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Siehst du den schwarzen Hund durch Saat und Stoppel streifen?... Mir scheint es, dass er magisch leise Schlingen zu künft'gem Band um unsere Füße zieht... Der Kreis wird eng, schon ist er nah!
Faust, I, Vor dem Tor
Was während meiner Abwesenheit geschehen war, besonders in den zwei letzten Tagen vor meiner Rückkehr, konnte ich nur aus Belbos files entnehmen. Doch unter denen gab es nur noch einen klaren Text, den letzten vermutlich, den Belbo kurz vor seiner Abfahrt nach Paris geschrieben hatte, damit ich oder jemand anders — zur künftigen Erinnerung — ihn lesen konnte. Die anderen Texte, die er wie üblich wohl nur für sich selbst geschrieben hatte, waren nicht leicht zu verstehen. Nur ich, der ich mittlerweile in die private Welt seiner Bekenntnisse vor Abulafia eingedrungen war, konnte sie einigermaßen entschlüsseln oder wenigstens erraten.
Es war Anfang Juni. Belbo war unruhig. Die Ärzte hatten sich an den Gedanken gewöhnt, dass er und Gudrun die einzigen Angehörigen Diotallevis waren, und hatten sich endlich bereit gefunden, zu reden. Seither antwortete Gudrun auf die Fragen der Hersteller und Korrektoren nur noch, indem sie die Lippen tonlos zu einem kurzen Wort schürzte die Art, wie man die tabuisierte Krankheit benennt.
Gudrun ging Diotallevi jeden Tag besuchen, und ich fürchte, sie störte ihn durch ihre vor Mitleid glänzenden Augen. Er wusste Bescheid, aber er schämte sich bei dem Gedanken, dass die anderen Bescheid wussten. Er konnte nur mühsam sprechen. »Das Gesicht ist ganz Backenknochen«, hatte Belbo geschrieben. Die Haare fielen ihm aus, aber das lag an der Therapie. »Die Hände sind ganz Finger«, hatte Belbo geschrieben.
Ich glaube, bei einem ihrer mühsamen Gespräche muß Diotallevi ihm schon angedeutet haben, was er ihm dann am letzten Tag sagte. Belbo machte sich bereits klar, dass Identifikation mit dem Plan von Übel war, vielleicht das Übel. Doch vielleicht um den Plan zu objektivieren und in seine rein fiktive Dimension zurückzuversetzen, hatte er sich hingesetzt und ihn aufgeschrieben, Wort für Wort, als handle es sich um die Erinnerungen des Oberst Ardenti. Er erzählte den Plan wie ein Initiierter, der sein letztes Geheimnis mitteilt. Ich glaube, für ihn war es eine Kur: Er erstattete der Literatur zurück, so schlecht sie auch sein mochte, was nicht Leben war.
Am 10. Juni muß dann aber etwas passiert sein, was ihn erschüttert hatte. Die Aufzeichnungen darüber sind konfus, ich behelfe mich mit Konjekturen.
Lorenza hatte ihn, scheint es, gebeten, mit ihr im Auto an die Riviera zu fahren, wo sie bei einer Freundin vorbeischauen und etwas abholen musste, was weiß ich, ein Dokument, eine notarielle Urkunde, irgendeine Kleinigkeit, die genauso gut mit der Post hätte geschickt werden können. Belbo hatte sofort zugesagt, beglückt von der Idee, einen Sonntag mit ihr am Meer verbringen zu können.
Sie waren an den betreffenden Ort gefahren, ich habe nicht ganz verstanden, wohin genau, vielleicht in die Nähe von Rapallo. Belbos Sätze schilderten Stimmungslagen, nicht Landschaften wurden aus ihnen deutlich, sondern Erregungen, Spannungen, Niedergeschlagenheiten. Lorenza war ihre Besorgung machen gegangen, Belbo hatte solange in einer Bar gewartet, und dann hatte sie ihm vorgeschlagen, zum Mittagessen in ein Fischrestaurant hoch über dem Meer zu gehen.
Von nun an zerfiel die Geschichte in Stücke, ich deduziere sie aus Dialogfetzen, die Belbo ohne Anführungszeichen aneinandergereiht hatte, hastig, als müsste er eine Serie von Epiphanien mitschreiben, bevor sie verblassten. Sie waren so weit hinaufgefahren, wie es ging, hatten das Auto dann stehen lassen und waren zu Fuß weitergegangen, auf einem von diesen schmalen ligurischen Küstenpfaden zwischen Ginstersträuchern am Steilhang, und schließlich hatten sie das Restaurant gefunden. Aber kaum hatten sie Platz genommen, da sahen sie auf dem Tisch nebenan eine Karte stehen, die ihn für Doktor Agliè reservierte.
Na so ein Zufall, muß Belbo gesagt haben. Ein saudummer Zufall, sagte Lorenza, sie wolle nicht, dass Agliè sie hier sehe, hier mit ihm. Warum sie das nicht wolle, was denn so schlimm daran sei, ob Agliè etwa das Recht habe, eifersüchtig zu sein? Was heißt hier Recht, das ist eine Frage des Takts, er hatte mich zum Essen eingeladen für heute, und ich hab gesagt, ich sei leider beschäftigt, und jetzt möchte ich nicht als Lügnerin dastehen. Du stehst nicht als Lügnerin da, du bist wirklich beschäftigt, mit mir nämlich bist du beschäftigt, ist das vielleicht etwas, wofür du dich schämen musst? Schämen nicht, aber du wirst mir schon noch erlauben, meine eigenen Diskretionsregeln zu haben.
Sie hatten das Restaurant verlassen und sich wieder auf den Weg zum Auto hinunter gemacht. Aber plötzlich war Lorenza stehen geblieben, denn sie hatte Leute heraufkommen sehen, die Belbo nicht kannte, Freunde von Agliè, wie sie sagte, von denen sie nicht gesehen werden wollte. Peinliche Situation: sie an das Brüstungsmäuerchen einer kleinen Brücke gelehnt, hoch über einem Olivenhang, mit einer Zeitung vor dem Gesicht, als stürbe sie vor Neugier, zu erfahren, was in der großen weiten Welt vorging, und er zehn Schritte entfernt von ihr, rauchend, als sei er ganz zufällig gerade da.
Agliès Freunde waren vorbeigegangen, aber Lorenza meinte, wenn sie jetzt den Weg weitergingen, würden sie ihm begegnen, sicher sei er schon unterwegs. Zum Teufel, na wenn schon, hatte Belbo geflucht, und Lorenza hatte erwidert, er habe keine Spur von Feingefühl. Lösung: den Weg verlassen und quer durchs Gestrüpp den Hang hinunter zum Parkplatz. Keuchende Flucht über eine Reihe sonnen-durchglühter Terrassen, und Belbo verlor einen Absatz. Lorenza sagte, siehst du, ist doch viel schöner so, aber natürlich, wenn du weiter so rauchst, kommst du außer Atem.
Schließlich waren sie zum Auto gelangt, und Belbo meinte, nun könnten sie auch gleich nach Mailand zurückfahren. Nein, widersprach Lorenza, vielleicht hat Agliè sich verspätet und nachher begegnen wir ihm auf der Autobahn, er kennt deinen Wagen, schau doch mal, was für ein schöner Tag heute ist, lass uns durchs Innere fahren, da muß es herrlich sein, dann kommen wir drüben zur Autostrada del Sole und essen am Po bei Pavia.
Wieso denn am Po bei Pavia, was heißt denn durchs Innere fahren, es gibt nur eine Möglichkeit, schau dir doch mal die Karte an, wir müssen hinter Uscio in die Berge rauf und dann quer durch den ganzen Apennin, mit Halt in Bobbio, und von da weiter nach Piacenza, bist du verrückt, das ist ja schlimmer als Hannibal mit den Elefanten! Hach, du hast eben keinen Sinn für Abenteuer, hatte sie geantwortet, und denk doch bloß mal, wie viele schöne Restaurants wir auf diesen Hügeln finden. Vor Uscio kommt Manuelina, das hat zwölf Sterne im Michelin, da gibt's jeden Fisch, den wir wollen.
Manuelina war knallvoll, mit einer Schlange von Wartenden, die jeden Tisch belauerten, an dem der Kaffee serviert wurde. Macht nichts, meinte Lorenza, ein paar Kilometer weiter gibt's hundert bessere Lokale als dieses. Um halb drei fanden sie endlich ein Restaurant in einem Kaff, das, wie Belbo meinte, sogar die Militärkarten sich schämen würden zu registrieren, und aßen zerkochte Nudeln mit Büchsenfleisch. Belbo fragte Lorenza, was hinter der Sache stecke, es sei ja doch wohl kein Zufall, dass sie ihn genau dahin geführt habe, wo Agliè hinkommen musste, offenbar wollte sie jemanden provozieren, ihm sei nur nicht klar, wen von beiden, und sie fragte ihn, ob er paranoisch sei.
Hinter Uscio probierten sie einen Pass, und als sie durch ein Dorf fuhren, das den Eindruck machte, als wäre es Sonntagnachmittag in Sizilien, und zwar zur Zeit der Bourbonen, war plötzlich ein großer schwarzer Hund quer über die Straße getrottet, als hätte er noch nie ein Auto gesehen. Belbo hatte ihn mit der vorderen Stoßstange erwischt, es schien nichts weiter zu sein, aber kaum waren sie ausgestiegen, entdeckten sie, dass sein Bauch rot von Blut war, mit seltsamen rosa Sachen (Schamteilen? Eingeweiden?), die herauskamen, und dass er geifernd jaulte. Schon kamen Dörfler gelaufen, es bildete sich ein kleiner Volksauflauf. Belbo fragte, wem der Hund gehöre, er würde den Schaden bezahlen, aber der Hund war offenbar herrenlos. Er mochte vielleicht zehn Prozent der Bevölkerung dieses gottverlassenen Kaffs repräsentieren, aber niemand wusste, wohin er gehörte, obwohl ihn alle vom Sehen kannten. Jemand meinte, man sollte den Maresciallo der Carabinieri holen, der würde das arme Vieh mit einem Schuss von seinen Leiden befreien.
