172632.fb2
Es war bei den Schwarzen Witwern allgemein bekannt, daß Geoffrey Avalon im Krieg als Offizier gedient und es bis zum Major gebracht hatte. Er hatte aber, soweit sie wußten, nie über seine Kriegserlebnisse gesprochen. Seine steife Haltung schien jedoch dem Tragen einer Uniform angemessen, so daß sich keiner darüber wunderte, daß er einmal Major Avalon gewesen war.
Es schien daher völlig natürlich, als er mit einem Armeeoffizier als seinem Gast in den Speisesaal trat. Und als er sagte: »Das ist mein alter Militärfreund Oberst Samuel Davenheim«, begrüßten ihn alle herzlich. Ein Militärfreund Avalons war auch ihr Freund.
Sogar Mario Gonzalo, der Ende der fünfziger Jahre eine ereignislose Dienstzeit in der Armee verbracht hatte und dessen scharfe Ansichten über Offiziere alle kannten, war recht freundlich. Er lehnte sich an eine Anrichte und begann zu skizzieren. Avalon blickte kurz über Gonzalos Schulter, als ob er sich vergewissern wollte, daß der Künstler der Schwarzen Witwer den Kopf des Obersten nicht mit Eselsohren krönte.
Es wäre höchst unpassend gewesen, wenn Gonzalo das getan hätte, denn Davenheim ließ alle Anzeichen wacher Intelligenz erkennen. Sein rundes und ein wenig pausbäckiges Gesicht war von einem unmodernen Haarschnitt, oben kurz und unten abwesend, eingerahmt. Sein Mund verzog sich zu einem freundlichen Lächeln, seine Stimme war klar, seine Worte schlagfertig.
Er sagte: »Sie wurden mir alle beschrieben, denn Jeff ist, wie Sie wohl alle wissen, ein methodischer Mann. Ich sollte Sie alle erkennen können. Sie zum Beispiel sind Emmanuel Rubin, denn Sie sind klein, tragen eine dicke Brille und haben einen schütteren Bart... «
»Struppig nennt ihn Jeff meist«, sagte Rubin gar nicht beleidigt, »weil seiner dicht ist, aber ich fand nie, daß ein dichter Bart... «
»Und redselig«, sagte Davenheim ruhig, Rubin mit der gelassenen Autorität des Obersten unterbrechend. »Und Sie sind Schriftsteller... Sie sind Mario Gonzalo, der Künstler, Ihre Beschreibung brauche ich nicht einmal, da Sie zeichnen ... Roger Halsted, Mathematiker, teilweise kahlköpfig. Das einzige Mitglied ohne voll behaarten Kopf, das ist somit leicht... James Drake oder vielmehr Dr. James Drake ... «
»Wir sind alle Doktoren kraft unserer Zugehörigkeit zu den Schwarzen Witwern«, sagte Drake hinter einer Zigarettenrauchwolke.
»Sie haben recht, Jeff hat mir das genau erklärt. Sie sind Doktor Dr. Drake, weil Sie auf drei Meter Distanz nach Tabak riechen.«
»Nun, das muß Jeff wohl wissen«, sagte Drake gleichmütig.
»Und Thomas Trumbull«, sagte Davenheim, »weil Sie die Stirn runzeln und durch einfache Elimination... Habe ich alle Herren richtig erkannt?«
»Nur die Mitglieder«, sagte Halsted. »Sie haben Henry ausgelassen, der besonders wichtig ist.«
Davenheim sah ihn verwundert an. »Henry?«
»Der Kellner«, sagte Avalon und starrte errötend auf seinen Drink. »Entschuldigen Sie, Henry, aber ich wußte nicht, was ich Oberst Davenheim über Sie sagen sollte. Sie als Kellner zu bezeichnen, wäre viel zu wenig, und mehr zu sagen, würde die Geheimhaltung der Schwarzen Witwer gefährden.«
»Ich verstehe«, sagte Henry freundlich, »ich halte es aber für wichtig, den Oberst zu bedienen. Was darf ich Ihnen bringen, Sir?«
Der Oberst sah ihn einen Augenblick verständnislos an. »Ach, Sie meinen Drinks? Nein, danke, ich trinke keinen Alkohol.«
»Vielleicht ein Ingwerbier?«
»Also gut.« Davenheim ergriff sichtlich den dargebotenen Strohhalm.
