172585.fb2 Der Zorn der G?tter - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 9

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Seit Kelly zehn war, musste sie Ethel bei der Arbeit in der Pension helfen. Sie stand jeden Morgen um fünf Uhr auf, putzte die Toiletten, schrubbte den Küchenboden und half beim Zubereiten des Frühstücks für die Gäste. Nach der Schule kümmerte sie sich um die Wäsche, wischte die Böden, staubte ab und ging ihrer Mutter bei der Vorbereitung des Abendessens zur Hand. Ihr Leben wurde zu einem einzigen eintönigen Trott, trostlos und langweilig.

Dabei half sie ihrer Mutter gern. Auf ein Lob allerdings wartete sie vergebens. Ihre Mutter war so sehr mit ihren Gästen beschäftigt, dass sie ihrer Tochter kaum Aufmerksamkeit schenkte.

Als Kelly noch kleiner gewesen war, hatte ihr einer der Gäste Alice im Wunderland vorgelesen, und sie war begeistert davon gewesen, wie Alice sich auf wundersame Weise durch einen Kaninchenbau davonmachte. So was brauche ich auch, dachte Kelly, so einen Fluchtweg. Ich kann doch nicht mein Leben lang Toiletten putzen, Böden schrubben und anderer Leute Dreck wegräumen.

Und eines Tages fand Kelly ihren ureigenen verzauberten Kaninchenbau. Sie stellte fest, dass sie sich kraft ihrer Fantasie an jeden Ort versetzen konnte, zu dem sie hinwollte. Und sie schrieb ihre eigene Lebensgeschichte neu ...

Sie hatte einen Vater, und ihre Mutter und ihr Vater hatten die gleiche Hautfarbe. Sie wurden nie wütend, brüllten sie niemals an. Sie wohnten alle drei in einem wunderschönen Haus. Ihre Mutter und ihr Vater liebten sie. Ihre Mutter und ihr Vater liebten sie. Ihre Mutter und ihr Vater liebten sie ...

Als Kelly vierzehn war, heiratete ihre Mutter einen der Gäste, einen Barkeeper namens Dan Berke - einen missmutigen Mann mittleren Alters, der an allem etwas auszusetzen hatte. Kelly konnte ihm nichts recht machen.

»Das Essen ist miserabel .«

»Das Kleid steht dir nicht .«

»Die Jalousie im Schlafzimmer ist immer noch kaputt. Ich habe dir doch gesagt, du sollst sie reparieren .«

»Du hast die Badezimmer immer noch nicht geputzt .«

Kellys Stiefvater trank zu viel. Die Wand zwischen Kellys Kammer und dem Schlafzimmer ihrer Mutter und ihres Stiefvaters war dünn, und Nacht für Nacht hörte Kelly Schläge und Schreie. Morgens hatte Ethel dicke Schminke aufgetragen, die aber die Blutergüsse und blauen Augen nicht überdecken konnte.

Kelly war zutiefst niedergeschlagen. Wir müssen von hier weg, dachte sie. Meine Mutter und ich lieben uns doch.

Eines Nachts, als Kelly schon halb eingeschlafen war, hörte sie laute Stimmen aus dem Nebenzimmer. »Warum bist du den Balg nicht losgeworden, bevor er zur Welt gekommen ist?«

»Ich hab’s ja versucht. Es hat nicht geklappt.«

Kelly hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand in den Leib getreten. Ihre Mutter hatte sie niemals haben wollen. Keiner wollte sie.

Kelly fand einen weiteren Fluchtweg aus dem unendlich eintönigen Alltag: die Welt der Bücher. Sie wurde eine unersättliche Leseratte, die so viel Zeit wie nur irgend möglich in der öffentlichen Bibliothek zubrachte.

Da am Wochenende nie Geld für sie übrig war, besorgte sie sich einen Job als Babysitter und beneidete die Familien, bei denen sie arbeitete, um das glückliche Leben, das ihr niemals vergönnt sein würde.

Mit siebzehn war Kelly ebenso schön wie einst ihre Mutter. Die Jungs an der Schule wollten unbedingt mit ihr ausgehen. Sie aber fühlte sich von ihnen angewidert und gab allen einen Korb.

Wenn sie an den schulfreien Samstagen ihre häuslichen Pflichten erledigt hatte, ging Kelly sofort in die Bibliothek, blieb den ganzen Nachmittag dort und las.

Mrs. Lisa Marie Houston, die Bibliothekarin, war eine intelligente, verständnisvolle Frau, die sich elegant, aber unauffällig kleidete, so wie es ihrer stillen, freundlichen Art entsprach. Als sie Kelly so oft in der Bibliothek sah, wurde Mrs. Houston neugierig.

»Ich finde es schön, wenn ich einen jungen Menschen sehe, dem das Lesen so viel Spaß macht. Du bist ziemlich häufig hier.«

Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Nach einigen Wochen schüttete Kelly Mrs. Houston ihr Herz aus und vertraute ihr all ihre Ängste, Hoffnungen und Träume an.

