dort, in den ruhigen Gewässern, werden wir vor Anker gehen.«

Trotz ihrer Sorge um Bruder Eadulfs Schicksal war Fidelma nicht ganz unempfänglich für die Ruhe und die heitere Schönheit der Meerenge. Sie war auf allen Seiten von Eichenwald umgeben, der sich an den Berghängen hinaufzog und von Nadelgehölzen der verschiedensten Art umsäumt war. Im Sommer mußte es hier atemberaubend aussehen: all die farbenprächtigen Blumen, all die Bäume in den unterschiedlichsten Grüntönen. An den Ufern der Durchfahrt erhoben sich die Berge. Ihre kahlen Gipfel waren mit Schnee bestäubt und ihre Abhänge mit Granitbrocken übersät. Ein tosender Bach ergoß sich in die Bucht, genau dort, wo sich auf einer Landzunge eine kleine, runde Festung erhob. Beim Anblick seines glitzernden, kristallklaren Wassers schauderte Fidelma schon allein bei der Vorstellung, wie kalt es sein mochte.

»Dort liegt die Festung von Adnar, dem bo-aire dieses Bezirks.« Ross deutete mit dem Daumen hinüber.

Ein bo-aire war, wörtlich verstanden, ein KuhHäuptling, ein Häuptling ohne Landbesitz, dessen Vermögen nach seinem Viehbestand bemessen wurde. In ärmeren Gegenden fungierte der Kuh-Häuptling auch als eine Art Friedensrichter. Er hatte den mächtigeren Häuptlingen gegenüber loyal zu sein und ihnen für seine Stellung und seinen Rang einen Tribut zu zahlen.

Fidelma versuchte mit aller Gewalt, ihre Gedanken zurück zu dem Auftrag zu lenken, dessentwegen sie aufgebrochen war.

»Die Festung von Adnar?« wiederholte sie und formulierte den Satz als Frage, um sicherzugehen, daß sie den Namen richtig verstanden hatte.

»Ja. Sie heißt Dun Boi - die Festung der Boi, der Göttin der Kühe.«

»Und wo liegt die Gemeinschaft der Gläubigen?« fragte Fidelma. »Die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen?«

Ross deutete auf eine zweite kleine Landzunge am anderen Ufer des Flüßchens, genau gegenüber von Adnars Festung.

»Zwischen den Bäumen dort oben auf dem Bergrücken. Ihr könnt von hier aus nur den Turm des Klosters sehen und da hinten einen kleinen Kai, der zu einem Felsabsatz führt, auf dem ihr vielleicht den Hauptbrunnen der Abtei ausmachen könnt.«

Fidelmas Blick folgte seinen Angaben. Auf dem Kai bewegte sich etwas.

»Käpt’n!« rief der Steuermann leise zu Ross hinüber. »Käpt’n, dort legen gerade zwei Boote ab - eins von der Festung und eins von der Abtei.«

Ross befahl seiner Besatzung, mit dem Zusammenrollen der Segel zu beginnen, bevor die Foracha vor Anker ging. Er wandte sich um und bedeutete Odar auf dem gallischen Schiff, ebenfalls Anker zu werfen, damit die beiden Schiffe nicht zusammenstießen. Man hörte das Krachen der großen Segel, als sie niedergeholt wurden, das Klatschen, als die Anker auf die ruhige Wasseroberfläche aufschlugen, und die erschrockenen Schreie der Seevögel, die von der unerwarteten Heftigkeit des Geräusches überrascht wurden. Dann - Stille.

Einen Augenblick stand Fidelma reglos da und war sich der plötzlichen Stille in der geschützten Meerenge bewußt und auch der Schönheit dieses Ortes - mit den Blau-, Grün-, Braun- und Grautönen der Berge, die sich dahinter erhoben, mit dem Himmel, der das Wasser um sie herum hellblau färbte, so daß es im Licht des frühen Nachmittags glitzerte und schimmerte und einem Spiegel glich, so still und klar war seine Oberfläche. Am Ende der Meerenge, von den Gezeiten unberührt, erstreckten sich das Graugrün eines Seegrasgürtels, das Weiß und Grau der Felsen, die vielfältigen Grün- und Brauntöne der Bäume entlang des Ufers und dazwischen die Farbtupfer des plötzlich aufschießenden Kreuzkrauts und der weißen Blüten des Hirtentäschel. Hie und da wuchsen Stechpalmen. Die Stille verstärkte das leiseste Geräusch ... zum Beispiel den trägen Flügelschlag des Graureihers, der seine Kreise um die Schiffe zog und sich den langen, biegsamen Hals vor Neugier zu verrenken schien, bevor er sich lässig und scheinbar unbeteiligt gen Himmel schwang und weiter die Küste hinunter flog, ruhigeren Fischgründen entgegen. Dann hörte Fidelma auf dem stillen Gewässer die rhythmischen Ruderschläge der herangleitenden Boote.

