172335.fb2 Das letzte R?tsel - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 8

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Die Bienen sprachen zu ihm, auf ihre Weise. Während andere Menschen in ihrem Summen ein nichts sagendes Brummen, einen inhaltsleeren Schall hörten, war es für ihn ein abwechslungsreicher Bericht, viel sagend, moduliert, veränderlich und so unverwechselbar wie die einzelnen Steine eines grauen Kieselstrandes. Der alte Mann tastete sich an diesem Geräusch entlang, umsorgte seine Bienenstöcke wie ein Strandgutjäger, vornübergebeugt und staunend. Natürlich bedeutete der Gesang nichts – ganz so verrückt war er auch wieder nicht –, aber das hieß noch lange nicht, dass er bedeutungslos war. Es war der Gesang einer Stadt, die so weit entfernt von London war wie London vom Himmel oder von Rangun, einer Stadt, in der alle genau das taten, was sie tun sollten, so wie es von ihren ältesten, ehrwürdigsten Vorfahren bestimmt war. Eine Stadt, in der niemals Juwelen, Goldbarren, Kreditbriefe oder Geheimpläne der Marine gestohlen wurden, in der kein lang verschollener Zweitgeborener oder nichtsnutziger erster Ehegatte mit gerissenen Provinzmethoden aus dem Wawoora-Tal oder vom Witwatersrand zurückkehrte, um einen alten, reichen Verwandten zu Tode zu erschrecken. Eine Stadt ohne Messerstechereien, Hinrichtungen, Schlägereien, Schießereien; es gab so gut wie keine Gewalt, von dem einen oder anderen Königinnenmord mal abgesehen. Jeder Tod in der Stadt der Bienen war bereits vor Zehn Millionen Jahren bestimmt und festgelegt worden; kaum geschehen, wurde jeder Tod tüchtig und zügig in Leben für das Volk verwandelt.

Ein Mann, der sich seinen Lebensunterhalt zwischen Mördern und Raufbolden verdient hatte, würde eine ebensolche Stadt wählen, um dort den Rest seiner Tage zu verbringen. Er würde ihrem Lied lauschen wie ein junger Mann, der gerade in Paris, New York oder Rom (oder sogar, wie der alte Mann sich noch schwach erinnerte, in London) eingetroffen ist und auf einem Balkon oder am Fenster eines möblierten Zimmers oder auf dem Dach eines Mietshauses steht, dem Brummen des Verkehrs und den Fanfaren der Hupen lauscht und meint, die Musik seines eigenen, geheimnisvollen Schicksals zu hören.

Die Erzählungen der Bienen und das Rasseln seines Atems unter dem Zelt seines Schutzschleiers verhinderte, dass er die lange schwarze Limousine vernahm, die einen Tag nach seinem Gespräch mit Parkins vorfuhr, so wie er bereits versäumt hatte, sie zu erwarten. Erst als sich der Besucher aus London drei Meter hinter ihm befand, drehte sich der alte Mann um. Leichte Beute, dachte er, empört über sich selbst. Was für ein Glück, dass all seine Feinde tot waren.

Der Mann aus London war wie ein Kabinettsminister gekleidet, bewegte sich jedoch wie ein unehrenhaft entlassener Soldat. Breitschultrig, hellhaarig, blinzelte er, als blicke er gegen eine feindselige Sonne, und der linke Fuß in dem edlen Straßenschuh von Cleverley bewegte sich mit einem sonderbaren Scharren, als der Fremde sich den Bienenstöcken näherte. Sicher war der Besucher alt genug, um eine große Zahl von Feinden zu haben, aber noch nicht alt genug, um sie alle überlebt zu haben. Sein Chauffeur wartete neben dem Wagen mit dem Londoner Kennzeichen und den für die Verdunkelung schlitzförmig verklebten Scheinwerfern, die das von der Sonne bedrängte Blinzeln des Beifahrers nachahmten.

»Werden Sie manchmal gestochen?«, fragte der Mann aus London.