»Was möchtest du denn einmal werden, Kelly?«

»Lehrerin.«

»Ich glaube, du wärst eine wunderbare Lehrerin. Das ist der dankbarste Beruf auf der Welt.«

Kelly wollte etwas sagen, stockte dann aber. Sie dachte an ein Gespräch, das sie eine Woche zuvor mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater beim Frühstück geführt hatte. Ich muss aufs College gehen, hatte sie gesagt. Ich möchte Lehrerin werden.

Lehrerin? Berke hatte gelacht. Was für eine Schnapsidee! Lehrer verdienen nichts. Hast du gehört? Nichts verdienen die. Als Putzfrau kriegst du da schon mehr. Außerdem haben deine Mutter und ich nicht das Geld, um dich aufs College zu schicken.

Man hat mir ein Stipendium angeboten und .

Na und? Du vergeudest bloß vier Jahre deines Lebens. Vergiss es. Bei deinem Aussehen könntest du schon eher anschaffen gehen.

Kelly war vom Tisch aufgestanden und gegangen.

»Das ist nicht so einfach«, sagte sie jetzt zu Mrs. Houston.

»Meine Eltern lassen mich nicht aufs College.« Dann versagte ihr die Stimme. »Ich werde mein Leben lang so weitermachen wie bisher.«

»Auf keinen Fall.« Mrs. Houston klang entschieden. »Wie alt bist du?«

»In drei Monaten werde ich achtzehn.«

»Dann bist du bald alt genug, um für dich selbst zu entscheiden. Du bist eine wunderschöne junge Frau, Kelly. Ist dir das klar?«

»Nein. Eigentlich nicht.« Wie soll ich ihr bloß klar machen, dass ich mir vorkomme wie eine Missgeburt? Ich find mich überhaupt nicht schön. »Ich hasse mein Leben, Mrs. Houston. Ich möchte nicht so sein wie ... Ich möchte aus dieser Stadt weg. Ich möchte was anderes machen, aber dazu wird es niemals kommen.« Sie versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen. »Ich werde nie die Gelegenheit bekommen, etwas anderes zu machen, ein anderer Mensch zu sein.«

»Kelly ...«

»Ich hätte all diese Bücher nicht lesen dürfen.« Ihr Tonfall klang verbittert.

»Wieso?«

»Weil da lauter Lügen drinstehen. All diese schönen Leute, die traumhaften Orte und die wunderbaren ...« Kelly schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Wunder.«

Mrs. Houston musterte sie einen Moment. Offensichtlich hatte Kellys Selbstwertgefühl schweren Schaden genommen. »Kelly, es gibt Wunder, aber du musst die Zauberin sein, die dafür sorgt, dass diese Wunder Wirklichkeit werden.«

»Ach wirklich?« Kelly schlug einen spöttischen Tonfall an. »Und wie soll ich das machen?«

»Zunächst einmal musst du dir darüber klar werden, was du dir erträumst. Du möchtest ein aufregendes Leben führen, interessante Menschen kennen lernen, traumhafte Orte. Wenn du das nächste Mal herkommst, zeige ich dir, wie du deine Träume verwirklichen kannst.«

Lügnerin.

In der Woche nach ihrem Schulabschluss kam Kelly wieder in die Bibliothek. »Kelly«, sagte Mrs. Houston, »weißt du noch, wie ich dir gesagt habe, dass du deine Wunder Wirklichkeit werden lassen musst?«

»Ja«, erwiderte Kelly skeptisch.

Mrs. Houston griff hinter ihren Schreibtisch und holte eine Hand voll Zeitschriften hervor: COSMOgirl, Glamour, Mademoiselle, Essence, Allure ... Sie reichte sie Kelly.

Kelly betrachtete sie. »Was soll ich denn damit?«

»Hast du schon mal daran gedacht, Mannequin zu werden?«

»Nein.«

»Schau dir diese Zeitschriften an. Danach sagst du mir, ob dir dabei eine Idee gekommen ist, wie auch du etwas Wunderbares mit deinem Leben anfangen kannst.«

Sie meint es gut, dachte Kelly, aber sie hat ja keine Ahnung. »Vielen Dank, Mrs. Houston. Wird gemacht.«

Nächste Woche suche ich mir einen Job.

Kelly nahm die Zeitschriften mit in die Pension, schob sie in eine Ecke und widmete sich dann ihren allabendlichen Pflichten.

Als sie an diesem Abend erschöpft zu Bett gehen wollte, fielen ihr die Zeitschriften wieder ein, die Mrs. Houston ihr gegeben hatte. Aus reiner Neugier suchte sie sich ein paar heraus und blätterte sie durch. Sie zeigten eine andere Welt. Die Models auf den Fotos trugen wunderschöne Kleider, waren in Begleitung gut aussehender, eleganter Männer, die ihnen London, Paris und alle möglichen exotischen Orte auf der ganzen Welt zeigten. Mit einem Mal packte sie eine ungeheure Sehnsucht. Rasch zog sie einen Morgenmantel über und lief den Flur entlang zum Badezimmer.

