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Kelly wurde manchmal regelrecht schwindlig, wenn sie daran dachte, wie schnell alles gegangen war. Binnen kürzester Zeit hatte sie die wichtigsten Voraussetzungen für den Modelberuf erlernt - während der Ausbildung in der Agentur brachte man ihr selbstbewusstes Auftreten bei, Haltung und wie man ein bestimmtes Image von sich vermittelt. Ein Model musste vor allem Ausstrahlung besitzen, was wiederum hieß, dass Kelly den Menschen etwas vorspielen musste, da sie sich weder schön noch begehrenswert vorkam.
Trotzdem wurde sie quasi über Nacht als sensationelle Neuentdeckung in der Modewelt gehandelt. Sie wirkte nicht nur aufregend und provozierend, sondern strahlte auch eine gewisse Unberührbarkeit aus, die die Männer herausforderte. Binnen zwei Jahren war Kelly in die Riege der Topmodels aufgestiegen. Sie warb für Produkte, die aus gut einem Dutzend verschiedener Länder stammten. Einen Großteil ihrer Zeit brachte Kelly in Paris zu, wo einige der wichtigsten Kunden ihrer Agentur ansässig waren.
Nach einer extravaganten Modenschau in New York suchte sie eines Tages vor dem Rückflug nach Paris ihre Mutter auf, die älter und verhärmter wirkte als je zuvor. Ich muss sie hier rausholen, dachte Kelly. Ich kaufe ihr ein hübsches Apartment und kümmere mich um sie.
Ihre Mutter freute sich allem Anschein nach, sie zu sehen.
»Ich bin ja froh, dass es dir gut geht, Kelly. Danke für die monatlichen Schecks.«
»Gern geschehen. Mutter, ich möchte etwas mit dir bereden. Ich habe mir alles genau überlegt. Ich möchte, dass du von hier weg .«
»Hoho, schau an, wer uns da besucht - Ihre Hoheit.« Ihr Stiefvater kam gerade herein. »Was machst du denn hier? Solltest du nicht irgendwo mit schicken Klamotten rumstolzieren?«
Ich muss ein andermal darauf zurückkommen, dachte Kelly.
Kelly musste noch einen weiteren Besuch erledigen. Sie fuhr zur öffentlichen Bibliothek, in der sie so viele herrliche Stunden verbracht hatte, und die Erinnerungen kehrten sofort zurück, als sie mit einem Stapel Zeitschriften unter dem Arm durch die Tür trat.
Mrs. Houston saß nicht an ihrem Schreibtisch. Kelly ging in den Lesesaal und sah sie strahlend wie eh und je mit einem eleganten, maßgeschneiderten Kleid in einem der Seitengänge stehen und Bücher einsortieren.
Als Mrs. Houston hörte, wie die Tür aufging, sagte sie.
»Ich komme gleich.« Dann wandte sie sich um. »Kelly!« Es klang fast wie ein Schrei. »Oh, Kelly!«
Sie liefen aufeinander zu und umarmten sich.
Mrs. Houston trat einen Schritt zurück und musterte Kelly. »Ich kann kaum glauben, dass du das bist. Was machst du hier in der Stadt?«
»Ich habe meine Mutter besucht, aber ich wollte auch Sie sehen.«
»Ich bin ja so stolz auf dich. Das kannst du dir gar nicht vorstellen.«
»Mrs. Houston, können Sie sich noch daran erinnern, als ich Sie gefragt habe, wie ich Ihnen danken könnte? Sie haben gesagt, wenn Sie eines Tages mein Bild in einer Modezeitschrift sehen, wäre das für Sie der schönste Dank. Hier.«
Kelly drückte Mrs. Houston den Stapel Zeitschriften in den Arm. Es waren allerlei Ausgaben von Elle, Cosmopolitan, Mademoiselle und Vogue, und sie war bei allen auf dem Cover abgebildet.
»Großartig«. Mrs. Houston strahlte. »Ich möchte dir auch etwas zeigen.« Sie ging hinter ihren Schreibtisch und holte die gleichen Zeitschriften heraus.
Kelly war einen Moment lang sprachlos. »Womit kann ich Ihnen jemals danken? Sie haben mein Leben verändert.«
»Nein, Kelly. Du selbst hast dir ein anderes Leben gesucht. Ich habe dir lediglich einen kleinen Schubs gegeben. Und noch was, Kelly .«
»Ja?«
»Deinetwegen bin ich modebewusst geworden.«
Da Kelly großen Wert darauf legte, sich ein Privatleben zu bewahren, kam sie mit ihrem Ruhm mitunter nur schwer zurecht. Die ständige Belagerung durch die Fotografen ärgerte sie, und mit der Zeit entwickelte sie eine geradezu panische Angst davor, von Leuten angesprochen zu werden, die sie nicht kannte. Kelly genoss es, allein zu sein.