Man suchte noch nach dem Maresciallo, da erschien eine Dame, die sich als tierlieb bezeichnete. Ich habe sechs Katzen, sagte sie. Wie schön, sagte Belbo, aber dies hier ist ein Hund, er liegt im Sterben, und ich hab's eilig. Hund oder Katze, haben Sie doch ein bisschen mehr Herz für die Tiere, schalt ihn die Dame. Nix da mit dem Maresciallo, man müsse jemanden vom Tierschutzverein holen gehen, oder jemanden aus der Klinik im nächsten Städtchen, vielleicht sei das Tier noch zu retten.
Die Sonne brannte auf Belbo, auf Lorenza, auf das Auto, auf den Hund und die Umstehenden herab und wollte gar nicht mehr aufhören, auf sie herabzubrennen, Belbo kam sich vor wie in einem bösen Traum, als wäre er in Unterhosen auf die Straße gelaufen, aber es gelang ihm nicht aufzuwachen, die Dame gab nicht nach, der Maresciallo war unauffindbar, der Hund blutete weiter und japste mit leisem Gefiepse. Er winselt, sagte Belbo, und die Dame, na sicher, na sicher winselt er, er leidet, der arme Hund, hätten Sie denn nicht auch besser aufpassen können? Das Dorf erlebte allmählich einen demografischen Boom, Belbo, Lorenza und der Hund waren das Spektakel dieses tristen Sonntagnachmittags. Ein kleines Mädchen mit einem Eis am Stiel trat vor und fragte, ob sie die Leute vom Fernsehen wären, die den Wettbewerb um die Miss Appennino Ligure organisierten, Belbo fauchte sie an, sie solle sich wegscheren, sonst würde er sie so zurichten wie den Hund, und das Mädchen fing an zu heulen. Da kam der Gemeindearzt und sagte, das Mädchen sei seine Tochter, und Belbo fragte ihn ahnungslos, wer denn er sei. Bei einem raschen Austausch von Entschuldigungen und gegenseitigem Vorstellungen kam dann heraus, dass der Arzt ein Tagebuch eines Landarztes in dem berühmten Mailänder Verlag Manuzio veröffentlicht hatte. Belbo ging in die Falle und sagte, er sei Cheflektor bei Manuzio, woraufhin der Doktor nun unbedingt wollte, dass er und Lorenza zum Essen blieben. Lorenza schäumte und stieß Belbo den Ellbogen in die Rippen, Herrgott, nachher kommen wir noch in die Zeitung, das diabolische Liebespaar, konntest du nicht das Maul halten?!
Die Sonne brannte noch immer heiß, als die Kirchenglocken zur Vesper läuteten (wir sind in Ultima Thule, knurrte Belbo, sechs Monate Sonne, von Mitternacht bis Mitternacht, und meine Zigaretten sind alle), der Hund litt nur noch still vor sich hin, und niemand achtete mehr auf ihn, Lorenza meinte, er hätte einen Asthma-Anfall, und Belbo war jetzt sicher, dass der Kosmos ein Irrtum des Demiurgen sein musste. Schließlich hatte er die Idee, sie beide, er und Lorenza, könnten doch mit dem Wagen rasch ins nächste Städtchen fahren, um Hilfe zu holen. Die tierliebe Dame war einverstanden, jaja, sie sollten losfahren und sich beeilen, zu einem Herrn, der in einem Verlag für Poesie arbeitete, hatte sie Vertrauen, auch sie las so gern die Gedichte von Marino Moretti.
Belbo war losgefahren und hatte zynisch die nächste Ortschaft durchquert, ohne anzuhalten, Lorenza verfluchte alle Tiere, mit denen der Herr die Erde befleckt hätte, vom ersten Schöpfungstag bis zum fünften einschließlich, Belbo war einverstanden, wollte jedoch unbedingt auch das Werk des sechsten Tages kritisieren, und vielleicht auch die Ruhe des siebenten, denn er fand, dies sei der schlimmste Sonntag, den er je erlebt habe.
Sie hatten angefangen, den Apennin zu durchqueren, aber während es auf den Karten problemlos aussah, brauchten sie viele Stunden dafür und mussten auf die Pause in Bobbio verzichten und kamen bei Einbruch der Dunkelheit nach Piacenza. Belbo war müde, er wollte mit Lorenza nun wenigstens schön zu Abend essen und nahm ein Doppelzimmer in dem einzigen noch nicht voll besetzten Hotel, nahe am Bahnhof. Als sie in das Zimmer traten, erklärte Lorenza, an so einem Ort werde sie nicht schlafen. Belbo versprach ihr, gleich etwas anderes zu suchen, sie solle ihm nur die Zeit lassen, an der Bar unten rasch einen Martini zu trinken. An der Bar fand er nur einen italienischen Cognac, und als er wieder ins Zimmer kam, war Lorenza nicht mehr da. Er ging an die Rezeption, um nach ihr zu fragen, und da lag eine Nachricht für ihn: »Liebster, ich habe einen prächtigen Zug nach Mailand gefunden. Ich fahre ab. Wir sehen uns nächste Woche.«
Er war zum Bahnhof gelaufen, aber die Gleise waren schon leer. Wie in einem Western.
Er war dann die Nacht über in Piacenza geblieben. Er hatte einen Kriminalroman gesucht, aber auch der Kiosk am Bahnhof war geschlossen. Im Hotel fand er nur eine Illustrierte des Touring Club Italiano.
Zu seinem Unglück gab es in der Illustrierten eine Fotoreportage über die Apenninenpässe, die er soeben überquert hatte. In seiner Erinnerung — verblasst, als wäre ihm die ganze Geschichte vor langer Zeit passiert — waren sie eine sonnenverbrannte, dürre, staubige Erde, übersät mit Steinsplittern. Auf den Hochglanzseiten der Illustrierten waren sie Traumlandschaften, die man sogar zu Fuß wieder aufsuchen würde, um sie Schritt für Schritt noch einmal zu genießen. Das Samoa von Surabaya-Jim.
Wie kann einer in sein Verderben laufen, bloß weil er einen Hund überfahren hat? Und doch muß es so gewesen sein. In jener Nacht in Piacenza muß Belbo zu dem Schluss gekommen sein, dass er keine weiteren Niederlagen mehr erleiden würde, wenn er sich erneut aus der Realität in den Großen Plan zurückzog, denn im Großen Plan war er es, der entscheiden konnte, wer, wie und wann.
Und es muß in derselben Nacht gewesen sein, dass er beschloss, sich an Agliè zu rächen, auch wenn er nicht genau wusste, warum und wofür. Er nahm sich vor, Agliè in den Großen Plan einzufügen, ohne dass er es merkte. Im übrigen war es ja typisch für Belbo, sich Revanchen zu suchen, deren einziger Zeuge er selber war. Nicht aus Scham, sondern aus Misstrauen in die Zeugenschaft anderer. Wenn es gelang, Agliè in den Großen Plan hineinzulocken, würde er darin vernichtet werden, sich in Rauch auflösen wie der Docht einer Kerze. Irreal werden wie die Templer von Provins, wie die Rosenkreuzer, wie Belbo selbst.
Es kann nicht so schwierig sein, dachte Belbo: wir haben immerhin Bacon und Napoleon auf unser Maß reduziert, warum also nicht auch Agliè? Wir schicken ihn gleichfalls auf die Suche nach der Karte. Von Ardenti und der Erinnerung an ihn habe ich mich befreit, indem ich ihn in eine Fiktion versetzte, die besser als seine war. So mache ich's jetzt auch mit Agliè.
Ich glaube, er glaubte es wirklich, so viel vermag das enttäuschte Verlangen. Dieser sein file endete, wie es nicht anders sein konnte, mit dem Pflichtzitat aller derer, die vom Leben besiegt worden sind: Bin ich ein Gott?
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What is the hidden influence behind the press, behind all the subversive movements going around us? Are there several Powers at work? Or is there one Power, one invisible group directing all the rest — the circle of the real Initiales?
(Was ist der verborgene Einfluß hinter der Presse, hinter all den subversiven Bewegungen, die uns umgeben? Sind da mehrere Mächte am Werk? Oder ist es eine einzige Macht, eine einzige unsichtbare Gruppe, die alle anderen lenkt — der Kreis der Wahren Initiierten?)
Nesta Webster, Secret Societies and Subversive Movements, London, Boswell, 1924, p. 348
Vielleicht hätte er sein Projekt vergessen. Vielleicht hätte es ihm genügt, es niedergeschrieben zu haben. Vielleicht wäre alles noch gut ausgegangen, wenn er Lorenza sofort wiedergesehen hätte. Er wäre erneut von seinem Verlangen gepackt worden, und sein Verlangen hätte ihn gezwungen, sich mit dem Leben auf Kompromisse einzulassen. Statt dessen kam am Montag kein anderer als ausgerechnet Agliè in sein Büro hereinspaziert, lächelnd, nach exotischen Eaux-de-Cologne duftend, um ihm einige Manuskripte zurückzubringen, die abgelehnt werden konnten, und ihm zu sagen, er habe sie während eines herrlichen Wochenendes an der Riviera gelesen. Belbo wurde wieder von seinem Groll gepackt. Und so beschloss er, Agliè zu narren und ihm den Eiffelturm zu verkaufen.
Mit Verschwörermiene gab er ihm zu verstehen, dass ihn seit über zehn Jahren ein Initiationsgeheimnis bedrücke. Ein Manuskript, das ihm von einem gewissen Oberst Ardenti anvertraut worden sei, der von sich sagte, er sei im Besitz des Welteroberungsplans der Templer... Der Oberst sei dann entführt oder getötet worden und seine Papiere seien verschwunden, doch er habe den Verlag Garamond mit einem Ködertext in der Tasche verlassen, einem gewollt fehlerhaften, fantastischen, geradezu kindischen Text, der nur dazu diente, durchblicken zu lassen, dass er, der Oberst, das Auge auf die echte Botschaft von Provins und die wahren Aufzeichnungen von Ingolf geworfen hatte, nach denen seine Mörder immer noch suchten. Ein schmaler Ordner jedoch, der nur zehn kleine Seiten enthalten habe, und auf diesen zehn kleinen Seiten den wahren Text, den, der sich wirklich unter Ingolfs Papieren befunden habe, der sei in Belbos Händen verblieben.
