172648.fb2 Die Tote im Klosterbrunnen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 15

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Kapitel 13

Schwester Lerben war in der Kapelle und polierte das große, reichverzierte goldene Kreuz, das auf dem Altar stand. Sie war eifrig über ihre Arbeit gebeugt und hatte ihr hübsches Gesicht vor Konzentration in Falten gelegt. Das dumpfe Geräusch der Tür, die hinter Fidelma ins Schloß fiel, ließ sie aufblicken. Sie richtete sich auf, während die ddlaigh den Gang zwischen den verlassenen Bankreihen heraufkam und vor ihr stehenblieb. Lerbens Miene verriet, daß ihr dieser Besuch nicht gerade willkommen war. Fidelma konnte deutlich das herausfordernde Funkeln und die Abneigung in ihren Augen sehen.

»Was wollt Ihr?«

Lerben sprach mit ihrer klaren, eiskalten, hellen Stimme. Anstelle von Ärger empfand Fidelma Mitleid mit ihr. Sie wirkte wie ein kleines Mädchen, verstockt und zornig - und schutzbedürftig. Ein kleines, wütendes Mädchen, das von einem Erwachsenen gerade bei etwas Verbotenem erwischt worden war. Ihre arrogante Maske war störrischer Streitsucht gewichen.

»Es gibt da ein paar Fragen, die ich Euch stellen muß«, antwortete Fidelma liebenswürdig.

Schwester Lerben schob das Kreuz in aller Ruhe zurück an seinen Platz und faltete sorgfältig das Stück Leinen zusammen, mit dem sie es poliert hatte. Fidelma war schon früher aufgefallen, daß die Bewegungen der Novizin überaus präzise und besonnen waren. Schließlich drehte sie sich um und stand mit verschränkten Armen da. Ihre Augen waren auf einen Punkt direkt hinter Fidelmas Schulter gerichtet.

Die ddlaigh deutete abgespannt auf eine der Bänke.

»Laßt uns einen Augenblick Platz nehmen und reden, Schwester Lerben.«

»Ist das ein offizielles Gespräch?« wollte Lerben wissen.

Fidelma antwortete gleichgültig.

»Offiziell? Wenn Ihr damit meint, ob ich in meiner Eigenschaft als ddlaigh der Gerichtsbarkeit mit Euch sprechen möchte, dann ist es offiziell. Aber die Dinge, die hier möglicherweise zur Sprache kommen, werden nicht schriftlich festgehalten.«

Schwester Lerben schien sich widerwillig in die Situation zu fügen und nahm Platz. Ihre Augen wichen Fidelmas prüfendem Blick aus.

»Seid versichert, daß nichts, was Ihr hier sagt, an Eure Äbtissin weitergeleitet wird.« Fidelma bemühte sich, dem Mädchen die Befangenheit zu nehmen, und fragte sich gleichzeitig, wie sie das Thema am besten ansprechen sollte. Sie setzte sich neben Lerben, die weiterhin schwieg. »Laßt uns den Streit vergessen, den wir hatten. Auch ich war stolz, als ich in Euerm Alter war. Auch ich dachte, ich wüßte über vieles Bescheid. Aber über das Kirchenrecht wart Ihr falsch informiert. Ich bin immerhin Advokatin der Gerichtsbarkeit, und wenn Ihr versucht, Eure Kenntnisse auf diesem Gebiet mit den meinen zu messen, zieht Ihr unweigerlich den kürzeren. Ich will damit nicht angeben, sondern lediglich eine Tatsache feststellen.«

Das Mädchen erwiderte noch immer nichts.

»Ich weiß, daß Äbtissin Draigen Eure Beraterin war.« Fidelma versuchte, sie durch diese Bemerkung aus der Reserve zu locken.

»Äbtissin Draigen verfügt über großes Wissen«, fauchte Lerben. »Warum sollte ich ihre Worte anzweifeln?«

»Ihr bewundert Äbtissin Draigen. Das verstehe ich gut. Aber mit ihren Kenntnissen der Gesetze ist es nicht weit her.«

»Sie setzt sich für unsere Rechte ein. Für die Rechte der Frauen«, konterte Schwester Lerben.

»Ist es denn nötig, sich für die Rechte der Frauen einzusetzen? Ist denn der Schutz der Frauen im iri-schen Gesetz nicht eindeutig verankert? Frauen werden vor Vergewaltigung geschützt, vor sexueller Belästigung und sogar vor Beleidigung. Vor dem Gesetz sind Frauen den Männern gleichgestellt.«

»Manchmal ist das nicht genug«, erwiderte das Mädchen ernsthaft. »Äbtissin Draigen erkennt die Schwächen in unserer Gesellschaft und kämpft für mehr Rechte.«

»Das verstehe ich nicht. Vielleicht seid Ihr so gut und erklärt es mir. Wenn die Äbtissin mehr Rechte für Frauen anstrebt, warum sagt sie dann, die Fénechus-Gesetze müßten verworfen und die neuen Kirchengesetze angenommen werden? Warum befürwortet sie die Bußvorschriften, deren weltanschauliche Grundlagen sich aus dem römischen Recht entwickelt haben? Dieses Recht verweist die Frau in eine untergeordnete Rolle.«

Schwester Lerben war begierig, ihren Standpunkt zu erklären.

»Nach dem kanonischen Recht, das Draigen unterstützen möchte, wäre der Mord an einer Frau ein schlimmeres Verbrechen als der Mord an einem Mann. Leben für Leben. Im Augenblick schreiben die irischen Gesetze lediglich vor, daß eine Entschädigung gezahlt und der Mörder rehabilitiert werden muß. Dagegen verlangen die Gesetze, die die Kirche Roms vorschlägt, daß der Täter mit dem Leben zu bezahlen und zuvor körperliche Qualen zu erleiden hat. Die Äbtissin hat mir einige der Bußvorschriften gezeigt. Darin heißt es, einem Mann, der eine Frau tötet, werden Hände und Füße abgehackt und Schmerzen zugefügt, bevor er den Tod erleidet.«

Fidelma betrachtete den blutdürstigen Eifer des jungen Mädchens voller Abscheu.