Eines Tages speiste sie zu Mittag im Restaurant Le Cinq im Hotel George V., als ein schlecht gekleideter Mann an ihr vorbeiging, dann stehen blieb und sie anstarrte. Er hatte einen fahlen, ungesund wirkenden Teint, so als verbringe er den Großteil seiner Zeit in geschlossenen Räumen. Er hatte eine Ausgabe von Elle dabei, die bei einem Foto von Kelly aufgeschlagen war.
»Entschuldigen Sie«, sagte der Fremde.
Unwirsch blickte Kelly auf. »Ja?«
»Ich habe Ihr - ich habe diesen Artikel hier über Sie gelesen, und da steht, dass Sie in Philadelphia geboren sind.« Er klang jetzt völlig begeistert. »Ich bin auch da geboren, und als ich Ihr Bild sah, hatte ich das Gefühl, dass ich Sie kenne und .« »Nein«, erwiderte Kelly kühl. »Außerdem mag ich es nicht, wenn mich wildfremde Menschen belästigen.«
»Oh, tut mir Leid.« Er schluckte. »Ich wollte nicht ... Ich bin kein wildfremder Mensch. Ich meine . Ich heiße Mark Harris und arbeite bei Kingsley International. Als ich Sie hier sitzen sah, da ... da dachte ich, Sie wollen vielleicht nicht allein essen und Sie und ich könnten .«
Kelly warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Sie haben falsch gedacht. Und jetzt gehen Sie bitte.«
»Ich ... ich wollte Sie nicht stören.« Er stammelte jetzt.
»Es ist bloß so, dass .« Er sah ihren Gesichtsausdruck. »Ich gehe ja schon.«
Kelly blickte ihm hinterher, als er mit seiner Zeitschrift hinausging. Den bin ich los.
In dieser Woche musste Kelly etliche Fotosessions für mehrere Modezeitungen machen.
Einen Tag nach ihrer Begegnung mit Mark Harris saß sie in ihrer Garderobe und kleidete sich gerade an, als drei Dutzend Rosen für sie abgegeben wurden. Auf der beiliegenden Karte stand: Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie belästigt habe. Mark Harris.
Kelly zerriss die Karte. »Schicken Sie die Blumen in die Kinderklinik.«
Am nächsten Morgen kam die Garderobiere wieder in den Umkleideraum, diesmal mit einem Päckchen. »Ein Mann hat das für Sie abgegeben, Kelly.«
Das Päckchen enthielt eine Orchidee, und auf der Karte stand: Ich hoffe, Sie haben mir vergeben. Mark Harris.
Kelly zerriss die Karte. »Behalten Sie die Blume.«
Danach erhielt sie fast täglich ein Geschenk von Mark Harris -einmal einen kleinen Obstkorb, ein andermal einen Freundschaftsring, dann einen Spielzeugweihnachtsmann. Kelly warf sie alle in den Mülleimer. Dann aber traf ein ganz anderes Geschenk ein - ein bezaubernder französischer Pudelwelpe mit einem roten Halsband, an dem eine Karte hing: Das ist »Angel«. Ich hoffe, Sie lieben sie ebenso sehr wie ich. Mark Harris.
Kelly rief die Auskunft an und ließ sich die Nummer der Kingsley International Group geben. Als sich die Telefonzentrale meldete, fragte sie: »Arbeitet bei Ihnen ein gewisser Mark Harris?«
»Oui, mademoiselle.«
»Könnte ich ihn bitte sprechen?«
»Einen Moment.«
Kurz darauf hörte Kelly eine bekannte Stimme. »Hallo?«
»Mr. Harris?«
»Ja.«
»Hier ist Kelly. Ich habe beschlossen, Ihre Einladung zum Essen anzunehmen.«
Ein Moment lang herrschte Schweigen, dann: »Wirklich? Das ... das ist ja großartig.«
Kelly hörte die Aufregung in seiner Stimme.
»Heute um eins im Laurent?«
»Wunderbar. Ich danke Ihnen vielmals. Ich -«
»Ich lasse einen Tisch reservieren. Wiederhören.«
Mark Harris stand wartend an einem Tisch im Laurent, als Kelly mit dem Welpen im Arm hereinkam.
