172632.fb2 Die bosen Geschichten der schwarzen Witwer - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 4

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Sonntag am frühen Morgen

Geoffrey Avalon schwenkte den Drink in seinem Glas, als er am Tisch Platz nahm. Er hatte noch nicht ganz die Hälfte davon getrunken, und nach dem nächsten kurzen Schluck würde er ihn stehenlassen. Er sah unglücklich aus.

»Es ist, soweit ich mich erinnern kann, das erstemal«, sagte er, »daß die Schwarzen Witwer zusammenkommen, ohne einen Gast zu haben.« Seine buschigen Brauen, die noch schwarz waren, obgleich sein Schnurrbart und der gestutzte Bart im Laufe der Jahre ergraut waren, zuckten sichtlich.

»Nun, ja«, sagte Roger Halsted, der seiner Serviette mit hörbarem Schwung entfaltete und über seine Knie breitete, »als Gastgeber bei dieser Zusammenkunft traf ich diese Entscheidung. Dagegen gibt es keine Berufung. Ich habe meine Gründe.« Er legte die Hand an seine hohe Stirn und machte eine Bewegung, als wollte er das Haar zurückstreichen, das schon vor Jahren von der Vorderseite seines Kopfes verschwunden war.

»Tatsächlich steht nichts davon in den Statuten«, sagte Emmanuel Rubin, »daß wir einen Gast haben müssen. Das einzige, was sein muß, sind keine Frauen.«

»Frauen dürfen nicht Mitglieder sein«, sagte Thomas Trumbull mit einem finsteren Blick aus seinem ständig gebräunten Gesicht. »Wo steht, daß eine Frau nicht Gast sein darf?«

»Nein«, sagte Rubin scharf, wobei sein spärlicher Bart zitterte. »Für die Dauer der Mahlzeit wird jeder Gast ex officio Mitglied und muß allen Regeln gerecht werden, einschließlich der, keine Frau zu sein.«

»Was heißt eigentlich ex officio?« fragte Mario Gonzalo. »Das wollte ich immer schon wissen.«

Aber Henry brachte bereits den ersten Gang, anscheinend eine mit gewürztem Käse gefüllte, gebackene Teigrolle mit einer Sauce.

Rubin sagte schließlich mit gequältem Gesicht: »Soweit ich erkennen kann, scheint es sich um eine gefüllte Teigrolle zu handeln... »

Inzwischen entspann sich bereits eine lebhafte Unterhaltung.

Als der Nachtisch serviert war, sagte Halsted: »Also gut, ich werde euch erklären, was ich vorhabe. Bei unseren letzten Zusammenkünften ergab es sich jedesmal, daß irgendein Verbrechen erörtert wurde, und im Laufe der Diskussion wurde es immer gelöst.«

»Durch Henry«, unterbrach Drake und drückte seine Zigarette aus.

»Schön, durch Henry. Aber welche Art von Verbrechen waren es? Niederträchtige Verbrechen. Das erstemal war es Diebstahl, das zweitemal irgendeine böse Spionagegeschichte.«

»Die war nicht zu verachten«, sagte Trumbull, »das könnt ihr mir glauben!«

»Ja«, sagte Halsted mit seiner sanften Stimme, »aber nirgends gab es Gewalttaten. Mord, meine Herren, Mord!«

»Was meinst du mit - Mord?« fragte Rubin.

»Ich meine damit, daß sich jedesmal wenn wir einen Gast haben, irgend etwas Unbedeutendes ergibt, weil wir die Dinge nehmen, wie sie kommen. Wir laden nicht absichtlich Gäste ein, die uns interessante Verbrechen zu bieten haben. Eigentlich können wir von ihnen gar nicht erwarten, daß sie uns überhaupt Verbrechen vorbringen. Sie sind ganz einfach Gäste.«

»Und?«

»Wir sind nun zu sechst hier, ohne Gäste, und es muß doch einen von uns geben, der von einem Mordfall weiß, der ungelöst ist und ... «

»Zum Teufel!« sagte Rubin ärgerlich. »Du hast Agatha Christie gelesen. Wir werden einer nach dem anderen von einem rätselhaften Mord erzählen, und Miß Marple wird ihn für uns lösen ... oder Henry.«

Halsted war verlegen. »Du meinst, die tun so was ... «

»Du mein Gott!« sagte Rubin nervös.

»Nun, du bist der Schriftsteller«, sagte Halsted. »Ich lese keine Krimis.«

»Das ist dein Fehler«, sagte Rubin, »und es zeigt, was für ein Dummkopf du bist. Du nennst dich einen Mathematiker. Ein richtiger Krimi ist ein ebenso mathematisch aufgebautes Rätsel wie etwas, das du zusammenbasteln kannst, nur muß es aus viel schwerer zu bearbeitendem Material bestehen.«

»Einen Augenblick«, sagte Trumbull. »Wenn wir schon dabei sind, wollen wir nicht doch sehen, ob wir einen Mord finden?«

»Hast du einen anzubieten?« fragte Halsted hoffnungsvoll. »Du bist bei der Regierung und arbeitest mit Codes und dergleichen. Du mußt doch schon mit Mord zu tun gehabt haben. Du brauchst auch keine Namen nennen und du weißt, daß nichts durch diese Wände dringt.«