Rubin, der zwischen Avalon und Davenheim saß, sagte: »Was für ein Soldat war Jeff?«
»Ein verdammt guter«, sagte Davenheim ernst, »aber er bekam wenig Gelegenheit zu glänzen. Wir waren beide als Juristen tätig, das bedeutet Schreibtischarbeit. Nur war er zum Unterschied von mir so klug, rechtzeitig die Armee zu verlassen. Ich tat das nicht.«
»Sie meinen, Sie befassen sich noch immer mit Kriegsrecht?«
»Richtig.«
Trumbull unterbrach das Gespräch: »Verdammt, Manny, kannst du nicht warten, bis die Zeit zum Ausfragen kommt?«
»Ja«, sagte Avalon dröhnend, »wir sollten Sam doch essen lassen, bevor wir ihn auf Herz und Nieren prüfen.«
»Kalbsbraten mit Parmesan!« sagte Rubin entzückt, da Henry bereits mit gewohnter Behendigkeit die Hauptspeise servierte.
Nachdem sich Oberst Davenheim eingehend dem Kalbsbraten gewidmet hatte, sagte er: »Ihr laßt es euch hier gut gehen, Jeff.«
»Ach, so gut wir eben können«, sagte Avalon. »Das Restaurant verlangt entsprechende Preise, aber es ist ja nur einmal im Monat.«
Davenheim handhabte begeistert sein Besteck und sagte: »Dr. Halsted, Sie sind Mathematiker —«
»Ich unterrichte widerwillige junge Leute in Mathematik, das ist nicht ganz das gleiche. Man darf nicht glauben, daß alle Interessen eines Mannes, dessen Beruf man angeben kann, sich nur auf diesen konzentrieren.«
Avalon starrte auf seinen sauber gereinigten Teller und schob gedankenvoll sein halbleeres Glas von sich. Er sagte: »Sam weiß wirklich, was es heißt, ein intellektuelles Hobby zu haben. Er ist ein hervorragender Phonetiker.«
»Nun ja«, sagte Davenheim betont bescheiden, »nur als Amateur.«
Rubin fragte: »Heißt das, daß Sie Dialektwitze erzählen können?«
»In jedem gewünschten Dialekt«, sagte Davenheim. »Aber ich kann Witze nicht einmal in normaler Sprache erzählen.«
»In Ordnung«, sagte Rubin, »ich würde lieber einen schlechten Witz im authentischen Dialekt als einen guten mit falschem Akzent hören.«
»Wie erklärst du dann die Tatsache«, fragte Gonzalo, »daß du nur bei deinen eigenen Witzen lachst, die doch weder gut sind noch richtig erzählt werden.«
Davenheim sagte rasch, um Rubins Erwiderung zuvorzukommen: »Sie haben mich vom Thema abgebracht. Ich meine, Dr. Halsted — nun ja, Roger —, daß Sie sich vielleicht mit den Klassikern befassen, um sich von einem schwierigen mathematischen Problem abzulenken. Dabei werden Ihre unbewußten Gedanken... «
»Das Komische ist«, mengte sich Rubin nun ein, »daß es funktioniert. Ich wurde noch nie von der Handlung einer Geschichte so blockiert, daß ich sie nicht hätte meistern können, wenn ich in einen Film ging. Ich meine nicht in einen guten Film, der mich wirklich in Anspruch nimmt, sondern einen schlechten, der mein Bewußtsein eben ausreichend beschäftigt, um meinen unbewußten Gedanken freien Lauf zu lassen. Am besten eignet sich ein Spionagefilm.«
Gonzalo sagte: »Ich kann der Handlung dieser Dinge nicht einmal folgen, wenn ich achtgebe.«
»Und dabei sind sie für die Gehirne von Zwölfjährigen bestimmt«, sagte Rubin, der nun endlich zurückschlug.
Henry goß den Kaffee ein, und Davenheim sagte: »Ich bin auch Mannys Meinung. Ich glaube wohl, daß ein mit Phonetik verbrachter Tag manchmal die beste Methode ist, ein Arbeitsproblem zu lösen. Aber gibt es da nicht einen anderen Aspekt? Wir lassen also — das ist leicht verständlich — den unbewußten Gedanken beliebig freien Lauf, indem wir das Bewußtsein beschäftigen. Bleiben sie jedoch verborgen? Könnten sie nicht an die Oberfläche dringen? Könnten sie nicht, wenn schon nicht uns selbst — die wir denken —, für andere sichtbar oder hörbar werden?«
»Was meinen Sie damit eigentlich, Oberst?« fragte Trumbull.
»Also«, sagte Davenheim, »wenn wir einander beim Vornamen nennen, so wollen wir es doch alle tun. Nennen Sie mich Sam. Ich meine folgendes.