»Und eine Frau wird für das gleiche Verbrechen bei lebendigem Leibe verbrannt«, gab Fidelma zu bedenken. »Ist es nicht besser, nach einer Entschädigung für das Opfer zu trachten anstatt Rache am Täter zu üben? Ist es nicht besser, zu versuchen, den Missetäter zu rehabilitieren und dem Opfer zu helfen, anstatt schmerzhaft Vergeltung zu üben, mit der man nichts weiter erreicht außer einen kurzen Moment der Genugtuung?«

Schwester Lerben schüttelte den Kopf und antwortete in leidenschaftlichem Tonfall: »Draigen sagt, daß schon in der Bibel steht: >Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß .. .<«

»Diese Worte aus dem Zweiten Buch Mose werden häufig zitiert«, unterbrach Fidelma müde. »Man sollte sich lieber die Worte Christi anschauen, der sagt etwas ganz anderes. Seht Euch das Evangelium des heiligen Matthäus an, dort steht: >Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: >Auge um Auge, Zahn um Zahn.< Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den anderen auch dar.< So lautet das Wort des Gottes, dem wir folgen.«

»Aber Äbtissin Draigen hat gesagt .«

Fidelma hob die Hand, um das Mädchen zum Schweigen zu bringen.

»Kein Rechtssystem ist vollkommen. Es nützt jedoch wenig, gute Gesetze um schlechterer willen abzulehnen. In unserem Land werden den Frauen Rechte und Schutz gewährt. Es herrscht Gleichheit vor dem Gesetz. Die fremden Gesetze, die sich über die Bußvorschriften in unser Land einschleichen, haben zur Folge, daß sich nur noch die Reichen und Mächtigen Gerechtigkeit leisten können.«

»Aber Äbtissin Draigen ...«

»... ist keine Rechtsgelehrte«, unterbrach Fidelma sie entschlossen. Sie wollte sich wirklich nicht auf eine Debatte über die Vorzüge rivalisierender Rechtssysteme einlassen, schon gar nicht mit einem jungen Mädchen, das sein gesamtes Wissen den Erklärungen einer voreingenommenen Autorität verdankte. Sie wußte genau, wo Draigen hinsichtlich der Unterstützung der neuen Bußvorschriften stand, die nach Fidelmas Einschätzung drohten, die Gesetze der fünf Königreiche allmählich auszuhöhlen.

Schwester Lerben verfiel in verstocktes Schweigen.

»Ich weiß, daß Ihr die Äbtissin bewundert«, setzte Fidelma von neuem an. »Das ist auch die richtige und angemessene Einstellung gegenüber der eigenen Mutter.«

»Ihr wißt es also?« Abwehrend reckte Schwester Lerben ihr Kinn.

»Sicher ist eine Abtei kein geeigneter Ort, um ein solches Geheimnis zu wahren?« fragte Fidelma nachsichtig. »Außerdem gibt es kein Gesetz, weder in der irischen noch in der römischen Kirche, das Liebe und Heirat zwischen Glaubensbrüdern und -schwestern verbietet.«

Sie konnte sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Wer aber das neue Kirchenrecht unterstützt, verbietet die Liebe.«

Fidelma wußte, daß sich in Europa in den letzten zweihundert Jahren eine kleine Gruppe zusammengefunden hatte, die ihre Zweifel an der Vereinbarkeit von Ehe und religiösem Leben lautstark zum Ausdruck brachte. Hieronymus und Ambrosius waren die Wortführer all derer, die das Zölibat für einen Zustand höherer geistlicher Erleuchtung hielten als die Ehe, und Papst Damasus, ein Freund von Hieronymus, war der erste Papst gewesen, der für diese Idee Partei ergriffen hatte. Doch selbst in Rom gab es erst eine kleine, aber nichtsdestoweniger einflußreiche Gruppe, die sich dafür einsetzte, alle Geistlichen zum Zölibat zu verpflichten, und die deshalb die schriftliche Niederlegung der Bußvorschriften vorantrieb. Erfreulicherweise fand diese Idee im römischen Kirchenrecht bisher noch keinen Rückhalt.

Schwester Lerben saß ausdruckslos da.

»Seit wann lebt Ihr in dieser Gemeinschaft, Lerben? Ich nehme an, seit Eurer Geburt?«

»Nein. Mit sieben Jahren wurde ich zu Pflegeeltern geschickt.«

In den fünf Königreichen war es unter den Wohlhabenden Brauch, ihre Kinder im Alter von sieben Jahren zu Pflegeeltern zu geben oder sie von einem Lehrer erziehen zu lassen. Jungen blieben bis zum siebzehnten Lebensjahr bei den Pflegefamilien, Mädchen bis zum vierzehnten.

»Und Ihr seid hierher zurückgekehrt, als Ihr vierzehn wart?« fragte Fidelma.

»Vor drei Jahren«, bestätigte das Mädchen.

»Habt Ihr nie daran gedacht, woanders hinzugehen als in die Abtei Eurer Mutter?«

»Nein, warum sollte ich? Nachdem ich fortgegangen war, hat sich hier vieles verändert. Meine Mutter hat alle Männer ausgeschlossen.«

»Verabscheut Ihr Männer so sehr?« fragte Fidelma überrascht.

»Ja!« Das Wort kam spontan und leidenschaftlich.

»Warum?«

»Männer sind schmutzige, ekelhafte Tiere.«

Angesichts des Ungestüms in ihrer Stimme fragte sich Fidelma, welch schreckliche Erfahrungen das Mädchen wohl so geprägt haben mochten.