»Das weiß ich besser als du«, sagte Trumbull, »aber ich weiß von keinem Mord. Ich kann dir einige interessante Geschichten über Codes erzählen, aber es ist nicht das, was du suchst... Wie steht es mit dir, Roger? Ich nehme an, du hast etwas auf Lager, da du davon sprichst. Einen mathematischen Mord?«

»Nein«, sagte Halsted nachdenklich. »Ich kann mich nicht erinnern, in einen einzigen Mord verwickelt gewesen zu sein. Und was ist mit dir, Jeff? Du bist doch Rechtsanwalt.«

»Keiner von denen, die Mörder als Klienten haben«, sagte Avalon und schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich befasse mich mit Patentschwierigkeiten. Du könntest Henry fragen. Der ist bei Verbrechen mehr zu Hause als wir, oder zumindest scheint es so.«

»Tut mir leid, Sir«, sagte Henry leise, während er mit geübter Hand den Kaffee eingoß. »Bei mir handelt es sich um bloße Theorie. Ich habe das Glück, nie mit gewaltsamem Tod zu tun gehabt zu haben.«

»Ihr meint also«, sagte Halsted, »daß wir sechs hier - eigentlich sieben, Henry eingeschlossen -keinen einzigen Mord auftreiben können?«

Drake zog die Schultern hoch. »In meinem Beruf gibt es immer einige Chancen. Ich persönlich war zwar noch nie Zeuge eines Unfalles im Chemielabor, aber es hat Vergiftungen, Explosionen, sogar Todesfälle durch elektrischen Strom gegeben. Das sind aber schlimmstenfalls fahrlässige Morde. Ich kann von keinem etwas erzählen.«

»Wie kommt es, daß du so still bist, Manny?« sagte Trumbull. »Hattest du im Lauf deiner interessanten Karriere nie Gelegenheit, einen Menschen zu töten?«

»Manchmal wäre es mir ein Vergnügen gewesen«, sagte Rubin, »so wie jetzt. Aber ich brauche es nicht zu tun. Ich kann mit Leuten jeden Kalibers tadellos fertigwerden, ohne Hand an sie zu legen. Hör zu, ich entsinne mich ... «

Doch plötzlich sagte Mario Gonzalo, der mit fest aneinander gepreßten Lippen dort gesessen hatte: »Ich bin in einen Mord verwickelt gewesen.«

»Wirklich? Welcher Art?« fragte Halsted.

»Meine Schwester«, sagte er brütend, »vor drei Jahren. Es war, bevor ich den Schwarzen Witwern beitrat.«

»Verzeih mir«, sagte Halsted, »ich nehme an, du willst darüber nicht sprechen.«

»Es macht mir nichts aus, darüber zu sprechen«, sagte Mario und zog die Schultern hoch; seine großen, vorstehenden Augen blickten einen nach dem anderen an, »aber es gibt nichts darüber zu sagen. Kein Rätsel. Es ist nur eines jener Dinge, die aus dieser Stadt einen so kurzweiligen Ort machen. Sie brachen in die Wohnung ein, versuchten zu plündern und töteten sie.«

»Wer?« fragte Rubin.

»Das weiß kein Mensch. Süchtige? Das passiert dort in dem Viertel dauernd. In dem Mehrfamilienhaus, in dem sie mit ihrem Mann wohnte, hat es seit Neujahr vier Einbrüche gegeben, und der Mord wurde schon Ende April begangen.«

»Waren es immer Morde?«

»Nein. Der kluge Einbrecher sucht sich eine Zeit aus, in der die Wohnung leer ist. Oder wenn jemand zu Hause ist, jagt man ihm Angst ein oder fesselt ihn. Marge war so dumm, Widerstand zu leisten, sich zu wehren. Es gab genug Anzeichen eines Kampfes.« Gonzalo schüttelte den Kopf.

Halsted fragte nach einer Verlegenheitspause: »Hat man die Täter je gefangen?«

Gonzalo blickte hoch und starrte Halsted an, ohne zu versuchen, die Verachtung in seinem Blick zu verbergen. »Glaubst du, man hat auch nur gesucht? Keiner kümmert sich darum. Und wenn man sie erwischt, was dann? Würde es Marge wieder zum Leben erwecken?«

»Es könnte die Täter daran hindern, so weiterzumachen.«

»Es gibt genug andere jämmerliche Schurken, die es tun.« Gonzalo holte tief Atem, dann sagte er: »Nun, vielleicht sollte ich doch lieber darüber sprechen und es mir von der Seele reden. Es war nur meine Schuld, verstehst du, weil ich zu früh aufwache. Wäre das nicht so, würde Marge vielleicht noch leben und Alex wäre nicht die gescheiterte Existenz, die er jetzt ist.«

»Wer ist Alex?« fragte Avalon.