Ach nein, wie kurios, hatte Agliè reagiert, sprechen Sie weiter, so sprechen Sie doch weiter! Und Belbo hatte weitergesprochen. Er hatte den ganzen Großen Plan erzählt, so wie wir ihn ersonnen hatten und so, als ob er in jenem kostbaren Manuskript enthüllt worden wäre. Er hatte sogar gesagt, in immer konspirativerem und vertraulicherem Ton, dass auch ein Polizeikommissar, ein gewisser De Angelis, bis zum Rand der Wahrheit vorgedrungen sei, aber eben nur bis zum Rand und nicht weiter, wegen des wahrhaft hermetischen Schweigens — so müsse man es wirklich nennen —, in das er sich gehüllt habe, er, Jacopo Belbo, der Hüter des größten Geheimnisses der Menschheit. Eines Geheimnisses, das sich am Ende letztlich auf das Geheimnis der richtigen Karte reduziere.
Hier hatte er eine Pause gemacht, eine Pause voller Bedeutsamkeit wie alle großen Pausen. Dass er die letzte Wahrheit nicht preisgab, garantierte die Wahrheit der Prämissen. Nichts ist lärmender — für den, der wirklich an eine geheime Überlieferung glaubt —, als das Schweigen.
»Ach wirklich, wie interessant, wie interessant!« rief Agliè und zog sein Tabakdöschen aus der Westentasche mit einer Miene, als dächte er an etwas anderes. »Und... und die Karte?«
Und Belbo dachte: Ha, alter Voyeur, jetzt erregst du dich, das geschieht dir recht, bei all deinen Saint-Germain-Manieren bist du doch nur ein kleiner Betrüger, der vom Spiel mit den drei gezinkten Karten lebt, und dann kaufst du den Eiffelturm vom erstbesten Betrüger, der noch raffinierter ist als du. Jetzt schicke ich dich auf die Suche nach der Karte, auf diese Weise verschwindest du in den Eingeweiden der Erde, von den Strömungen mitgerissen, und stößt mit dem Kopf an den Südpol irgendeiner keltischen Nadel.
Und mit Verschwörermiene: »Natürlich befand sich in dem Manuskript auch eine Karte, beziehungsweise ihre genaue Beschreibung und der Verweis auf das Original. Es ist schon frappierend, Sie machen sich keine Vorstellung, wie leicht das Problem zu lösen war. Die Karte war für jedermann zugänglich, jeder konnte sie sehen, Tausende sind jeden Tag an ihr vorbeigegangen, jahrhundertelang. Im übrigen ist das Orientierungssystem so einfach, dass es genügt, sich das Schema zu merken, und schon könnte man die Karte stante pede überall reproduzieren. So einfach und so unvorhersehbar... Alles in allem ist es so — ich sage das nur, um Ihnen die Idee zu verdeutlichen —, als wäre die Karte in die Cheopspyramide eingeschrieben, offen aufgeschlagen vor aller Augen, und jahrhundertelang hätten alle die Pyramide gelesen und wiedergelesen und dechiffriert, um andere Hinweise, andere Berechnungen in ihr zu finden, ohne die unglaubliche, die so wunderbar einfache Wahrheit auch nur zu ahnen. Ein Meisterwerk an Unschuld. Und an Raffinesse. Die Templer von Provins waren Magier.«
»Sie machen mich wirklich neugierig. Könnten Sie mir diese Karte nicht einmal zeigen?«
»Ich muß gestehen, ich habe alles zerstört, die zehn Seiten und die Karte. Ich war erschrocken, Sie werden das sicher verstehen, nicht wahr?«
»Sie wollen mir doch nicht sagen, Sie hätten ein derart wichtiges Dokument zerstört... «
»Ich hab's zerstört, aber wie ich schon sagte, die Enthüllung war von absolut unüberbietbarer Einfachheit. Die Karte ist hier drin«, und er schlug sich mit der Hand an die Stirn (und musste innerlich lachen, weil ihm dabei der dumme Witz mit dem Deutschen einfiel, der stolz erzählte, er hätte im Urlaub Italienisch gelernt, jeden Tag ein Wort, und jetzt habe er tutto kvi in mio kulo). »Seit über zehn Jahren trage ich's mit mir herum, dieses Geheimnis, seit über zehn Jahren habe ich diese Karte hier drin«, und er schlug sich erneut an die Stirn, »wie eine Obsession, und ich erschrecke bei dem Gedanken an die ungeheure Macht, die ich erlangen könnte, wenn ich mich nur entschlösse, das Erbe der Sechsunddreißig Unsichtbaren anzutreten. Jetzt verstehen Sie, warum ich Garamond dazu überredet habe, die Reihe Entschleierte Isis und die Geschichte der Magie herauszubringen: ich warte auf den richtigen Kontakt.« Und dann, mitgerissen von der Rolle, in die er sich immer mehr hineinsteigerte, und um Agliè ein letztes Mal auf die Probe zu stellen, wiederholte er fast wörtlich die glühenden Worte, die Arsene Lupin am Ende der Aiguille Creuse vor Beautrelet spricht: »In manchen Augenblicken schwindelt mir ob meiner Macht. Ich bin trunken vor Kraft und Autorität.«
»Aber, lieber Freund«, hatte Aglie gesagt, »und wenn Sie nun den Fantasien eines Exaltierten zu viel Glauben geschenkt hätten? Sind Sie sicher, dass jener Text echt war? Warum vertrauen Sie nicht auf meine Erfahrung in diesen Dingen? Wenn Sie wüssten, wie viele Enthüllungen dieser Art mir in meinem Leben schon vorgekommen sind, Enthüllungen, bei denen ich zumindest das Verdienst hatte, ihre Inkonsistenz bewiesen zu haben. Mir würde ein Blick auf die Karte genügen, um ihre Zuverlässigkeit einzuschätzen. Ich kann mich einiger Kenntnisse rühmen, vielleicht bescheidener, aber präziser Kenntnisse auf dem Gebiet der traditionellen Kartografie.«
»Herr Doktor Aglie«, hatte Belbo gesagt, »Sie wären der erste, der mir in Erinnerung riefe, dass ein aufgedecktes Initiationsgeheimnis zu nichts mehr nütze ist. Ich habe jahrelang geschwiegen, ich kann auch weiter schweigen.«
Und er schwieg. Auch Aglie, ob naiv oder nicht, spielte seine Rolle ernsthaft. Er hatte sich sein Leben lang mit undurchdringlichen Geheimnissen abgegeben und glaubte nun fest, dass Belbos Lippen für immer versiegelt sein würden.
In diesem Moment kam Gudrun herein und meldete Belbo, die Verabredung in Bologna sei für Freitag mittag festgesetzt worden. »Sie können den TEE am Morgen nehmen«, sagte sie.
»Sehr angenehmer Zug, der TEE«, kommentierte Aglie. »Aber es ist immer besser, sich einen Platz reservieren zu lassen, besonders in dieser Jahreszeit.« Belbo meinte, auch wenn man im letzten Augenblick komme, finde man noch einen Platz, notfalls im Speisewagen, wo das Frühstück serviert werde. »Na, dann viel Glück«, sagte Aglie. »Bologna, eine schöne Stadt. Nur so heiß im Juni... «
»Ich bleibe nur zwei, drei Stunden. Ich muß einen epigrafischen Text diskutieren, wir haben Probleme mit den Reproduktionen.« Und dann gezielt: »Es ist noch nicht mein Urlaub. Den Urlaub nehme ich so um die Sommersonnwende herum, kann sein, dass ich mich noch entschließe... Sie haben verstanden. Ich vertraue auf Ihre Verschwiegenheit. Ich habe zu Ihnen als einem Freund gesprochen.«
»Ich kann notfalls noch besser schweigen als Sie«, sagte Aglie. »Jedenfalls danke ich Ihnen aufrichtig für Ihr Vertrauen.« Und war hinausgegangen.
Belbo rieb sich befriedigt die Hände. Totaler Sieg seines astralen Narrationsvermögens über die Schwächen und Schäbigkeiten der niederen Welt.
Am nächsten Tag bekam er einen Anruf von Aglie: »Ich muß mich entschuldigen, mein lieber Freund. Ich stehe vor einem kleinen Problem. Sie wissen, dass ich ein bescheidenes Geschäft mit antiquarischen Büchern betreibe. Heute Abend erhalte ich eine Sendung aus Paris, ein gutes Dutzend Bände aus dem Dixhuitième, von einem gewissen Wert, die ich unbedingt bis morgen einem Partner in Florenz aushändigen muß. Ich sollte sie selber hinbringen, aber ich werde hier durch eine andere Verpflichtung festgehalten. So habe ich an folgende Lösung gedacht: Sie müssen doch ohnehin nach Bologna fahren. Ich warte morgen früh am Zug, zehn Minuten vor der Abfahrt, und übergebe Ihnen ein kleines Köfferchen, Sie legen es in das Gepäcknetz und lassen es in Bologna dort liegen, allenfalls steigen Sie vielleicht als letzter aus, um sicherzugehen, dass es niemand wegnimmt. In Florenz wird mein Geschäftsfreund während des Halts einsteigen und sich das Köfferchen holen. Für Sie ist es eine lästige Mühe, ich weiß, aber wenn Sie mir diesen Dienst erweisen können, werde ich Ihnen auf ewig dankbar sein.«
»Gern«, antwortete Belbo. »Aber wie wird Ihr Freund in Florenz wissen, wo ich den Koffer gelassen habe?«
»Nun, ich bin vorsorglicher als Sie und habe Ihnen einen Platz reservieren lassen, Platz 45 in Wagen 8. Reserviert bis Rom, so dass ihn weder in Bologna noch in Florenz jemand anderes besetzen kann. Sie sehen, im Tausch für die Mühe, die ich Ihnen zumute, biete ich Ihnen die Sicherheit eines Sitzplatzes, ohne dass Sie sich im Speisewagen niederlassen müssen. Ich habe nicht gewagt, Ihnen auch die Fahrkarte zu besorgen, ich möchte nicht dass Sie denken, ich wollte mich auf so plumpe Weise meiner Schulden entledigen.«
Wirklich ein echter Gentleman, hatte Belbo gedacht. Er wird mir einen Kasten erlesenen Weines schicken. Auf sein Wohl zu trinken. Gestern wollte ich ihn noch verschwinden lassen, und heute tue ich ihm sogar einen Gefallen. Aber hätte ich nein sagen können?
Am Mittwoch früh war Belbo rechtzeitig zum Bahnhof gefahren, hatte die Fahrkarte nach Bologna gekauft und hatte Aglie am Zug neben Wagen 8 vorgefunden, mit dem Köfferchen. Es war ziemlich schwer, aber handlich.