»Ohne Männer würde die menschliche Rasse aussterben«, gab sie vorsichtig zu bedenken. »Euer Vater war ein Mann.«

»Dann laßt sie doch aussterben!« entgegnete Lerben unversöhnlich. »Mein Vater war ein Schwein.«

Der abgrundtiefe Haß, der ihr ins Gesicht geschrieben stand, erschreckte Fidelma zutiefst.

»Ich vermute, Ihr sprecht von Febal?«

»Ja.«

Allmählich nahm eine Idee in Fidelmas Kopf Gestalt an.

»Also war es Euer Vater, der Eure Einstellung zu Männern so negativ beeinflußt hat?« »Mein Vater ... ein rotglühender Stein in seinen Hals! Möge er ersticken!«

Die Verwünschungen waren mehr als gehässig.

»Was hat Euer Vater Euch angetan, daß Ihr ihn so haßt?«

»Es geht darum, was er meiner Mutter angetan hat. Ich möchte nicht über ihn sprechen.«

Schwester Lerbens Gesicht war kreidebleich, und ein Schauder durchlief ihre schlanke Gestalt, ein Schauder des Ekels. Fidelma begriff allmählich, daß ein schwerer Konflikt das Mädchen belastete.

»Also habt Ihr hier Trost gefunden?« sprach sie hastig weiter. »Habt Ihr mit einer der anderen Schwestern Freundschaft geschlossen?«

Das Mädchen zuckte gleichgültig die Achseln.

»Mit einigen.«

»Aber nicht mit Schwester Berrach?«

Lerben zuckte zusammen.

»Dieser Krüppel! Sie wäre besser gleich bei der Geburt gestorben.«

»Und Schwester Bronach?«

»Eine dumme, alte Frau. Ständig streicht sie um diese schwachsinnige Berrach herum! Die hat doch ihre besten Jahre längst hinter sich.«

»Was ist dann mit Schwester Siomha, der Verwalterin? Wart Ihr mit ihr befreundet?«

Schwester Lerben verzog das Gesicht.

»Die kam sich vielleicht wichtig vor. Sie war schmutzig und widerlich!«

»Warum? Warum schmutzig und widerlich, Ler-ben?« fragte Fidelma und musterte das errötete Gesicht der jungen Frau.

»Sie mochte Männer. Sie hatte einen Liebhaber.«

»Einen Liebhaber, Wißt Ihr, wer es war?«

»Ich denke, das liegt auf der Hand. In den letzten Wochen habe ich oft gesehen, wie sie - wenn sie nachts nicht bei der Klepsydra Dienst tat - erst kurz vor Morgengrauen aus Adnars Festung zurückkehrte. Schwester Siomha pflegte sich nicht zu Liebschaften mit gemeinen Kriegern oder Bediensteten herabzulassen. Ihr müßt also nicht lange suchen, um herauszufinden, mit wem sie sich dem Laster hingegeben hat.«

»Meint Ihr Euern Onkel Adnar?«

»Ich nenne ihn nicht Onkel. Schwester Siomha war so von sich eingenommen. Sie wollte allen vorschreiben, was sie zu tun haben.«

»Immerhin war sie die rechtaire der Abtei«, gab Fidelma zu bedenken. »Habt Ihr mit Eurer Mutter über diese Sache gesprochen?«

Schwester Lerben reckte herausfordernd das Kinn.

»Nein. Und jetzt bin ich rechtaire.«

»Mit siebzehn?« Fidelma lächelte nachsichtig. »Ihr habt noch viel über das Leben als Nonne zu lernen, bevor Ihr ein solches Amt ernsthaft anstreben könnt.«

»Draigen hat mich zur rechtaire ernannt. Und damit basta.«

Fidelma beschloß, sich darüber nicht weiter zu streiten. Es gab wichtigere Dinge.

»Wie gut kennt Ihr Schwester Comnat und Schwester Almu?«

Lerben zuckte zusammen. Daß Fidelma von einem Thema zum anderen wechselte, schien sie aus der Fassung zu bringen.

»Ich kannte sie, Ja.«

»Kannte? Ist denn Comnat nicht mehr Bibliothekarin und Almu ihre Gehilfin?«

»Sie sind nach Ard Fhearta aufgebrochen und nun schon seit einigen Wochen fort. Es ist ganz normal, von ihnen zu sprechen, als wären sie nicht da.«

»Wie gut kanntet Ihr sie?« verbesserte sich Fidelma.

»Comnat habe ich nur während der Gottesdienste gesehen. Eine alte Frau. Älter als Bronach.«

»Ihr hattet nicht viel mit ihr zu tun?«

»Sie verbrachte die meiste Zeit in der Bibliothek und den Rest in der Abgeschiedenheit ihrer Zelle, im Gebet.«

»Interessiert Ihr Euch denn nicht für Bücher?«

»Ich kann nicht richtig lesen und schreiben. Drai-gen unterrichtet mich noch.«

Fidelma war schockiert.

»Ich dachte, man hätte Euch zur Ausbildung fortgeschickt?«

»Mein Vater hat das arrangiert. Ich wurde zu einem versoffenen Bauern gebracht. Zehn Meilen östlich von hier liegt eine Stadt, Eadar Ghabhal. Ich wurde dorthin geschickt, um als Bedienstete zu arbeiten. Es erging mir nicht besser als einer Sklavin.«

»Und man hat Euch weder Lesen noch Schreiben beigebracht?«

»Nein.«

»Wußten denn Euer Vater oder Eure Mutter, was das für ein Ort war, an den man Euch geschickt hatte?«