»Mein Schwager. Er war mit Marge verheiratet, und ich mochte ihn gern. Um die Wahrheit zu sagen, ihn mochte ich lieber als sie. Marge war nie überzeugt von mir. Ihrer Ansicht nach war ich nur Künstler, um auf meine Art faulenzen zu können. Natürlich, als ich anständig zu verdienen anfing -nein, sogar da war sie mit mir unzufrieden und ist mir mit ihrem dauernden Gemecker - ohne daß ich die Tote kränken möchte - richtig auf die Nerven gegangen. Aber sie hatte Alex gern.«

»War er auch ein Künstler?« Avalon hatte das Verhör übernommen, und die anderen schienen bereit zu sein, es ihm zu überlassen.

»Nein. Als sie heirateten, war er nichts Bestimmtes, er ließ sich treiben, aber dann wurde er genau das, was sie wollte. Sie war das, was er brauchte, um in Schwung zu kommen. Sie brauchten sich gegenseitig. Sie hatte jemanden, um den sie sich kümmern konnte... «

»Keine Kinder?«

»Nein, keine, es sei denn, du willst eine Fehlgeburt dazu zählen. Die arme Marge. Etwas Biologisches, deshalb konnte sie keine Kinder haben. Aber es machte nichts aus. Alex war ihr Kind, und er kam vorwärts. Gleich nach der Hochzeit bekam er einen Posten, er wurde befördert, es ging ihm gut. Sie waren schon so weit zu planen, aus der verdammten Gegend, dieser Todesfalle, auszuziehen. Da passierte es. Armer Alex. Er hatte ebenso Schuld wie ich. Eigentlich noch mehr. Just an dem Tag mußte er aus dem Haus gehen!«

»Er war also nicht in der Wohnung?«

»Natürlich nicht. Wenn er dort gewesen wäre, hätte er die Einbrecher verscheuchen können.«

»Oder er wäre vielleicht auch umgebracht worden.«

»Wahrscheinlich wären sie davongelaufen und hätten Marge am Leben gelassen. Glaub mir, ich habe ihm zugehört, als er die Möglichkeiten aufzählte. Wie immer er es anschneidet, sie wäre noch am Leben, wenn er an dem Tag nicht fortgegangen wäre, und das quält ihn. Und ich kann dir sagen, seit es passiert ist, geht er kaputt. Er ist wieder nur ein Vagabund. Ich gebe ihm Geld, wenn ich kann, und dann und wann erledigt er Gelegenheitsarbeiten. Armer Alex. Es waren nur die fünf Jahre Ehe, in denen er wirklich vorwärtskam. Er war richtig ehrgeizig. Nun ist alles umsonst. Nichts ist davon übrig.«

Gonzalo schüttelte den Kopf. »Was mich so fertig macht ist, daß nicht das Opfer am schlimmsten leidet. Es war ein sinnloser Mord - zum Teufel, sie hatten nicht mehr als zehn, fünfzehn Dollar in kleinen Scheinen in der Wohnung -, doch Marge ist wenigstens sofort gestorben. Das Messer traf sie direkt ins Herz. Aber Alex leidet jetzt jeden Tag seines Lebens, und meine Mutter hat es hart getroffen. Und auch mich quält es.«

»Hör mal«, sagte Halsted, »wenn du nicht darüber sprechen willst... «

»Schon gut... manchmal denke ich nachts darüber nach. Wenn ich an jenem Tag nicht so früh aufgewacht wäre ...«

»Das sagst du schon zum zweitenmal«, unterbrach ihn Trumbull. »Was hat dein frühes Erwachen mit der Sache zu tun?«

»Weil die Leute, die mich kennen, damit rechnen. Ich wache immer punkt acht Uhr morgens auf. Die Zeit weicht kaum um fünf Minuten ab. Ich stelle nicht einmal den Wecker neben mein Bett; der bleibt in der Küche. Das hat etwas mit dem Körperrhythmus zu tun.«

»Die biologische Uhr«, murmelte Drake. »Ich wünschte, sie würde bei mir so funktionieren. Ich hasse das Aufstehen am Morgen.«

»Bei mir funktioniert sie immer«, sagte Gonzalo, und als er es sagte, klang sogar unter diesen Umständen eine gewisse Selbstgefälligkeit mit. »Auch wenn ich zu spät zu Bett gehe - um drei, vier Uhr morgens - erwache ich immer genau um acht Uhr. Ich schlafe später am Tag wieder, wenn ich erschöpft bin, aber ich wache um acht Uhr morgens auf. Auch am Sonntag. Man sollte meinen, ich hätte doch das Recht, sonntags länger zu schlafen, aber zum Teufel, auch da wache ich auf.«

»Willst du damit sagen, daß es an einem Sonntag passiert ist?« fragte Rubin.