Sie seufzte tief. Ein so vollkommener Friede war wie ein Deckmantel, eine Verschleierung der Realität. Es gab so viel zu tun.

»Ich werde an Bord des Handelsschiffes zurückkehren und es noch einmal gründlich durchsuchen, Ross«, verkündete sie.

Ross starrte sie erschrocken an.

»Bei allem Respekt, Schwester, ich würde damit lieber noch ein Weilchen warten«, schlug er vor.

Ärgerlich runzelte sie die Stirn.

»Ich verstehe nicht .«

Ross unterbrach sie, indem er mit dem Kopf auf die beiden sich nähernden Boote wies.

»Ich glaube nicht, daß der Besuch mir gilt, Schwester.«

Fidelma zauderte und verstand noch immer nicht.

»In einem der Boote sitzt der bo-aire der Festung, in dem anderen Äbtissin Draigen.«

Fidelma staunte und hob wortlos die Augenbrauen. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit der Besatzung der herannahenden Boote. Eines wurde von zwei Nonnen gerudert, während eine dritte kerzengerade im Heck saß, eine hochgewachsene Frau mit einem schönen Gesicht, größer als Fidelma, in ein Gewand aus Fuchspelz gehüllt. In dem anderen Boot, das von der Festung her auf sie zuschoß, legten sich zwei stämmige Krieger in die Riemen, und im Heck saß ein großer, schwarzhaariger Mann. Er trug einen Umhang aus Dachspelz und eine silberne Amtskette, die seine gehobene Stellung deutlich kennzeichnete. Immer wieder blickte er besorgt zu dem anderen Boot hinüber und trieb seine Männer mit bellenden Befehlen, die selbst auf diese Entfernung zu verstehen waren, zu größerer Eile an, als ginge es ihm darum, Ross’ barc als erster zu erreichen.

»Sie sehen aus, als veranstalteten sie ein Wettrennen«, bemerkte Fidelma trocken.

Ross antwortete ohne jede Spur von Humor.

»Bei dem Wettrennen, wie Ihr es nennt, will jeder von beiden als erster bei Euch eintreffen. Was auch immer dahintersteckt, ich glaube nicht, daß sie einander freundschaftlich verbunden sind.«

Es war das Boot der Abtei, das die barc als erstes erreichte, und die attraktive Nonne kletterte mit erstaunlicher Behendigkeit an Bord und betrat das Schiff gerade, als das zweite Boot längsseits anlegte und der große Mann mit dem schwarzen Haarschopf hinter ihr aufs Deck sprang.

Die Frau, die Ross als die Äbtissin der Gemeinschaft vorgestellt hatte, war von imposanter Größe. Ihr Umhang öffnete sich und enthüllte Gewänder aus grobem Tuch, doch ihr kunstvoll gearbeitetes Kruzifix - ein prachtvolles Exemplar aus Rotgold, mit Halbedelsteinen reich verziert - offenbarte, daß sie noch nicht vollends entschlossen war, dem Reichtum zu entsagen und in Armut und Gehorsam zu leben. Sie war Mitte dreißig. Ihr Gesicht mit den roten Lippen und den hohen Wangenknochen wirkte befehlsgewohnt. Es strahlte eine merkwürdige Mischung aus Schönheit und Ungeschliffenheit aus. Ihre Augen waren dunkel. In ihnen blitzte ein verborgenes Feuer, ein kaum verhohlener Zorn, als sie über die Schulter zu dem schwarzbärtigen Mann blickte, der hinter ihr hereilte.

