172647.fb2 Die Teufelshaube - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 11

Die Teufelshaube - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 11

Kapitel neun

Die Nonnen waren derselben Ansicht.

»Hab ich Euch richtig verstanden?«, sagte Mutter Edyve. »Ihr sagt, Mistress Dakers hat das arme Kind erhängt?«

Sie waren im Kapitelsaal, wo die Äbtissin sich mit ihren ältesten Nonnen beriet.

Sie hatten Adelia nicht gerade freudig begrüßt. Immerhin gab es wichtigere Dinge zu besprechen: Ihre Abtei war praktisch besetzt worden, und das von gefährlichen Söldnern; an ihrer Brücke baumelten Erhängte; falls sie weiter eingeschneit blieben, würden die Vorräte bald zur Neige gehen. Da waren sie weiß Gott nicht darauf erpicht, sich auch noch den seltsamen und beunruhigenden Bericht über einen Mord – Mord? – in ihrer Mitte anzuhören.

Dennoch, eines hatte Adelia richtig gemacht: Sie hatte Mansur mitgebracht. Dazu hatte Gyltha sie überredet. »Auf dich werden die nich hören«, hatte sie gesagt, »aber von dem alten Araber lassen sie sich vielleicht beeindrucken.« Und damit hatte sie recht behalten, wie Adelia nach ein paar Stunden Schlaf befand. Mansur war den Nonnen von ihrem Bischof empfohlen worden, er sah geheimnisvoll aus, er stand bei ihrer Infirmarin in hohem Ansehen. Vor allem war er ein Mann und genoss als solcher mehr Achtung als sie, auch wenn er Ausländer war.

Es war nicht leicht gewesen, noch vor Ende der Kapitelversammlung angehört zu werden, doch Adelia hatte sich geweigert, länger zu warten. »Es geht um eine Angelegenheit des Königs«, hatte sie gesagt. Und das stimmte auch. Jeder Mord fiel unter die königliche Gerichtsbarkeit, ganz gleich, wo er geschah.

Master Mansur, so erzählte sie ihnen, war darin geübt, Verbrechen aufzudecken, und ursprünglich von Henry II. nach England gerufen worden, um den Tod einiger Kinder in Cambridgeshire zu untersuchen – na ja, das hatte er ja auch in gewisser Weise –, und der Mörder war entlarvt worden.

Mansurs mangelnde Sprachkenntnisse hatte sie als Erklärung angeführt, dass sie für ihn übersetzen müsse. Adelia hatte die Nonnen angefleht, sich selbst die Spuren an Berthas Hals anzusehen, hatte ihnen die Beweise für den Mord vorgelegt … und regelrecht hören können, wie ihre Worte ebenso ins Leere gingen wie Berthas Finger, die nach der Kette gegriffen hatten, die sie strangulierte.

Sie beantwortete Mutter Edyves Frage: »Nein, Master Mansur klagt Dakers nicht an. Er sagt nur, dass jemand Bertha erhängt hat. Sie hat sich nicht selbst aufgehängt.«

Es war einfach zu grässlich für die Nonnen. Hier, in ihrem vertrauten englischen Kapitelsaal mit den mächtigen Holzstreben, stand eine hochragende Gestalt in fremdländischer Kleidung – ein Heide, ob nun vom König gerufen oder nicht – und erzählte ihnen mit Hilfe einer Frau von zweifelhaftem Ruf Dinge, die sie nicht hören wollten.

Sie hatten keinen Forschergeist. Anscheinend besaß keine von ihnen, nicht mal ihre kluge alte Äbtissin, die zügellose Neugier, von der Adelia getrieben wurde; eigentlich waren sie überhaupt nicht neugierig. Für sie hatten alle Fragen mit der Auferstehung Christi und den Regeln des heiligen Benedikt ihre Antwort gefunden.

Außerdem lag ihnen die irdische Gerechtigkeit nicht sonderlich am Herzen. Der Mörder, so es denn einen gab, würde weitaus schrecklicher bestraft werden – wenn er einst vor den göttlichen Richter trat, der um alle Sünden wusste –, als ein irdisches Gericht das je vermocht hätte.

Der Gürtel, die zerrissene Kette und die Kordel zum Messen lagen zusammengerollt auf dem Tisch vor ihnen, doch sie wandten die Augen ab.

Gut und schön, sagten sie, aber war der Abstand zwischen Berthas Füßen und dem Melkschemel denn wirklich wichtig? Das arme irregeleitete Mädchen hätte doch gewiss auch mit dem Gürtel um den Hals auf eine der Trennwände im Kuhstall steigen und von dort springen können? Wer konnte schon ermessen, wie viel Kraft die Verzweiflung einem Menschen verlieh? Ja, Bertha hatte sich davor gefürchtet, was die Haushälterin ihr antun könnte, aber sprach das denn nicht gerade für Selbsttötung?

Rowley, wenn du doch hier wärst …

»Es war Mord«, beharrte Adelia, »Master Mansur hat bewiesen, dass es Mord war.«

Mutter Edyve sagte nachdenklich: »So viel Kraft hätte ich Dakers gar nicht zugetraut.«

Adelia verzweifelte. Es war wie mit einer Röstgabel, bei der immer abwechselnd eine Seite dem Feuer zugewandt wurde. Falls Bertha ermordet worden war, dann von Dakers, die Rosamunds Tod rächen wollte – von wem auch sonst? Falls Dakers nicht die Mörderin war, dann hatte Bertha sich eben selbst getötet.

»Vielleicht war es ja einer von Wolvercotes oder Schwyz’ Flamen«, warf Schwester Bullard, die Cellerarin, ein. »Das sind lüsterne, gewalttätige Männer, besonders, wenn sie berauscht sind. Dabei fällt mir ein, Mutter, wir müssen unseren Keller bewachen lassen. Die Fremden stehlen unseren Wein.«

Prompt setzte eine Flut von Klagen ein: »Mutter, wie sollen wir sie bloß alle satt bekommen?«

»Mutter, die Söldner … ich bange um unsere jungen Frauen.«

»Und um unsere Freunde und Nachbarn – bedenkt nur, wie sie den armen Müller verprügelt haben.«

»Die Höflinge sind noch schlimmer, Mutter. Was für unanständige Lieder die singen …«

Adelia hatte Mitleid mit ihnen. Als ob sie nicht schon genug Sorgen hätten, standen jetzt auch noch zwei Fremde vor ihnen, die mit einem auf der Brücke gefundenen Ermordeten in Godstow aufgetaucht waren und ihnen nun erklärten, dass ein weiterer Mörder in ihrer Abtei sein Unwesen trieb.

Die Schwestern gaben ihnen an keinem der beiden Todesfälle die Schuld – das konnten sie auch gar nicht –, doch Adelia hatte einige schiefe Blicke unter den Nonnenschleiern erhascht und wusste, dass ihr und Mansur jetzt Aasgeruch anhaftete.