Gonzalo nickte. »Genau. Ich hätte schlafen sollen. Ich hätte zu den Menschen gehören sollen, bei denen es die Leute für klüger halten, sie nicht am frühen Sonntagmorgen aufzuwecken - aber die tun es bei mir ohne Zögern. Sie wissen, ich bin auch am Sonntag wach.«

»So ein Unsinn«, sagte Drake, der anscheinend immer noch über seine Schwierigkeiten am Morgen nachbrütete. »Du bist ein Künstler und teilst dir deine Zeit nach Belieben ein. Warum mußt du so früh aufstehen?«

»Nun, da arbeite ich am besten. Außerdem bin ich auch empfindlich für Zeit. Ich brauche nicht nach der Uhr zu leben, aber ich habe es gern, jederzeit zu wissen, wie spät es ist. Meine Uhr, weißt du, ist trainiert. Nachdem es geschehen war, nach Marges Ermordung, war ich drei Tage lang nicht daheim, und die Uhr blieb zufällig Montag um acht Uhr morgens oder abends stehen. Ich weiß es nicht. Als ich nach Hause kam, standen die Zeiger jedenfalls auf acht Uhr, als wollten sie mir unter die Nase reiben, daß es Weckzeit sei.«

Gonzalo grübelte eine Weile, und keiner sagte ein Wort. Henry reichte mit ausdruckslosem Gesicht die kleinen Cognacgläser herum; nur seine Lippen waren leicht zusammengepreßt.

Schließlich sagte Gonzalo: »Es ist merkwürdig, aber ich hatte eine schlechte Nacht verbracht, ohne daß es dafür Gründe gab. Jene Jahreszeit, Ende April, wenn die Kirschen blühen, liebe ich besonders. Ich bin nicht gerade ein Landschaftsmaler, aber das ist die einzige Zeit, in der ich gern in den Park gehe und skizziere. Und das Wetter war gut. Ich entsinne mich, es war ein angenehmer milder Sonnabend, das erste wirklich schöne Wochenende des Jahres, und ich kam auch mit meiner Arbeit gut voran.

An jenem Tag hatte ich keinen Grund für schlechte Laune, aber ich wurde immer unruhiger. Ich erinnere mich, daß ich kurz vor den Elf-UhrNachrichten meinen Fernsehapparat abschaltete. Es war, als spürte ich, daß ich die Nachrichten nicht hören wollte. Es war, als spürte ich, es würde schlimme Nachrichten geben. Das habe ich mir nicht nachher zusammengereimt. Ich bin kein Mystiker. Aber ich hatte eine Vorahnung. Ja.«

»Es ist eher wahrscheinlich, daß du eine leichte Verdauungsstörung hattest«, sagte Rubin.

»Gut«, sagte Gonzalo mit einer Handbewegung, als würde er die Anregung begrüßen, »nenn es Verdauungsstörung. Ich weiß nur, daß ich vor elf Uhr in die Küche ging und die Uhr aufzog - das tue ich immer abends - und dachte, so früh kannst du doch nicht zu Bett gehen, es aber doch tat.

Vielleicht war es zu früh, denn ich konnte nicht schlafen, ich wälzte mich dauernd herum und war beunruhigt - worüber, weiß ich nicht mehr. Ich hätte aufstehen, etwas arbeiten, ein Buch lesen, mir einen Film im Fernsehen anschauen sollen - aber ich tat es nicht. Ich blieb einfach im Bett liegen.«

»Warum?« fragte Avalon.

»Ich weiß nicht. Es erschien mir damals wichtig. Mein Gott, ich erinnere mich so gut an jene Nacht, weil ich dauernd dachte, vielleicht werde ich lang schlafen, wenn ich jetzt nicht schlafe, und ich wußte, es würde doch nicht so sein. Ich muß gegen vier Uhr früh eingeschlafen sein, aber um acht war ich wach und kroch aus dem Bett, um mir das Frühstück zu bereiten.

Es war wieder ein sonniger Tag. Angenehm und kühl, es war klar, daß er die ganze Frühjahrswärme, aber ohne die Sommerhitze haben würde. Wieder ein schöner Tag! Weißt du, es schmerzt mich mitunter, daß ich Marge nicht besser leiden konnte, als es der Fall war. Ich meine, wir kamen miteinander aus, aber wir standen einander nicht nahe. Ich schwöre, ich besuchte die beiden eher, um mit Alex beisammen zu sein, als mit ihr. Und dann kam der Anruf.«

»Du meinst einen Telefonanruf?«

»Ja. Am Sonntagmorgen um acht Uhr. Wer sollte um diese Zeit anrufen, es sei denn, jemand der weiß, daß ich immer um acht aufstehe. Wenn ich geschlafen hätte und geweckt worden wäre, und dann in die Sprechmuschel geknurrt hätte, wäre das Ganze anders gewesen.«

»Wer war es?« fragte Drake.

»Alex. Er fragte, ob er mich aufgeweckt hätte. Er wußte, daß es nicht so war, hatte aber wohl ein schlechtes Gewissen, so früh anzurufen. Er fragte, wie spät es sei. Ich sah auf die Uhr und sagte: >Neun Minuten nach acht. Natürlich bin ich wach.< Ich war gewissermaßen stolz darauf, weißt du.

Und dann bat er mich hinüberzukommen, weil er mit Marge Streit gehabt hätte und aus dem Haus gelaufen sei. Er wollte nicht zurückkehren, ehe sie sich wieder beruhigt hätte... Ich sage dir, ich bin froh, daß ich nicht verheiratet bin.