Er hatte es ins Gepäcknetz über Platz 45 gelegt und sich mit seinem Stoß Zeitungen niedergelassen. Die Meldung des Tages war das Begräbnis Enrico Berlinguers. Nach kurzer Zeit war ein Herr mit Bart gekommen und hatte sich auf den Platz neben Belbo gesetzt. Belbo kam es so vor, als hätte er ihn schon einmal gesehen (hinterher dachte er, vielleicht auf dem Fest in Piemont, aber er war sich nicht sicher). Bei der Abfahrt war das Abteil voll.
Belbo las Zeitung, aber der Passagier mit Bart versuchte mit allen ins Gespräch zu kommen. Erst machte er Bemerkungen über die Hitze, über die Wirkungslosigkeit der Klimaanlage, über die Tatsache, dass man im Juni nie wisse, wie man sich anziehen solle, ob schon sommerlich oder noch für die Übergangszeit. Dann meinte er, dass die beste Kleidung ein leichter Blazer sei, genau so einer wie der von Belbo, und fragte ihn, ob das ein englischer sei. Ja, hatte Belbo geantwortet, das sei ein englischer, ein Burberry, und hatte weitergelesen. »Das sind die besten«, hatte der Herr gesagt, »aber der hier ist besonders schön, weil er nicht diese goldenen Knöpfe hat, die so furchtbar auffällig sind. Und wenn Sie erlauben, er passt ausgezeichnet zu dieser weinroten Krawatte.« Belbo dankte und schlug seine Zeitung wieder auf. Der Bärtige redete weiter mit den anderen im Abteil über die Schwierigkeit, die Krawatten richtig auf die Jacketts abzustimmen, und Belbo las. Ich weiß schon, dachte er, jetzt betrachten mich alle als einen Rüpel, aber wenn ich mit der Bahn fahre, will ich keine Bekanntschaften machen. Ich hab schon genug davon zu Hause.
Da sagte der Herr mit Bart zu ihm: »Wie viele Zeitungen Sie lesen, und von allen politischen Richtungen! Sie müssen ein Richter sein oder ein Politiker.« Belbo sagte nein, er arbeite in einem Verlag, der Bücher über arabische Metaphysik publiziere. Er sagte das, um den Gegner einzuschüchtern. Der Gegner war sichtlich eingeschüchtert.
Dann kam der Schaffner. Er fragte Belbo, wieso er eine Fahrkarte nach Bologna habe, aber eine Platzkarte bis Rom. Belbo antwortete, er hätte sich's im letzten Moment anders überlegt. »Wie schön«, meinte der bärtige Herr, »wenn man seine Entscheidungen so nach Lust und Laune treffen kann, ohne in die Brieftasche sehen zu müssen. Ich beneide Sie.« Belbo hatte gelächelt und sich zur anderen Seite gedreht. Klar, sagte er sich, jetzt denken alle, ich wäre ein Verschwender oder hätte eine Bank ausgeraubt.
In Bologna war Belbo aufgestanden und wollte gerade aussteigen, da sagte sein Nachbar: »He, Sie haben Ihren Koffer vergessen.«
»Nein, den kommt ein Herr in Florenz abholen«, hatte Belbo gesagt. »Vielleicht können Sie so gut sein und ihn ein bisschen im Auge behalten.«
»Ich pass' schon auf«, hatte der Herr mit Bart gesagt. »Verlassen Sie sich auf mich.«
Gegen Abend war Belbo nach Mailand zurückgekommen, hatte sich zu Hause mit zwei Dosen Corned beef und ein paar Crackers hingesetzt und das Fernsehen angeschaltet. Noch einmal Berlinguer, natürlich. So war die Meldung fast nebenbei am Ende gekommen.
Am späten Vormittag, im TEE auf der Strecke Bologna-Florenz, in Wagen 8, hatte ein Passagier mit Bart einen Verdacht über einen Reisenden geäußert, der in Bologna ausgestiegen war, aber einen Koffer im Gepäcknetz zurückgelassen hatte. Er habe zwar gesagt, jemand würde den Koffer in Florenz abholen, aber ob das nicht die Art und Weise sei, wie die Terroristen vorgingen? Und dann, wieso hatte er den Platz bis Rom reserviert, wo er doch schon in Bologna ausgestiegen war?
Eine drückende Unruhe hatte sich in dem Abteil verbreitet. Schließlich hatte der Passagier mit Bart gesagt, er halte den Druck nicht mehr aus. Lieber einen Irrtum begehen als sterben, und so hatte er den Zugführer alarmiert. Der Zugführer hatte den Zug angehalten und die Bahnpolizei gerufen. Ich weiß nicht genau, wie es dann weiterging, der Zug stand im Gebirge, die Passagiere liefen aufgeregt an den Gleisen entlang, die Experten kamen... Jedenfalls hatten die Experten dann den Koffer geöffnet und hatten darin eine Höllenmaschine gefunden, eine Bombe mit einem Zeitzünder, der auf die Ankunftszeit in Florenz eingestellt war. Stark genug, um einige Dutzend Personen zu töten.
Der Polizei war es nicht gelungen, den Herrn mit Bart zu finden. Vielleicht hatte er den Waggon gewechselt und war in Florenz ausgestiegen, weil er nicht in die Zeitungen kommen wollte. Er wurde gebeten, sich zu melden.
Die anderen Passagiere erinnerten sich mit außergewöhnlicher Klarheit an den Mann, der den Koffer zurückgelassen hatte. Es musste jemand gewesen sein, der auf den ersten Blick Verdacht erregte. Er trug einen dunkelblauen englischen Blazer ohne goldene Knöpfe und eine weinrote Krawatte, er war ein schweigsamer Typ, der um jeden Preis unbemerkt bleiben wollte. Aber ihm war herausgerutscht, dass er für eine Zeitung, einen Verlag oder so etwas arbeite, etwas im Zusammenhang mit (und hier gingen die Zeugenaussagen auseinander) Physik, Metan oder Metempsychose. Auf jeden Fall aber hatte es mit den Arabern zu tun.
Alle Polizei- und Carabinieristationen im ganzen Land waren alarmiert. Schon kamen die ersten Hinweise aus der Bevölkerung, zur geflissentlichen Prüfung durch die Fahnder. In Bologna waren zwei libysche Bürger verhaftet worden. Der Polizeizeichner hatte ein Fahndungsbild gezeichnet, das nun auf dem Bildschirm erschien. Die Zeichnung ähnelte Belbo nicht, aber Belbo ähnelte der Zeichnung.
Es gab keine Zweifel mehr, der Mann mit dem Köfferchen war er. Aber das Köfferchen enthielt die Bücher von Aglie. Belbo rief Aglie an, aber niemand nahm ab.
Es war bereits spät am Abend, er wagte nicht auszugehen. Also nahm er eine Tablette und legte sich schlafen. Am nächsten Morgen versuchte er von neuem, Aglie am Telefon zu erreichen. Schweigen. Er lief hinunter, um sich Zeitungen zu holen. Zum Glück war die erste Seite noch ganz voll von dem Berlinguerbegräbnis, und die Meldung über die Bombe im Zug mit dem Fahndungsbild kam erst weiter innen. Belbo eilte mit hochgeschlagenem Kragen in seine Wohnung zurück Dann merkte er, dass er noch immer das blaue Jackett trug. Zum Glück ohne die weinrote Krawatte.
Während er die Tatsachen noch einmal zu rekonstruieren versuchte, bekam er einen Anruf. Eine unbekannte, ausländische Stimme mit einem leicht balkanischen Akzent. Honigsüß, wie von jemandem, der ganz ohne eigene Interessen spricht, aus reiner Gefälligkeit. Armer Signor Belbo, sagte die Stimme, Sie sind da in eine recht unangenehme Geschichte hineingeraten. Man soll eben nie den Kurier für andere spielen, ohne sich den Inhalt des fraglichen Gepäckstücks genau anzusehen. Es wäre doch eine schöne Bescherung, wenn jemand der Polizei stecken würde, dass Signor Belbo der Unbekannte von Platz Nummer 45 war.
Gewiss, dieser äußerste Schritt ließe sich vermeiden, wenn Signor Belbo sich entschließen würde zu kollaborieren. Zum Beispiel, wenn er sagen würde, wo sich die Karte der Templer befinde. Und da Mailand ein heißes Pflaster geworden sei, denn alle wüssten ja, dass der TEE-Attentäter aus Mailand gekommen war, sei es klüger, die ganze Sache auf neutrales Terrain zu verlagern, sagen wir nach Paris. Warum verabreden wir nicht ein Rendezvous in der Librairie Sloane, Rue de la Manticore 3, heute in einer Woche? Aber vielleicht würde Belbo besser daran tun, sofort abzureisen, bevor ihn jemand identifizierte. Librairie Sloane, Rue de la Manticore Nummer 3. Um zwölf Uhr mittags am 20. Juni würde er dort ein bekanntes Gesicht vorfinden, den Herrn mit Bart, mit dem er so liebenswürdig im Zug geplaudert hätte. Der würde ihm sagen, wo andere Freunde zu finden seien, und dann würde er, Belbo, endlich in aller Ruhe und in guter Gesellschaft erzählen können, was er wisse, und alles würde sich ohne Traumata lösen. Rue de la Manticore Nummer 3, leicht zu merken.
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Saint-Germain... sehr kultiviert und geistreich... sagte, er besitze jede Art von Geheimnis... Häufig bediente er sich bei seinen Auftritten jenes berühmten magischen Spiegels, der seinen Ruf mitbegründet hatte... Da er durch katoptrische Effekte die gewünschten und fast immer wiedererkannten Schatten heraufbeschwor, war sein Kontakt mit der anderen Welt für viele eine bewiesene Sache.
Le Coulteux de Canteleu, Les sectes et les sociétés secrètes, Paris, Didier, 1863, p. 170-171
Belbo kam sich verloren vor. Alles war klar. Agliè hielt seine Geschichte für wahr und wollte die Karte, er hatte ihn in eine Falle gelockt und hatte ihn nun in der Hand. Entweder Belbo fuhr nach Paris, um zu enthüllen, was er nicht wusste (aber dass er's nicht wusste, wusste nur er, ich war verreist, ohne eine Adresse hinterlassen zu haben, und Diotallevi lag im Sterben), oder er hatte die ganze italienische Polizei auf dem Hals.