»Selbst wenn Master Mansur die Wahrheit sagt, Mutter«, gab Schwester Gregoria, die Almosenpflegerin, zu bedenken, »was können wir tun? Wir sind eingeschneit. Erst wenn Tauwetter einsetzt, könnten wir den Leichenbeschauer des Sheriffs kommen lassen.«

»Und solange der Schnee liegenbleibt, kann König Henry uns nicht befreien«, stellte Schwester Bullard fest. »Bis dahin ist unsere Abtei, unser Fortbestand in Gefahr.«

Das war ihre Hauptsorge. Ihre Abtei hatte einen Krieg zwischen Monarchen überstanden, einen zweiten würde sie vielleicht nicht überstehen. Falls es der Königin gelang, den König zu stürzen, wäre sie gezwungen, Wolvercote zu belohnen, der ihren Sieg ermöglicht hatte. Und Lord Wolvercote gelüstete es schon lange nach Godstow und seinen Ländereien. Den Nonnen drohte eine Zukunft, in der sie sich ihr Brot auf den Straßen würden erbetteln müssen.

»Erlaubt Master Mansur, mit seinen Ermittlungen fortzufahren«, bettelte Adelia. »Zumindest begrabt Bertha nicht in ungeweihter Erde, bis alle Fakten geklärt sind.«

Mutter Edyve nickte. »Bitte sagt Master Mansur, dass wir ihm für seine Bemühungen danken«, sagte sie mit ihrer klaren, emotionslosen Stimme. »Überlasst es uns, Dakers zu befragen. Danach werden wir in dieser Sache um Gottes Rat beten.«

Sie waren entlassen. Mansur und Adelia mussten sich verneigen und gehen.

Noch ehe sie die Tür erreichten, ging hinter ihnen schon wieder die Debatte weiter – aber sie drehte sich nicht um Bertha … »Ja, aber wo ist der König? Wie soll er uns zu Hilfe kommen, wenn er nicht mal weiß, dass wir sie benötigen? Wir können nicht darauf vertrauen, dass Bischof Rowley ihn erreicht hat – ich fürchte, er ist tot.«

Als sie den Kapitelsaal verließen, sagte Mansur: »Die Frauen haben Angst. Sie werden uns nicht helfen, den Mörder zu finden.«

»Ich hab sie nicht mal davon überzeugt, dass es überhaupt einen Mörder gibt«, sagte Adelia.

Sie gingen gerade um das Hospital herum, als eine Stimme hinter ihnen Adelias Namen rief. Es war die Priorin. Sie kam atemlos angelaufen. »Auf ein Wort, bitte, Mistress.« Adelia nickte, verabschiedete Mansur mit einer Verbeugung und drehte sich um.

Eine Weile gingen die beiden Frauen schweigend nebeneinander her.

Adelia fiel erst jetzt auf, dass Schwester Havis während der Debatte im Kapitelsaal kein Wort gesagt hatte. Sie war sich auch darüber im Klaren, dass die Nonne sie nicht mochte. Neben ihr zu gehen war, als begleitete sie die Verkörperung der Kälte, die die Abtei fest im Griff hatte, eine Gestalt, die aller Wärme beraubt war, so frostig wie die Eiszapfen, die von jedem Dach hingen.

Vor der Kapelle der Nonnen blieb die Priorin stehen. Sie hielt das Gesicht von Adelia abgewandt, und ihre Stimme klang hart. »Ich kann Euch nicht billigen«, sagte sie, »und ich habe Rosamund nicht gebilligt. Die Duldsamkeit, die unsere Mutter Äbtissin gegenüber den Sünden des Fleisches zeigt, teile ich nicht.«

»Wenn das alles ist, was Ihr zu sagen habt …«, unterbrach Adelia sie und wandte sich ab.

Schwester Havis kam ihr nach. »Das ist es nicht, aber es musste gesagt werden.« Sie zog eine behandschuhte Hand unter ihrem Skapulier hervor und streckte sie aus, um Adelia zum Bleiben zu bewegen. Darin lagen die gerissene Kette, die Kordel und der Gürtel. »Ich beabsichtige, diese Gegenstände so zu nutzen, wie Ihr es getan habt, nämlich um Nachforschungen anzustellen. Ich werde zum Kuhstall gehen. Was auch immer Eure Schwächen sein mögen, Mistress, ich erkenne eine analytische Seele.«

Adelia blieb stehen.

Die Priorin hielt ihr schmales Gesicht weiterhin abgewandt. »Ich reise«, sagte sie. »Mir obliegt es, unsere Ländereien überall im Reich zu verwalten, und so sehe ich mehr von dem Misthaufen der Menschheit als meine Schwestern, ich sehe die Frevel und das Irren der Menschen, ich sehe ihre Missachtung der Höllenflammen, die ihrer harren.«

Adelia blieb ruhig. Das war keine Predigt über die Sünde; Schwester Havis hatte ihr etwas zu sagen.

»Und doch«, fuhr die Priorin fort, »gibt es ein noch größeres Böses. Ich war an Rosamunds Sterbebett, ich war Zeugin ihres furchtbaren Endes. Auch wenn die Frau eine Ehebrecherin war, so hätte sie nicht sterben dürfen.«

Adelia wartete weiter.

»Unser Bischof hatte sie kurz zuvor besucht, er hat die Mägde befragt und brach dann wieder auf. Zu dem Zeitpunkt ging es Rosamund noch gut, aber nach dem, was er in Erfahrung gebracht hatte, glaubte er, dass jemand absichtlich versucht hatte, sie zu vergiften, was letzten Endes ja auch gelungen ist, wie Ihr ebenso gut wisst wie ich.« Plötzlich wandte die Priorin den Kopf und blickte Adelia durchdringend an. »Hat er Euch das gesagt?«

»Ja«, sagte Adelia, »und deshalb hat er uns hierher mitgenommen. Er wusste, dass man der Königin die Schuld geben würde, er wollte den wahren Mörder entlarven und einen Krieg abwenden.«

»Dann hatte er eine hohe Meinung von Euch, Mistress.« Es klang höhnisch.

»Ja, das hatte er«, zischte Adelia sie an. Ihre Füße waren gefühllos vom langen Stehen, und ihre Trauer um Rowley drohte, sie zu übermannen. »Sagt endlich, was Ihr mir sagen wollt, oder lasst mich gehen. In Gottes Namen, reden wir über Rosamund oder Bertha oder den Bischof?«

Die Priorin blinzelte. Mit Zorn hatte sie nicht gerechnet.

»Bertha«, sagte sie ein wenig versöhnlicher. »Wir reden über Bertha. Ihr solltet wissen, dass ich Dakers gestern in Gewahrsam genommen habe. Die Frau ist geistesgestört, und ich wollte nicht, dass sie in der Abtei umherstreift. Daher hab ich sie vor der Vesper über Nacht im Wärmeraum eingeschlossen.«

Adelias Kopf schnellte hoch. »Um welche Zeit wird abends gemolken?«

»Nach der Vesper.«

Sie gingen jetzt im Gleichschritt. »Da lebte Bertha noch«, sagte Adelia. »Die Melkerin hat sie gesehen.«

»Ja, ich habe mit Peg gesprochen.«

»Ich wusste, dass Dakers es nicht war.«

Die Priorin nickte. »Dafür müsste die unglückliche Frau schon durch eine dicke, verriegelte Tür gehen können. Was ihr, wenn ich das so sagen darf, die meisten meiner Schwestern durchaus zutrauen.«

»Ihr dürft, Ihr dürft.« Adelia blieb erbost stehen. »Warum habt Ihr das nicht vorhin im Kapitelsaal gesagt?«

Die Priorin trat vor sie. »Ihr wart damit beschäftigt, uns zu beweisen, dass Bertha ermordet worden war. Ich wusste zufällig, dass Dakers sie nicht getötet haben konnte. Daraus ergab sich die Frage: Wer dann? Und warum? Diesen Wolf wollte ich nicht zwischen Schwestern freilassen, die ohnehin schon bekümmert und verängstigt genug sind.«

Ah. Endlich, dachte Adelia, ein logischer Verstand. Mir gegenüber abweisend und kalt wie der Winter, aber mutig. Vor ihr stand eine Frau, die gewillt war, schrecklichen Ereignissen auf den schrecklichen Grund zu gehen.