Hätte ich doch Nein gesagt! Wenn ich ihm bloß gesagt hätte, daß ich eine schlechte Nacht verbracht hatte, daß ich Schlaf brauchte und keine Gesellschaft wollte, wäre er in seine Wohnung zurückgegangen. Er hätte sonst nirgends hingehen können. Und das Ganze wäre dann nicht passiert. Aber nein, der großherzige Mario war so stolz darauf, ein Frühaufsteher zu sein, daß er sagte: >Komm doch herüber, ich werde dir Kaffee und Eier machen<, denn ich wußte, daß Alex nichts gegessen hatte.

So kam er zehn Minuten später zu mir, und um halb neun hatte ich Rührei mit Schinken vor ihn hingestellt, und Marge war allein in der Wohnung, bis die Mörder kamen.«

»Hat dein Schwager seiner Frau gesagt, wo er hinging?« fragte Trumbull.

»Ich glaube nicht«, sagte Gonzalo, »jedenfalls nahm ich es nicht an. Ich glaube, er lief in einem Wutanfall aus der Wohnung, ohne selbst zu wissen, wohin. Dann dachte er an mich. Sogar wenn er gewußt hätte, daß er zu mir gehen würde, hätte er es ihr wahrscheinlich nicht gesagt. Er hätte sich gedacht: sie soll sich nur Sorgen machen.«

»Ja«, sagte Trumbull, »und als dann die Rauschgiftsüchtigen kamen und an der Tür herumfummelten, vermutete sie wohl, es sei Alex, der zurückkam, und öffnete ihnen die Tür. Ich wette, das Schloß war nicht erbrochen.«

»Nein, das ist richtig«, sagte Gonzalo.

»Ist ein Sonntagmorgen nicht eine merkwürdige Zeit für Süchtige, sich herumzutreiben?« fragte Drake.

»Hör mal«, sagte Rubin, »die tun das zu jeder Zeit. Das Verlangen nach Rauschgift besteht nicht nur wochentags.«

»Worum ging es bei dem Streit?« fragte Avalon plötzlich. »Ich meine, zwischen Alex und Marge?«

»Ach, das weiß ich nicht. Eine Kleinigkeit. Alex hatte bei der Arbeit etwas getan, das einen schlechten Eindruck gemacht haben muß, und das konnte Marge nicht vertragen. Ich weiß gar nicht, was es war, es muß jedenfalls ihren Stolz auf ihn verletzt haben, und sie war sauer.

Leider hat es Alex nie gelernt, sie einfach austoben zu lassen. Das tat ich immer, als wir Kinder waren. Da sagte ich, >Ja, Marge, ja, Marge<, und dann beruhigte sie sich. Aber Alex versuchte sich immer zu verteidigen, und dann wurde alles nur noch schlimmer. Damals dauerte der Streit fast die ganze Nacht... Natürlich sagt er jetzt, wenn er nur den Streit nicht so auf die Spitze getrieben hätte, wäre er nicht fortgelaufen, und dann wäre das alles nicht passiert.«

»Das Brüten über diese Wenns hat keinen Sinn«, sagte Avalon.

»Gewiß, aber wie kannst du aufhören, Jeff? Jedenfalls hatten sie eine schlimme Nacht und ich auch. Es war, als gäbe es eine Art telepathischer Verbindung.«

»Ach, Unsinn«, sagte Rubin.

»Wir waren Zwillinge«, sagte Gonzalo wie zur Verteidigung.

»Nur geschwisterliche Zwillinge«, sagte Rubin, »es sei denn, du bist unter deinen Kleidern eine Frau.«

»Und was macht das aus?«

»Es wird nur von eineiigen Zwillingen angenommen, daß sie eine solche telepathische Übereinstimmung haben, aber auch das ist Unsinn.«

»Alex war also bei mir«, sagte Gonzalo, »und er beklagte sich bitter darüber, wie hart Marge manchmal zu ihm war, und ich bemitleidete ihn und sagte: >Hör zu, warum schenkst du ihr so viel Aufmerksamkeit? Sie ist ein gutes Mädchen, wenn du sie nur nicht allzu ernst nimmst. < Weißt du, allerlei Tröstendes, wie man es eben sagt. Ich dachte, in zwei Stunden hätte er es sich vom Herzen geredet, würde heimgehen, sich mit ihr versöhnen, und ich würde hinaus in den Park oder vielleicht zurück ins Bett gehen. Aber nach zwei Stunden klingelte das Telefon wieder, und es war die Polizei.«

»Woher wußten sie, wo sie Alex finden würden?« fragte Halsted.

»Sie wußten es nicht. Sie riefen mich an, ihren Bruder. Alex und ich gingen hinüber und identifizierten sie. Eine Zeitlang sah er aus wie ein Toter. Es war nicht bloß der Umstand, daß sie tot war. Schließlich hatte er Streit mit ihr gehabt, und die Nachbarn mußten das gehört haben. Nun war sie tot, und man verdächtigt immer den Ehemann. Natürlich wurde er verhört, und er gab zu, mit ihr gestritten, die Wohnung verlassen zu haben und zu mir gekommen zu sein - alles.«

»Das muß verdammt unecht geklungen haben«, sagte Rubin.

»Ich bestätigte, daß er bei mir in der Wohnung gewesen war. Ich sagte, er sei zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Minuten nach acht gekommen und seither bei mir gewesen. Und der Mord wurde um neun Uhr verübt.«

»Meinst du damit, daß es Zeugen gab?« fragte Drake.