Angenommen, Manny arbeitet an einer Geschichte, in der ein unentdeckbares Gift, ein toxischer Stoff, vorkommt, Sie tun etwas anderes, um Ihr Unbewußtes arbeiten zu lassen, und können beschwören, daß Sie die Handlung völlig vergessen haben, daß Sie nicht daran denken, daß sie völlig ausgelöscht ist. Und dann rufen Sie ein Taxi herbei mit dem Ruf: >Toxi! Toxi !<«
Trumbull sagte nachdenklich: »Das ist weit hergeholt, und ich lasse es nicht gelten, aber ich verstehe, was Sie meinen. Jeff, hast du Sam hierhergebracht, weil er mit einem Problem zu tun hat?«
Avalon räusperte sich. »Eigentlich nicht. Ich lud ihn im vorigen Monat ein — aus vielen Gründen — der wichtigste davon war, daß ich annahm, er würde euch allen gefallen. Aber gestern nacht blieb er bei uns in der Wohnung — darf ich es erzählen, Sam?«
Davenheim zog die Schultern hoch. »Du sagtest, dieser Raum ist verschwiegen wie das Grab.«
»Absolut«, sagte Avalon. »Sam kennt meine Frau beinahe so lange wie mich, dennoch nannte er sie gestern Farber anstatt Florence.«
Davenheim lächelte. »Mein Unbewußtes hat sich nach außen gedrängt. Ich hätte geschworen, daß ich es aus meinen Gedanken verscheucht hatte.«
»Du warst dir dessen nicht bewußt«, sagte Avalon. Er wandte sich an die anderen. »Ich merkte es nicht. Florence merkte es. Beim zweitenmal sagte sie: >Wie nennst du mich?< und er sagte: >Was?< Sie sagte: >Du nennst mich dauernd Farber.< Er war wie vom Donner gerührt.«
»Dennoch«, sagte Davenheim, »ist es nicht mein Unbewußtes, das mich beunruhigt. Es ist seines.«
»Farbers?« fragte Drake, der mit seinen fleckigen Fingern die Zigarette ausdrückte.
»Des anderen«, sagte Davenheim.
Trumbull sagte: »Es ist ohnedies Zeit für den Cognac, Jeff. Willst du unseren geschätzten Gast befragen oder soll ein anderer das tun?«
»Ich glaube nicht, daß man ihn auszufragen braucht«, sagte Avalon. »Vielleicht will er uns bloß erzählen, was sein Unbewußtes beschäftigt, wenn sein Bewußtsein abgelenkt wird.«
»Ich weiß nicht, ob ich das tun will«, sagte Davenheim. »Es ist eine ziemlich heikle Sache.«
»Ich gebe Ihnen mein Wort«, sagte Trumbull, »daß alles hier Gesagte streng geheim bleibt. Jeff hat Ihnen das sicher bereits gesagt. Und das gilt auch für unseren geschätzten Henry. Sie brauchen natürlich nicht alle Einzelheiten anzugeben.«
»Ich darf mich aber nicht hinter falschen Namen verbergen, oder?«
»Nicht, wenn Farber ein richtiger ist«, sagte Gonzalo lächelnd.
»Nun, zum Teufel«, meinte Davenheim seufzend, »es ist eigentlich keine besondere Geschichte, vielleicht ist es gar nichts. Ich könnte so verdammt unrecht haben. Sollte ich aber recht haben, wird es für die Armee peinlich und für unser Land kostspielig sein. Fast möchte ich hoffen, unrecht zu haben, aber ich habe mich so weit festgelegt, daß meine Karriere endgültig zu Ende sein könnte, falls ich unrecht habe. Ich stehe nämlich knapp vor meiner Pensionierung.«
Er schien eine Weile in Gedanken verloren, dann sagte er grimmig: »Nein, ich will recht haben. Wie peinlich es auch ist, es muß abgestellt werden.«
»Sind Sie einem Verrat auf der Spur?« fragte Drake.
»Nein, nicht direkt. Fast wünschte ich, es wäre so. Verrat kann durchaus achtbar sein. Der Verräter des einen ist der Märtyrer des anderen. Ich spreche nicht von einem Pokersöldling für alles, sondern von einem Mann, der einer höheren Sache als seinem Land zu dienen glaubt, und der für die Risiken, auf die er sich einläßt, keinen Cent nehmen würde. Dafür haben wir durchaus Verständnis, wenn es Verräter des Feindes sind, mit denen wir zu tun haben.«
»Dann ist es also nicht Verrat?« sagte Trumbull ein wenig ungeduldig.