»Mein Vater wußte ganz genau Bescheid, deshalb hat er das Ja arrangiert. Es war das letzte Mal, daß meine Mutter ihm gestattet hat, sich in unser Leben einzumischen. Er kam häufig und besuchte den Bauern.« Lerbens Stimme verriet ihre lange angestaute Wut. »Dort habe ich gelernt, was Männer für Schweine sind. Der Bauer ... er hat mich vergewaltigt. Schließlich ist es mir gelungen, von diesem verruchten Ort zu fliehen. Meine Mutter erfuhr von all dem erst, nachdem ich in die Abtei zurückgekehrt war. Mein Vater hatte ihr die Wahrheit verschwiegen. Das war seine Rache an ihr. Dann kam der Bauer hier betrunken an, zusammen mit Febal. Sie versuchten, mich zur Rückkehr zu bewegen, und gaben vor, ich hätte den Bauern bestohlen und den Vertrag, den mein Vater ausgehandelt hatte, gebrochen. Draigen hat mich beschützt, sie hat mir hier Zuflucht gewährt und die beiden davongejagt.«

»Und was wurde aus dem Bauern?«

»Er kam ums Leben, als sein Hof niederbrannte.«

Fidelma musterte prüfend die Miene des Mädchens, doch sie verriet nichts. Sie war beinahe so ausdruckslos, als hätte Lerben jedes Gefühl daraus verbannt.

»Habt Ihr Euern Vater seitdem gesehen?«

»Nur noch von weitem. Meine Mutter sagte ihm zur Warnung, daß er seines Lebens nicht mehr sicher sei, falls er noch einmal versuchen sollte, mir ein Leid anzutun.«

Fidelma saß einen Augenblick schweigend da und ließ sich das Gehörte durch den Kopf gehen.

»Ihr sagt, Draigen unterrichtet Euch seit Eurer Rückkehr in die Abtei im Lesen und Schreiben?«

»Wenn sie Zeit hat.«

»Was ist mit Schwester Almu? Sie ist jung, sicher kaum älter als Ihr? Sie ist eine gelehrige Schülerin und hätte Euch doch Lesen und Schreiben beibringen können?«

Fidelma entging nicht, daß das Mädchen zögerte.

»Ich verstehe mich nicht so gut mit Almu. Sie ist ungefähr ein Jahr älter als ich, und Schwester Siomha war ihre Freundin.«

»Ist Almu hübsch?«

»Das kommt darauf an, was man unter >hübsch< versteht.«

Das war zugegebenermaßen eine schlagfertige Erwiderung.

»Mögt Ihr sie?«

»Ich kenne sie nicht sehr gut. Sie arbeitet ebenfalls in der Bibliothek und schreibt dort verstaubte alte Bücher ab. Warum stellt Ihr mir all diese Fragen?«

»Ach, nur, um mir ein genaueres Bild machen zu können.« Fidelma erhob sich. »Das war’s auch schon.«

»Dann werde ich, sobald Ihr geht, zu meinen Pflichten zurückkehren.«

Fidelma antwortete mit einer vagen Geste der Zustimmung und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Dort blieb sie stehen und warf einen Blick zurück, als sei ihr nachträglich noch etwas eingefallen.

»Warum habt Ihr gesagt, daß Schwester Bronach ihre besten Jahre hinter sich hat?« fragte sie mit schneidender Stimme. »Was habt Ihr damit gemeint?«

Schwester Lerben, die sich nun wieder dem Polieren der goldenen Ikonen und Statuen in der Kapelle widmete, sah auf. Einen Augenblick schien es, als hätte sie Fidelma nicht verstanden, doch dann erhellte sich ihr Gesichtsausdruck.

»Sie ist alt. Draigen sagt, sie hat ihren Mann und ihr Kind gehabt und hat jetzt nichts mehr vom Leben zu erwarten. Draigen sagt ...«

Fidelma war bereits nachdenklich hinausgegangen.

Sie war noch immer tief in Gedanken versunken, als Adnars Bootsmann im Gästehaus der Abtei melden ließ, er sei gekommen, um sie zur Festung des bo-aire hinüberzurudern. Es war schon dunkel, doch am Boot waren vorn und achtern Laternen angebracht, und zwei Mann legten sich in die Riemen, so daß das Fahrzeug durch das schwarze Wasser schnitt und, so schien es zumindest, in wenigen Minuten übersetzte. Fidelma wurde auf den dunklen Kai hinaufgereicht, und der Bootsmann, der eine der Lampen trug, leuchtete ihr die Stufen hinauf und in die Festung hinein.

Im Inneren der Granitmauern war Dun Boi hell erleuchtet, überall brannten Fackeln, und aus den Hauptgebäuden drang Musik herüber. Hier und dort gingen Wachen auf und ab, doch ansonsten wirkte die Zitadelle recht friedlich.

Adnar eilte die Treppe herunter und streckte Fidelma zur Begrüßung die Hände entgegen.

»Willkommen, Schwester Fidelma. Willkommen. Ich freue mich, daß Ihr gekommen seid.«

Er ging voraus, die hölzernen Stufen hinauf und in den großen Festsaal, wo sie tags zuvor das Morgenmahl eingenommen hatten. Die Einrichtung hatte sich nicht verändert, aber der riesige Tisch war mit Bergen von Speisen überladen, und im Kamin loderte ein gewaltiges Feuer, von dem eine ungeheure Hitze ausging. In einer Ecke spielte jemand leise auf einer Harfe.

Adnar half ihr höchstpersönlich, den Umhang abzulegen, und geleitete sie zu dem runden Tisch. Dort bückte sich ein Diener, um ihr die Schuhe auszuziehen. Sowohl in weltlichen als auch in kirchlichen Kreisen war es Brauch, Schuhe oder Sandalen abzulegen, bevor man sich zum Abendessen niedersetzte.

Olcan und Torcan waren ebenfalls anwesend. Die beiden jungen Männer begrüßten sie so überschwenglich und wortgewandt, daß es den Anschein hatte, als versuchten sie sich in puncto »gute Manieren« gegenseitig auszustechen. Nur Bruder Febal stand wortlos da und senkte den Blick. Sein Benehmen war fast schon unhöflich. Fidelma bemühte sich, ihre Abneigung gegen ihn nicht zu zeigen. Sie mußte für alles offen sein. Doch wenn Schwester Lerbens Behauptungen stimmten, war er ein verbitterter und böser Mensch.