»Nein, zum Teufel! Aber es gab Lärm. Die Nachbarn im unteren Stockwerk hörten ihn, auch die Leute, die gegenüber wohnen. Möbel wurden umgeworfen, ein Schrei gellte. Natürlich wurde niemand gesehen, keiner sah etwas. Sie saßen hinter ihren versperrten Türen. Aber sie hörten den Lärm, und es war gegen neun Uhr. Darin waren sich alle einig.

Damit war die Sache für die Polizei erledigt. Wenn es nicht der Ehemann ist, so ist es in jenem Viertel ein kleiner Dieb, wahrscheinlich ein Rauschgiftsüchtiger. Alex und ich gingen fort, er betrank sich, und ich blieb zwei Tage bei ihm, denn man konnte ihn nicht allein lassen - und damit ist alles erzählt, was an der Sache war.«

»Triffst du Alex in letzter Zeit noch?« fragte Trumbull.

»Dann und wann. Mitunter borge ich ihm ein paar Dollar. Nicht, daß ich erwarten würde, sie zurückzubekommen. Er hat eine Woche nach Marges Ermordung seinen Posten aufgegeben. Ich glaube nicht, daß er jemals wieder gearbeitet hat. Er war einfach erledigt - weil er sich selbst beschuldigte, verstehst du. Warum mußte er mit ihr streiten? Warum mußte er aus dem Haus gehen? Weshalb mußte er zu mir kommen? Nun, so ist es eben. Ein Mord, aber kein Rätsel.«

Eine Zeitlang war alles still, dann sagte Halsted: »Macht es dir etwas aus, Mario, wenn wir darüber nachdenken, bloß - bloß... «

»Bloß zum Spaß?« sagte Mario. »Natürlich, nur zu, unterhaltet euch. Wenn ihr Fragen habt, werde ich sie beantworten so gut ich kann, aber was den Mord anlangt, gibt es nichts zu sagen.«

»Ja, aber«, sagte Halsted verlegen, »keiner hat jemanden gesehen. Es ist nur eine Vermutung, daß irgendwelche namenlose Süchtige hinkamen und sie ermordeten. Es könnte sie jemand aus einem anderen Grund getötet haben im Bewußtsein, daß es Rauschgiftsüchtigen zugeschrieben und er unbehelligt bleiben würde. Oder vielleicht sie.«

»Wer ist dieser Jemand?« sagte Mario skeptisch.

»Hatte Marge keine Feinde? Besaß sie Geld, das jemand haben wollte?« fragte Halsted.

»Geld? Was vorhanden war, lag auf der Bank. Alex hat natürlich alles geerbt. Es war ohnedies sein Geld, alles ging auf gemeinsame Rechnung.«

»Wie steht es mit Eifersucht?« sagte Avalon. »Vielleicht hatte sie eine Liebschaft. Oder er. Vielleicht ging der Streit darum?«

»Und er ermordete sie?« sagte Gonzalo. »Tatsache ist, daß er zur Zeit ihrer Ermordung in meiner Wohnung war.«

»Nicht unbedingt er. Angenommen, es war ihr Liebhaber oder seine Geliebte. Der Liebhaber, weil sie ihm drohte, die Beziehung abzubrechen. Die Geliebte, weil sie deinen Schwager heiraten wollte.«

Mario schüttelte den Kopf. »Marge war keine femme fatale. Ich wunderte mich immer, daß sie es mit Alex schaffte. Übrigens, vielleicht schaffte sie es gar nicht.«

»Hat sich Alex diesbezüglich beklagt?« fragte Trumbull mit plötzlichem Interesse.

»Nein, aber er ist auch kein großer Liebhaber. Hör mal, er ist jetzt seit drei Jahren Witwer, und ich bin bereit zu schwören, daß er keine Freundin hat. Auch keinen Freund, wenn du das meinen solltest.«

Rubin sagte: »Warte, du weißt nicht, worum der Streit wirklich ging. Du sagtest, es sei etwas gewesen, das bei seiner Arbeit vorfiel. Hat er dir eigentlich gesagt, was es war, und hast du es bloß vergessen, oder hat er dir das nie gesagt?«

»Er ging auf keine Einzelheiten ein, und ich habe ihn nicht gefragt. Es ging mich nichts an.«

»Also gut«, sagte Rubin, »wie wäre folgendes: Es gab einen Streit über etwas Wichtiges bei seiner Arbeit. Vielleicht hatte Alex fünfzigtausend Dollar gestohlen, Marge war böse darüber, und deshalb stritten sie. Oder Marge hatte ihn dazu verleitet, zu stehlen, er hatte Angst bekommen, und darum gab es Streit. Und vielleicht waren die fünfzigtausend in der Wohnung, jemand wußte davon und dieser Jemand tötete sie, nahm das Geld, und Alex wagt nicht, es zu erzählen.«

»Welcher Jemand?« fragte Gonzalo. »Was für ein Diebstahl? Alex war kein solcher Mensch.«

»Famose letzte Worte«, flötete Drake.