»Nein. Bloß Korruption! Stinkende, übelste Korruption. Eine Bande von Männern — Soldaten, muß ich leider sagen, Offiziere, vermutlich sogar hohe Offiziere — die Onkel Sam ein wenig zur Ader lassen wollen.«
»Warum ist das kein Verrat?« knurrte Rubin. »Es schwächt uns und zersetzt die Armee. Soldaten, die von ihrem Land so wenig halten, daß sie es bestehlen, werden kaum bereit sein, für ihr Land zu sterben.«
Davenheim sagte: »In diesem Fall ist bloße Habgier das einzige Motiv. Möglicherweise geht es um Millionen Dollar von dem Geld der Steuerzahler.«
»Möglicherweise? Ist das alles?« fragte Trumbull.
»Vorläufig ja. Ich kann nichts beweisen, und ohne eine verdammt gute Fährte läßt es sich nicht ausforschen. Wenn ich zu scharf vorgehe und meine Verdächtigungen nicht durchwegs erhärten kann, werde ich in Stücke gerissen. Es könnten einige bedeutende Namen verwickelt sein — oder auch nicht.«
»Was hat Farber damit zu schaffen?« fragte Gonzalo.
»Wir haben bis jetzt zwei Männer, einen Sergeant und einen einfachen Soldaten. Der Sergeant heißt Robert J. Farber, der andere Orin Klotz. In Wirklichkeit können wir ihnen aber nichts nachweisen.«
»Gar nichts?« fragte Avalon.
»Eigentlich nicht. Die Tätigkeit von Farber und Klotz führte dazu, daß Armeeausrüstung im Wert von Tausenden Dollar verschwand, aber wir können nicht nachweisen, daß ihre Handlungen gesetzwidrig waren. Sie waren in allen Fällen gedeckt.«
»Sie meinen, weil Vorgesetzte beteiligt waren?« Gonzalo lächelte bedächtig. »Offiziere? Mit Hirn?«
»So unwahrscheinlich es scheint«, sagte Davenheim trocken. »Das wäre möglich. Aber ich habe keine Beweise.«
»Können Sie die zwei Männer nicht verhören?« fragte Gonzalo.
»Das habe ich getan«, sagte Davenheim. »Aus Farber bekomme ich nichts heraus. Er ist von der gefährlichsten Sorte, das ehrliche Werkzeug. Ich glaube, er war zu dumm, um die Bedeutung dessen, was er tat, zu erkennen, und er hätte es nicht getan, wenn er sie erkannt hätte.«
»Konfrontiere ihn mit der Wahrheit!« sagte Avalon.
»Was ist die Wahrheit?« fragte Davenheim. »Ich bin nicht bereit, meine Annahmen aufzudecken. Wenn ich erzähle, was ich jetzt weiß, bedeutet es für die beiden bestenfalls Ausschluß aus der Armee, und der Rest der Bande wird für eine Atempause die Fühler einziehen und dann wieder anfangen. Nein, ich will mein Blatt nicht aufdecken, bis ich einen Anhaltspunkt habe, so daß ich das Risiko, auf das ich mich einlassen muß, mit ziemlicher Sicherheit eingehen kann.«
»Sie meinen einen Hinweis auf einen Vorgesetzten?« fragte Rubin.
»Genau.«
»Was ist mit dem anderen Soldaten?« fragte Gonzalo.
Davenheim nickte. »Der ist es. Er weiß Bescheid, er ist das Hirn von den beiden. Aber ich kann seine Aussage nicht entkräften. Ich bin sie wiederholt mit ihm durchgegangen, und er ist gedeckt.«
»Wenn es nur eine Annahme ist«, sagte Halsted, »daß an der Sache mehr ist, warum nehmen Sie sie dann so ernst? Besteht tatsächlich die Wahrscheinlichkeit, daß Sie unrecht haben?«
»Es würde anderen so erscheinen«, sagte Davenheim. »Und ich könnte es nicht anders als mit Hinweis auf Erfahrung erklären, wieso ich weiß, daß ich nicht unrecht habe. Schließlich kann ein erfahrener Mathematiker ganz sicher sein, daß eine bestimmte Annahme richtig ist, aber außerstande sein, sie durch die strengen Regeln mathematischer Darlegung zu beweisen. Nicht wahr, Roger?«
»Ich bin nicht sicher, ob diese Analogie richtig ist«, sagte Halsted.