Sie erspähte Ross sofort. Es war unverkennbar, daß sie ihm schon begegnet war. Fidelma wußte, daß Ross häufig Handelsreisen entlang der Küste von Muman unternahm und offensichtlich mit der Gemeinschaft hier bereits geschäftlich zu tun gehabt hatte.

»Ah, Ross, ich habe Euer Schiff erkannt, sobald es in die Meerenge einfuhr«, begrüßte sie ihn ohne eine Spur von Herzlichkeit in der Stimme. »Ich nehme an, Ihr kommt direkt von Abt Broce aus Ros Ailithir? Ich hoffe, Ihr habt den Brehon mitgebracht, um den ich ihn ersuchte?«

Bevor Ross antworten konnte, gesellte sich der große, schwarzhaarige Häuptling zu ihr. Er schnaufte ein wenig vor Anstrengung. Er war Mitte Vierzig, ein gutaussehender Mann mit gefälligen Gesichtszügen, dessen Augen den blitzenden dunklen Augen der Äbtissin verblüffend ähnelten. Fidelma bemerkte sein liebenswürdiges, aber auch besorgtes Lächeln, als er auf Ross zutrat.

»Wo ist der Brehon? Wo ist er, Ross? Ich muß ihn unbedingt zuerst sprechen.«

Die Äbtissin drehte sich schnell und mit unverhohlener Feindseligkeit zu ihrem unwillkommenen Mitstreiter um.

»Ihr habt hier keinerlei Befugnisse, Adnar«, fauchte sie und bestätigte damit Ross’ Annahme, daß es sich bei dem Mann um den Friedensrichter des Bezirks handelte.

Adnar errötete vor Wut.

»Ich habe jede Befugnis, hier zu sein. Bin ich nicht bo-aire in diesem Bezirk? Mein Wort ...«

»Euer Wort wird von Gulban, dem Häuptling der Beara, diktiert«, höhnte die Frau. »Wenn er nichts sagt, habt Ihr auch nichts zu sagen. Ich habe Abt Broce von Ros Ailithir gebeten, einen Brehon zu schik-ken, der ausschließlich dem König von Cashel gegenüber verantwortlich ist, dem auch Euer Oberhaupt, Gulban, Rechenschaft ablegen muß.« Sie wandte sich wieder an Ross. »Wo ist er, Ross? Wo ist der Brehon, den Abt Broce geschickt hat?«

Ross warf einen Blick zu Fidelma hinüber und hob entschuldigend die Schultern, als wolle er sich dadurch von jeglicher Verantwortung für das Verhalten der Besucher freisprechen.

Seine Geste lenkte die Aufmerksamkeit der Neuankömmlinge auf Fidelma. Die streng dreinblickende Äbtissin schien sie zum ersten Mal wahrzunehmen und runzelte die Stirn.

»Und wer seid Ihr, Schwester?« fauchte sie gebieterisch. »Seid Ihr gekommen, um unserer Gemeinschaft beizutreten?«

Fidelma gelang ein mattes Lächeln.

»Ich glaube, ich bin die, nach der Ihr fragtet, Mutter Oberin«, erwiderte sie gelassen. »Abt Broce von Ros Ailithir hat Euerm Gesuch entsprochen und mich hierhergeschickt.«

Ein Ausdruck ungläubigen Staunens huschte über das Gesicht der Äbtissin.

Ein heiseres Lachen ließ sie alle herumfahren. Ad-nar schüttelte sich vor Heiterkeit.

»Ihr bittet um einen Brehon, und Broce schickt Euch diese halbe Portion! Ha! Euer ehrenwerter Abt hält wohl doch nicht so große Stücke auf Euch!«

Die Äbtissin bemühte sich nach Kräften, den Zorn zu beherrschen, der in ihren Augen funkelte, und starrte Fidelma mit zusammengepreßten Lippen an.

»Ist das so etwas wie eine Belustigung für Abt Broce?« fragte sie betont kühl. »Will er mich auf diese Art beleidigen?«

Fidelma schüttelte müde den Kopf.