Es war Olcan, der das Gespräch eröffnete.

»Wie geht Eure Untersuchung voran? Ich habe gehört, daß Ihr unseren Bruder Febal vernommen habt? Ist er denn nun der gefürchtete Frauenmörder?«

Bruder Febal schien seinen Humor nicht zu teilen.

Fidelma antwortete ernst.

»Wir werden warten müssen, bis die Untersuchung abgeschlossen ist, bevor wir uns ein Urteil erlauben können.«

Adnar hob die Augenbrauen in gespielter Überraschung.

»Möge der Himmel auf uns herabstürzen! Ich glaube, sie verdächtigt Euch tatsächlich, Febal.«

Bruder Febal zuckte die Achseln. Sein anziehendes Gesicht wirkte sanft.

»Ich habe die Wahrheit nicht zu fürchten.«

Ein Grinsen huschte über Olcans bläßliche Züge, und er deutete auf den Tisch.

»Nun, ich fürchte, ich verhungere, wenn wir das Mahl nicht bald beginnen. Schwester Fidelma, würdet Ihr uns die Ehre erweisen und das Gratias sprechen, wie es hier Brauch ist?«

Fidelma neigte den Kopf.

»Benedic nobis, Domine Dem, et omnibus donis Tuis quae ex largitate ...«

Nach dem Gebet setzten sie sich zu Tisch. Nun traten Diener heran, um den Wein einzuschenken und die Platten herumzureichen. Überrascht stellte Fidelma fest, daß Adnar nicht nur für jeden ein Messer hatte bereitlegen lassen - man aß mit einem Messer in der rechten Hand und benutzte links nur die Finger -, sondern daß jeder Tischgast auch eine saubere Umhbrat oder Serviette bekam, die normalerweise während des Essens über die Knie gebreitet und nach Beendigung der Mahlzeit zum Abwischen der Hände benutzt wurde. Im allgemeinen begegnete man solcher Kultiviertheit sonst nur bei Königen und Bischöfen. Adnar war offensichtlich daran gelegen, mit der vornehmen, festlich gedeckten Tafel seine gesellschaftliche Stellung hervorzuheben.

»Bitte fangt an, Fidelma. Möchtet Ihr lieber Wein oder Met?«

Silberne Pokale waren mit Rotwein aus fernen Ländern gefüllt, aber es standen auch Krüge mit heimischem Met auf dem Tisch. Sie sah, daß Bruder Fe-bal diesen dem Wein vorzog. Es gab Ochsenfleisch, Hammel und Wild, außerdem Fisch, Gänseeier und sogar eine Speise aus ron oder Robbenfleisch. Diese war früher sehr beliebt gewesen, wurde heutzutage jedoch kaum noch gegessen. Einer Überlieferung zufolge hatte einst ein Druide im Westen des Landes eine Familie in Robben verwandelt, und nun mochte niemand mehr Robbenfleisch essen, um nicht die eigenen Artgenossen zu verspeisen.

Fidelma nahm etwas von dem Wild, das mit wildwachsendem Knoblauch zubereitet war, dazu Gerstenfladen und Pastinaken.

»Ernsthaft«, ergriff Adnar das Wort, »wie geht Eure Untersuchung voran? Habt Ihr die Identität der Toten ohne Kopf inzwischen festgestellt?«

»Nicht mit Sicherheit«, erwiderte Fidelma und nippte an ihrem Wein.

Torcans Blick war durchdringend.

»Heißt das, Ihr habt eine Vermutung, um wen es sich handeln könnte?«

Fidelma gab vor, daß ihr Mund zu voll war, um sofort zu antworten.

»Nun, ich für mein Teil weiß, wer es getan hat«, murmelte Bruder Febal.

Der bleichgesichtige Olcan deutete mit dem Messer auf Febal.

»Das habt Ihr Schwester Fidelma gegenüber bereits klargestellt. Sicher hat Äbtissin Draigen nicht gerade Eure Zuneigung geweckt.«

»Sie weckt sie aber in ihrer Tochter«, bemerkte Fidelma leise.

Bruder Febal verstand die Veränderung ihrer Tonlage sofort.

»Ihr habt also mit Lerben gesprochen?« Er schien keineswegs beunruhigt. »Nun, sie ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ihre Mutter. Lügnerinnen, alle beide!«

»Ist sie nicht auch aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ihr Vater?« fragte Fidelma mit Unschuldsmiene.

Bruder Febal wollte gerade etwas entgegnen, schien sich jedoch eines Besseren zu besinnen. Er versuchte, Fidelmas Gesichtsausdruck zu deuten.

»Falls sie mich beschuldigt hat ...« hob er an, und sein Gesicht wurde zornesrot.

»Wessen könnte sie Euch beschuldigen?«

Bruder Febal schüttelte abwehrend den Kopf.

»Nichts. Nichts. Das Mädchen ist einfach eine zwanghafte Lügnerin. Das ist alles.«

»Und Ihr wollt immer noch behaupten, daß ihre Mutter sich mehr für Frauen interessiert als für Männer? Wollt Ihr diese Beschuldigung aufrechterhalten? Und die Beschuldigung, daß Mutter und Tochter eine widernatürliche Beziehung unterhalten?«

»Habe ich das nicht gesagt?«

»In der Abtei teilt sonst niemand Eure Ansicht. Nicht einmal Schwester Bronach, die Ihr als Eure Zeugin angegeben habt.«

»Niemand in der Abtei hat den Mut, sich gegen Draigen zu stellen, am allerwenigsten Bronach, diese selbsternannte Märtyrerin!«

Fidelma bemerkte, daß Torcan Bruder Febal mit neugieriger Miene musterte. Es war wieder einmal Ol-can, der die Spannung auflöste, die in dem Gespräch plötzlich entstanden war.