Sie sagte: »Bertha wusste etwas über die Person, die ihr im Wald die Pilze geschenkt hat. Aber es war ihr nicht bewusst. Ich denke, gestern ist es ihr wieder eingefallen, ich denke, sie ist aus dem Kuhstall gelaufen, um es mir zu erzählen. Irgendetwas oder vielleicht auch irgendjemand hat sie aufgehalten, und sie ist wieder zurück in den Stall gegangen. Wo sie erdrosselt und dann aufgehängt wurde.«

»Sie war kein zufälliges Opfer?«

»Ich glaube nicht. Es gab keine sexuellen Handlungen, soweit ich das feststellen konnte. Und sie wurde nicht ausgeraubt, die Goldkette war noch da.«

Beide hatten unbewusst begonnen, vor der Kapelle auf und ab zu gehen. Adelia sagte: »Sie hat Peg erzählt, dass es keine Sie war, sondern ein Er.«

»Die Person im Wald?«

»Ich denke, ja. Ich glaube, Bertha hat sich an irgendetwas erinnert, irgendetwas an der alten Frau, die ihr die Pilze für Rosamund geschenkt hat. Ich denke, ihr ist klar geworden, dass es gar keine alte Frau war – ihre Beschreibung hat sich immer irgendwie … ich weiß nicht, sonderbar angehört.«

»Alte Frauen, die im Wald vergiftete Pilze verschenken, sind ja auch wohl sonderbar.«

Adelia lächelte. »Dann eben übertrieben. Geschauspielert. Ich denke, das wollte Bertha mir sagen. Keine Sie, sondern ein Er.«

»Ein Mann? Als Frau verkleidet?«

»Ich denke, ja.«

Die Priorin bekreuzigte sich. »Woraus zu schließen ist, dass Bertha uns hätte sagen können, wer Rosamund getötet hat …«

»Ja.«

»… aber nicht mehr dazu kam, weil sie erdrosselt wurde, von derselben Person.«

»Ich denke, ja.«

»Das habe ich befürchtet. Der Teufel wandelt unter uns.«

»In Menschengestalt, ja.«

»Ich soll mich nicht fürchten«, sagte Schwester Havis, »ich soll mich nicht fürchten, vor dem Pfeil, der des Tages fliegt, vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die am Mittag Verderben bringt.« Sie schaute Adelia an. »Und doch empfinde ich Furcht.«

»Ich auch.«

Seltsamerweise jedoch nicht mehr ganz so sehr wie zuvor. Es tröstete Adelia ein wenig, ihr Wissen an die Obrigkeit weitergegeben zu haben, und obwohl ihr die Frau ablehnend begegnete, war sie doch praktisch die einzige Obrigkeit, die das Kloster zu bieten hatte.

Nach einer Weile sagte Schwester Havis: »Wir mussten den Toten von der Brücke aus dem Eishaus holen. Ein Mann hat nach ihm gefragt, ein Vetter, wie er sagte – Master Warin, ein Advokat aus Oxford. Wir haben den Leichnam für die Totenwache in der Kirche aufgebahrt, und damit er ihn identifizieren konnte. Anscheinend handelt es sich um einen jungen Mann namens Talbot aus Kidlington. Ist er auch ein Opfer dieses Teufels geworden?«

»Ich weiß es nicht.« Sie merkte, dass sie die ganze Zeit »ich« gesagt hatte. »Ich werde Master Mansur berichten. Er wird der Frage nachgehen.«

Ein leiser Hauch von Erheiterung huschte über das Gesicht der Priorin. Sie wusste, wer hier ermittelte. »Bitte tut das«, sagte sie.

Aus dem Kreuzgang weiter vorne tönte Lachen und Gesang herüber, und Adelia merkte, dass sie das schon seit einer Weile hörte. Es gab also doch noch irgendwo Musik und Frohsinn.

Im Innenhof kreischten zwei junge Nonnen vor Vergnügen, während sie Schneebällen auswichen, die ein scharlachrot gekleideter junger Mann nach ihnen warf. Ein anderer junger Mann zupfte eine Gambe und sang, den Blick auf eines der oberen Fenster im Haus der Äbtissin gerichtet, wo Eleanor stand und über die ausgelassene Szene lachte.

Und das im Heiligtum. Das kein nichtgeistlicher Mann je betreten sollte, und vermutlich bis jetzt nie betreten hatte.

Aus Eleanors Fenster drang ein schwacher Parfümhauch, flüchtig wie eine Fata Morgana, schillernd vor Sinnlichkeit, ein Sirenenduft, der zu palmengesäumten Eilanden lockte, so betörend, dass Adelias Nase, noch während sie ihn analysierte – Bergamotte, Sandelholz, Rosen –, zugleich seiner Üppigkeit sehnsüchtig nachschnupperte, bis die eisige Luft ihn davontrug.

O Gott, ich hab den Tod und die Kälte so satt.

Neben ihr blieb Schwester Havis steif und stumm vor Entrüstung stehen.

Als die jungen Leute sie erblickten, erstarrte die ganze Szene. Dem Troubadour blieb sein Lied im Halse stecken, seinem jungen Gefährten fiel der nächste Schneeball harmlos aus der Hand, die Nonnen nahmen die Haltung empörter Frömmigkeit an und gingen weiter, als hätten sie sich nie von irgendetwas ablenken lassen. Der Schneeballwerfer riss sich mit großer Geste den Hut vom Kopf und drückte sich ihn in gespielter Zerknirschung an die Brust.

Eleanor winkte vom Fenster her. »Verzeihung«, rief sie und schloss die Läden.

Dann bin ich also nicht der einzige Schandfleck, dachte Adelia amüsiert. Die Königin und ihr Gefolge brachten die verlockenden Farben der Weltlichkeit in die schwarz-weiße Welt des Klosters. Die Anwesenheit Eleanors, die schon einen ganzen Kreuzzug gefährdet hatte, bedrohte Godstow in seinen Grundfesten mehr als Wolvercote und seine Söldner.

Dann verflog Adelias Amüsement. Hat sie einen Mörder mitgebracht?

Adelia war zu müde, um den Rest des Vormittags noch etwas anderes zu tun, als auf Allie aufzupassen, während Gyltha zum Plaudern in die Küche ging. Dort schnappte sie stets viele Neuigkeiten und Tratsch auf.

Bei ihrer Rückkehr sagte sie: »Die haben jetzt alle Hände voll zu tun, für die Hochzeit von der hübschen Emma zu kochen, wo doch jetzt der alte Wolf aufgetaucht is. Das arme Würmchen, ich hätte keine Lust, diese Schlange zu heiraten. Die Leute fragen sich, ob sie’s sich noch anders überlegt – sie bleibt die ganze Zeit im Kloster und hat noch kein Wort mit ihm gesprochen, sagen sie.«

»Es bringt Unglück, den Bräutigam vor der Hochzeit zu sehen«, sagte Adelia geistesabwesend.