»Nun, er war es nicht. Und wenn er es getan hätte, hätte die Firma, bei der er arbeitete, nicht geschwiegen. Ausgeschlossen.«

Trumbull sagte: »Wie wäre es mit jener Art von Privatkriegen, wie sie in Mehrfamilienhäusern vorkommen? Du weißt ja, Fehden zwischen Mietern. Gab es dort jemand, der sie haßte und schließlich umbrachte?«

»Zum Teufel, wenn es etwas so Ernstes gegeben hätte, wüßte ich davon. Marge behielt die Dinge nie so bei sich.«

»Könnte es Selbstmord gewesen sein?« sagte Drake. »Schließlich war ihr Mann soeben davongelaufen. Vielleicht hatte er gesagt, er werde nie wiederkommen, und sie war verzweifelt. Sie beging Selbstmord in einem Anfall verwirrter Depression.«

»Es war ein Messer aus der Küche«, sagte Gonzalo. »Ja. Aber Marge war nicht der Typ für einen Selbstmord. Sie hätte jemand anderen töten können, aber nicht sich selbst. Außerdem, warum sollte es einen Kampf und den Schrei gegeben haben, wenn sie Selbstmord begangen hätte?«

Drake sagte: »Vielleicht sind bei dem Streit mit ihrem Mann Dinge umgeworfen worden, und dann könnte sie einen Mord vorgetäuscht haben, um ihren Mann in Schwierigkeiten zu bringen. Mein ist die Rache, spricht die gekränkte Ehefrau.«

»Ach, hör auf«, sagte Gonzalo verächtlich, »Marge hätte so etwas nie im Leben getan.«

»Weißt du«, sagte Drake, »so gut kennt man keinen anderen Menschen - sogar wenn es deine Zwillingsschwester ist.«

»Nun, ihr werdet mich nicht dazu bringen, es zu glauben.«

»Ich weiß nicht, warum wir unsere Zeit vergeuden«, sagte Trumbull. »Weshalb fragen wir nicht den Fachmann?... Henry?«

Henry, dessen Gesicht nur höfliches Interesse zeigte, sagte: »Ja, Mr. Trumbull?«

»Wollen Sie es uns nicht sagen? Wer hat Mr. Gonzalos Schwester ermordet?«

Henry zog die Brauen ein wenig hoch. »Ich halte mich nicht für einen Fachmann, Mr. Trumbull, muß aber sagen, daß alle von den Herren am Tisch geäußerten Vermutungen, auch die Ihren, höchst unwahrscheinlich sind. Ich glaube, daß die Polizei ganz recht hat, und daß, wenn in diesem Fall die Tat nicht von dem Ehemann begangen wurde, Einbrecher die Täter waren. Und heutzutage muß man annehmen, es waren Rauschgiftsüchtige, die verzweifelt nach Geld oder etwas suchten, das sie zu Geld machen könnten.«

»Sie enttäuschen mich, Henry«, sagte Trumbull.

Henry lächelte freundlich.

»Gut«, sagte Halsted, »ich finde, wir sollten die Sitzung aufheben, nachdem wir uns geeinigt haben, wer das nächstemal Gastgeber ist, und wahrscheinlich sollten wir lieber wieder Gäste einladen. Mein Plan war nicht sehr erfolgreich.«

»Es tut mir leid«, sagte Gonzalo, »daß ich es nicht besser konnte.«

»So habe ich es nicht gemeint, Mario«, sagte Halsted hastig.

»Ich weiß. Nun, vergessen wir das.«

Sie entfernten sich, Mario als letzter. Eine leichte Berührung seiner Schulter veranlaßte Gonzalo, sich umzudrehen.

Henry sagte: »Mr. Gonzalo, könnte ich Sie privat sprechen, ohne daß die anderen davon wissen? Es ist sehr wichtig.«

Gonzalo starrte ihn einen Augenblick an und sagte dann: »Gut, ich gehe, verabschiede mich, nehme ein Taxi und lasse mich hierher zurückbringen.« Nach zehn Minuten war er zurück.

»Handelt es sich um meine Schwester, Henry?«

»Leider, Sir. Ich finde, ich sollte allein mit Ihnen sprechen.«

»Also gut. Gehen wir ins Speisezimmer zurück. Es ist jetzt leer.«

»Lieber nicht, Sir. Nichts von dem, was in dem Raum gesagt wird, darf außerhalb wiederholt werden, und ich möchte nicht vertraulich sprechen. Es macht mir nichts aus, daß ich über alltägliche Vergehen schweigen muß, aber Mord ist doch etwas anderes. Wir könnten uns in die Ecke dort zurückziehen.«

Sie gingen zu der angegebenen Stelle. Es war spät, und das Restaurant war praktisch leer.