»Ich glaube nicht, daß mein Cousin« - hier legte Fidelma eine kurze Pause ein, um dadurch das Wort hervorzuheben -, »ich glaube nicht, daß mein Cousin, der Abt, sich durch derartiges Benehmen zu belustigen pflegt.«

Die Miene der Äbtissin wollte sich gerade zu einem höhnischen Grinsen verziehen, doch Ross, der spürte, daß er als Kapitän des Schiffes nun eingreifen mußte, trat schnell hinzu.

»Gestattet mir, Mutter Oberin, Euch Schwester Fidelma vorzustellen, eine Advokatin der Gerichtsbarkeit mit dem Rang einer anruth. «

Die Augen der Äbtissin weiteten sich unmerklich, während Adnars Lachen abrupt verstummte. Der Rang einer anruth war immerhin die zweithöchste Qualifikation, die die Universitäten und kirchlichen Hochschulen Irlands zu verleihen hatten.

Es entstand eine Pause, bevor die Äbtissin das Wort ergriff: »Wie, sagtet Ihr, ist Euer Name?«

»Ich bin Fidelma, augenblicklich in der Gemeinschaft von Kildare.«

Die funkelnden Augen der Äbtissin zogen sich erneut zusammen.

»Von Kildare? Kildare liegt im Königreich von Laigin. Dennoch behauptet Ihr, mit Abt Broce von Ros Ailithir verwandt zu sein. Was hat das zu bedeuten?«

Fidelma kostete die Situation genüßlich aus.

»Mein Bruder ist Colgu, der König von Cashel.« Fidelma konnte nicht umhin, einen flüchtigen Blick in Richtung Adnar zu werfen, um sich seine Reaktion nicht entgehen zu lassen. Sie wurde prompt belohnt: mit offenem Mund und glotzenden Augen sah er aus wie ein Fisch, der gerade aus dem Wasser gezogen wird. »Ich bin in erster Linie eine Dienerin des Glaubens, und der reicht bekanntlich weit über die Grenzen irdischer Königreiche hinaus.«

Die Äbtissin stieß einen tiefen Seufzer aus, bevor sie Fidelma die Hand reichte. Ihre Herrschsucht schien verraucht, und auf ihrer Miene zeigte sich ein Ausdruck reumütiger Abbitte. Ob er echt war oder nicht, konnte Fidelma nicht beurteilen.

»Laßt mich Euch in unserer Gemeinschaft willkommen heißen, Schwester Fidelma. Ich bin Äbtissin Draigen, die Vorsteherin des Klosters Der Lachs aus den Drei Quellen.«

Sie wies mit einer Hand zum Ufer, als wolle sie Fidelma ihre Gemeinschaft dort zeigen. »Ich bedaure meine ungehobelte Begrüßung. Wir leben in schwierigen Zeiten. Ich hatte erwartet, daß mir Broce jemanden schicken würde mit praktischer Erfahrung in, in .«

Fidelma lächelte freundlich, als sie zögerte.

»In der Aufklärung von Gewaltverbrechen? Im Lösen von Rätseln? Macht Euch darüber keine Sorgen, Mutter Oberin. Es gibt ein Sprichwort - usus multas res docet. Erfahrung lehrt viele Dinge. Durch meine Erfahrungen als Advokatin der Gerichtsbarkeit habe ich eine gewisse Befähigung für die Aufgabe erworben, an die Ihr denkt.«

Mit einem Grunzen trat Adnar vor. Er bemühte sich, sein Selbstvertrauen zurückzugewinnen, doch sobald ihm Fidelmas funkelnde grüne Augen begegne-ten, senkte er den Blick. In seiner Verlegenheit wirkte er ziemlich unbeholfen.

»Willkommen, Schwester Fidelma. Ich bin Adnar.«

Fidelma musterte ihn eingehend. Sie war nicht sicher, ob sie mochte, was sie sah. Der Mann sah zweifelsohne gut aus, doch sie fühlte sich stets unwohl, wenn sie mit stattlichen, selbstsicheren Männern konfrontiert war.

»Ich habe von Euch gehört. Ihr seid der bo-aire dieses Bezirks.« Fidelmas Stimme klang eisig. Tatsächlich genoß sie sein offensichtliches Unbehagen und schalt sich insgeheim dafür, sich an den Qualen eines anderen zu weiden. Das entsprach ganz und gar nicht den Lehren des Glaubens - aber schließlich war sie auch nur ein Mensch.