»Den würd ich auch hinterher nich sehen wollen«, sagte Gyltha. »Ach so, und später wollen die Schwestern was wegen den Gehängten an der Brücke tun. Die Äbtissin meint, es wär Zeit, dass sie beerdigt werden.« Sie zog ihren Mantel aus. »Bin mal gespannt. Dem alten Wolf trau ich zu, dass er ganz gern ein paar Leichen rumhängen hat.« Sie hatte ein Leuchten in den Augen. »Vielleicht kriegen die sich richtig in die Wolle. Mein Gott, wo willst du denn nun schon wieder hin?«

»Zum Hospital.« Adelia war ihr Patient gerade wieder eingefallen.

Schwester Jennet begrüßte sie freundlich. »Vielleicht könnt Ihr Master Mansur meine Dankbarkeit übermitteln. So ein glatter, sauberer Stumpf, und der Patient erholt sich gut.« Sie blickte sehnsüchtig. »Wie gern hätte ich der Operation beigewohnt.«

Aus ihr sprach der Instinkt einer Ärztin, und Adelia dachte an all die Frauen, die ihrer Berufung ebenso entsagen mussten wie diese hier, und dankte Gott für das Privileg, das Salerno ihr geboten hatte.

Sie wurde durch den Krankensaal geleitet. Alle Patienten waren Männer – »Frauen behandeln sich meistens selbst« –, und die meisten litten unter einer Verstopfung der Lunge, eine Folge, wie die Infirmarin meinte, vom Leben in den Niederungen, wo sie den ungesunden Dämpfen des Flusses ausgesetzt waren.

Drei waren ältere Männer aus Wolvercote. »Sie sind unterernährt«, sagte die Infirmarin, ohne die Stimme zu senken. »Lord Wolvercote vernachlässigt seine Untertanen sträflich. Sie haben nicht mal eine Kirche, in der sie beten könnten, seit die alte eingestürzt ist. Es ist eine Gnade Gottes für sie, dass wir in ihrer Nähe sind.«

Sie ging zu einem anderen Bett, wo eine Nonne gerade die Ohren eines Patienten mit warmem Wasser betupfte. »Erfrierung«, sagte sie.

Adelia bekam ein schlechtes Gewissen, als sie Oswald erkannte, Rowleys Waffenknecht. Sie hatte ihn vergessen, dabei war er doch unter den Männern gewesen, die zusammen mit Mansur die Barkasse vom Kloster nach Wormhold gestakt hatten.

Walt saß an seinem Bett. Er schlug sich an die Stirn, als Adelia zu ihnen trat.

»Es tut mir leid«, sagte sie zu Oswald. »Ist es schlimm?«

Es sah schlimm aus. Am Außenrand des Ohrs hatten sich dunkle Blasen gebildet, so dass es aussah, als hätte er eine schwammige Geschwulst am Kopf.

»Hätte seine Kapuze aufbehalten sollen«, sagte Walt munter. »Haben wir gemacht, nich, Mistress?« Das gemeinsame Leiden auf dem Boot hatte sie einander näher gebracht.

Adelia lächelte ihn an. »Wir hatten Glück.«

»Wir behalten das Ohr im Auge«, sagte Schwester Jennet ebenso gutgelaunt. »Ich hab ihm schon gesagt: Entweder es bleibt dran, oder es fällt ab. Kommt weiter.«

Noch immer stand der Sichtschutz um das Bett des jungen Poyns, aber, wie Schwester Jennet erklärte, weniger, damit er nicht gestört wurde, als vielmehr, um zu verhindern, dass er mit seiner üblen Söldnersprache die übrigen Patienten ansteckte.

»Obwohl ich sagen muss, dass er keinen einzigen Fluch ausgestoßen hat, seit er hier ist, was für einen Flamen ungewöhnlich ist.« Sie zog, noch immer redend, den Sichtschutz zur Seite: »Von seinem Freund kann ich das nicht behaupten.« Sie drohte Cross mit dem Finger, der wie Walt am Bett seines Kameraden saß.

»Wir sind keine Scheißflamen«, sagte Cross müde.

Adelia durfte sich die Wunde nicht ansehen. Offenbar hatte das Dr. Mansur bereits getan und seine Zufriedenheit erklärt.

Der Stumpf war gut verbunden, und als Adelia daran roch, bemerkte sie keinen Fäulnisgestank. Mansur, der so oft bei ihren Operationen dabei war, hätte Anzeichen von Nekrose erkennen können.

Poyns selbst war blass, aber fieberfrei, und er hatte Appetit. Adelia gönnte sich einen stillen Moment des Stolzes auf ihren Erfolg, während sie zugleich die Zähigkeit des menschlichen Körpers bestaunte.

Sie erkundigte sich nach Dakers. Noch jemand, den sie vernachlässigt hatte und für den sie sich verantwortlich fühlte.

»Wir bewahren sie im Wärmeraum auf«, sagte Schwester Jennet wie über ein Ausstellungsstück. »Nachdem es ihr wieder besserging, konnte ich sie nicht hierlassen. Meine Patienten hatten Angst vor ihr.«

In einem Mönchskloster wäre der Wärmeraum das Skriptorium gewesen, wo die des Schreibens mächtigen Mönche den lieben langen Tag Handschriften kopierten und sorgsam gehütete Kohlenbecken dafür sorgten, dass ihre armen Finger nicht vor Kälte verkrampften.

Hier gab es nur Schwester Lancelyne und Pater Paton – ihn hatte Adelia nicht erwartet, ja, sie hatte völlig vergessen, dass Rowleys Sekretär existierte. Beide schrieben, aber keine Bücher.

Schwache Wintersonne fiel auf ihre gebeugten Köpfe und die mit dicken Bandsiegeln versehenen Dokumente, die vor ihnen auf dem Tisch lagen.

Adelia stellte sich vor. Pater Paton blickte mit zusammengekniffenen Augen auf und nickte dann. Er hatte sie genauso vergessen.

Schwester Lancelyne war entzückt, ihre Bekanntschaft zu machen. Sie war die Sorte Mensch, für die Tratsch nur dann von Interesse war, wenn er literarische Gestalt annahm. Und sie schien nicht zu wissen, dass Rowley vermisst wurde. »Natürlich, Ihr seid zusammen mit dem Bischof gekommen, nicht wahr? Bitte dankt Seiner Lordschaft in meinem Namen für Pater Paton. Was hätte ich ohne ihn nur gemacht … Ich hatte geschworen, unser Kopialbuch und Register in Ordnung zu bringen, doch die Aufgabe erwies sich als zu groß für mich, bis Seine Lordschaft diesen Herkules in meinen Augiasstall entsandt hat.«

Pater Paton als Herkules, eine skurrile Vorstellung. Ebenso skurril wie Schwester Lancelyne selbst, eine alte, kleine, gnomenhafte Gestalt mit den hellen Bernsteinaugen einer Kröte. Und ebenso skurril wie der Raum, der vom Boden bis zur Decke mit Regalen ausgestattet war, in denen aus Stapeln von Dokumentenrollen und Urkunden ein Wirrwarr von Siegeln heraushing.