»Ich halte sie für gut. Ich habe mit Männern gesprochen, die ganz zweifellos unschuldig waren, und die Haltung eines jeden Angeklagten ist verschieden, aber ich kann den Unterschied fühlen. Leider ist das Gefühl als Beweis unzulässig. Ich kann Farber fallenlassen, aber Klotz ist eben eine Spur zu vorsichtig, eine Spur zu sicher. Er spielt mit mir herum, und es macht ihm sogar Spaß, und es ist unmöglich, daß mir so etwas entgehen kann.«
»Wenn Sie darauf bestehen, daß Sie derlei Dinge fühlen können«, sagte Halsted verdrießlich, »kann man darüber nicht diskutieren, nicht wahr? Sie entziehen sie damit jeder vernünftigen Überlegung.«
»Es gibt da keinen Irrtum«, sagte Davenheim unbeirrt. »Klotz lächelt bloß ein bißchen, sobald ich ihm ernsthaft auf den Pelz rücke. Es ist, als wäre ich der Stier und er der Matador, und wenn ich ihm nahekomme, steht er steif da, die capa flattert lässig an seiner Seite, und fordert mich heraus, ihn aufzuspießen. Sobald ich es versuche, ist er weg — und die capa schwirrt über meinem Kopf.«
»Wissen Sie«, sagte Trumbull, »ich habe in solchen Dingen etwas Erfahrung. Nehmen Sie an, daß Klotz den Fall für Sie ganz aufdecken kann? Er ist nur ein einfacher Soldat, und ich fürchte, daß er, auch wenn es eine Verschwörung gibt, sehr wenig darüber weiß.«
»Also gut, das lasse ich gelten«, sagte Davenheim, »ich erwarte nicht, daß Klotz Unmögliches möglich macht. Er muß aber doch einen anderen, höhergestellten Mann kennen. Er muß über eine Tatsache Bescheid wissen, die dem Kernpunkt näher ist als er selbst. Hinter diesem einen Mann und dieser einen Tatsache bin ich her. Sonst will ich nichts. Und es macht mich fertig, daß er es verrät und ich dennoch nicht klug daraus werde.«
»Was meinen Sie damit, daß er es verrät?« fragte Trumbull.
»Da tritt das Unbewußte auf den Plan. Wenn ich mit ihm diskutiere, ist er völlig von mir in Anspruch genommen, ganz damit befaßt, mich aufzuhalten, abzuwehren, zu behindern, in Nachteil zu bringen. Er versteht dieses Spiel, hol ihn der Teufel! Es wäre das Letzte, daß er mir die gewünschte Information gäbe, aber sie steckt in ihm, und wenn er an etwas anderes denkt, sprudelt diese Information aus ihm heraus. Jedesmal, wenn ich ganz nah an ihn herankomme, ihn zurückscheuche und in eine Ecke manövriere — wenn meine Hörner knapp neben seinen Weichen gegen die verdammte capa stoßen —, singt er.«
»Was tut er?« rief Gonzalo, und es entstand allgemeine Bewegung unter den Schwarzen Witwern. Nur Henry ließ keine Erregung erkennen, als er mehrere Kaffeetassen nachfüllte.
»Er singt«, sagte Davenheim, »nein nicht ganz — er summt. Und es ist immer dieselbe Melodie.«
»Welche Melodie? Kennen Sie sie?«
»Natürlich kenne ich sie; die kennt jeder. Der >Yankee Doodle<.«
»Und >Yankee Doodle< verrät das Ganze?« fragte Drake mit dem Ausdruck in seinen Chemikeraugen, den er hatte, wenn er an der Vernunft eines anderen zu zweifeln anfing.
»Irgendwie. Er verbirgt die Wahrheit, so geschickt er kann, aber sie taucht aus seinem Unterbewußten hervor, ein wenig bloß, wie die Spitze des Eisbergs. Und diese Spitze ist > Yankee Doodle<. Ich werde daraus nicht klug. Ich finde keinen Anhaltspunkt. Aber es gibt ihn, dessen bin ich sicher!«
»Sie meinen, irgendwo im >Yankee Doodle< liegt eine Lösung Ihres Problems?« fragte Rubin.
»Ja«, sagte Davenheim, »ich bin sicher. Er ist sich nämlich nicht bewußt, daß er es summt. Einmal fragte ich: >Was ist das?< und er war bestürzt. Ich sagte: >Was summen Sie da?< und er starrte mich mit ehrlicher Verwunderung an, das kann ich beschwören.«
»Wie du, als du Florence Farber nanntest«, sagte Avalon.