»Ich wollte Euch nicht, das heißt, ich ...«, begann Adnar.

»Ihr wolltet mich sprechen?« fragte Fidelma mit Unschuldsmiene.

Adnar blickte verdrießlich zu Äbtissin Draigen hinüber. Er schien seine Worte sorgfältig zu wählen, als er sich an Fidelma wandte.

»Schwester, ich bin hier bo-aire. Ich bin Ortsvorsteher und Friedensrichter im Zuständigkeitsbereich meines Häuptlings Gulban. Niemand in diesem Bezirk muß in Rechtsfragen um Unterstützung von außerhalb ersuchen. Wie dem auch sei, dies ist weder Zeit noch Ort, um solche Dinge zu besprechen. Dort seht Ihr meine Festung.« Er wies mit der Hand hinüber. »Ich möchte Euch einladen, heute abend mit mir zu speisen.«

Äbtissin Draigen überspielte einen Ausruf des Protestes durch lautes Husten.

»Ihr werdet heute abend in der Abtei erwartet, Schwester Fidelma, damit ich Euch ausführlich erklären kann, warum ich nach Euch geschickt habe«, sagte sie hastig.

Fidelma starrte von der Äbtissin zum Häuptling und schüttelte dann heftig den Kopf.

»Es ist wahr, meine erste Pflicht gilt der Abtei, Ad-nar«, erklärte sie ihm. »Aber ich komme morgen früh zu Euch zum Morgenmahl.«

Adnar wurde zornesrot und warf einen wütenden Blick auf die Äbtissin, deren Miene sich zu einem zufriedenen Lächeln verzogen hatte. Er nickte Fidelma kurz zu.

»Ich werde Euch erwarten, Schwester«, sagte er widerstrebend. Er wollte gerade gehen, zögerte jedoch und starrte hinüber zu dem gallischen Handelsschiff, als sehe er es jetzt zum ersten Mal. »Ihr pflegt einen merkwürdigen Umgang, Ross. Was ist mit dem Schiff, daß sein Kapitän Euch gebeten hat, es in diesen Hafen zu schleppen?«

Ross trat von einem Fuß auf den anderen.

»Ich bin nicht sicher, daß ich verstehe, was Ihr mit merkwürdigem Umgang meint?«

»Ihr pflegt Umgang mit einem gallischen Schiff. Ich habe Euer Abschleppseil gesehen, als Ihr in unseren Hafen einlieft. Was ist mit dem Kapitän? Kann er nicht alleine segeln? Egal, ich werde hinüberrudern und mit ihm reden.«

»Ihr werdet ihn nicht an Bord finden«, erwiderte Ross.

»Nicht an Bord?«

»So ist es«, bestätigte Fidelma. »Das Schiff wurde draußen vor der Küste entdeckt - verlassen.«

Wieder spiegelte sich Verblüffung in Adnars Miene.

»Dann haben wir sogar zwei Angelegenheiten zu besprechen, wenn Ihr morgen kommt.« Mit einem kurzen Nicken verabschiedete er sich von der Äbtissin und von Ross und kletterte rasch in sein Boot. Sie hörten, wie seine Männer ihre Ruder ins Wasser tauchten, und beobachteten schweigend, wie das Boot wieder zurück zur Küste glitt.

»Ein lästiger Kerl«, seufzte die Äbtissin. »Trotzdem, Ihr habt die richtige Entscheidung getroffen, Schwester. Gestattet mir, Euch hinüber zur Abtei zu rudern und Euch alles zu erklären.«

Über ihre anmutigen Züge huschte ein Ausdruck der Verblüffung, als Fidelma den Kopf schüttelte.

»Ich komme erst heute abend in die Abtei, zur Abendmahlzeit, Mutter Oberin. Vorher muß ich mich noch um andere Dinge kümmern.«

»Andere Dinge?«

In Äbtissin Draigens Stimme schwang ein gefährlich mürrischer Unterton mit.

»Ich komme heute abend an Land«, wiederholte Fidelma ohne weitere Erklärung.