»Eine alphabetische Ordnung, versteht Ihr?«, trällerte Schwester Lancelyne. »Die müssen wir erstellen, und einen Kalender, aus dem hervorgeht, wer uns an welchem Tag den Zehnten schuldet, welche Pacht … Doch ich sehe, Ihr habt unser Buch entdeckt.«

Es war das einzige Buch, ein schmaler, in Kalbsleder gebundener Band. Es hatte ein kleines Regalbrett ganz für sich allein, das mit Samt ausgekleidet war wie eine Schmuckschatulle. »Wir haben natürlich das Testament«, erklärte Schwester Lancelyne wie zur Entschuldigung für das Fehlen einer Bibliothek, »und ein Brevier, beide sind in der Kapelle, aber … oje.« Denn Adelia hatte sich dem Buch genähert. Als sie dessen Rücken zwischen Daumen und Zeigefinger fasste, um es sich anzusehen, stieß die Nonne einen erleichterten Seufzer aus: »Ich sehe, Bücher liegen Euch am Herzen. So mancher zieht einfach mit einem Finger oben am Rand und reißt dabei …«

»Boethius«, sagte Adelia erfreut. »›O glückseliges Menschengeschlecht, wenn die Liebe auch euren Geist lenkt, so wie sie den Himmel lenkt.‹«

»›Um Göttlichkeit zu erlangen, werdet zu Göttern‹«, frohlockte Schwester Lancelyne. »›… omnis igitur beatus deus … durch Teilhabe.‹ Sie haben ihn dafür eingesperrt.«

»Und getötet. Ich weiß, aber wie mein Ziehvater immer sagt, wenn er nicht im Kerker gesessen hätte, hätte er niemals den Trost der Philosophie geschrieben.«

»Wir haben nur Fides und Ratio«, sagte Schwester Lancelyne. »Ich wünsche mir … nein, mea culpa, ich verzehre mich nach dem Rest, wie es König David nach Bathseba gelüstete. In der Bibliothek in Eynsham haben sie eine vollständige Consolatio, und ich habe es gewagt, den Abt zu fragen, ob wir sie ausleihen und kopieren dürften, aber er hat zurückgeschrieben, dass sie zu kostbar sei, um sie uns zu schicken. Er traut Frauen keine Gelehrsamkeit zu, und das ist ihm natürlich nicht zu verdenken.«

Adelia selbst war keine Gelehrte. Schließlich hatte sie notgedrungen fast immer nur medizinische Abhandlungen studiert, aber sie hatte große Hochachtung vor Menschen, die es waren. Die Gespräche mit ihrem Ziehvater und ihrem Lehrer Gordinus hatten ihr eine Tür zur Literatur des Geistes geöffnet, hinter der sie einen leuchtenden Pfad zu den Sternen erblickt hatte, den sie, das hatte sie sich geschworen, eines Tages erkunden würde. In der Zwischenzeit war es schön, ihn hier wiederzuentdecken, zwischen den Regalen und dem Velingeruch und dem unverwüstlichen Wissensdrang dieser kleinen alten Frau.

Behutsam stellte sie das Buch zurück. »Ich hatte gehofft, Mistress Dakers hier bei Euch zu finden.«

»Eine weitere große Hilfe«, sagte Schwester Lancelyne fröhlich und zeigte auf eine Gestalt mit Kapuze, die halb versteckt zwischen den Regalen auf dem Boden kauerte.

Sie hatten Rosamunds Haushälterin ein Messer gegeben, um die Schreibfedern damit anzuspitzen. Gänsefedern lagen neben ihr, sie hielt eine in der Hand, und ihr Schoß war übersät mit Calamusspänen. Eine harmlose Arbeit, noch dazu eine, die sie zahllose Male für Rosamund erledigt haben musste, und doch musste Adelia unwillkürlich daran denken, dass da etwas zerstückelt wurde.

Sie ging zu der Frau und hockte sich neben sie. Schwester Lancelyne und Pater Paton widmeten sich schon wieder ihrer Arbeit.

»Erinnert Ihr Euch an mich, Mistress?«

»Ich erinnere mich.« Dakers spitzte weiter mit raschen Schnitten die Feder an.

Sie hatte zu essen bekommen und sich ausgeruht, daher sah sie nicht mehr ganz so ausgezehrt aus, doch keine noch so gute Fürsorge würde je Dakers’ skelettartigen Körper fülliger machen oder ihren Hass mildern. Er loderte noch immer in den Augen, die auf ihre Arbeit gerichtet waren. »Ist der Mörder meiner Liebsten schon gefunden?«, fragte sie.

»Noch nicht. Habt Ihr gehört, dass Bertha tot ist?«

Dakers’ Mund verzog sich, zeigte ihre Zähne. Sie hatte es gehört – und das mit Freuden. »Ich hab meinen Meister angerufen, er möge sie bestrafen, und er hat’s getan.«

»Welchen Meister?«

Dakers drehte den Kopf so, dass Adelia ihr voll ins Gesicht sah. Es war, als starrte sie in eine Leichengrube. »Es gibt nur den Einen.«

Draußen wartete Cross auf sie, und als sie an ihm vorbeikam, trottete er griesgrämig hinterdrein. »He«, sagte er, »was machen die denn jetzt mit Giorgio?«

»Mit wem? Ach so, Giorgio. Nun ja, ich vermute, die Schwestern werden ihn bestatten.« In Godstow stapelten sich die Leichen allmählich.

»Aber wo denn? Ich will, dass er anständig unter die Erde kommt. Giorgio war nämlich Christ, jawohl.«

Und Söldner, dachte Adelia, was ihn in Godstows Augen auf eine Ebene mit denjenigen stellen könnte, die ihr Recht auf ein christliches Grab preisgegeben hatten. Sie sagte: »Habt Ihr die Nonnen gefragt?«

»Kann nich mit denen reden.« Die frommen Schwestern machten Cross Angst. »Fragt Ihr sie.«

»Wieso sollte ich?« Was bildete der Kerl sich eigentlich ein?

»Ihr seid doch Sizilianerin, nich? Genau wie Giorgio. Ihr habt gesagt, ihr wärt Sizilianerin, dann müsst Ihr auch dafür sorgen, dass er anständig unter die Erde kommt, mit ’nem Priester und dem Segen von … wie heißt noch mal die Heilige, der sie die Titten abgeschnitten haben?«

»Ich vermute, Ihr meint St. Agatha«, sagte Adelia unterkühlt.

»Ja, genau die.« Cross’ unschöne Gesichtszüge runzelten sich zu einem anzüglichen Grinsen. »Tragen sie die Titten von der an Feiertagen immer noch rum?«

»Leider ja.« Sie hatte diese Sitte stets missbilligt, aber noch immer wurde des besonders grauenhaften Martyriums der armen heiligen Agatha in Palermo mit einer Prozession gedacht, bei der auf einem Tablett zwei Nachbildungen von abgetrennten Brüsten herumgetragen wurden, die aussahen wie zwei Torten mit Brustwarzen.

»Hat viel an St. Agatha gedacht, der arme Giorgio. Das könnt Ihr denen sagen.«

Adelia öffnete den Mund, um ihm mal was zu sagen, doch dann sah sie die Augen des Söldners und stockte. Der Mann litt unter dem Tod seines Freundes, und er hatte um den verletzten Poyns gebangt. In ihm steckte eine fühlende Seele, trotz seines wenig einnehmenden Wesens.