Marks Gesicht leuchtete auf. »Sie sind gekommen. Ich war mir nicht sicher ... Und Sie haben Angel mitgebracht.«
»Ja.« Kelly drückte Mark den Hund in die Arme. »Sie kann Ihnen beim Essen Gesellschaft leisten«, sagte sie in eisigem Tonfall, wandte sich ab und wollte gehen.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Mark. »Ich dachte .«
»Tja, dann werde ich es Ihnen zum letzten Mal erklären«, versetzte Kelly. »Ich möchte nicht mehr von Ihnen belästigt werden. Verstehen Sie das?«
Mark Harris’ Gesicht lief rot an. »Ja. Ja, natürlich. Tut mir Leid. Ich . ich wollte nicht . Ich dachte bloß . Ich weiß nicht, was . Ich möchte das gern erklären. Wollen Sie nicht einen Moment Platz nehmen?«
Kelly wollte bereits Nein sagen, setzte sich dann aber und musterte ihn mit verächtlicher Miene. »Ja?«
Mark Harris atmete tief durch. »Es tut mir wirklich Leid. Ich wollte Sie nicht belästigen. Ich habe Ihnen diese Sachen geschickt, um mich bei Ihnen zu entschuldigen. Ich wollte lediglich eine Chance - als ich Ihr Bild gesehen habe, hatte ich das Gefühl, als ob ich Sie schon ein Leben lang kenne. Und als ich Sie dann persönlich gesehen habe und Sie noch .« Er geriet vor lauter Verlegenheit ins Stammeln. »Ich hätte mir darüber klar sein müssen, dass jemand wie Sie kein Interesse an jemandem wie . Ich . ich habe mich wie ein dummer Schuljunge benommen. Es ist mir so peinlich. Es ist nur so, dass ich . Ich wusste nicht, wie ich Ihnen erklären sollte, wie mir zumute war, und . « Mit einem Mal wirkte er ungemein verletzlich. »Ich kann einfach . Ich kann meine Gefühle schlecht erklären. Ich bin mein Leben lang allein gewesen. Niemand hat jemals . Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich sechs war, und danach gab es einen langen Streit ums Sorgerecht. Keiner von beiden wollte mich haben.«
Kelly betrachtete ihn schweigend. Seine Worte gingen ihr durch den Kopf und brachten längst verdrängte Erinnerungen zurück.
Warum bist du den Balg nicht losgeworden, bevor er zur Welt gekommen ist?
Ich hab’s ja versucht. Es hat nicht geklappt.
Er fuhr fort. »Ich bin in einem halben Dutzend verschiedener Pflegeheime aufgewachsen, wo sich niemand irgendwas .«
Das sind deine Onkel. Ärger sie nicht.
»Ich hatte das Gefühl, dass ich es niemand recht .«
Das Essen ist miserabel ... Das Kleid steht dir nicht ... Du hast die Badezimmer immer noch nicht geputzt ...
Kelly wurde von seinen Erklärungen mehr und mehr in Bann geschlagen.
Ich habe beschlossen, Model zu werden.
Sämtliche Models sind Nutten.
»Ich habe davon geträumt, aufs College zu gehen, aber sie haben gesagt, für die Arbeit, die ich mal machen werde, bräuchte ich ... bräuchte ich keine höhere Schuldbildung.«
Was zum Teufel willst du auf ’ner Schule? Bei deinem Aussehen könntest du schon eher anschaffen gehen.
»Als ich ein Stipendium fürs MIT bekommen habe, haben meine Pflegeeltern gesagt, ich würde das Studium vermutlich sowieso nicht schaffen und sollte lieber in einer Autowerkstatt arbeiten .«
Aufs College? Du vergeudest bloß vier Jahre deines Lebens ...
Was dieser Fremde ihr erzählte, kam ihr vor wie eine Wiederholung all der Vorhaltungen, die sie sich einst hatte anhören müssen. Kelly saß zutiefst berührt da, konnte nur zu gut nachempfinden, was dieser Mann durchgemacht hatte.
»Als ich mein Studium am MIT abgeschlossen hatte, wurde ich von der Kingsley International Group eingestellt und arbeitete in deren Filiale in Paris. Aber ich war so einsam.«
Er schwieg eine Weile. »Vor langer Zeit habe ich mal irgendwo gelesen, dass es im Leben nicht Schöneres gibt, als jemanden zu finden, den man liebt und der einen ebenfalls liebt ... Und ich habe es geglaubt.«
Kelly saß schweigend da.
»Aber ich habe niemanden gefunden und wollte bereits aufgeben«, sagte Mark Harris verlegen. »Und dann habe ich eines Tages Sie gesehen .« Er konnte nicht weitersprechen.
Er stand auf, Angel immer noch auf dem Arm. »Ich schäme mich so. Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie nie wieder behelligen werden. Auf Wiedersehen.«
Kelly sah, wie er sich abwandte und wegging. »Wohin wollen Sie mit meinem Hund?«, rief sie.
Mark Harris drehte sich verdutzt um. »Wie bitte?«
»Angel gehört mir. Sie haben sie mir geschenkt, nicht wahr?«
Mark stand verwirrt da. »Ja, aber Sie haben doch gesagt .«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Mr. Harris. Ich behalte Angel, und Sie erhalten ein Besuchsrecht.«
Es dauerte einen Moment, bis er begriff, aber dann strahlte er übers ganze Gesicht. »Sie meinen, ich darf ... Sie lassen mich ...?«
»Warum besprechen wir das nicht heute Abend beim Essen?«, fragte Kelly.
Und sie hatte keine Ahnung, dass sie sich in diesem Augenblick in Lebensgefahr gebracht hatte.