»Nach allem, was ich so höre, glaube ich persönlich, daß es sich bei dem Mörder um einen Wahnsinnigen handelt. Es gibt so viele Geschichten über seltsame Gebirgsbewohner, die Leute überfallen und ermorden. Welcher normale Mensch würde denn einem Leichnam den Kopf abschneiden?«

»Dann müßt Ihr auch der Ansicht sein, daß unsere Vorfahren wahnsinnig waren.« Torcans Tonfall war ernst, doch er lächelte, während er sprach. »Vor vielen, vielen Jahren war es nämlich weit verbreitet, einen getöteten Feind zu enthaupten.«

»Ich habe von diesem alten Brauch gehört«, bemerkte Fidelma. »Wißt Ihr mehr darüber?«

Der Sohn des Prinzen der Ui Fidgenti wählte sich mit dem Messer noch ein Stück Fleisch aus und antwortete mit einem Kopfnicken.

»Früher war das unter Kriegern allgemein üblich. Nach einer Schlacht schnitten die tapfersten Krieger den getöteten Feinden die Köpfe ab, hängten sie an ihre Streitwagen und fuhren im Triumphzug zurück zu ihren Festungen. Hat nicht der große Held Conall Cearnach gelobt, niemals ohne den Kopf eines Feindes unter seinem Knie schlafen zu gehen?«

»Warum sollten sie das tun?« wollte Olcan wissen. »Den Kopf ihrer Feinde abschneiden? Es war doch sicher schon schwierig genug, im Kampf zu überleben, auch ohne mit solch sinnlosen Dingen die Zeit zu vergeuden.«

Hierauf wußte Fidelma eine Antwort.

»In alten Zeiten, bevor das Christentum bei uns Einzug hielt, glaubte man, die Seele des Menschen sei im Kopf zu finden. Der Kopf galt als Sitz des Verstandes und der Vernunft. Was sonst konnte solche Gedanken hervorbringen, wenn nicht die Seele? Wenn der Körper starb, blieb die Seele dort, bis sie in die Anderswelt gelangte. Habe ich nicht recht, Bruder Febal?«

Bruder Febal zuckte zusammen, als sie ihn in so freundlichem Ton ansprach, und nickte widerwillig.

»Das glaubte man früher, soviel ich weiß. Bis vor kurzem galt es noch als Zeichen der Achtung und Zuneigung, wenn man jemandem bei der Begrüßung den Kopf in den Schoß legte.«

»Aber warum schnitten die Krieger ihren Feinden den Kopf ab?« wollte Olcan wissen.

»Das war so«, erklärte Torcan: »Unter den Kriegern herrschte früher die Überzeugung, daß sie sich durch das Abschneiden des Kopfes der Seele ihres Feindes bemächtigen konnten. War der Feind ein großer Kämpfer und siegreicher Held, dann - so glaubten sie - würde dadurch etwas von seiner Größe auf sie übergehen.«

»Eine primitive Vorstellung«, murmelte Olcan.

»Vielleicht«, räumte Torcan ein. »Anstatt all die Geschichten über die Heiligen und das Christentum zu lesen, solltet Ihr Euch besser die Erzählungen über unsere alten Helden anhören, zum Beispiel über Cu-chullain, der mit seinem Streitwagen, mit Hunderten von Köpfen geschmückt, in Dun Dealg einfuhr.«

Adnar ermahnte seine Gäste.

»In Anwesenheit einer Frau ist das wohl kaum eine passende Unterhaltung.«

»An diesen Ritualen beteiligten sich sogar die großen irischen Kriegerinnen«, erklärte Torcan und ignorierte geflissentlich Adnars Bemerkung.

»Ihr scheint eine Menge darüber zu wissen«, stellte Fidelma fest. »Sagt, Torcan, würde man auch den Kopf von jemandem abschneiden, der beispielsweise ein Mörder war?«

Torcan war von der Frage überrascht.

»Was veranlaßt Euch zu dieser Überlegung?«

»Reine Neugier.«

»In früherer Zeit spielte das keine Rolle, solange man die Person als großen Krieger, Helden oder Anführer seines Volkes betrachtete.«

»Wenn also jemand, der von den alten Traditionen durchdrungen ist, einen Feind träfe und diesen Feind als Mörder betrachtete, könnte er ihm ohne weiteres den Kopf abschneiden, sozusagen als Symbol?«

Olcans schmales Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.

»Ich beginne zu begreifen, worauf die Fragen der guten Schwester abzielen.«

Bruder Febal stieß ein entrüstetes Schnauben hervor und beugte sich tief über seinen Metkrug.

Torcan blickte verwundert drein.

»Das kann ich von mir nicht behaupten«, gab er zu. »Aber, um Eure Frage zu beantworten, möglich ist es. Warum fragt Ihr?«

»Sie fragt, weil sie vermutet, daß die Tote ohne Kopf und die enthauptete Schwester Siomha einem unserer Vorfahren aus der Zeit der Kopfjäger zum Opfer gefallen sind!« höhnte Bruder Febal.

Fidelma blieb gelassen und ignorierte die Provokation.

»Nicht ganz, Febal. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß der Mörder - wer immer es sein mag - eine gewisse Symbolik in seine Tötungsmethode eingebaut hat.«

Adnar beugte sich interessiert über den Tisch.

»Was für eine Symbolik?«

»Genau das will ich herausfinden«, erwiderte Fidelma. »Außerdem legt der Mörder es darauf an, daß derjenige, der die jeweilige Leiche findet, die Symbolik kennt und ihre Bedeutung versteht.«

»Ihr meint, der Mörder gibt Euch Hinweise auf seine Ziele und Tatmotive?« fragte der junge Olcan staunend.

»Seine oder ihre Tatmotive«, verbesserte Fidelma ihn liebenswürdig. »Ja. Ich glaube inzwischen, der Zustand, in dem er die Leichen hinterlassen hat, enthält eine Botschaft für diejenigen, die sie finden.«

Bruder Febal knallte seinen Becher auf den Tisch.