»Wie Ihr wünscht«, näselte die Äbtissin säuerlich. »Ihr werdet unsere Glocke zum Abendangelus läuten hören. Wir pflegen die Mahlzeit im Anschluß an die Gebete einzunehmen. Der Gong ertönt zwei Mal, bevor das Mahl beginnt.«

Ohne noch ein Wort zu verlieren, ging sie und kletterte in ihr Boot.

Ross verzog das Gesicht, beugte sich über die Reling und beobachtete, wie die Nonnen ihre Äbtissin über die Meerenge zurückruderten.

»Tja, Schwester, ich glaube nicht, daß Ihr viel Zuneigung geweckt habt, weder im Herzen der Äbtissin noch in dem des bo-aire.«

»Es ist nicht meine Aufgabe, Zuneigung zu wecken, Ross«, erwiderte Fidelma leise. »Und nun laßt uns auf das gallische Schiff zurückkehren.«

Gemeinsam mit Ross verbrachte Fidelma zwei Stunden auf dem Handelsschiff und durchsuchte es erneut von oben bis unten. Abgesehen von den getrockneten Blutflecken fanden sie keine weiteren Hinweise darauf, warum Besatzung und Ladung spurlos verschwunden waren. Nur Odar, der Steuermann, hatte noch etwas entdeckt. Gleich nachdem Fidelma und Ross an Bord auftauchten, sprach er sie an.

»Ich bitte um Verzeihung, Käpt’n, aber da ist etwas, was Ihr vielleicht sehen möchtet . «, begann er zögernd.

»Was denn?« Ross’ Tonfall klang nicht gerade ermutigend, doch Odar ließ nicht locker.

»Ich hörte Euch und die Schwester hier«, er deutete auf Fidelma, »darüber sprechen, wie gepflegt und ordentlich alles an Bord dieses Schiffes ist. Nun, zwei Dinge sind nicht in Ordnung.«

Fidelma wurde augenblicklich hellhörig.

»Erklärt Euch, Odar«, forderte sie ihn auf.

»Die Befestigungstaue, Schwester. Vorn und achtern. Die Befestigungstaue sind durchgeschnitten.«

Ross führte sie sofort zum nächsten Eichenpoller am Bug des Schiffes.

»Ich habe die Taue hier hängenlassen, damit Ihr Euch selbst ein Bild davon machen könnt«, erklärte Odar. »Ich habe sie erst bemerkt, als wir vor kurzem festmachten.«

Ross beugte sich zu der Stelle, an der das dicke Tauwerk aus Flachsfasern am Poller befestigt war, und begann das lose Tau, das über die Schiffswand baumelte, hochzuziehen. Nach etwa sechs Metern erschien das in zahllose Stränge zerfranste Tauende. Fidelma nahm es Ross aus der Hand und untersuchte es sorgfältig. Es war zweifelsfrei durchgeschnitten worden, wahrscheinlich mit einer Axt durchtrennt, zumindest schloß sie das aus der Art, wie die Flachsstränge ausgefranst waren, und aus der Stärke des Schiffstaues.

»Was ist mit dem anderen Vertäuungsseil?« fragte sie Odar.

»Sieht es genauso aus wie dieses?«

»Ja, aber schaut es Euch selbst an, Schwester«, antwortete der Seemann.

Fidelma dankte ihm, daß er sie darauf aufmerksam gemacht hatte, und ging nach hinten, um sich auf die Heckreling zu setzen. Niedergeschlagen starrte sie in die Ferne. Ross, der neben ihr stand, musterte sie verwundert. Er wußte, wann es besser war zu schweigen.

Schließlich stieß Fidelma einen Seufzer aus.

»Laßt uns zusammenfassen, was wir wissen«, begann sie.

»Was nicht sehr viel ist«, warf Ross ein.

»Trotzdem ... erstens, wir wissen, daß dies ein Handelsschiff aus Gallien ist.«

Ross nickte entschieden.

»Richtig. Das ist ungefähr das einzige, was wir mit Sicherheit sagen können. Ich kann beschwören, daß seine Bauweise der Technik der Schiffsbauer von Morbihan entspricht.«

»Was folglich vermuten läßt, daß es von dort ausgelaufen ist?«

»Wieder richtig«, stimmte Ross zu. »Schiffe wie dieses transportieren häufig Waren an unsere Küste.«

»Sie bringen meistens Wein und tauschen ihn bei uns gegen andere Güter?«

»So ist es.«

»Die Tatsache, daß keine Ladung an Bord war, könnte nahelegen, daß dieses Schiff seine Ladung bereits in einem irischen Hafen gelöscht hatte?«

Ross rieb sich das Kinn.