»Ich will es versuchen«, sagte sie.

»Tut das.«

Auf der großen Freifläche hinter der Scheune ging einer von Wolvercotes Männern vor dem kreisrunden Gefängnis auf und ab, doch Adelia konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was er da bewachte.

Weiter hinten versuchte der Klosterschmied ein Loch ins Eis des zugefrorenen Teiches zu schlagen, um einigen betrübt dreinblickenden Enten Zugang zum Wasser zu verschaffen. Kinder – vermutlich seine eigenen – hatten sich Schlittknochen an die Stiefel gebunden und rutschten damit am Rand des Teiches herum.

Adelia blieb stehen und sah ihnen sehnsüchtig zu. Sie hatte erst spät die Freude am Eislaufen entdeckt – erst als sie einen Winter im Sumpfland verbrachte, wo die vereisten Wasserläufe zu Wegen und Spielplätzen wurden. Ulf hatte es ihr beigebracht. Die Menschen im Sumpfland waren ausgezeichnete Eisläufer.

Einfach von hier weggleiten, frei, die Toten die Toten begraben lassen. Doch selbst wenn das möglich gewesen wäre, sie konnte nicht fort, solange die Person frei herumlief, die Bertha an einem Haken aufgehängt hatte, wie ein Stück Schlachtvieh …

»Könnt Ihr eislaufen?«, fragte Cross, der sie beobachtet hatte.

»Ja, aber wir haben keine Schuhe dafür«, sagte sie.

Als sie sich der Kirche näherten, kam eine Schar Nonnen unter Führung ihrer Priorin durch das Portal marschiert wie eine Reihe gutgedrillter und festentschlossener Dohlen.

Sie strebten Richtung Klostertor und dahinterliegende Brücke, und eine von ihnen schob eine Karre auf zwei Rädern. Eine stattliche Anzahl von Godstows nichtgeistlichen Bewohnern hastete erwartungsvoll hinter ihnen her. Adelia entdeckte Walt und Jacques und gesellte sich zu ihnen. Cross tat es ihr gleich. Als sie das Gästehaus passierten, kam Gyltha mit Mansur die Treppe herab, Allie warm eingepackt in ihren Armen. »Das lass ich mir nich entgehen«, sagte sie.

Am Tor ertönte klar und deutlich Schwester Havis’ Stimme. »Macht auf, Fitchet, und bringt mir ein Messer.«

Draußen hatte man einen Pfad durch den Schnee auf der Brücke freigeschaufelt, um das Kommen und Gehen zwischen Dorf und Kloster zu erleichtern. Er führte sonst nirgendwohin, deshalb wusste niemand so recht, warum Lord Wolvercote es für notwendig erachtet hatte, einen Wachposten auf die Brücke zu stellen. Aber dort stand einer, der sich angesichts einer Schar schwarzgekleideter verschleierter Frauen, von denen jede ein Kreuz auf der Brust trug, dennoch zu fragen bemüßigt sah: »Wer da?«

Schwester Havis ging auf ihn zu, wie Cross in der Nacht zuvor auf seinen Kameraden zugegangen war. Adelia rechnete schon fast damit, dass sie ihn niederschlagen würde; zuzutrauen wäre es ihr, so wie sie aussah. Doch stattdessen drückte die Priorin die gesenkte Pike mit dem Handrücken beiseite und marschierte weiter.

»Nix zu machen, mein Freund«, sagte Fitchet beinahe mitfühlend zu dem Wachposten. »Wenn die ein göttliches Anliegen haben, is nix zu machen.«

Adelia hatte die zwei Erhängten ja schon kurz vom Boot aus gesehen, doch da war sie zu durchgefroren, zu verängstigt, zu beschäftigt gewesen, um darüber nachzudenken, wie sie gehängt worden waren.

Nur der Anblick ihrer baumelnden Füße hatte sich in ihr Gedächtnis gegraben.

Jetzt sah sie es. Man hatte die beiden gefesselten Männer auf die Brücke geführt, ihnen jeweils die Schlinge um den Hals gelegt und das andere Ende des Stricks an einem der Brückenpfosten festgebunden. Dann waren sie über das Geländer geworfen worden.

Brücken waren Verbindungen von Mensch zu Mensch, zu heilig, um als Galgen missbraucht zu werden. Adelia wünschte, Gyltha hätte Allie nicht mitgebracht. Was jetzt kam, sollte ihre Tochter nicht sehen. Andererseits schaute ihr Kind sich mit wachen, frohen Augen um. Diese Umgebung bot endlich eine Abwechslung, eine wohltuende Abwechslung von den Sträßchen im Kloster, in denen sie täglich herumgetragen wurde, damit sie frische Luft bekam. Die Brücke war Bestandteil eines Gemäldes in Weiß, ihre Spiegelung im vereisten Fluss war vollkommen, und der Wasserfall auf der Seite der Mühle war wie zu gemeißelten Säulen erstarrt.

Dahinter glitzerte das reglose Mühlrad mit seinen Eiszapfen wie von tausend Stalaktiten. Der verzerrte Tod verunzierte auf obszöne Weise dieses Bild. »Lass sie nicht die Leichen sehen«, wies sie Gyltha an.

»Lass sie sich dran gewöhnen«, sagte Gyltha. »Sie kriegt noch oft genug Erhängte zu sehen, wenn sie größer wird. Mein Pa hat mich zu meiner ersten Hinrichtung mitgenommen, als ich drei war. Hat mir sogar Spaß gemacht.«

»Ich will aber nicht, dass es ihr Spaß macht.«

Die Körper nach oben zu ziehen würde nicht leicht werden. Durch das viele Eis waren sie noch schwerer geworden, und die Stricke, an denen sie hingen, waren so fest über das Geländer gespannt, dass sie daran festgefroren waren.

Walt trat neben Adelia.

»Die Priorin sagt, wir sollen nich helfen. Anscheinend müssen sie das selbst machen.«

Schwester Havis überlegte einen Moment und erteilte dann ihre Anweisungen. Während eine Nonne mit Fitchets Messer das Eis von den Stricken kratzte, beugte sich die größte von ihnen, die Cellerarin, über das Geländer und packte mit einem ausgestreckten Arm das Haar eines der Gehenkten. Sie hob ihn ein wenig an, damit der Strick sich lockerte.

Eine Möwe, die an den Augen des Mannes gepickt hatte, flatterte kreischend in den klaren Himmel. Allie sah, wie sie davonflog.

»Zieht, meine Schwestern.« Die Stimme der Priorin hallte dem Vogel nach. »Zieht, im Namen der barmherzigen Muttergottes.«

Eine Reihe schwarzer Rücken beugte sich übers Geländer. Sie zogen mit aller Kraft, und ihre Atemluft strömte aufwärts wie Rauch.