»Unsinn! Die Morde sind Auswüchse eines kranken Hirns. Und ich weiß, wessen Hirn das allerkrän-keste auf dieser Halbinsel ist.«

Adnar seufzte unglücklich.

»Ich kann dieser Einschätzung nicht widersprechen. Vielleicht sind die Symbole, von denen Ihr sprecht, Schwester Fidelma, aber auch nur ein Trick, um Euch bei Euren Nachforschungen abzulenken? Ein Versuch, Euch auf eine Spur zu bringen, die ins Leere führt?«

Fidelma beugte den Kopf zum Zeichen, daß sie dieses Argument in Erwägung zog.

»Das mag schon sein«, pflichtete sie ihm nach kurzem Überlegen bei. »Dennoch bin ich überzeugt, daß die Symbolik den Täter schließlich entlarven wird, ob das nun beabsichtigt ist oder nicht. Und für das, was Ihr mir über die Bedeutung der Enthauptung erzählt habt, Torcan, bin ich Euch sehr verbunden.«

»Ha!« schmunzelte Olcan. »Ich glaube, Torcan, Ihr habt Euch damit in den Augen der guten Schwester äußerst verdächtig gemacht. Nicht wahr, Fidelma?«

Sie ignorierte seinen spöttischen Tonfall.

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Torcan mit ernstem Blick.

»Schwester Fidelma weiß doch ganz genau, daß ich, falls ich darauf verfallen wäre, die Leichen meiner Opfer so gräßlich zugerichtet in der Gegend herumliegen zu lassen, nicht auch noch angefangen hätte, derart ausführlich über die Symbolik zu reden und damit ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.«

Fidelma neigte den Kopf in seine Richtung.

»Andererseits«, ergänzte sie mit grimmigem Lächeln, »kann es durchaus sein, daß Ihr genau das tätet, um mich so von der richtigen Fährte abzulenken.«

Jetzt war es Olcan, der in sich hineinlachte und seinem Freund Torcan auf die Schulter schlug.

»Das habt Ihr davon! Jetzt müßt Ihr Euch wohl auch einen ddlaigh suchen, der Euch verteidigt.«

»Unsinn!« Einen Augenblick schaute Torcan besorgt drein. »Ich war nicht einmal hier, als der erste Mord begangen wurde ...«

Er unterbrach sich und grinste verlegen, da er merkte, daß sein Freund ihn auf die Schippe genommen hatte.

»Olcan hat einen merkwürdigen Sinn für Humor«, entschuldigte sich Adnar. »Ich bin sicher, Fidelma meint es nicht ernst, wenn sie sagt, Ihr könntet der Schuldige sein.«

»Ich glaube nicht, daß ich etwas derartiges auch nur angedeutet habe«, bemerkte sie ausweichend. »Ich habe lediglich auf Torcans hypothetische Behauptung reagiert. Der letzte, dem ich erzählen würde, daß er oder sie verdächtig ist, ist der Verdächtige selbst ... es sei denn, ich verfolgte damit einen bestimmten Zweck.«

»Wohl gesprochen«, erwiderte Adnar und ignorierte den letzten Punkt. »Laßt uns dieses makabere Gerede über Leichen und Mörder beenden.«

»Ich bitte um Verzeihung«, stimmte Fidelma ihm zu. »Aber unglücklicherweise gehören Leichen und Mörder nun mal zu meinem Beruf. Nichtdestotrotz bin ich Torcan zu Dank verpflichtet: seine Erklärungen der alten Bräuche sind ausgesprochen hilfreich für mich.«

Torcan wollte seine Kenntnisse herunterspielen.

»Ich interessiere mich für die Regeln der Krieger in früheren Zeiten und für ihre Methoden der Kriegsführung, das ist auch schon alles.«

»Ach? Ich dachte, Ihr seid fasziniert von unserer Geschichte und von historischen Berichten?« fragte Fidelma.

»Ich? Nein. Das trifft eher auf Olcan und Adnar zu. Die vertiefen sich gern in alte Bücher, nicht ich. Laßt Euch von meinem Gerede über alte Kriegsgebräuche nicht irreführen. Das lernt man alles während der Ausbildung zum Waffendienst.«

Einen Augenblick überlegte Fidelma, ob sie dem nachgehen und Torcan fragen sollte, warum er die Bi-bliothek der Abtei gebeten hatte, ihm eine Kopie der Chroniken von Clonmacnoise zu schicken. Bevor sie jedoch fortfahren konnte, sagte Bruder Febal: »Ich habe gesehen, daß Ross’ Schiff wieder im Hafen liegt.«

Alle hatten mitbekommen, daß die Bark von Kapitän Ross am Nachmittag in die Meerenge gesegelt war. Febals Einwurf bedurfte also keiner Erwiderung.

Olcan schenkte sich Wein nach. Sein hageres Gesicht war gerötet; er schien dem Alkohol munter zuzusprechen.

»Ich habe gehört, daß sein Schiff nahe der Insel Doirse gesichtet wurde, ein Stück die Küste hinunter«, fuhr Bruder Febal fort.

Diesmal konnte sie seine offensichtliche Aufforderung zu einer Stellungnahme nicht mehr ignorieren. Die ausgezeichnete Kommunikation unter Gulbans Leuten war ausgesprochen ärgerlich, doch Fidelma ließ sich nichts anmerken.

»Ich glaube, Ross ist regelmäßig in Geschäften entlang der Küste unterwegs«, antwortete sie.

»Ich hätte nicht gedacht, daß man mit Doirse große Geschäfte machen kann. Es ist eine karge Insel, vom Sturm umtost«, bemerkte Adnar.

»Mit den Handelsbedingungen an dieser Küste bin ich nicht vertraut«, erwiderte Fidelma.

Nun kam Bewegung in die Tischgesellschaft, Diener traten ein, räumten die Teller ab und brachten zum Nachtisch eine Auswahl neuer Schüsseln herein, mit Äpfeln, Honig und den verschiedensten Nüssen.