Sie betrachtete sich im Spiegel. Vermutlich war sie wirklich attraktiv. Jeder behauptete es. Selbst wenn es stimmt, dachte Kelly, habe ich keinerlei Erfahrung. Sie dachte an ihr künftiges Dasein in Philadelphia und warf einen weiteren Blick in den Spiegel. Jeder muss mal irgendwo anfangen. Du musst die Zauberin sein, die dafür sorgt, dass die Wunder Wirklichkeit werden.

Am nächsten Morgen ging Kelly in aller Frühe in die Bibliothek, um mit Mrs. Houston zu sprechen.

Mrs. Houston blickte erstaunt auf, als sie Kelly zu so früher Stunde in der Bibliothek sah. »Guten Morgen, Kelly. Hast du dir die Zeitschriften schon angesehen?«

»Ja.« Kelly holte tief Luft. »Ich würde gern Model werden. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich das anfangen soll.«

Mrs. Houston lächelte. »Ich schon. Ich habe mir das New Yorker Telefonbuch vorgenommen. Du hast doch gesagt, du möchtest diese Stadt verlassen.« Mrs. Houston nahm ein Blatt Papier aus ihrer Handtasche und reichte es Kelly. »Das ist eine Liste mit den besten Model-Agenturen in Manhattan, samt Adressen und Telefonnummern.« Sie drückte Kelly die Hand. »Fang oben an.«

Kelly war fassungslos. »Ich ... ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll .«

»Das kann ich dir sagen. Sorge dafür, dass ich Fotos von dir in diesen Zeitschriften sehe.«

»Ich habe beschlossen, Model zu werden«, sagte Kelly an diesem Abend beim Essen.

Ihr Stiefvater schnaubte. »Das ist die blödeste Idee, die du bislang hattest. Was zum Teufel ist mir dir los? Sämtliche Models sind Nutten.«

Kellys Mutter seufzte. »Kelly, mach nicht den gleichen Fehler wie ich. Auch ich hatte Flausen im Kopf. Die bringen einen um. Du bist arm und schwarz. Du wirst es zu nichts bringen.«

In diesem Augenblick hatte Kelly ihre Entscheidung getroffen.

Am nächsten Morgen um fünf Uhr nahm Kelly den Koffer, den sie während der Nacht gepackt hatte, und begab sich zum Busbahnhof. In ihrer Handtasche waren zweihundert Dollar, die sie sich beim Babysitten verdient hatte.

Die Busfahrt nach Manhattan dauerte zwei Stunden, in denen sich Kelly ihren Zukunftsfantasien hingab. Sie hatte vor, Model zu werden. »Kelly Hackworth« klang allerdings nicht besonders professionell. Ich weiß, was ich mache. Ich benutze nur meinen Vornamen. Ein ums andere Mal sagte sie den Satz lautlos vor sich hin: Und das ist unser Topmodel Kelly.

Sie stieg in einem billigen Motel ab, und um neun Uhr trat sie durch die Eingangstür der Model-Agentur, die ganz oben auf Mrs. Houstons Liste stand. Kelly war ungeschminkt und trug ein zerknittertes Kleid, da sie keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, ihre Sachen zu bügeln.

Am Empfang war niemand, aber sie sah einen Mann, der in einem Büro saß und irgendetwas aufschrieb.

»Entschuldigen Sie«, sprach Kelly ihn an.

Der Mann grummelte irgendetwas, ohne aufzublicken.

Kelly zögerte. »Ich wollte fragen, ob Sie ein Model brauchen.«

»Nein«, versetzte der Mann, »wir engagieren zurzeit niemanden.«

Kelly seufzte. »Trotzdem vielen Dank.« Sie drehte sich um und wollte gehen.

Der Mann blickte auf, und seine Miene veränderte sich.

»Moment! Warten Sie einen Moment. Kommen Sie zurück.« Er sprang auf. »Mein Gott. Wo kommen Sie denn her?«

Kelly blickte ihn verdutzt an. »Aus Philadelphia.«

»Ach, ist ja auch egal. Haben Sie schon mal als Model gearbeitet?«

»Nein.«

»Macht nichts. Sie lernen es hier, in der Praxis.«

Kelly bekam mit einem Mal einen trockenen Hals. »Heißt das, dass ich ... dass ich Model werde?«

Er grinste. »Das will ich doch meinen. Wir haben Kunden, die werden völlig durchdrehen, wenn sie Sie sehen.«

Sie konnte es kaum glauben. Das hier war eine der größten Model-Agenturen, die es gab, und sie ...

»Ich bin Bill Lerner. Ich leite diese Agentur. Wie heißen Sie?«

Das war der Augenblick, von dem Kelly geträumt hatte. Jetzt konnte sie ihren neuen Künstlernamen ausprobieren.

Lerner starrte sie an. »Wissen Sie etwa Ihren Namen nicht?«

Kelly richtete sich zu voller Größe auf und sagte selbstbewusst. »Doch, klar. Ich bin Kelly Hackworth.«