»Ständig.«

»Tut es weh?«

Der alte Mann hob das Netz, damit er kein schönes, schlichtes Ja auf eine derart dämliche Frage verschwenden musste. Der Mann aus London verbarg den Anflug eines Grinsens in seinem ergrauenden blonden Schnurrbart.

»Wahrscheinlich schon«, sagte er. »Sie mögen Honig, was?«

»Nicht besonders, nein«, sagte der alte Mann.

Der Mann aus London schien sich über diese Antwort ein wenig zu wundern, doch dann nickte er und gestand, er selbst sei auch kein Liebhaber von Honig.

»Wissen Sie, wer ich bin?«, fragte er nach einer Weile.

»Nur zu welcher Gattung und Art Sie gehören«, sagte der alte Mann. Er hob die Hand zum Schleier, als wolle er ihn wieder herunterziehen. Dann nahm er die ganze Kopfbedeckung ab und klemmte sie sich unter den Arm. »Kommen Sie besser mit rein.«

Der Mann aus London wählte den Stuhl am Fenster und versuchte unauffällig, zwei, drei Zentimeter frische Luft ins Zimmer zu lassen. Es war der unbequemste Stuhl im Haus, er vereinte die schlimmsten Eigenschaften eines Sägebocks und einer Kirchenbank, aber über den Geruch im Raum machte sich der alte Mann keine Illusionen. Nicht dass er ihn wahrnahm – genau so wenig wie ein Bär oder in dem Fall ein Drache den Gestank in seiner düstren Höhle bemerkt oder sich daran gestört hätte.

»Ich kann Ihnen eine Tasse Tee anbieten«, sagte er, obwohl er gar nicht sicher war, dass er das tatsächlich konnte. »Ich glaube, mein Bestand stammt aus den frühen Dreißigern. Ich weiß nicht, Colonel, ob Teeblätter mit der Zeit bitter werden oder völlig ihren Geschmack verlieren, bin aber einigermaßen überzeugt, dass meine nicht mehr zu gebrauchen sind. Liege ich da richtig? Sie sind Colonel?«

»Threadneedle.«

»Colonel Threadneedle. Kavallerie?«

»Berittene Infanterie. Lennox Highlanders.«

»Ah. Also Whisky.«

Der Vorschlag wurde in dem Geist feindseliger guter Laune, der bezeichnend für seinen bisherigen Umgang mit dem Nachrichtenoffizier gewesen war, gemacht und angenommen, doch quälte den alten Mann plötzlich die Angst, ob der Whisky, den er auf so ritterliche Weise angeboten hatte, nicht schon vor Jahren in einem anderen Wohnsitz ausgetrunken worden, ob er vielleicht verdunstet oder zu einer teerigen Paste geworden war, ob es vielleicht gar kein Whisky war oder ob er je existiert hatte. Fünf Minuten Höhlenforschung in den niederen Regionen des Eckschranks förderten eine Flasche Glenmorangie ans Tageslicht, bedeckt von einer Staubschicht, die selbst einen Schliemann abgestoßen hätte. Zitternd vor Erleichterung stand der alte Mann da und wischte sich mit dem Strickjackenärmel den Schweiß von der Stirn. Als junger Mann war es für ihn eine positive Entwicklung gewesen, wenn er von einer Ermittlung zurückgepfiffen wurde, es war ein Meilenstein auf dem Weg zur Lösung und, mehr noch, ein Ansporn gewesen.

»Gefunden!«, rief er.

Er goss eine großzügige Menge in ein einigermaßen sauberes Glas und reichte es dem Mann aus London, dann ließ er sich in seinen Sessel sinken. So wie sich in einem Wollschal der Geruch brennender Blätter festsetzt, hatte er im Mund noch eine Erinnerung an Scotch. Aber die Stützen, die ihn zusammenhielten, waren so spärlich und so brüchig, dass er Angst hatte, sie zum Wanken zu bringen.

