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Das Mandarin Hotel war ein heruntergekommenes einstöckiges Gebäude im Herzen von Chinatown, drei Querstraßen von der Mott Street entfernt.
Als Kelly und Diane aus dem Taxi steigen, sah Diane auf der anderen Straßenseite ein großes Reklameplakat mit einem Bild von Kelly, die ein herrliches Abendkleid trug und einen Parfümflakon in der Hand hatte. Diane betrachtete es überrascht. »Das sind Sie also?«
»Sie irren sich«, erwiderte Kelly. »Das stelle ich dar, Mrs. Stevens. Aber ich bin es nicht.« Sie drehte sich um und ging ins Hotelfoyer, und Diane folgte ihr verärgert.
Ein chinesischer Portier saß an einem Tresen im Foyer und las die China Post.
»Wir hätten gern ein Zimmer für eine Nacht«, sagte Diane.
Der Portier blickte zu den beiden elegant gekleideten Frauen auf, und um ein Haar wäre ihm ein lautes »Hier?« herausgerutscht. Dann stand er auf. »Jederzeit.« Er musterte ihre Designerkleidung. »Das macht hundert Dollar die Nacht.«
Kelly schaute ihn fassungslos an. »Hundert ...?«:
»Ist schon gut«, sagte Diane rasch.
»Im Voraus.«
Diane öffnete ihre Handtasche, holte ein paar Geldscheine heraus und gab sie dem Portier. Er reichte ihr den Schlüssel.
»Zimmer Nummer zehn. Gradeaus den Gang entlang, auf der linken Seite. Haben Sie Gepäck?«
»Das kommt nach«, erklärte ihm Diane.
»Fragen Sie einfach nach Ling, wenn Sie irgendwas brauchen.«
»Ling?«, fragte Kelly.
»Ja. Sie ist unser Zimmermädchen.«
Kelly warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Gut.«
Die beiden Frauen gingen den tristen, schummrigen Gang entlang.
»Sie haben zu viel bezahlt«, sagte Kelly.
»Was ist Ihnen ein sicheres Dach über dem Kopf wert?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir hier gut aufgehoben sind«, erwiderte Kelly.
»Es muss vorerst genügen, bis wir etwas Besseres finden. Keine Sorge. Mr. Kingsley wird sich um uns kümmern.«
Als sie zu Zimmer Nummer zehn kamen, schloss Diane die Tür auf und trat ein. Das kleine Zimmer sah aus, als ob sich hier seit längerem niemand aufgehalten hätte, und so roch es auch. Die Laken auf dem Doppelbett waren zerknüllt, die beiden Sessel neben dem zerkratzten Beistelltisch abgewetzt.
Kelly blickte sich um. »Es ist zwar klein, aber dafür umso hässlicher. Jede Wette, dass hier noch nie geputzt wurde.«
Sie strich über die Polster und sah, wie der Staub aufstieg.
»Ich frage mich, wie lange Ling schon nicht mehr unter den Lebenden weilt.«
»Es ist ja nur für eine Nacht«, beruhigte Diane sie. »Ich rufe jetzt Mr. Kingsley an.«
Kelly betrachtete Diane, als sie zum Telefon ging und die Nummer auf der Karte wählte, die Tanner Kingsley ihr gegeben hatte.
Sie kam auf Anhieb durch. »Tanner Kingsley.«
Diane seufzte erleichtert auf. »Mr. Kingsley, hier ist Diane Stevens. Entschuldigen Sie die Störung, aber Mrs. Harris und ich brauchen Ihre Hilfe. Jemand versucht, uns zu töten, und wir haben keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Wir sind auf der Flucht.«
»Ich bin froh, dass Sie mich anrufen, Mrs. Stevens. Sie können ganz beruhigt sein. Wir haben soeben herausgefunden, wer hinter dem Ganzen steckt. Sie werden nicht mehr behelligt werden. Ich kann Ihnen versichern, dass sowohl Sie als auch Mrs. Harris ab sofort in Sicherheit sind.«
Diane schloss einen Moment lang die Augen. Gott sei Dank. »Können Sie mir sagen, wer ...?«:
»Ich erzähle Ihnen alles, wenn wir uns sehen. Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich schicke jemanden vorbei, der Sie in dreißig Minuten abholen wird.«
»Das ist .« Die Verbindung wurde unterbrochen. Diane legte den Hörer auf und wandte sich grinsend an Kelly.