Henry sagte leise: »Ich habe Ihre Schilderung verfolgt und würde gern mit Ihrer Erlaubnis einiges daraus wiederholen, um mich zu vergewissern, ob ich richtig gehört habe.«

»Gewiß, tun Sie das.«

»Soweit ich verstanden habe, fühlten Sie sich an einem Samstag gegen Ende April beunruhigt und gingen vor den Elf-Uhr-Nachrichten zu Bett.«

»Ja, kurz vor elf Uhr.«

»Und Sie hörten die Nachrichten nicht.«

»Nicht einmal die Schlagzeilen am Anfang.«

»Und in jener Nacht schliefen Sie nicht, verließen aber auch nicht das Bett. Sie gingen nicht ins Badezimmer oder in die Küche.«

»Nein.«

»Und dann sind Sie zur gleichen Zeit wie immer aufgewacht.«

»Genau.«

»Nun, Mr. Gonzalo, das verwirrt mich. Jemand, der jeden Morgen zur gleichen Zeit aufwacht dank irgendeiner Art biologischer Uhr in seinem Inneren, erwacht zweimal im Jahr zur falschen Zeit.«

»Wie?«

»In diesem Staat, Sir, werden die Uhren zweimal im Jahr umgestellt, einmal zu Beginn und einmal zu Ende der Sommerzeit, aber die biologische Zeit ändert sich nicht so plötzlich. Sonntag früh um ein Uhr werden die Uhren auf zwei gestellt. Hätten Sie die Elf-Uhr-Nachrichten gehört, dann wären Sie daran erinnert worden. Aber Sie zogen Ihre Uhr vor elf Uhr abends auf, und Sie sagten nichts davon, daß Sie sie umgestellt hätten. Dann gingen Sie zu Bett und rührten die Uhr in der Nacht nicht an. Als Sie um acht Uhr morgens erwachten, hätte die Uhr neun Uhr gezeigt. Habe ich recht?«

»Du mein Gott!« sagte Gonzalo.

»Nach dem Anruf der Polizei gingen Sie fort und kehrten einige Tage lang nicht zurück. Als Sie wiederkamen, war die Uhr natürlich stehengeblieben. Sie konnten nicht wissen, daß sie um eine Stunde nachging, als sie stehenblieb. Sie stellten sie auf die richtige Zeit und merkten den Unterschied nicht.«

»Daran habe ich nicht gedacht, aber Sie haben völlig recht.«

»Die Polizei hätte daran denken sollen, aber heutzutage ist es so leicht, alltägliche Gewaltverbrechen als das Werk von Rauschgiftsüchtigen zu klassifizieren. Sie gaben Ihrem Schwager sein Alibi, und er ging den Weg des geringsten Widerstandes.«

»Sie meinen, er... «

»Es ist möglich, Sir. Sie hatten Streit, und er tötete sie um neun Uhr morgens, wie die Aussagen der Nachbarn bezeugten. Ich bezweifle, daß es vorsätzlich geschah. In seiner Verzweiflung dachte er dann an Sie - und das war recht klug von ihm. Er rief Sie an und fragte, wieviel Uhr es sei. Sie sagten, neun Minuten nach acht, und da wußte er, daß Sie die Uhr nicht umgestellt hatten, und eilte in Ihre Wohnung. Hätten Sie gesagt, neun Minuten nach neun, hätte er versucht, aus der Stadt zu flüchten.«

»Aber Henry, weshalb sollte er es getan haben?«

»Bei Eheleuten läßt sich das schwer sagen, Sir. Vielleicht stellte Ihre Schwester zu hohe Ansprüche. Sie sagten zum Beispiel, sie sei mit Ihrer Lebensweise nicht einverstanden gewesen, und gab es Ihnen wahrscheinlich sehr deutlich zu verstehen, so deutlich, daß Sie sie daraufhin nicht sehr gern mochten. Nun muß sie mit dem Leben, das ihr Mann vor ihrer Verheiratung geführt hatte, auch nicht einverstanden gewesen sein. Er war ein Faulenzer, sagten Sie. Sie machte aus ihm einen korrekten, ernst arbeitenden Angestellten, und möglicherweise gefiel ihm das nicht. Nachdem er schließlich wild wurde und sie tötete, wurde er wieder ein Faulenzer. Sie glauben, das sei aus Verzweiflung geschehen; vielleicht empfindet er nur ein Gefühl der Erleichterung.«

»Nun... was sollen wir tun?«

»Ich weiß es nicht, Sir. Es würde sich schwerlich beweisen lassen. Können Sie sich wirklich nach drei Jahren erinnern, daß Sie die Uhr nicht umgestellt haben? Ein Rechtsanwalt würde Sie im Kreuzverhör in Stücke reißen. Andererseits könnte Ihr Schwager vielleicht zusammenbrechen, wenn man ihn vor die Tatsachen stellt. Sie werden es sich überlegen müssen, Sir, ob Sie zur Polizei gehen wollen.«

»Ich?« sagte Gonzalo unschlüssig.

»Es war Ihre Schwester, Sir«, sagte Henry leise.

Anmerkung

Diese Geschichte erschien zum erstenmal in der Märzausgabe 1973 des EQMM unter dem Titel >Die biologische Uhr<. In diesem Fall finde ich, daß der Titel im Magazin etwas hervorhebt, von dem ich eher wünsche, daß es der Leser übergeht, da es der Schlüssel zu dem Rätsel ist. Wenn er sich auf Grund des Titels zu sehr darauf konzentriert, wird er es zu schnell erraten. Daher wählte ich wieder »Sonntag am frühen Morgen«, was sich gleichfalls auf die Sache bezieht, so daß es ehrlich, aber neutral genug ist, auch mir eine ehrliche Chance zu geben.