Aber war's möglich, dass Agliè sich auf ein so schmutziges Spiel einließ? Was bildete der sich ein? Man musste den alten Narren am Kragen packen und ins Präsidium schleifen, nur so gab es ein Entkommen aus dieser Geschichte.
Belbo nahm ein Taxi und fuhr zu Agliès Villa. Geschlossene Fensterläden, an der Tür das Pappschild einer Immobilienagentur: ZU VERMIETEN. Ja, sind wir denn alle verrückt geworden, Agliè hat doch hier noch vorige Woche gewohnt, ich hatte ihn angerufen! Belbo klingelte an der Tür des Nachbarhauses. »Der Herr dort? Der ist gerade gestern ausgezogen. Nein, ich weiß nicht wohin, ich kannte ihn nur vom Sehen, er lebte immer so zurückgezogen, und ich glaube, er war andauernd auf Reisen.«
Blieb nur noch die Immobilienagentur. Aber dort hatte man noch nie von einem Agliè gehört. Die Villa war seinerzeit von einer französischen Firma gemietet worden. Die Miete war regelmäßig gekommen. Der Vertrag war ab sofort gekündigt worden, unter Verzicht auf Rückzahlung der Kaution. Alle Kontakte waren brieflich gewesen, mit einem gewissen Monsieur Ragotgky. Mehr wisse man nicht.
Unmöglich! Rakosky oder Ragotgky oder wie auch immer, der mysteriöse Besucher des Oberst Ardenti, nach dem der scharfsinnige Kommissar De Angelis und Interpol suchten, der lief frei herum und mietete Immobilien! In unserer Geschichte war Ardentis Rakosky eine Reinkarnation des Ochrana-Ratschkowski gewesen, und dieser eine des unvermeidlichen Saint-Germain. Aber was hatte er mit Agliè zu tun?
Belbo war ins Büro gegangen, die Treppe hinaufschleichend wie ein Dieb, und hatte sich eingeschlossen. Er wollte seine Gedanken ordnen.
Es gab in der Tat Gründe, den Kopf zu verlieren, und Belbo hatte ihn wohl schon verloren. Und er hatte niemanden, dem er sich anvertrauen konnte. Während er sich den Schweiß von der Stirn wischte, blätterte er mechanisch in den Manuskripten auf dem Schreibtisch, die am Vortag eingetroffen waren, ohne zu wissen, was er da suchte, und plötzlich fiel sein Blick auf den Namen Agliè.
Er starrte auf den Titel des Manuskripts. Das Werk eines x-beliebigen Diabolikers, Die Wahrheit über den Grafen von Saint-Germain. Er las die betreffende Seite noch einmal. Da stand geschrieben, unter Berufung auf die Biografie von Chacornac, dass Claude-Louis de Saint-Germain sich abwechselnd als Monsieur de Surmont, Graf Soltikoff, Mister Welldone, Marquis de Belmar, Fürst Rackoczi oder Ragozki und so weiter ausgegeben habe, aber die Familiennamen seien Graf von Saint-Martin und Marquis von Agliè gewesen, nach einem Besitz seiner Vorfahren in Piemont.
Na großartig, nun konnte Belbo beruhigt sein. Nicht nur wurde er überall wegen Terrorismus gesucht, nicht nur war der Große Plan wahr, nicht nur war Agliè auf einmal verschwunden, sondern zu allem Überfluss war nun Agliè auch kein Mythomane mehr, sondern der echte unsterbliche Graf von Saint-Germain, was er ja nie verheimlicht hatte. Das einzig Wahre in diesem ganzen Strudel von Falschheiten, die sich alle auf einmal als wahr herausstellten, war sein Name gewesen. Oder nein, auch sein Name war falsch gewesen, Agliè war nicht Agliè, aber es war nun egal, wer er wirklich war, denn faktisch benahm er sich, und das seit Jahren, wie die Figur in einer Geschichte, die wir erst später erfinden sollten...
In jedem Fall blieb nun Belbo keine Alternative mehr. Da Agliè verschwunden war, konnte er der Polizei nicht mehr den Mann vorführen, der ihm den Koffer gegeben hatte. Und selbst wenn die Polizei ihm glaubte, würde herauskommen, dass er den Koffer von einem bekommen hatte, der wegen Mordverdacht gesucht wurde und den er seit mindestens zwei Jahren als Berater benutzte. Schönes Alibi.
Aber um diese ganze Geschichte überhaupt fassen zu können, die schon für sich allein fantastisch genug war, und um die Polizei dazu zu bringen, sie ernst zu nehmen, musste man noch etwas anderes voraussetzen, etwas, das die Fiktion überstieg. Nämlich dass der Plan, den wir erfunden hatten, Punkt für Punkt, einschließlich der hektischen Suche nach der Karte am Ende, einem wirklichen Plan entsprach, einem Großen Plan, in dem Agliè, Rakosky, Ratschkowski, Ragotgky, der Herr mit Bart, die Gruppe Tres und all die andern bis hin zu den Templern von Provins real existierten. Und dass der Oberst richtig gesehen hatte. Aber dass er sich, obwohl er richtig sah, geirrt hatte, denn schließlich war unser Plan ja verschieden von seinem gewesen, und wenn seiner richtig war, konnte unserer nicht richtig gewesen sein, und umgekehrt, und infolgedessen, wenn wir recht hatten, wieso musste dann Rakosky vor zehn Jahren dem Oberst ein falsches Dokument rauben?
Beim bloßen Lesen dessen, was Belbo dem Computer anvertraut hatte, war ich vorgestern morgen versucht gewesen, den Kopf gegen die Wand zu hauen. Um mich zu vergewissern, dass die Wand wirklich da war, wenigstens die Wand. Ich stellte mir vor, wie Belbo zumute gewesen sein musste, an jenem Tag und an den folgenden. Aber es war noch nicht zu Ende.
Auf der Suche nach jemandem, den er fragen konnte, hatte er Lorenza angerufen. Und auch sie war nicht da gewesen. Er war bereit zu wetten, dass er sie nie wiedersehen würde. In gewisser Weise war Lorenza eine Erfindung von Agliè, Agliè war eine Erfindung von Belbo, und Belbo wusste nicht mehr, von wem er selbst erfunden worden war. Er hatte die Zeitung wieder zur Hand genommen. Das einzig Sichere war, dass er, Belbo, der Mann auf dem Fahndungsbild war. Und wie zur Bestätigung bekam er genau in dem Moment, in seinem Büro, einen neuen Anruf. Derselbe balkanesische Akzent, dieselben Empfehlungen. Rendezvous in Paris.
»Aber wer sind Sie?« hatte Belbo gerufen.
»Wir sind die Tres«, hatte die Stimme geantwortet. »Und über die Tres wissen Sie mehr als wir.«
Da hatte er sich entschieden. Er hatte das Telefon genommen und De Angelis angerufen. Im Präsidium hatten sie ihm zuerst Schwierigkeiten gemacht, es schien, als ob der Kommissar nicht mehr dort arbeitete. Schließlich hatten sie seinem Drängen nachgegeben und ihn weiterverbunden.
»Hallo, wen höre ich denn da, den Doktor Belbo«, hatte De Angelis in einem Ton gesagt, der Belbo sarkastisch vorgekommen war. »Ein Zufall, dass Sie mich hier noch vorfinden. Ich packe gerade die Koffer.«
»Die Koffer?« Belbo fürchtete eine Anspielung.
»Ich bin nach Sardinien versetzt worden. Scheint, dass die Arbeit dort ruhiger ist.«
»Doktor De Angelis, ich muß Sie dringend sprechen. Wegen dieser Geschichte... «
»Geschichte? Welcher?«
»Der mit dem Oberst damals. Und dieser anderen... Sie haben einmal Casaubon gefragt, ob er von einer Gruppe Tres gehört hätte. Ich habe davon gehört. Ich habe Ihnen etwas Wichtiges zu sagen.«
»Sagen Sie's nicht mir. Das ist nicht mehr meine Sache. Außerdem, meinen Sie nicht, es ist ein bisschen spät?«
»Zugegeben, ich habe Ihnen etwas verschwiegen, damals. Aber jetzt will ich reden.«
»Nein, Doktor Belbo, sagen Sie nichts. Zunächst einmal seien Sie sich darüber im klaren, dass sicher jemand dieses Gespräch abhört, und ich will, dass er weiß, dass ich von diesen Dingen nichts hören will und nichts weiß. Ich habe zwei Kinder. Kleine. Und jemand hat mir zu verstehen gegeben, dass ihnen etwas passieren könnte. Und um mir zu zeigen, dass es kein Scherz war, ist gestern, als meine Frau den Wagen anließ, die Motorhaube in die Luft geflogen. Bloß ein ganz kleines Bömbchen, kaum mehr als ein Knallfrosch, aber genug, um mir klarzumachen, dass sie mehr können, wenn sie wollen. Ich bin zum Chef gegangen und hab ihm gesagt, Chef, ich habe stets meine Pflicht getan und mehr als das, aber ich bin kein Held. Ich würde auch mein Leben hingeben, aber nicht das meiner Frau und meiner Kinder. Ich habe um Versetzung gebeten. Dann bin ich hingegangen und habe allen gesagt, dass ich ein Feigling bin und mich aus dem Staub machen werde. Und das sage ich jetzt auch Ihnen und denen, die uns zuhören. Ich habe mir die Karriere versaut, ich habe die Achtung vor mir selbst verloren, mir wird bewusst, dass ich gelinde gesagt ein Mann ohne Ehre bin, aber ich rette meine Lieben. Sardinien ist sehr schön, wie ich höre, ich werde nicht mal sparen müssen, um meine Kinder im Sommer ans Meer zu schicken. Arrivederci.«
»Warten Sie, die Sache ist ernst, ich bin in Schwierigkeiten...«
»Sie sind in Schwierigkeiten? Na sehen Sie mal an! Als ich Sie damals um Hilfe bat, haben Sie mir nicht geholfen, Sie nicht und nicht Ihr Freund Casaubon. Und jetzt, wo Sie Schwierigkeiten haben, bitten Sie mich um Hilfe. Ich bin auch in Schwierigkeiten. Sie sind zu spät gekommen. Die Polizei dient dem Bürger, wie es in den Filmen heißt, ist es das, woran Sie denken? Gut, dann wenden Sie sich an die Polizei, an meinen Nachfolger.«
Belbo legte auf. Alles perfekt, sie hatten ihn sogar daran gehindert, sich an den einzigen Polizisten zu wenden, der ihm hätte glauben können.
