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Tanner saß tags darauf an seinem Schreibtisch, als sich seine Sekretärin über die Gegensprechanlage bei ihm meldete.
»Hier ist eine Abordnung, die Sie sprechen möchte, Mr. Kingsley.«
»Eine Abordnung?«
»Ja, Sir.«
»Schicken Sie sie rein.«
Mehrere Abteilungsleiter von KIG kamen in Tanners Büro. »Wir würden gern mit Ihnen sprechen, Mr. Kingsley.«
»Nehmen Sie Platz.«
Sie setzten sich.
»Worum geht es?«
»Nun ja«, sagte einer der Abteilungsleiter, »wir machen uns Sorgen. Nach dem, was Ihrem Bruder widerfahren ist ... Wird die KIG im Geschäft bleiben?«
Tanner schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Im Moment bin ich noch wie vor den Kopf geschlagen. Ich kann noch immer nicht fassen, was Andrew zugestoßen ist.« Er dachte einen Moment lang nach. »Ich sage Ihnen, was ich tun werde. Ich kann nicht voraussagen, ob es uns gelingt, aber ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit wir uns über Wasser halten können. Das verspreche ich Ihnen. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«
Die Männer murmelten ein paar Dankesworte und zogen wieder ab.
An dem Tag, an dem Andrew aus dem Krankenhaus entlassen wurde, quartierte ihn Tanner in einem der kleinen Häuser auf dem Firmengelände ein, die zur vorübergehenden Unterbringung von Mitarbeitern gedacht waren. Dort wurde er gut versorgt, und er erhielt ein Büro unmittelbar neben Tanners. Die Angestellten waren erschüttert, als sie sahen, was aus Andrew geworden war. Der einstmals hellwache, blitzgescheite Wissenschaftler wirkte wie ein Zombie. Den Großteil des Tages saß er in einem Sessel, döste vor sich hin und schaute gelegentlich aus dem Fenster, war aber allem Anschein nach froh, dass er wieder in der KIG war, auch wenn er kaum begriff, was vor sich ging. Sämtliche Mitarbeiter waren tief berührt davon, wie liebevoll Tanner seinen Bruder behandelte und wie fürsorglich er sich um ihn kümmerte.
Das Betriebsklima bei der KIG veränderte sich nahezu über Nacht. Als Andrew die Firma geleitet hatte, war es eher leger zugegangen; jetzt war der Umgang weitaus förmlicher, und statt der Arbeit zum Wohle der Menschheit stand ab sofort der wirtschaftliche Erfolg im Vordergrund. Tanner schickte Vertreter los, die Kunden für das Unternehmen gewinnen sollten, und binnen kurzer Zeit blühte die KIG regelrecht auf.
Die Nachricht vom Abschiedsbrief der Prinzessin hatte sich im Nu in der ganzen Firma herumgesprochen. Die Mitarbeiter, die bereits Vorbereitungen für die Hochzeitsfeier getroffen hatten, fragten sich, wie Tanner diesen Schlag wegstecken würde. Es gab allerlei Spekulationen darüber, was er machen würde, nachdem er sitzen gelassen worden war.
Zwei Tage nachdem Tanner den Brief erhalten hatte, erschien in den Zeitungen ein Artikel, in dem bekannt gegeben wurde, dass Tanners ehemalige Braut Edmond Barclay geheiratet hatte, einen Milliardär und Medienmogul. Tanner Kingsley wirkte nahezu unverändert - er war nur ein bisschen launischer und arbeitete noch verbissener als zuvor. Jeden Morgen zog er sich zwei Stunden lang zurück und beschäftigte sich mit einem Projekt, über das er strengstes Stillschweigen bewahrte.
Eines Abends hielt Tanner einen Vortrag bei MENSA, einer Gesellschaft, in die nur Menschen mit einem hohen Intelligenzquotienten aufgenommen wurden. Da zahlreiche Angestellte der KIG dort Mitglied waren, hatte er die Einladung angenommen.
Als Tanner am nächsten Morgen in die Firmenzentrale kam, wurde er von einer der schönsten Frauen begleitet, die seine Mitarbeiter jemals gesehen hatten. Sie wirkte südländisch, wie eine Latina, und hatte dunkle Augen, einen braunen Teint und eine sensationelle Figur.
Tanner stellte sie seinen Mitarbeitern vor. »Das ist Sebastiana Cortez. Sie hat gestern Abend einen großartigen Vortrag bei MENSA gehalten.«
Tanner wirkte mit einem Mal viel gelöster. Er nahm Sebastiana mit in sein Büro, wo sie über eine Stunde lang blieben. Anschließend speisten sie in Tanners privatem Esszimmer zu Mittag.
Einer der Angestellten zog per Internet Erkundigungen über Sebastiana Cortez ein. Demnach war sie eine ehemalige Miss Argentinien, war mit einem bekannten Geschäftsmann verheiratet und wohnte in Cincinnati, Ohio.
Als Sebastiana und Tanner nach dem Essen in sein Büro zurückkehrten, konnten die Mitarbeiter im Vorzimmer über die Gegensprechanlage, die noch immer eingeschaltet war, Tanners Stimme hören.
»Keine Sorge, meine Liebe. Wir werden schon eine Möglichkeit finden.«
Die Sekretärinnen scharten sich um die Gegensprechanlage und horchten gespannt, was die beiden miteinander beredeten.
»Wir müssen vorsichtig sein. Mein Mann ist sehr eifersüchtig.«
»Kein Problem. Ich sorge dafür, dass wir miteinander in Kontakt bleiben können.«
Jeder, der auch nur halbwegs bei Verstand war, konnte sich ausmalen, was da drin vor sich ging. Die Sekretärinnen mussten sich mit aller Macht zusammennehmen, um nicht laut loszukichern.
»Ich finde es schade, dass du schon nach Hause musst.«
»Ich auch. Ich wünschte, ich könnte bleiben, aber es lässt sich nicht ändern.«
Als Tanner und Sebastiana aus dem Büro kamen, verhielten sie sich wieder mustergültig. Die Mitarbeiter ließen sich nichts anmerken, hatten aber ihre spitzbübische Freude an der Vorstellung, dass Tanner keine Ahnung davon hatte, dass sie wussten, was vor sich ging.
Am Tag nach Sebastianas Abreise bestellte Tanner ein vergoldetes Telefon mit digitalem Zerhacker und ließ es in seinem Büro anschließen. Seine Sekretärin und die Assistentinnen hatten die ausdrückliche Anweisung, unter keinen Umständen an diesen Apparat zu gehen.
Fortan rief Tanner fast täglich von dem vergoldeten Telefon aus an, und am Ende eines jeden Monats verreiste er übers Wochenende, hängte noch ein, zwei Tage an und kehrte sichtlich erholt zurück. Er verriet seinen Mitarbeitern nicht, wo er gewesen war, aber sie wussten ohnehin Bescheid.
»So ein Rendezvous muss doch was Schönes sein«, sagte eine seiner Assistentinnen zur anderen, als sie sich in seiner Abwesenheit miteinander unterhielten.
Tanner war offenbar frisch verliebt, und sein ganzes Verhalten hatte sich spürbar verändert. Alle waren froh darüber.