»Was zum Teufel treibt ihr Frauen da?«

Lord Wolvercote war auf der Brücke erschienen und wurde von den Schwestern ebenso wenig beachtet wie die Möwe. Er trat vor, eine Hand am Schwert. Fitchet und Walt und einige andere Männer krempelten die Ärmel hoch. Wolvercote blickte sich um. Das hilflose Achselzucken seines Wachpostens verriet ihm, dass er gegen Gottes Frauenbataillon keine Hilfe zu erwarten hatte. Sie waren in der Überzahl. Stattdessen brüllte er: »Lasst sie, wo sie sind. Das hier ist mein Land, meine Hälfte der Brücke, und ich lasse Schurken hier hängen, solange es mir beliebt.«

»Es ist unsere Brücke, Mylord, das wisst Ihr genau.« Das war Fitchets Stimme, laut, aber auch müde, weil dieser Streit schon so lange währte. »Und die Mutter Äbtissin will nich, dass Leichen dran hängen.«

Inzwischen war ein Körper oben, und da er völlig steif war, mussten die Schwestern ihn praktisch kerzengerade über das Geländer heben. Sein Kopf hing schief, neugierig in Richtung des Mannes geneigt, der ihn zum Tode verurteilt hatte.

Die Nonnen legten ihn auf die Karre und traten dann wieder ans Geländer, um seinen Kameraden zu bergen.

Der Disput hatte die Familie des Müllers alarmiert, und jetzt säumten Gesichter die Fensterbänke, um die weißen Wölkchen zu betrachten, die wie Drachenatem von den streitenden Männern aufstiegen.

»Das waren Räuber, du Tölpel. In Besitz von gestohlenem Eigentum, und ich habe an ihnen ein Exempel statuiert, wie das mein Vorrecht ist. Lasst sie hängen.«

Er war groß, etwa um die dreißig, hatte einen dunklen Teint und wäre ein gutaussehender Mann gewesen, wenn in seinem schmalen Gesicht nicht ein unentwegt verächtlicher Ausdruck gelegen hätte, der in diesem Moment noch durch Wut verstärkt wurde. Emma hatte hingerissen von der poetischen Neigung ihres Zukünftigen geschwärmt, doch in diesem Gesicht sah Adelia keine Poesie. Nur Dummheit. Er hatte an den beiden Dieben ein Exempel statuiert, sie hingen seit zwei Tagen hier, und da der Fluss derzeit nicht befahren wurde, waren sie inzwischen von jedem gesehen worden, der sie sehen konnte. Ein klügerer Mann hätte sich dem Unvermeidlichen gebeugt, seinen Segen dazu gegeben und wäre gegangen.

Aber Wolvercote kann das nicht, dachte Adelia, in seinen Augen untergraben die Schwestern seine Macht, und das ängstigt ihn. Er muss der Platzhirsch sein, sonst ist er gar nichts.

Sie fragte sich, wieso er überhaupt das Recht besaß, Todesurteile zu fällen, und musste an ein Gespräch mit Rowley denken, der ihr einmal eines der alten in England herrschenden Gewohnheitsrechte erklärt hatte. »Manche Grundherren sind von alters her berechtigt, Diebe zum Tode zu verurteilen, die auf ihrem Land gefasst werden. Dem König gefällt das ganz und gar nicht, weil er meint, damit haben die Kerle praktisch das Recht, jeden zu hängen, der ihnen nicht in den Kram passt.«

»Und wieso verbietet er es dann nicht einfach?«

Doch alte Rechte konnten offenbar nicht abgeschafft werden, ohne bei denjenigen, die sie innehatten, Unmut oder gar Auflehnung zu entfachen. »Das wird er schon noch – zum richtigen Zeitpunkt.«

Der zweite Leichnam war geborgen, und man hatte beide mit Sackleinen zugedeckt. Die Nonnen machten sich daran, ihren beladenen Karren zurück über die vom Eis rutschige Brücke zu schieben.

»Siehst du, mein Liebchen«, sagte Gyltha zu Allie. »Das war lustig, nich?«

Schwester Havis blieb stehen, als sie an Wolvercote vorbeikam, und ihre Stimme war kälter als die Toten. »Wie waren ihre Namen?«

»Namen? Wozu wollt Ihr ihre Namen wissen?«

»Für ihre Gräber.«

»Die hatten keinen Namen, Herrgott noch mal. Die hätten sogar den Abendmahlskelch von Eurem verdammten Altar gestohlen, wenn ich sie nicht daran gehindert hätte. Es waren Diebe, Weib.«

»So wie die beiden, die neben unserem Herrn gekreuzigt wurden. Ich entsinne mich nicht, dass er ihnen seine Gnade vorenthalten hat.« Die Priorin wandte sich ab und folgte ihren Schwestern.

Er konnte es nicht dabei bewenden lassen und rief ihr nach: »Ihr seid eine nörgelnde alte Hexe, Havis. Kein Wunder, dass Ihr keinen Mann abgekriegt habt.«

Sie drehte sich nicht um.

»Sie werden sie begraben«, sagte Adelia. »Oje.«

Jacques, der in ihrer Nähe stand, grinste. »Das macht man mit Toten gemeinhin so«, sagte er.

»Ja, aber ich habe mir ihre Schuhe nicht angesehen. Und du«, sagte sie zu Gyltha, »bringst jetzt das Kind nach Hause.« Sie hastete den Nonnen nach und stoppte den Karren, indem sie sich einfach davorstellte. »Dürfte ich mal kurz? Geht ganz schnell.«

Sie kniete sich in den Schnee, so dass ihre Augen auf einer Höhe mit den Beinen der Toten waren, und hob das Sackleinen an.

Sie fühlte sich zurück auf die Brücke versetzt, als sie sie zum ersten Mal sah, nachts, mit der schrecklichen Last, die sie trug, und den Fußspuren im Schnee, die ihr den Ablauf des Mordes so deutlich geschildert hatten, als hätten die beiden Täter ihn selbst gestanden.

Sie hörte ihre eigene Stimme, die mit Rowley sprach: »Seht Ihr? Der eine trägt genagelte Stiefel, der andere hat Querstreifen an den Sohlen, vielleicht mit Riemen umwickelte Holzschuhe. Sie waren beritten und haben ihre Pferde zwischen die Bäume dort geführt … Während sie warteten, haben sie gegessen …«

Jetzt sah sie ein Paar robuster genagelter Stiefel vor sich. Der andere Tote hatte den rechten Schuh verloren, doch der linke Holzschuh war von fest gebundenen Lederriemen am Fuß gehalten worden, die unter der Sohle verliefen und kreuzförmig bis hinauf zur Wade gewickelt waren.

Sorgsam legte sie das Sackleinen wieder zurück und richtete sich auf. »Danke.«

Verblüfft zogen die Nonnen mit dem Karren weiter. Schwester Havis sah Adelia kurz in die Augen. »Waren sie es?«

»Ja.«

Walt hörte das. »He, sind das die Schweine, die das arme Pferd umgebracht haben?«

Adelia lächelte ihn an. »Und den Reisenden. Ja, ich glaube schon.« Sie drehte sich um und bemerkte, dass Wolvercote näher gekommen war, um zu sehen, was sie da machte. Die vielen Leute aus der Abtei blieben in der Nähe, um das Gespräch mitzubekommen.

»Wisst Ihr, wo die beiden herkamen?«, fragte sie ihn.

»Ist mir doch egal, wo die herkamen! Ich hab sie erwischt, wie sie mein Haus ausrauben wollten. Die hatten einen Silberbecher, meinen Silberbecher, und mehr muss ich nicht wissen.« Er sah den Torwächter an. »Wer ist das Weib, was macht die hier?«

»Ist mit dem Bischof gekommen«, antwortete Fitchet knapp.