Halsted schüttelte den Kopf. »Ich sehe nicht ein, wieso Sie dem so viel Bedeutung beimessen. Es kommt bei jedem von uns vor, daß wir Melodien, die uns durch den Kopf gehen, eine Weile nicht loswerden können. Ich bin sicher, wir summen sie mitunter in uns hinein.«
»Zufällig vielleicht. Aber Klotz summt nur >Yankee Doodle< und immer dann, wenn ich ihn unter Druck setze. Wenn die Sache im Zusammenhang mit meiner Suche nach der Wahrheit über die Korruptionsverschwörung, von deren Bestehen ich überzeugt bin, spannend wird, kommt diese Melodie an die Oberfläche. Sie muß eine Bedeutung haben.«
»Yankee Doodle«, sagte Rubin gedankenverloren, halb zu sich selbst. Einige Augenblicke herrschte nachdenkliches Schweigen. Dann sagte Trumbull: »Vielleicht haben Sie unrecht, Sam, vermutlich brauchen Sie hier die Psychiatrie. Mag sein, daß dieser Klotz immer, wenn er unter Druck steht, >Yankee Doodle< summt. Das könnte einfach daher kommen, daß er als Sechsjähriger gehört hat, wie sein Großvater das sang, oder daß seine Mutter ihn damit einschlummerte.«
Davenheim zog die Oberlippe leicht höhnisch empor. »Glauben Sie, daran hätte ich nicht gedacht? Ich habe ein Dutzend seiner nächsten Freunde verhört. Keiner hat ihn jemals etwas summen hören!«
»Vielleicht lügen sie«, sagte Gonzalo. »Ich würde einem Offizier nie etwas erzählen, wenn ich es vermeiden könnte.«
»Vielleicht haben sie es nicht bemerkt«, sagte Avalon, »wenige Menschen sind gute Beobachter.«
»Eventuell wird das Lied nur mit dem Militärleben assoziiert. Es ist ein Marsch, der mit dem Befreiungskrieg zusammenhängt«, sagte Drake.
»Warum dann nur mit mir und mit sonst keinem in der Armee?«
Rubin sagte: »Also gut, nehmen wir an, > Yankee Doodle< bedeutet in diesem Zusammenhang etwas. Was haben wir zu verlieren? Hören wir ihn uns doch an... Um Gottes willen, Jeff, sing nicht!«
Avalon, der offenbar in der Absicht zu singen, den Mund geöffnet hatte, schloß ihn jäh wieder. Seine Fähigkeit, einen richtigen Ton hervorzubringen, wetteiferte mit der einer Auster, und das wußte er in seinen vernünftigeren Momenten. Er sagte mit einer Spur von Arroganz: »Ich werde ihn aufsagen!«
»Gut«, sagte Rubin, »aber nicht singen.« Avalon begann in seinem volltönenden Bariton zu deklamieren:
»Das ist ein stumpfsinniger Text«, sagte Gonzalo.
»Stumpfsinnig? Lächerlich!« sagte Rubin empört, und sein schütterer Bart zitterte. »Es ist durchaus verständlich: eine Satire auf den Jungen vom Land, geschrieben von einem Angeber aus der Stadt. >Doodle< ist irgendein primitives ländliches Instrument — zum Beispiel ein Dudelsack —, somit ist Yankee Doodle ein hinterwäldlerischer NeuEngländer, der nicht weltmännischer ist als ein Dudelsack. Er kommt auf seinem Pony in die Stadt mit der Absicht elegant auszusehen, daher trägt er seiner Ansicht nach städtische Kleider. Er trägt eine Feder am Hut und hält sich für einen echten Stutzer. Und das war im späten 18. Jahrhundert ein >Makkaroni<, ein nach der neuesten Mode gekleideter Stadtgeck.
Die letzten vier Zeilen sind der Refrain und zeigen den Jungen vom Land beim Tanz in der Stadt. Man sagt ihm höhnisch, er soll nur weiter stampfen und zu den Damen galant sein. Das Wort >Dandy<, das um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Gebrauch kam, bedeutet das gleiche wie >Makkaroni<.«
»Schön, Manny«, sagte Gonzalo, »du hast gewonnen. Es ist kein Stumpfsinn. Aber inwiefern trägt es zur Lösung von Sams Problem bei?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Rubin. »Tut mir leid, Sam, aber Klotz macht den Eindruck eines Jungen vom Land, der sich über den Angeber aus der Stadt lustig macht, dabei an das höhnische Lied denken muß und daran, wie er Ihnen gegenüber den Spieß umdrehen kann.«
»Ich nehme an«, sagte Davenheim, »Sie glauben, Klotz müsse aufgrund seines Namens ein Junge vom Land sein. In Wirklichkeit wurde Klotz in Philadelphia geboren und erzogen, und ich bezweifle, daß er je eine Farm gesehen hat. Der ist kein Junge vom Land.«
»Nun«, sagte Rubin, »dann habe ich das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt. Er ist der Angeber aus der Stadt, der sich besser dünkt als Sie, Sam.«
»Weil ich ein Junge vom Land bin? Ich wurde in Stoneham, Massachusetts, geboren und war bis zu meinem Juristendiplom in Harvard. Das weiß er auch. Er machte genügend diesbezügliche Bemerkungen anläßlich seiner Matadortätigkeit.«
Drake sagte: »Sind Sie auf Grund Ihrer Geburt und Erziehung in Massachusetts nicht ein Yankee?«
»Kein Yankee Doodle«, sagte Davenheim hartnäckig.