»Wir handeln viel mit Kupfer aus unseren Minen hier in der Nähe«, erklärte Olcan, während er sich erneut Wein nachschenkte.

Fidelma gab vor, die Schale mit den Nüssen zu untersuchen, doch sie hatte den Eindruck, daß Torcan sie anstarrte, als wolle er ihre Reaktionen prüfen.

»Ich habe gehört, daß es viele Kupferminen in diesem Bezirk gibt.« Es war besser, sich so weit wie möglich an die Wahrheit zu halten. »Treibt Ihr viel Handel mit anderen Ländern?«

»Manchmal kommen gallische Schiffe und tauschen Wein gegen Kupfer«, antwortete Adnar.

Fidelma hob ihren Becher, als wolle sie einen Trinkspruch ausbringen.

»Offensichtlich ein guter Tausch«, bemerkte sie lächelnd. »Besonders, wenn alle Weine so gut sind wie dieser.«

Adnar wendete weitere Fragen ab, indem er ihr mehr Wein anbot.

»Wie geht es Euerm Bruder, unserem König?« wollte Torcan unvermittelt wissen.

Sofort spürte Fidelma erneute Anspannung am Tisch. Sie war augenblicklich auf der Hut und fragte sich, ob die Geschichten stimmten, die Ross aufgeschnappt hatte. Die ganze Zeit hatte sie überlegt, wie sie das Thema anschneiden könnte, ohne Verdacht zu erregen. Sie mußte vorsichtig sein.

»Meinem Bruder Colgu? Ich habe ihn seit seiner Amtseinsetzung in Ros Ailithir nicht mehr gesehen.«

»Ach Ja. Mein Vater war dabei«, erwiderte Olcan und nahm sich einen Apfel.

»Meiner auch«, fügte Torcan eiskalt hinzu. »Wie ich höre, hat Colgu großartige Pläne für Muman.«

Fidelma tat die Bemerkung ab.

»Ich habe meinen Bruder nur das eine Mal gesehen, seit er König von Cashel wurde«, sagte sie. »Ich lebe in Kildare, im Kloster der Heiligen Erigida, und habe mich noch nie sonderlich für Muman interessiert.«

»Ach«, hauchte Torcan die Silbe wie einen leisen Atemzug.

Olcan wandte ihr einen mittlerweile etwas verschwommenen Blick zu.

»Aber Ihr wart in Ros Ailithir, als die Versammlung der Loigde die Ansprüche meines Vaters auf das Amt des Häuptlings zurückwies und statt dessen Bran Finn Mael Ochtraighe zum Häuptling ernannte?«

Fidelma nickte.

»Das hat meinen Vater sehr aufgeregt. Ihr kennt doch Bran Finn?«

Sie spürte aufkeimendes Unbehagen in der Runde.

»Wer kennt ihn nicht?« erwiderte sie. »Er ist ein berühmter Dichter und Krieger.«

»Mein Vater Gulban hält ihn für einen Thronräuber.«

»Olcan!« Torcan wandte sich mit einem mahnenden Blick an den Jüngling, der offenbar betrunken war.

»Ich hoffe, er wird sich als besserer Häuptling erweisen als Salbach«, entgegnete Fidelma.

Sie sah, daß Adnar Torcan einen warnenden Blick zuwarf und dabei verstohlen in Olcans Richtung nick-te, bevor er sich mit einschmeichelndem Lächeln Fidelma zuwandte.

»Das wird er bestimmt«, versicherte ihr der Häuptling von Dun Boi. »Er hat das Volk hinter sich, genau wie Euer Bruder Colgu. Nicht wahr, Torcan?«

»Ganz und gar nicht, wenn man meinem Vater Gulban glaubt«, murmelte Olcan.

»Achtet nicht auf ihn, Schwester Fidelma«, beschwichtigte Torcan. »Nach soviel Wein weiß er nicht mehr, was er redet.«

»Natürlich«, erwiderte Fidelma ernst, dachte dabei jedoch an das alte römische Sprichwort »in vino veritas«, im Wein liegt Wahrheit.

Torcan hob den Kopf.

»In der Tat, wir hoffen, bald in Cashel einzutreffen und dort höchstpersönlich unseren Treueid für Colgu abzulegen.«

Plötzlich spuckte Olcan in seinen Pokal, schüttete einen Teil des Inhalts über sich und begann heftig zu husten.

»Irgendwas . Irgendwas ist mir in die falsche Kehle geraten«, keuchte er und blickte verlegen in die Runde.

Torcan reichte ihm stirnrunzelnd ein Glas Wasser.

»Ihr habt für heute abend wohl genug getrunken«, tadelte er ihn streng.

Fidelma nutzte die Gelegenheit und erhob sich, da ihr bewußt wurde, wie spät es war.

»Es ist fast Mitternacht. Ich muß in die Abtei zurück.«

»Müßt Ihr wirklich schon gehen?« Torcan war die Höflichkeit in Person. »Adnar ist sehr stolz auf seine Musikanten, und wir haben ihren Darbietungen noch gar nicht lauschen können.«

»Vielen Dank, aber ich muß zurück.«

Adnar winkte einen Diener herbei und gab ihm flüsternd Anweisungen.

»Ich habe das Boot bestellt, das Euch hinüberbringt. Vielleicht kommt Ihr ein andermal und hört meinen Musikanten zu?«

»Gerne«, erwiderte Fidelma, während ein Bediensteter ihre Schuhe brachte und ihr in den Umhang half.

Als das Boot vom Anlegesteg von Dun Boi in die dunkle Nacht hinausfuhr, war Fidelma erleichtert, die düsteren, erdrückenden Mauern der Festung hinter sich zu lassen. Sie hatte das Gefühl, auf Messers Schneide gewandelt zu sein, zwischen Sicherheit und allergrößter Gefahr.