Dann dachte er, dass vielleicht Signor Garamond mit all seinen vielen Bekannten, seinen Beziehungen zu Präfekten, zu Polizeipräsidenten, hohen Regierungsbeamten et cetera etwas für ihn tun könnte, und war zu ihm gegangen.
Garamond hatte sich seine Geschichte liebenswürdig angehört, hatte ihn hin und wieder mit höflichen Ausrufen unterbrochen wie »Nein, was Sie nicht sagen!«, »Also was man so alles zu hören kriegt!«, »Das klingt ja wie ein Roman, ich sage noch mehr, eine Erfindung!« Dann hatte er die Hände gefaltet, hatte Belbo mit unendlicher Sympathie angesehen und gesagt: »Mein Junge, erlauben Sie mir diese Anrede, denn ich könnte Ihr Vater sein — ach Gott, Ihr Vater vielleicht nicht, denn ich bin noch ein junger Mann, ich sage noch mehr, ein jüngerer, aber doch so etwas wie ein älterer Bruder, wenn Sie gestatten. Ich spreche zu Ihnen von Herzen, wir kennen uns seit vielen Jahren. Mein Eindruck ist, dass Sie übermäßig erregt sind, überdreht, am Ende mit Ihren Kräften, entnervt, ich sage noch mehr, erschöpft. Glauben Sie nicht, ich hätte dafür kein Verständnis, ich weiß, dass Sie sich mit Leib und Seele für den Verlag aufopfern, und eines Tages wird man dem auch in sozusagen materieller Hinsicht Rechnung tragen müssen, denn auch das kann nichts schaden. Aber wenn ich Sie wäre, würde ich einmal Urlaub machen. Sie sagen, dass Sie sich in einer peinlichen Situation befinden. Offen gesagt, ich würde nicht dramatisieren, auch wenn es, gestatten Sie mir das zu sagen, für den Verlag Garamond unangenehm wäre, wenn einer seiner Angestellten, der beste, in eine trübe Geschichte verwickelt wäre. Sie sagen, dass jemand Sie in Paris haben will. Nun, ich will gar nicht in die Einzelheiten gehen, ich glaube Ihnen ganz einfach. Na und? Warum fahren Sie nicht einfach hin, ist es nicht besser, die Dinge sofort klarzustellen? Sie sagen, dass Sie mit einem Gentleman wie Doktor Agliè in — wie sagt man — Konflikt geraten sind. Ich will gar nicht wissen, was genau zwischen Ihnen beiden passiert ist, und ich würde nicht allzu viel nachgrübeln über diese zufällige Namensgleichheit, von der Sie mir gesprochen haben. Wie viele Leute auf dieser Welt mögen wohl Germain heißen oder so ähnlich, meinen Sie nicht? Wenn Agliè Ihnen sagen lässt, fahren Sie nach Paris, damit alles geklärt werden kann, nun, so fahren Sie doch nach Paris, es wird nicht der Weltuntergang sein. In den zwischenmenschlichen Beziehungen bedarf es der Klarheit. Fahren Sie nach Paris, und wenn Ihnen etwas auf dem Magen liegt, haben Sie keine Hemmungen, sagen Sie's. Was man im Herzen hat, soll man auch im Munde haben. Was sind denn das schon groß für Geheimnisse! Doktor Agliè grämt sich, wenn ich recht verstanden habe, weil Sie ihm nicht sagen wollen, wo sich eine bestimmte Landkarte befindet, ein Stück Papier, eine Botschaft, was weiß ich, etwas, das Sie haben und das Ihnen nichts nützt, während Agliè es womöglich zu Studienzwecken braucht. Wir alle stehen doch im Dienst der Kultur, oder täusche ich mich? Also geben Sie ihm diese Landkarte, diese Weltkarte, diese topografische Skizze, ich will gar nicht wissen, was es ist. Wenn ihm so viel daran liegt, wird er schon einen Grund dafür haben, sicher einen respektablen, ein Gentleman ist ein Gentleman. Fahren Sie nach Paris, ein kräftiger Händedruck, und alles ist gut. D'accord? Und quälen Sie sich nicht mehr als nötig. Sie wissen, ich bin immer hier.« Er betätigte die Sprechanlage: »Signora Grazia... Da sehen Sie, wieder nicht da, nie ist sie da, wenn man sie braucht! Mein lieber Belbo, Sie haben Ihren Ärger, aber wenn Sie wüssten, wie viel Ärger ich habe! Arrivederci, wenn Sie die Signora Grazia draußen sehen, schicken Sie sie zu mir rein. Und ruhen Sie sich ein bisschen aus, das rate ich Ihnen.«
Belbo war hinausgegangen. Signora Grazia war nicht im Sekretariat, und er sah das rote Licht der Privatleitung von Signor Garamond aufleuchten, ein Zeichen, dass dieser gerade jemanden anrief. Belbo konnte der Versuchung nicht widerstehen (ich glaube, es war das erste Mal in seinem Leben, dass er eine solche Indiskretion beging). Er nahm den Hörer ab und horchte. Garamond sagte gerade: »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich glaube, ich habe ihn überzeugt. Er wird nach Paris kommen... War doch meine Pflicht. Wir gehören doch nicht umsonst zur selben spirituellen Ritterschaft.«
Also gehörte auch Garamond zu dem Geheimnis. Zu welchem Geheimnis? Zu dem, das jetzt nur er, Belbo, enthüllen konnte. Und das nicht existierte.
Es war Abend geworden. Er war zu Pilade gegangen, hatte ein paar Worte mit wer weiß wem gewechselt und hatte zu viel getrunken. Dann, am nächsten Morgen, ging er zu dem einzigen Freund, der ihm noch geblieben war. Er ging zu Diotallevi. Er ging sich Hilfe holen von einem Mann, der im Sterben lag.
Und von diesem ihrem letzten Gespräch hat er in Abulafia einen fieberhaften Bericht hinterlassen, bei dem ich nicht sagen kann, was daran von Diotallevi und was von Belbo war, denn in beiden Fällen war es wie das Murmeln dessen, der die Wahrheit sagt, weil er weiß, dass es nicht mehr der Augenblick ist, sich etwas vorzumachen.
110
Und so geschah es Rabbi Ismael ben Elischa mit seinen Schülern, die das Buch Jezirah studierten. Sie machten falsche Bewegungen und gingen rückwärts, bis sie selbst in der Erde versanken bis zum Nabel wegen der Kraft der Lettern.
Pseudo-Saadja, Kommentar zum Sefer Jezirah
Er war ihm noch nie so albinohaft erschienen, obwohl er fast keine Haare mehr hatte, auch weder Augenbrauen noch Wimpern. Sein Kopf sah aus wie eine Billardkugel.
»Entschuldige«, hatte Belbo gesagt, »darf ich dir mit meinen Nöten kommen?«
»Komm nur. Ich hab keine Nöte mehr. Nur noch Notwendigkeiten. Unabwendbare.«
»Ich habe gehört, es gibt da jetzt eine neue Therapie. Diese Sachen fressen dich auf, wenn du zwanzig bist, aber mit fünfzig gehen sie langsam voran, und man hat Zeit, eine Lösung zu finden.«
»Das gilt für dich. Ich bin noch nicht fünfzig. Mein Körper ist noch jung. Ich habe das Privileg, schneller als du zu sterben. Aber du siehst, es fällt mir schwer zu sprechen. Erzähl mir deine Geschichte, so kann ich mich ausruhen.«
Gehorsam und respektvoll erzählte ihm Belbo seine ganze Geschichte.
Und dann sprach Diotallevi, schwer atmend wie das Fremde Wesen in den Science-Fiction-Filmen. Und wie das Fremde Wesen sah er inzwischen auch aus: durchsichtig, ohne erkennbare Grenzen zwischen innen und außen, zwischen Haut und Fleisch, zwischen dem leichten blonden Flaum, der noch durch den offenen Pyjama auf seinem Bauch zu sehen war, und jenem schwammigen Innereiengewölle, das nur Röntgenstrahlen oder eine fortgeschrittene Krankheit erkennbar machen können.
»Jacopo, ich liege hier in einem Bett, ich kann nicht sehen, was draußen geschieht. Soweit ich weiß, geschieht das, was du mir erzählst, entweder nur in deinem Innern, oder es geschieht draußen. In jedem Fall, ob jetzt du verrückt geworden bist oder die Welt, ist es dasselbe. In beiden Fällen hat jemand die Worte des Buches mehr durchgeschüttelt, verrührt und übereinandergehäuft, als er durfte.«
»Was willst du damit sagen?«
»Wir haben uns am Wort versündigt, an dem Wort, das die Welt geschaffen hat und sie zusammenhält. Du wirst jetzt dafür bestraft, so wie auch ich bestraft worden bin. Es ist kein Unterschied zwischen dir und mir.«
Eine Schwester kam herein, gab ihm etwas zum Benetzen der Lippen und sagte zu Belbo, er dürfe ihn nicht ermüden, aber Diotallevi protestierte: »Lassen Sie mich. Ich muß ihm die Wahrheit sagen. Kennen Sie die Wahrheit?«
»Oh, ich, was fragen Sie mich da... «
»Also dann gehen Sie weg. Ich muß meinem Freund hier etwas Wichtiges sagen. Hör zu, Jacopo. So wie es im Körper des Menschen Glieder und Gelenke und Organe gibt, so gibt es auch welche in der Torah, verstehst du? Und so wie es in der Torah Glieder und Gelenke und Organe gibt, so gibt es auch welche im Körper des Menschen, klar?«
»Klar.«
»Und Rabbi Meir, als er von Rabbi Akiba lernte, mischte Vitriol in die Tinte, und der Meister sagte nichts. Aber als Rabbi Meir den Rabbi Ismael fragte, ob er es richtig mache, sagte dieser: Mein Sohn, sei vorsichtig bei deiner Arbeit, denn es ist eine göttliche Arbeit, und wenn du nur einen einzigen Buchstaben auslässt oder einen zu viel schreibst, zerstörst du die ganze Welt... Wir haben versucht, die Torah umzuschreiben, aber wir haben uns nicht um die zu vielen oder zu wenigen Buchstaben gekümmert...