»Er könnte das aber meinen«, sagte Drake.
Davenheim überlegte eine Weile, dann sagte er: »Ja, das wäre möglich. Dann würde er es jedoch offen, spöttisch summen. Ich glaube aber, er summt es unbewußt. Es hängt mit etwas zusammen, das er zu verbergen sucht, nicht mit etwas, das er zeigen will.«
Gonzalo sagte: »Vielleicht hat ein bestimmtes Wort eine Bedeutung. >Makkaroni< könnte heißen, daß er mit der Mafia zusammenarbeitet. Oder >mit den Mädchen wendig<, daß eine Armeehelferin, eine WAC, im Spiel ist.«
In diesem Augenblick sagte Henry: »Mr. Avalon, würden Sie als Gastgeber mir gestatten, dem Gast einige Fragen zu stellen?«
»Bitte, Henry«, sagte Avalon. »Sie wissen, daß Sie das jederzeit tun können.«
»Danke, Sir«, sagte Henry. »Mr. Avalon deklamierte acht Zeilen des >Yankee Doodle< — vier Zeilen Einleitung und vier Zeilen Refrain. Aber Einleitung und Refrain haben verschiedene Melodien. Summte Soldat Klotz alle acht Zeilen?«
Davenheim überlegte einen Augenblick. »Nein, natürlich nicht. Er summte...« Er schloß die Augen und konzentrierte sich, dann fuhr er fort »Dum-dum-dum-dum dum-dum-dum, dum-dum dum-dum du-u-umdum. Sonst nichts. Die zwei ersten Zeilen.«
»Der Einleitung?«
»Genau. >Yankee Doodle kam zur Stadt. Er ritt auf einem Pony<.«
»Immer diese zwei Zeilen?«
»Ja, ich glaube, immer.«
Drake wischte ein paar Krumen vom Tisch. »Sie sagen, Oberst, dieses Summen kam, wenn die Befragung besonders scharf war. Haben Sie genau achtgegeben, worüber in diesen Fällen gesprochen wurde?«
»Ja, natürlich, aber ich möchte lieber nicht auf Einzelheiten eingehen.«
»Ich verstehe, aber vielleicht können Sie mir eines sagen. Stand er in diesen Fällen allein zur Diskussion oder auch Sergeant Farber?«
»Gewöhnlich kam es zu dem Summen«, sagte Davenheim langsam, »wenn er besonders entschieden die Unschuld beteuerte, immer jedoch ihrer beider Unschuld. Das muß ich ihm lassen. Er versuchte nie, sich auf Kosten des anderen zu entlasten. Es war immer so, daß weder Farber noch er dies getan hatten oder für jenes verantwortlich waren.«
»Oberst Davenheim«, sagte Henry, »es ist eine vage Vermutung. Lautet die Antwort >nein<, so habe ich nichts weiter zu sagen. Lautet sie aber >ja<, dann wäre es möglich, daß wir etwas gefunden haben.«
»Welche Frage, Henry?«
»Gibt es vielleicht bei der Einheit von Sergeant Farber und Soldat Klotz einen Captain Gooden oder Gooding oder so ähnlich, Herr Oberst?«
Davenheim hatte Henry bis dahin mit leiser Belustigung betrachtet. Die war nun plötzlich verschwunden. Er preßte die Lippen zusammen und erblaßte sichtlich. Dann schob er seinen Stuhl geräuschvoll zurück und stand auf.