»Dieses Land«, hob der Colonel an. »Seinen Feinden vergibt es zu schnell und seine alten Freunde vergisst es zu schnell.« Tief sog er den Dunst der fünf Zentimeter Scotch ein, als wolle er seine Nasenlöcher ausräuchern, dann leerte er das Glas zur Hälfte. Er stöhnte, vielleicht unfreiwillig, und gab einen versonnenen Seufzer der Zufriedenheit von sich: Alles andere behandelten sie so grausam, die dahinfliegenden Jahre. »So sehe ich das wenigstens.«

»Ich hoffe, im Laufe der Jahre hier und dort ein wenig hilfreich gewesen zu sein.«

»Man war der Meinung«, begann der Colonel, »Sie hätten ein Anrecht auf eine Erklärung.«

»Das ist sehr freundlich.«

»Der Junge ist der Sohn eines gewissen Dr. Julius Steinman, ein Arzt aus Berlin. Der Name sagt mir nichts, aber in psychiatrischen Kreisen …« Er zog ein Gesicht, um seine Meinung von Psychiatern und ihrer Weltsicht kundzutun. Den alten Mann erfreute das Vorurteil, er teilte es jedoch nicht; als Ärzte ließen Psychiater zweifellos etwas zu wünschen übrig, oft aber gaben sie gute Ermittler ab. »Scheinbar behandelte der Mann erfolgreich gewisse Schlafstörungen. Gott weiß, wie. Mit Drogen, möchte ich wetten. Jedenfalls blieb dem Jungen und seinen Eltern 1938 die Deportation erspart. Wurden im letzten Moment aus dem Zug geholt, schätze ich.«

»Da hatte jemand Albträume«, sagte der alte Mann.

»Wenig verwunderlich.«

»Ein Mensch, der mit Chiffren und Codes zu tun hat.«

»Zumindest mit etwas höchst Geheimem.« Liebevoll betrachtete der Colonel die verbliebenen zweieinhalb Zentimeter Whisky in seinem Glas, dann sagte er ihnen Lebewohl. »Hielt so lange wie möglich an seinem privaten Judendoktor fest. Und sich damit die schlimmen Träume vom Leib. War mit ihm in einer Art Geheimeinrichtung oder Lager kaserniert. Mit der ganzen Familie. Frau, Kind, Papagei.«

»Wo der Papagei so unauffällig und geschickt, wie man es von seiner Art kennt, begann, die Zahlencodes der Kriegsmarine auswendig zu lernen.«

Der Mann aus London wusste Sarkasmus möglicherweise weniger zu würdigen als schottischen Whisky.

»Man hat sie ihm natürlich beigebracht«, sagte er. »So lautet jedenfalls die Theorie. Dieser Parkins sitzt scheinbar schon seit Monaten dran. Sobald wir davon erfuhren …«

»… versuchten Sie, Reggie Panicker zu bewegen, das Tier zu stehlen und an Mr Black zu verkaufen, der, so nehme ich an, in Ihren Diensten steht.«

»Meines Wissens nicht«, sagte der Mann aus London, und sein Ton enthielt die höfliche Andeutung, dass sein begrenztes Wissen für die Zwecke des alten Mannes durchaus genügte. »Und in Bezug auf den jungen Panicker irren Sie. Damit hatten – wir nichts zu tun.«

»Und Ihnen ist egal, wer Ihren Mr Shane umgebracht hat?«

»Oh nein, ist es uns nicht. Wirklich nicht. Shane war ein feiner Mann. Ein erfahrener Mitarbeiter. Sein Tod ist äußerst beunruhigend, nicht zuletzt aufgrund der Folgerung, dass jemand hergeschickt wurde, um den Vogel zurückzuholen.« Er schien keine Erklärung für notwendig zu halten, wer diesen Jemand geschickt haben mochte. »Vielleicht hält er sich in der Umgebung versteckt. Er könnte ein Schläfer sein, ein Agent, der schon lange unauffällig im Dorf lebt und arbeitet, schon vor dem Krieg. Genauso gut kann er bereits mitten auf der Nordsee auf dem Heimweg sein.«

»Er könnte auch in seinem Arbeitszimmer im Pfarrhaus sitzen und hart an der Predigt für den kommenden Sonntag arbeiten. Eine Predigt, die sich auf das zweite Kapitel Hosea bezieht, Vers eins bis drei.«