»Wir haben gescherzt... «
»Man scherzt nicht mit der Torah.«
»Aber wir haben mit der Geschichte gescherzt, mit den Schriften der anderen... «
»Gibt es eine Schrift, die die Welt begründet und die nicht das Buch ist? Gib mir ein bisschen Wasser, nein, nicht im Glas, mach diesen Lappen hier nass. Danke. Jetzt hör zu. Die Lettern des Buches verrühren heißt die Welt verrühren. Da hilft nichts, das gilt für jedes Buch, für die Bibel wie für die Fibel. Diese Typen wie dein Doktor Wagner, sagen die nicht, wer mit Worten spielt und Anagramme macht und das Lexikon auf den Kopf stellt, hat Hässliches in seiner Seele und hasst seinen Vater?«
»Nein, das ist anders. Diese Typen sind Psychoanalytiker, die sagen das, um Geld zu verdienen, das sind nicht deine Rabbiner.«
»Rabbiner, Rabbiner sind alle. Alle sprechen von derselben Sache. Glaubst du, dass die Rabbiner, die von der Torah sprachen, von einer Rolle sprachen? Sie sprachen von uns, von all den Leuten, die versuchen, ihren Leib durch die Sprache neu zu machen. Jetzt höre. Um mit den Lettern des Buches umzugehen, braucht man viel Demut, und wir haben keine gehabt. Jedes Buch ist verwoben mit dem Namen Gottes, und wir haben alle Bücher der Geschichte anagrammatisiert, ohne zu beten. Sei still, hör zu. Wer sich mit der Torah beschäftigt, hält die Welt in Bewegung und hält auch seinen Körper in Bewegung, während er liest oder schreibt, denn es gibt keinen Körperteil, der nicht ein Äquivalent in der Welt hätte... Mach den Lappen noch mal nass, danke. Wenn du das Buch veränderst, änderst du die Welt, und wenn du die Welt veränderst, änderst du den Körper. Das ist es, was wir nicht begriffen haben. Die Torah lässt ein Wort aus ihrem Schrein herauskommen, sie erscheint für einen Augenblick und verbirgt sich gleich wieder. Und sie offenbart sich für einen Augenblick nur dem, der sie liebt. Sie ist wie eine wunderschöne Frau, die sich in ihrem Palast in einem kleinen entlegenen Zimmer verbirgt. Sie hat nur einen einzigen Liebhaber, von dessen Existenz niemand weiß. Und wenn ein anderer sie berühren und seine schmutzigen Hände auf sie legen will, rebelliert sie. Sie erkennt ihren Liebhaber, sie öffnet einen kleinen Spalt und zeigt sich für einen Moment. Und verbirgt sich weder. Das Wort der Torah enthüllt sich nur dem, der es liebt. Und wir haben versucht, von Büchern ohne Liebe und nur aus Spottlust zu sprechen... «
Belbo benetzte ihm ein weiteres Mal die Lippen mit dem Tuch. »Und dann?«
»Und dann haben wir tun wollen, was uns nicht erlaubt war und wofür wir nicht vorbereitet waren. Indem wir die Worte des Buches manipulierten, wollten wir den Golem erschaffen.«
»Ich verstehe nicht... «
»Du kannst nicht mehr verstehen. Du bist der Gefangene deiner eigenen Kreatur. Aber deine Geschichte spielt sich noch in der Außenwelt ab. Ich weiß nicht wie, aber du kannst ihr noch entrinnen. Für mich ist es etwas anderes, ich erlebe jetzt in meinem Körper, was wir als Spiel im Großen Plan gemacht haben.«
»Red keinen Unsinn, das ist eine Sache der Zellen...«
»Und was sind die Zellen? Monatelang haben wir wie fromme Rabbiner mit unseren Lippen eine andere Kombination der Lettern des Buches ausgesprochen. GCC, CGC, GCG, CGG. Was unsere Lippen sagten, das haben unsere Zellen gelernt. Was haben meine Zellen gemacht? Sie haben einen abweichenden Plan erfunden, und jetzt gehen sie ihre eigenen Wege. Meine Zellen erfinden eine Geschichte, die nicht die allgemeine ist. Meine Zellen haben inzwischen gelernt, dass man lästern kann, indem man das Heilige Buch anagrammatisiert, das Heilige und alle anderen Bücher der Welt. Und genauso machen sie es nun mit meinem Körper. Sie invertieren, transponieren, alternieren, permutieren, sie kreieren neue, nie gesehene und sinnlose Zellen oder solche, deren Sinn dem richtigen Sinn zuwiderläuft. Es muß einen richtigen Sinn geben, der sich von den falschen unterscheidet, sonst stirbt man. Aber sie spielen, ungläubig, blindlings. Jacopo, solange ich noch lesen konnte in diesen Monaten, habe ich viele Wörterbücher gelesen. Ich habe Wortgeschichten studiert, um zu begreifen, was mit meinem Körper passierte. Wir Rabbiner machen das so. Hast du jemals darüber nachgedacht, dass der linguistische Terminus ›Metathese‹ dem onkologischen Terminus ›Metastase‹ ähnelt? Was ist eine Metathese? Statt Wespe sagst du Wepse, und statt Herakles kannst du auch Herkules sagen. Das ist die Temurah. Das Wörterbuch sagt dir, dass Metathese Umstellung heißt, Mutation. Und Metastase heißt Umstellung, Veränderung. Wie dumm, die Wörterbücher. Die Wurzel ist dieselbe, entweder das Verb metatithemi oder das Verb methistemi. Aber metatithemi heißt: ich setze um, ich verrücke, verschiebe, substituiere, schaffe ein Gesetz ab, ändere den Sinn. Und methistemi? Genau dasselbe, ich verlagere, permutiere, transponiere, ändere die öffentliche Meinung, schnappe über und werde verrückt. Wir, und mit uns jeder, der einen verborgenen Sinn hinter den Buchstaben sucht, wir sind übergeschnappt und verrückt geworden. Und so haben es auch meine Zellen getan, gehorsam. Deswegen sterbe ich, Jacopo, und du weißt es.«
»Du redest jetzt so, weil's dir schlecht geht... «
»Ich rede jetzt so, weil ich endlich alles über meinen Körper begriffen habe. Ich studiere ihn Tag für Tag, ich weiß, was in ihm vorgeht, ich kann nur nicht eingreifen, meine Zellen gehorchen mir nicht mehr. Ich sterbe, weil ich meine Zellen davon überzeugt habe, dass es keine Regel gibt, dass man aus jedem Text machen kann, was man will. Ich habe mein Leben dafür gegeben, mich davon zu überzeugen, mich samt meinem Gehirn. Und mein Gehirn muß die Botschaft an sie weitergegeben haben, an die Zellen. Wieso soll ich mir einreden, meine Zellen seien klüger als mein Gehirn? Ich sterbe, weil wir über jede Grenze hinaus fantasievoll gewesen sind.«
»Hör zu, was mit dir geschieht, hat nichts mit unserem Großen Plan zu tun... «
»Nein? Und wieso geschieht dann mit dir, was mit dir geschieht? Die Welt benimmt sich wie meine Zellen.«
Er verstummte erschöpft. Der Doktor kam herein und zischte leise, man dürfe einen Sterbenden nicht so unter Stress setzen.
Belbo ging hinaus, und es war das letzte Mal gewesen, dass er Diotallevi gesehen hatte.
Sehr gut, hatte er geschrieben, ich werde also aus denselben Gründen von der Polizei gesucht, aus denen Diotallevi jetzt Krebs hat. Armer Freund, du stirbst, aber ich, der ich keinen Krebs habe, was tue ich? Ich fahre nach Paris, um den Grund der Wucherung zu suchen.
Er ergab sich nicht gleich. Er schloss sich vier Tage lang in seiner Wohnung ein und ordnete seine files um und um, Satz für Satz, um eine Erklärung zu finden. Dann schrieb er seinen Bericht, schrieb ihn wie ein Testament, schrieb ihn für sich, für Abulafia, für mich oder für wen immer, der ihn irgendwann würde lesen können. Und am Dienstag ist er dann schließlich gefahren.
Ich glaube, Belbo ist nach Paris gefahren, um denen zu sagen, dass es keine Geheimnisse gibt, dass das wahre Geheimnis darin besteht, die Zellen ihrer instinktiven Weisheit folgen zu lassen, und dass man, wenn man Geheimnisse unter der Oberfläche sucht, die Welt zu einem schmutzigen Krebsgeschwür reduziert. Und dass der Schmutzigste und der Dümmste von allen er selber war, der nichts wusste und sich alles bloß ausgedacht hatte — und es muß ihn viel gekostet haben, das zu sagen, aber er hatte sich schon zu lange mit dem Gedanken abgefunden, dass er ein Feigling war, und wie De Angelis ihm ja gerade erst wieder bewiesen hatte, gibt es nur sehr wenige Helden.
In Paris muß er dann gleich beim ersten Kontakt mit denen gemerkt haben, dass sie seinen Worten nicht glaubten. Seine Worte waren zu einfach. Diese Leute erwarteten nun eine Enthüllung, andernfalls würden sie ihn töten. Aber Belbo hatte keine Enthüllung zu machen, er hatte nur — letzte seiner Feigheiten — Angst zu sterben. Und da hatte er versucht, seine Spur zu verwischen, und hatte mich angerufen. Aber sie hatten ihn geschnappt.
111
C’est une leçon par la suite. Quand votre ennemi se reproduira, car il n’est pas à son dernier masque, congédiez-le brusquement, et surtout n’allez pas le chercher dans les grottes.
(Das ist eine Lehre für später. Wenn euer Feind wieder auftaucht, denn er ist noch nicht bei seiner letzten Maske, weist ihn schroff ab, und geht ihn vor allem nicht in den Höhlen suchen.)
Jacques Cazotte, Le diable amoureux,> 1772, in den folgenden Ausgaben gestrichen
Und was, fragte ich mich in Belbos Wohnung, als ich seine Bekenntnisse zu Ende gelesen hatte, was muß ich jetzt tun? Zu Garamond gehen hat keinen Sinn, De Angelis ist abgereist, Diotallevi hat alles gesagt, was er zu sagen hatte. Lia ist weit, an einem Ort ohne Telefon. Es ist sechs Uhr morgens, Samstag, der 23. Juni, und wenn etwas geschehen muß, wird es heute Nacht geschehen, im Conservatoire.