»Vielleicht.«

»Euer >vielleicht< in Ehren. Nichtsdestotrotz, falls die Ladung umgeladen wurde - und wir gehen davon aus, daß das auf See geschah -, dann muß das bei Weinfässern ein schwieriges Unterfangen gewesen sein. Wäre es nicht eine plausiblere Annahme, daß die Fässer bereits in einem irischen Hafen abgeliefert wurden und das Schiff sich auf dem Rückweg nach Gallien befand, entweder ohne Ladung oder mit Waren, die auf See leichter umzuladen wären?«

»In Eurer Vermutung liegt eine gewisse Logik«, gab Ross zu.

»Dann machen wir, glaube ich, Fortschritte«, erklärte Fidelma triumphierend. »Nun laßt uns überlegen, was wir sonst noch wissen. Es gibt Blut auf diesem Schiff, Blut unter Deck und frischeres Blut auf einem Leinenfetzen, der sich in der Takelage verfangen hatte, und auf dem Geländer unterhalb der Takelage. Das dort verschmierte Blut ist zwar getrocknet, aber noch nicht alt, und wurde wahrscheinlich in den letzten zwölf bis vierundzwanzig Stunden vergossen. Das Blut könnte von einem Mitglied der Besatzung stammen oder . «, sie hielt inne und versuchte, nicht an Eadulf zu denken, »oder von einem Passagier.«

»Warum nicht von einem der Plünderer?« wollte Ross wissen. »Von einem von denen, die die Ladung oder die Besatzung mitnahmen?«

Fidelma dachte über diesen Einwand nach und räumte auch diese Möglichkeit ein.

»Schon denkbar. Aber wer kann mit Sicherheit behaupten, daß es überhaupt Plünderer gab? Vielleicht hat die Besatzung selbst die Ladung mitgenommen und das Schiff verlassen?«

Sie hob die Hand, als Ross etwas entgegnen wollte. »Schon gut. Das Wichtigste ist, daß das Blut allem Anschein nach in der Zeit vergossen wurde, als die Besatzung verschwand: als das, was ihr zustieß - was immer es war -, gerade geschah.«

Ross wartete, während sie die Ereignisse noch einmal Revue passieren ließ.

»Die Vertäuung des Schiffes wurde vorn und achtern durchtrennt, wahrscheinlich mit einer Axt. Das bedeutet, daß es irgendwo festgemacht haben muß und nicht einfach in einem Hafen vor Anker lag, denn der Anker ist noch an seinem Platz, nur die Verankerungstaue sind abgeschnitten. Warum? Warum die Taue nicht einfach lösen? Hatte jemand an Bord es so eilig, von irgendwo wegzukommen? Oder wurde das Schiff an einem anderen Schiff vertäut und dann losgemacht?«

Ross blickte Fidelma voll Bewunderung an, während sie die verschiedenen Möglichkeiten hervorsprudelte.

»Wie lange war es schon in Sichtweite, als wir an Bord gingen?« fragte sie plötzlich.

»Ich bemerkte es etwa eine halbe Stunde, bevor Odar mich darauf aufmerksam machte. Wir brauchten eine weitere halbe Stunde, um es einzuholen.«

»Das bedeutet, daß sich das Schiff möglicherweise in Küstennähe befand, als sich die geheimnisvollen Ereignisse zutrugen. Stimmt Ihr mir zu?«

»Warum das?«

»Das Schiff muß innerhalb der letzten zwölf bis vierundzwanzig Stunden, bevor wir es entdeckten, überfallen worden sein.« Plötzlich richtete sie sich auf. »Ihr kennt diese Küste gut, nicht wahr, Ross?«

»Ich kenne sie«, räumte er ohne prahlerischen Unterton ein. »Ich segle seit vierzig Jahren in diesen Gewässern.«

»Könntet Ihr anhand von Wind und Strömungen berechnen, von wo aus das Schiff zu der Stelle gesegelt ist, an der Ihr es zuerst gesichtet habt?«

Ross blickte in Fidelmas aufgeregtes Gesicht. Er wollte sie nicht enttäuschen.