Walt meldete sich stolz zu Wort: »Sie gehört zu dem Sarazenenarzt. Sie kann Sachen erkennen, jawohl. Sie sieht Sachen und weiß genau, was passiert ist.«

Das war unglücklich formuliert. Adelia senkte den Kopf, während sie auf das Unvermeidliche wartete.

Wolvercote musterte sie. »Also eine Hexe«, sagte er.

Das Wort tropfte in die Luft wie Tinte in klares Wasser, verfärbte sie, durchzog sie mit schwarzen, schlängelnden Spuren, ehe es sie für alle Zeit grau werden ließ.

So wie die Anspielung, dass Havis eine frustrierte Jungfrau sei, an ihr haftenbleiben würde, so würden die Umstehenden, die das Wort »Hexe« in Bezug auf Adelia hörten, es nie mehr vergessen. Das Wort hatte Frauen gesteinigt und verbrannt, man konnte keinen Widerspruch dagegen einlegen. Es bewölkte die Gesichter der Männer und Frauen, die zuhörten. Selbst bei Jacques und Walt waren neue Zweifel spürbar.

Sie geißelte sich selbst. Herrje, wie dumm. Wieso hab ich nicht gewartet? Sie hätte eine andere Gelegenheit finden können, um sich die Schuhe der Männer anzusehen, ehe sie beerdigt wurden. Aber nein, sie musste es ja gleich hier tun. Unbedacht, unbedacht.

»Verdammt«, sagte sie. »Verdammt.« Sie sah sich um. Lord Wolvercote war gegangen, doch alle anderen starrten sie an. Sie hörte das Gemurmel. Das Malheur war geschehen.

Jacques trottete schnaufend auf sie zu. »Ich glaub nicht, dass Ihr eine Hexe seid, Mistress. Bleibt einfach nur in Eurem Zimmer, ja? Aus den Augen, aus dem Sinn. Wie der heilige Matthäus sagt: ›Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.‹«

Aber der Tag war noch nicht vorüber. Als sie durch das Klostertor gingen, stürzte ihnen ein dicker Mann mit weit aufgerissenen Augen aus dem Kirchenportal entgegen. Er deutete auf Jacques. »Du da«, schrie er, »hol die Infirmarin.«

Der Bote rannte los. Der Dicke drehte sich um und stürmte zurück in die Kirche.

Adelia zögerte draußen. Es ist genug … Der Plagen hatte es heute wahrlich genug gegeben, und einige davon hatte sie selbst heraufbeschworen. Was auch immer da los ist, es geht dich nichts an.

Doch die Geräusche, die aus der Kirche drangen, klangen gequält.

Sie ging hinein.

Es drang nicht viel Sonne in das große Mittelschiff, in dem tagsüber keine Kerzen brannten. Aus den hohen, schmalen Fenstern im Obergaden fielen eisige Lichtstrahlen ins dunkle Innere, beschienen hier und dort eine Säule und durchschnitten den hohen Raum in dünnen Streifen, ohne die Mitte zu erhellen, wo die Klagelaute herkamen.

Bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte Adelia nicht erkennen, was vor sich ging. Langsam nahm die Szene Gestalt an: Da war ein Katafalk, und zwei stämmige Gestalten, ein Mann und eine Frau, zerrten an etwas, das darauf lag.

Dieses Etwas war – wie sie jetzt sehen konnte – die junge Emma. Sie lag ganz still da, doch ihre Hände umklammerten die hintere Kante des Katafalks, damit ihr Körper nicht von dem Körper weggezogen werden konnte, der unter ihr ruhte.

»Lass ihn, Mädchen. Komm jetzt weg da. Das is peinlich. Du liebe Güte, was hat sie nur?« Die Stimme des dicken Mannes.

Die Frau war sanfter, aber nicht weniger entrüstet. »Na, na, mein Engelchen, reiß dich zusammen, du regst deinen Pa auf. Der Tote kann dir doch egal sein. Nun steh doch auf.«

Der Dicke sah sich ratlos um und erblickte Adelia, die in der Tür stand, die Sonne im Rücken. »He, Ihr da, kommt her und fasst mit an. Ich glaub, unsere Tochter is ohnmächtig geworden.«

Adelia trat näher. Emma war nicht ohnmächtig, ihre Augen waren weit geöffnet und stierten ins Leere. Sie hatte sich quer über den Leichnam geworfen und umklammerte den Katafalk darunter so fest, dass ihre Fingerknöchel sich wie weiße Kieselsteine gegen das dunkle Holz abhoben.

Als Adelia ganz nah war, blickte sie nach unten.

Die Nonnen hatten Münzen auf die Augen gelegt, doch das Gesicht war das Gesicht des toten jungen Mannes auf der Brücke, den sie und Rowley ins Eishaus gebracht hatten. Es war Master Talbot aus Kidlington. Gerade eben hatte sie die Schuhe seiner Mörder untersucht.

Ihr wurde bewusst, dass der dicke Mann laut schimpfte, wenn auch nicht auf sie. »Schönes Kloster is das, wo sie einfach so tote Leute rumliegen lassen. Hat unsere Tochter ganz schön erschreckt, und ich kann’s verstehen. Bezahlen wir dafür etwa unseren Zehnten?«

Inzwischen hatte die Infirmarin mit Jacques die Kirche betreten. Schreie und Ermahnungen vermischten sich zu einem unverständlichen Lärm, der ein einziges Echo hatte, nämlich Schwester Jennets resolute Stimme – »Na, na, Kind, so geht das nicht« –, durchsetzt mit dem Gezeter des Vaters, der sich zunehmend aufregte und einen Schuldigen suchte, während die ängstliche Sorge der Mutter zu beiden einen leiseren Gegenpol bildete.

Adelia berührte sanft Emmas verkrampfte Hände. Das Mädchen hob den Kopf, doch Adelia hätte nicht sagen können, was die gequälten Augen sahen. »Seht Ihr, was sie getan haben? Was sie ihm angetan haben, ihm?«

Der Vater und Schwester Jennet standen jetzt ein Stück entfernt und stritten sich unverhohlen. Die Mutter hatte es aufgegeben, sich um ihre Tochter zu kümmern, und war zu den beiden gegangen.

»Beherrscht Euch, Master Bloat. Wo sonst hätten wir denn einen Leichnam aufbahren sollen, wenn nicht in der Kirche?« Schwester Jennet fügte nicht hinzu, dass ihnen in Godstow allmählich der Platz für die Toten ausging.

»Aber nicht da, wo man praktisch drüberfallen kann, dafür bezahlen wir unseren Zehnten nicht.«

»Ganz recht, Vater, ganz recht …« Das war Mistress Bloat. »Wir haben uns gerade alles zeigen lassen, nich? Unsere Tochter hat uns herumgeführt.«

Emmas Augen starrten noch immer in Adelias, als blickten sie in den Höllenschlund. »Versteht Ihr, o Gott, versteht Ihr?«

»Ich verstehe«, sagte Adelia zu ihr.

Sie verstand wirklich und fragte sich, wie sie so blind gewesen sein konnte, es nicht schon viel früher verstanden zu haben. Deshalb also war Talbot aus Kidlington ermordet worden.