Ich musste eine rasche Entscheidung treffen. Warum, fragte ich mich vorgestern Abend im Periskop, warum hast du nicht einfach so getan, als wenn nichts wäre? Du hattest den Text eines Verrückten vor dir, der über seine Gespräche mit anderen Verrückten berichtete und über sein letztes Gespräch mit einem überreizten oder überdeprimierten Sterbenden. Du warst nicht einmal sicher, ob Belbo dich überhaupt aus Paris angerufen hatte, vielleicht war er nur ein paar Kilometer von Mailand entfernt gewesen, vielleicht in der Kabine an der Ecke. Warum musstest du dich auf eine vielleicht imaginäre Geschichte einlassen, die dich nicht berührte?
Aber das fragte ich mich vorgestern Abend im Periskop, während mir die Füße einschliefen und das Licht schwächer wurde und ich die unnatürliche und allernatürlichste Angst empfand, die jedes menschliche Wesen empfinden muß, wenn es nachts allein in einem leeren Museum ist. Frühmorgens am selben Tag hatte ich keine Angst empfunden. Nur Neugier. Und vielleicht ein Gefühl der Pflicht, oder der Freundschaft.
Und so hatte ich mir gesagt, dass auch ich nach Paris fahren musste, ich wusste zwar nicht genau, was ich dort tun sollte, aber ich konnte Belbo nicht allein lassen. Vielleicht erwartete er das von mir, nur dies eine: dass ich nachts in die Höhle der Thugs eindrang und, während Suyodhana sich anschickte, ihm das Opfermesser ins Herz zu stoßen, ihn mit meinen Mannen befreite.
Zum Glück hatte ich ein bisschen Geld dabei. In Paris nahm ich ein Taxi und ließ mich in die Rue de la Manticore fahren. Der Taxifahrer fluchte lange, denn er fand sie nicht mal auf seinem Taxifahrerstadtplan, und tatsächlich war sie dann ein Gässchen, etwa so breit wie der Gang eines Eisenbahnwaggons, in der Gegend der alten Bièvre hinter Saint-Julien-le-Pauvre. Das Taxi konnte gar nicht hineinfahren und setzte mich an der Ecke ab.
Ich drang zögernd in den schmalen Schlauch ein, zu dem sich keine Tür öffnete, aber nach ein paar Metern wurde die Straße ein wenig breiter, und da war eine Buchhandlung. Ich weiß nicht, warum sie die Nummer 3 hatte, da nirgends eine l oder 2 oder sonst eine Nummer zu sehen war. Es war ein winziger Laden, den nur eine trübe Lampe erhellte, und die Hälfte der Eingangstür diente als Schaufenster. An den Seiten ein paar Dutzend Bücher, gerade genug, um das Genre deutlich zu machen. Unten einige Wünschelruten, staubige Räucherstäbchen und kleine orientalische oder südamerikanische Amulette. Viele Tarotspiele in verschiedenen Ausführungen und Größen.
Das Innere war nicht viel tröstlicher, ein Haufen Bücher an den Wänden und auf dem Boden, mit einem Tischchen im Hintergrund und einem Buchhändler, der aussah, als wäre er extra dorthin gesetzt worden, damit ein Schriftsteller schreiben konnte, der Mann sei vergilbter als seine Bücher. Er blätterte in einem großen handgeschriebenen Kontobuch, ohne sich um seine Kunden zu kümmern. Es waren auch nur zwei Besucher im Raum, die Staubwolken aufwirbelten, indem sie alte Bücher, fast alle ohne Schutzumschlag, aus wackligen Regalen zogen und zu lesen begannen, ohne den Eindruck zu machen, als wollten sie etwas kaufen.
An dem einzigen nicht mit Regalen bedeckten Platz hing ein Plakat. Grelle Farben, eine Reihe von Köpfen in Rundbildern mit doppeltem Rand, wie auf den Plakaten des Magiers Houdini. »Le Petit Cirque de l'Incroyable. Madame Olcott et ses liens avec l'Invisible.« Ein olivbraunes, männliches Gesicht, das glatte schwarze Haar im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden — mir war, als hätte ich das Gesicht schon mal irgendwo gesehen. »Les Derviches Hurleurs et leur danse sacrée. Les Freaks Mignons, ou Les Petits-fils de Fortunio Liceti.« Eine Versammlung pathetisch grässlicher kleiner Monster. »Alex et Denys, les Géants d'Avalon. Theo, Leo et Geo Fox, Les Enlumineurs de l'Ectoplasme...«
Die Librairie Sloane bot wirklich alles, von der Wiege bis zur Bahre, auch die gesunde Abendunterhaltung, zu der man die Kinderlein mitnehmen kann, bevor man sie im Mörser zerstampft. Ich hörte ein Telefon klingeln und sah, wie der Buchhändler einen Stoß Papiere beiseite schob, bis er den Apparat fand. »Oui, Monsieur«, sagte er in die Muschel, »c'est bien ça.« Er hörte ein paar Minuten schweigend zu, erst nickend, dann mit zunehmend perplexer Miene, aber — so schien mir — eher für die Anwesenden, als könnten wir alle mithören, was sein Gesprächspartner sagte, und er wollte nicht die Verantwortung dafür übernehmen. Schließlich setzte er die entrüstete Miene des Pariser Ladeninhabers auf, der nach etwas gefragt wird, was er nicht vorrätig hat, oder des Hotelportiers, der einem sagen muß, dass kein Zimmer mehr frei ist. »Ah non, Monsieur. Ah, ça... Non, non, Monsieur, c'est pas notre boulot. Ici, vous savez, on vend des livres, on peut bien vous conseiller sur des catalogues, mais ça... Il s'agit de problèmes très personnels, et nous... Oh, alors, il y a — sais pas, moi — des curés, des... oui, si vous voulez, des exorcistes. D'accord, je le sais, on connaît des confrères qui se prêtent... Mais pas nous. Non, vraiment, la description ne me suffit pas, et quand même... Désolé, Monsieur. Comment? Oui... si vous voulez. C'est un endroit bien connu, mais ne demandez pas mon avis. C'est bien ça, vous savez, dans ces cas-là, la confiance, c'est tout. A votre service, Monsieur.«
Die anderen beiden Kunden waren gegangen, mir war mulmig zumute, aber ich nahm mich zusammen, zog die Aufmerksamkeit des Alten mit einem Räuspern auf mich und sagte ihm, dass ich einen Bekannten suchte, einen Freund, der gewöhnlich hier vorbeikomme, den Monsieur Agliè. Er sah mich an, als ob ich derjenige wäre, der ihn gerade angerufen hatte. Vielleicht kenne er ihn nicht unter dem Namen Agliè, sagte ich, sondern als Rakosky, oder Soltikoff, oder... Er sah mich weiter an, mit zusammengekniffenen Augen, ohne bestimmten Ausdruck, und meinte, ich hätte seltsame Freunde mit vielen Namen. Ich sagte, es sei nicht weiter wichtig, ich hätte nur mal so gefragt. Warten Sie, sagte er, mein Sozius kommt gleich, vielleicht kennt der die Person, die Sie suchen. Machen Sie sich's solange bequem, da ist ein Stuhl. Ich telefoniere nur eben mal. Er nahm den Hörer ab, wählte eine Nummer und begann leise zu sprechen.
Casaubon, sagte ich mir, du bist ja noch dümmer als Belbo. Worauf wartest du? Daß die kommen und sagen, oh, was für ein schöner Zufall, auch der Freund von Jacopo Belbo, kommen Sie, kommen auch Sie...
Mit einem Ruck stand ich auf, grüßte und ging. Lief eine Minute lang durch die Rue de la Manticore, bog dann in andere Gässchen ein und fand mich am Ufer der Seine wieder. Idiot, sagte ich mir, was hast du denn erwartet? Daß du hinkommst, Agliè vorfindest, ihn am Jackett packst, und er sagt, verzeihen Sie, war alles nur ein Missverständnis, hier haben Sie Ihren Freund wieder, wir haben ihm kein Haar gekrümmt...? Jetzt wissen die, dass du auch hier bist.
Es war früher Nachmittag, am Abend würde etwas im Conservatoire passieren. Was sollte ich tun? Ich bog in die Rue Saint-Jacques ein und schaute mich alle paar Schritte um. Nach einer Weile schien mir, dass ich von einem Araber verfolgt wurde. Aber wieso dachte ich, es wäre ein Araber? Das charakteristische Merkmal der Araber ist, dass sie nicht wie Araber aussehen — jedenfalls in Paris, in Stockholm wär's vielleicht was anderes.
Ich kam an einem Hotel vorbei, ging rein und fragte nach einem Zimmer. Als ich mit dem Schlüssel die Treppe hinaufging, sah ich den vermeintlichen Araber unten hereinkommen. Dann bemerkte ich im Flur noch andere Personen, die Araber sein konnten. Natürlich, in dieser Gegend gab es nur Hotels für Araber. Was hatte ich denn erwartet?
Ich trat in das Zimmer. Es war anständig, es gab sogar ein Telefon, nur schade, dass ich beim besten Willen nicht wusste, wenn ich anrufen sollte.
Ich legte mich auf das Bett und versuchte ein bisschen zu schlafen. Um drei stand ich auf, wusch mir das Gesicht und machte mich auf den Weg zum Conservatoire. Jetzt blieb mir nichts anderes mehr übrig, als ins Museum zu gehen, mir dort ein Versteck zu suchen und zu warten, dass es Mitternacht wurde.
So tat ich es. Und so fand ich mich ein paar Stunden vor Mitternacht im Periskop, um auf etwas zu warten.
Nezach ist für einige Interpreten die Sefirah der Ausdauer, des Ertragens, der beharrlichen Geduld. Und in der Tat erwartete uns eine Prüfung. Doch für andere Interpreten ist Nezach die Überwindung, der Sieg. Wessen Sieg? Vielleicht war in dieser Geschichte von lauter Besiegten — die Diaboliker genarrt von Belbo, Belbo genarrt von den Diabolikern, Diotallevi genarrt von seinen Zellen — im Augenblick ich der einzige Sieger. Ich lag im Periskop auf der Lauer, ich wusste von den andern, und sie wussten nicht von mir. Der erste Teil meines Plans war nach Plan gelaufen.
Und der zweite? Würde er nach meinem Plan laufen oder nach dem Großen Plan, der nun nicht mehr der meine war?