»Das ist schwierig, selbst wenn man die Strömungen kennt. Und der Wind hier ist wechselhaft und unbeständig.«

Fidelma zog enttäuscht die Mundwinkel nach unten.

Als er ihre Unzufriedenheit sah, fügte er hastig hinzu: »Aber vielleicht gelingt mir eine gute Schätzung. Ich halte es für vertretbar zu behaupten, daß es zwei mögliche Stellen gibt. An der Einfahrt zu dieser Bucht, oder weiter unten an der Südspitze der Halbinsel. Die Strömungen dort würden das Schiff mit Sicherheit zu der Stelle treiben, wo wir es zuerst entdeckten.«

»Damit haben wir ein riesiges Gebiet.« Fidelma war noch nicht zufrieden.

»Dieser Freund, dem die Büchertasche gehört . « Ross wechselte das Thema und fragte zögernd: »Dieser Freund ... war er ein guter Freund?«

»Ja.«

Ihm entging die Anspannung in ihrer Stimme nicht, als sie die einsilbige Antwort hervorstieß. Er wartete einen Augenblick und sagte dann leise: »Ich habe eine Tochter in Eurem Alter, Schwester. Sie lebt an Land und ist verheiratet. Ihre Mutter ist mit einem anderen Mann zusammen. Ich kann nicht von mir behaupten, die Frauen zu verstehen. Aber eines weiß ich: der Mann meiner Tochter ist auf See verschollen. An dem Morgen, als die Nachricht Ros Ailithir erreichte, sah ich in ihren Augen denselben Ausdruck von Schmerz und Qual, den ich jetzt in Eurem Blick erkenne.«

Abwehrend, mit einem ärgerlichen Schnauben, riß Fidelma sich zusammen.

»Bruder Eadulf ist lediglich ein Freund von mir, weiter nichts. Falls er in Schwierigkeiten ist, werde ich alles daransetzen, ihm zu helfen.«

Ross nickte verständnisvoll.

»Schon recht«, sagte er ruhig. Sie wußte, daß er sich von ihrem Protest keineswegs täuschen ließ.

»Und im Augenblick«, fuhr sie fort, »habe ich anderes zu tun. Zunächst bin ich Äbtissin Draigen verpflichtet. Ich bleibe möglicherweise mehrere Tage in der Abtei, bevor ich Zeit zum Suchen finde. Und nach was soll ich eigentlich suchen?«

»Selbstverständlich kommt zuerst Eure Pflicht«, bestätigte Ross. »Dennoch, wenn es Euch weiterhilft, Schwester, könnte ich, während Ihr Euch in der Abtei aufhaltet, mit meiner barc zu den Stellen segeln, die ich genannt habe, um zu sehen, ob sich dort irgendwelche Hinweise zur Lösung dieses Rätsels finden. Ich werde Odar und einen zweiten Mann zurücklassen, um das gallische Schiff zu bewachen. Ihr könnt Euch an sie wenden, wann immer Ihr sie benötigt.«

Fidelma errötete. Dann beugte sie sich plötzlich vor und drückte dem alten Seemann einen Kuß auf die Wange.

»Seid gesegnet, Ross.« Ihre Stimme geriet ins Stok-ken, ohne daß sie das überspielen konnte.

Ross lächelte verlegen.

»Nicht der Rede wert. Wir segeln mit der Flut frühmorgens los und kehren innerhalb von ein bis zwei Tagen zurück, nicht später. Falls wir etwas entdecken .«

»Kommt und benachrichtigt mich als erste.«

»Wie Ihr wünscht«, willigte der Seemann ein.

Von jenseits des dunkler werdenden Wassers der Meerenge hörten sie das Läuten einer Glocke.

»Zeit für mich, zur Abtei zu fahren.« Fidelma trat vor an die Reling. Sie hielt inne und warf einen raschen Blick über die Schulter. »Möge Gott über Eure Reise wachen, Ross.« Ihr Gesichtsausdruck war ernst. »Ich fürchte, hier sind böse Menschen am Werk. Ich möchte Euch nicht verlieren.«