»Möglich«, sagte der Mann aus London mit einem trockenen Husten, das als echtes Lachen auszugeben er sich sichtlich bemühte. »Ihr junger Freund, der Inspector, hat sich jetzt an den Vater gehängt.«

»Ja, das liegt nahe.«

»Aber es ist unwahrscheinlich. Der Bursche züchtet Rosen, stimmt’s?«

»Ein verbitterter, enttäuschter, eifersüchtiger Mann tötet jemanden, den er für den Liebhaber seiner Frau hält – das finden Sie unwahrscheinlich. Ein mordender Nazispion, der den Auftrag hat, einen Papagei zu entfuhren, das erscheint Ihnen hingegen …«

»Nun, gut.« Der Colonel spähte in das leere Whiskyglas, und seine Wangen röteten sich, als sei er gekränkt worden. »Es ist nur, wenn wir die Gelegenheit hätten, würden wir es genauso machen, nicht wahr?« Im Körper des Colonels schienen die Streben ein wenig nachgegeben zu haben, doch der alte Mann bezweifelte, dass ein verstaubtes Glas Scotch schuld daran war. Er kannte die Elite des britischen Nachrichtendienstes von den Tagen des »Großen Spiels« bis zum Knall der ersten Schüsse von Mons. Letzten Endes lief ihr Handwerk auf schlichtes Spiegeln hinaus: Umkehrschlüsse, Reflexionen, Echos. Und was man durch einen Spiegel sah, hatte immer etwas Entmutigendes. »Wenn die einen Papagei hätten, der bis zu den Flügelspitzen mit unserem Marinecode voll gestopft wäre, würden wir mit Sicherheit nichts unversucht lassen, ihn zurückzubekommen.« Mit einem Lächeln, das ihn selbst und das Ministerium, in dem er arbeitete, verhöhnte, schaute der Colonel zu dem alten Mann auf. »Oder dafür sorgen, dass er am Spieß gebraten wird.«

Als er sich von dem äußerst harten Stuhl erhob, krachten die Knochen in seinem Soldatenkörper. Dann schritt er mit einem letzten sehnsüchtigen Blick auf die Scotchflasche zur Tür.

»Wir strengen uns mächtig an, diesen Krieg nicht zu verlieren«, sagte er. »Ein intelligenter Papagei wäre bei weitem nicht das Absurdeste, von dem sein Ausgang abhängen könnte.«

»Ich habe versprochen, Bruno zu finden«, sagte der alte Mann. »Und das werde ich auch.«

»Falls Sie es schaffen«, sagte der Colonel. Als er die Tür öffnete, tastete sich ein langer Streifen Sommernachmittag ins Haus. Der alte Mann hörte den Singsang der Bienen in ihrer Stadt. Das Licht selbst hatte die Farbe von Honig. Der Fahrer auf dem Hof erwachte aus seinem Nickerchen, und der Motor der Limousine erwachte brummend zum Leben. »Die Nation ist Ihnen zu Dank verpflichtet und so weiter.«

»Ich werde ihn dem Jungen zurückbringen.«

Es kam trotziger heraus, als es dem alten Mann Recht war, quäkend und brüchig, und er bereute, es gesagt zu haben. Sein Gast konnte den Satz nicht einmal als hohle Phrase eines alten Kauzes missverstehen.

Der Mann aus London runzelte die Stirn und stieß einen Seufzer aus, der verbittert oder bewundernd gemeint sein konnte. Dann schüttelte er einmal derart heftig den Kopf, dass es normalerweise jedes vernichtende Urteil einschloss, das er im Verlauf des Tages noch würde fällen müssen, fand der alte Mann. Der Gast zog einen Fetzen Papier und einen abgenagten blauen Bleistiftstummel hervor. Er kritzelte eine Nummer auf die Rückseite des Zettelchens und stopfte es dann vorsichtig in den Spalt des verzogenen hölzernen Türrahmens. Bevor er ging, drehte er sich noch einmal um und schaute den alten Mann mit einem sonderbar verträumten Gesichtsausdruck an.

»Wie Papageienfleisch wohl schmeckt, frage ich mich«, sagte er.