»Gute Nachrichten! Wir haben alles überstanden.«
»Was hat er gesagt?«
»Er weiß, wer hinter dieser Sache steckt, und sagt, dass wir ab sofort in Sicherheit sind.«
Kelly seufzte tief auf. »Großartig. Jetzt kann ich nach Paris zurückkehren und noch mal von vorne anfangen.«
»Er schickt jemanden vorbei, der uns in einer halben Stunde abholt.«
Kelly blickte sich in dem schmuddeligen Zimmer um.
»Das alles hinter mir zu lassen, wird mir bestimmt schwer fallen.«
Diane wandte sich zu ihr um und sagte wehmütig: »Es wird sonderbar sein.«
»Was?«
»Mich wieder dem Alltag zu widmen, ohne Richard. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie ich .«
»Dann lassen Sie’s«, versetzte Kelly. Komm mir nicht damit, meine Gute, sonst breche ich zusammen. Ich darf nicht mal dran denken. Mark war mein Ein und Alles, mein einziger Lebensinhalt ...
Diane blickte Kelly mit ausdrucksloser Miene an. Sie ist leblos wie ein Kunstwerk, dachte sie. Schön, aber kalt und gefühllos.
Kelly saß auf dem Bett und hatte Diane den Rücken zugekehrt. Sie schloss die Augen, um nicht vom Schmerz übermannt zu werden, der in ihr tobte, und langsam ... ganz allmählich ...
Sie und Mark spazierten am linken Seineufer entlang und redeten über Gott und die Welt. Kelly fühlte sich in seinem Beisein so wohl wie mit noch keinem anderen Mann.
»Morgen Abend ist eine Vernissage, falls Sie so etwas ...«, sagte sie zu Mark.
»Oh, tut mir Leid. Morgen Abend habe ich zu tun.«
Unverhofft packte Kelly kurz die Eifersucht. »Eine andere Verabredung?« Sie versuchte, so unverkrampft wie möglich zu klingen.
»Nein. Nein. Ich gehe allein hin. Es ist ein Bankett .« Er sah ihren Gesichtsausdruck. »Ich . ich meine, es ist bloß ein Diner für Wissenschaftler. Sie würden sich nur langweilen.«
»Wirklich?«
»Ich fürchte, ja. Dort ... dort geht es um alle möglichen Sachen, von denen Sie vermutlich noch nie etwas gehört haben und .«
»Ich glaube, ich habe schon alles Mögliche gehört«, erwiderte Kelly pikiert. »Stellen Sie mich doch auf die Probe.«
»Na ja, wenn Sie meinen .«
»Ich bin ein großes Mädchen. Schießen Sie los.«
Er seufzte. »Na schön. Amitose ... Malakologie ... Aneroidbarometer ... Thermo ...«
»Aha«, sagte Kelly. »Solche Sachen also.«
»Ich wusste doch, dass Sie das nicht interessiert. Ich ...«
»Ganz im Gegenteil. Ich finde das toll.« Aber nur, weil du dich dafür interessierst.
Das Bankett fand im Hotel Prince de Galles statt und war, wie sich herausstellte, ein großes Ereignis. Rund dreihundert Gäste hatten sich im Ballsaal eingefunden, darunter die höchsten Würdenträger Frankreichs. Kelly und Mark nahmen an einem der vorderen Tische Platz, neben einem attraktiven Mann, der eine angenehme, gewinnende Art an sich hatte.
»Ich bin Sam Meadows«, sagte er zu Kelly. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
»Ich habe auch schon viel von Ihnen gehört«, erwiderte Kelly. »Mark sagt, Sie seien sein Mentor und bester Freund.«
Sam Meadows lächelte. »Ich fühle mich geehrt. Mark ist ein ganz besonderer Mensch. Wir haben lange zusammengearbeitet. Er ist der engagierteste .«
Mark war das Ganze sichtlich peinlich. »Möchten Sie ein Glas Wein?«, unterbrach er ihn.
Der Conférencier trat auf die Bühne und hielt die erste Ansprache. Mark hatte Recht gehabt - der Abend war für Kelly nicht allzu interessant. Allerhand Preise für wissenschaftliche und technische Errungenschaften wurden vergeben, verbunden mit diversen Vorträgen, bei denen Kelly den Eindruck hatte, als sprächen die Redner Suaheli. Aber sie sah auch Marks begeisterte Miene und war froh, dass sie mitgekommen war.