»Ja«, sagte er heftig. »Captain Charles Goodwin. Wie zum Teufel konnten Sie das wissen?«
»Dann könnte es Ihr Mann sein. Ich an Ihrer Stelle würde Klotz und Farber vergessen, Sir, und mich auf den Captain konzentrieren. Das ist vielleicht der Schritt nach oben, den Sie suchten. Und der Captain könnte sich als weniger schwieriges Problem erweisen, als es Soldat Klotz war.«
Davenheim fehlten sichtlich die Worte, und Trumbull sagte: »Würden Sie das bitte erklären, Henry?«
»Es ist der >Yankee Doodle<, wie der Oberst annahm. Aber die Sache ist die, daß Klotz ihn summte. Wir müssen überlegen, an welche Worte er beim Summen dachte.«
»Der Oberst sagte«, bemerkte Gonzalo, »er hätte die Zeilen >Yankee Doodle kam zur Stadt, er ritt auf einem Pony< gesummt.«
Henry schüttelte den Kopf: »Das ursprüngliche Gedicht >Yankee Doodle< hatte einige Dutzend Zeilen, und die mit Makkaroni waren nicht darunter. Sie kamen später hinzu, wenn sie auch heute die bekanntesten sind. Das ursprüngliche Gedicht berichtet vom Besuch eines jungen Farmersohns in Washingtons Lager und macht sich über die Naivität des Jungen lustig; ich glaube also, daß Mr. Rubins Auffassung vom Wesen des Liedes richtig ist.«
Rubin sagte: »Henry hat recht. Jetzt erinnere ich mich. Washington wird sogar erwähnt, aber als Captain Washington. Der Farmerjunge kannte nicht einmal seinen militärischen Rang.«
»Ja«, sagte Henry, »ich kenne nicht alle Verse und glaube, es gibt nur wenige, die sie kennen. Vielleicht auch nicht der Soldat Klotz. Wer das Gedicht aber kennt, kennt zumindest die ersten beiden Zeilen, und die dürfte Klotz gesummt haben. Die erste Zeile zum Beispiel lautet >Vater und ich, wir gingen ins Camp<. Verstehen Sie?«
»Nein«, sagte Davenheim kopfschüttelnd. »Nicht ganz.«
»Ich dachte mir, Sie hätten, wenn Sie den Soldaten Klotz in die Enge trieben, vielleicht gesagt >Farber und Sie taten dies und das<, und er antwortete >Farber und ich taten dies und das nicht< und begann zu summen. Oberst, Sie sagten, daß es kam, wenn er leugnete, und das tat er stets für Farber und sich. Wenn er also sagte >Farber und ich<, so löste es die Zeile >Vater und ich, wir gingen ins Camp< aus.« Henry sang es mit leiser Tenorstimme.
»Farber und er waren in einem Militärcamp«, sagte Avalon, »aber, mein Gott, das ist weit hergeholt.«
»Wenn es allein stünde, ja, Sir«, sagte Henry. »Aber deshalb fragte ich nach einem Captain Goodin im Camp. Wenn er das dritte Mitglied der Verschwörung wäre, mochte der Drang, die Melodie zu summen, unwiderstehlich sein. Die ersten vier Verse, die einzigen, die ich kenne ... «
Da unterbrach ihn Rubin. Er erhob sich und brüllte:
»Vater und ich, wir gingen ins Camp Zusammen mit Captain Goodin, Dort sahen wir viele Männer und Jungs In Haufen wie Mehlbreipudding.«
»'Richtig«, sagte Henry ruhig. »Farber und ich, wir gingen zum Camp zusammen mit Captain Goodwin.«
»Bei Gott«, sagte Davenheim, »so muß es sein. Wenn nicht, wäre es der unglaublichste Zufall... Und das ist nicht möglich. Henry, Sie haben ins Schwarze getroffen.«
»Hoffentlich. Noch Kaffee, Herr Oberst?«
Diese Geschichte gab mir Gelegenheit zu einer großen Entdeckung. Das kam so:
Ich schreibe meine Geschichten in die Maschine. Sogar Erstentwürfe. Ich war fest davon überzeugt, es müsse so sein. Wenn ich diktierte, konnte ich meine Arbeit nicht sehen, und wenn ich mit der Hand schrieb, wurden meine Finger steif und versagten mir mitten auf der zweiten Seite den Dienst.
So saß ich am 9. November 1972 in einem Hotelzimmer in Rochester; ich sollte am nächsten Tag einen Vortrag halten. An diesem Abend hatte ich nichts zu tun, und auf der Fahrt nach Rochester hatte ich mir die Geschichte ausgedacht, die Sie soeben gelesen haben (es sei denn, Sie durchblättern das Buch und lesen nur die Anmerkungen). Ich war verzweifelt. Ich wollte unbedingt schreiben, hatte aber keine Schreibmaschine.
Schließlich besorgte ich mir Hotelbriefpapier und beschloß, die Geschichte mit der Hand zu schreiben so lange, bis mir die Finger abfallen würden. So schrieb ich und schrieb — und schrieb. Wissen Sie, ich schrieb die ganze Geschichte zu Ende, ohne die Feder vom Papier abzusetzen, und meine Finger schmerzten gar nicht!
Jetzt brauche ich meine Schreibmaschine nicht mehr mitzunehmen. Seither habe ich während einer Schiffsreise mehrere Geschichten mit der Hand geschrieben.
Und noch etwas: beim Schreiben der Geschichte entdeckte ich etwas Merkwürdiges. Das Schreiben mit Feder und Tinte ist sehr geräuschlos. Der Lärm, den ich beim Schreiben immer mache, ist nicht das Schreiben, sondern die Maschine. Ich dachte, vielleicht interessiert Sie das.