Als das Geschirr abgetragen wurde, trat der Präsident der französischen Académie des Sciences auf die Bühne, der zunächst in höchsten Tönen die wissenschaftlichen Erfolge pries, die Frankreich im letzten Jahr vorzuweisen hatte. Aber erst gegen Ende seiner Ansprache, als er eine goldene Statue hochhielt und Mark Harris aufrief, wurde Kelly klar, dass Mark der Star des Abends war. Er wollte es mir aus lauter Bescheidenheit nicht verraten. Kelly sah, wie Mark aufstand und unter dem Beifall des Publikums auf die Bühne ging.
»Er hat mir kein Wort davon gesagt«, sagte Kelly zu Sam Meadows.
Meadows lächelte. »Das ist typisch Mark.« Er musterte Kelly einen Moment lang. »Wissen Sie, er ist hoffnungslos in Sie verliebt. Er möchte Sie heiraten.« Er stockte einen Moment. »Ich kann nur hoffen, dass es keine schmerzliche Erfahrung für ihn wird.«
Als Kelly das hörte, bekam sie mit einem Mal ein schlechtes Gewissen. Ich kann Mark nicht heiraten. Er ist ein toller Freund, aber ich bin nicht in ihn verliebt. Was habe ich bloß getan? Ich will ihm nicht wehtun. Vielleicht sollte ich lieber nicht mehr mit ihm ausgehen. Niemals könnte ich einem Mann das geben, was er von einer Frau erwartet. Wie soll ich es ihm nur sagen?
»Haben Sie überhaupt gehört, was ich gesagt habe?«
Dianes aufgebrachte Stimme riss Kelly aus ihren Träumereien. Der prachtvolle Ballsaal löste sich in Wohlgefallen auf, und sie war wieder in einem heruntergekommenen Hotelzimmer, zusammen mit einer Frau, der sie am liebsten nie begegnet wäre.
»Tanner Kingsley hat gesagt, jemand holt uns in einer halben Stunde ab«, sagte Diane mit drängendem Tonfall.
»Das haben Sie mir schon gesagt. Na und?«
»Er hat nicht gefragt, wo wir sind.«
»Vermutlich nimmt er an, dass wir noch in Ihrer Wohnung sind.«
»Nein. Ich habe ihm gesagt, dass wir auf der Flucht sind.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Kelly spitzte den Mund zu einem lautlosen, lang gezogenen »Oh«.
Sie drehte sich um und warf einen Blick auf die Uhr, die auf dem Nachttisch stand.
Der chinesische Portier blickte auf, als Flint das Foyer des Mandarin Hotels betrat. »Kann ich Ihnen helfen?« Er sah Flints Grinsen und lächelte ebenfalls.
»Meine Frau und ihre Freundin sind vor kurzem hier abgestiegen. Meine Frau ist blond. Ihre Freundin ist ’ne Schwarze, ein heißer Zahn. Welches Zimmer haben sie?«
»Zimmer zehn, aber ich kann Sie leider nicht durchlassen. Sie müssen vorher anru .«
Flint hob eine mit Schalldämpfer bestückte 45er Ruger und jagte dem Portier eine Kugel in die Stirn. Dann schob er die Leiche hinter die Rezeption und ging mit gezückter Pistole den Gang entlang. Vor Zimmer Nummer zehn blieb er stehen, trat einen Schritt zurück, stürmte dann mit der Schulter voran vorwärts und brach die Tür auf.
Im Zimmer war keiner, aber er hörte, dass im Bad die Dusche lief. Er ging zur Badezimmertür und stieß sie auf. Die Dusche war voll aufgedreht, der zugezogene Plastikvorhang wogte hin und her. Flint gab vier Schüsse auf den Vorhang ab, wartete einen Moment und zog ihn dann auf.
Hier war niemand.
Von einem Imbiss auf der anderen Straßenseite aus hatten Diane und Kelly zugesehen, wie Flint mit seinem Geländewagen vorfuhr und in das Hotel ging.
»Mein Gott«, hatte Kelly gesagt, »das ist der Mann, der mich kidnappen wollte.«
Sie warteten eine Weile. Als Flint ein paar Minuten später wieder herauskam, grinste er wie eh und je, aber sein Gesicht war vor Wut verzerrt.
Kelly wandte sich an Diane. »Da zieht Godzilla seines Weges. Wie soll’s jetzt weitergehen?« »Wir müssen von hier weg.«
»Und wohin? Die überwachen bestimmt sämtliche Flughäfen, Bahnhöfe und Busbahnhöfe .«
Diane dachte einen Moment lang nach. »Ich kenne einen Ort, an dem keiner an uns rankommt.«
»Lassen Sie mich raten. Das Raumschiff, das Sie hierher gebracht hat?«