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Erwartet euch nicht zu viel vom Weltuntergang.
Stanislaw Jerzy Lee, Aforyzmy. Frazki, Krakow, Wydawnictwo Literackie, 1977 (»Unfrisierte Gedanken«)
Zwei Jahre nach Achtundsechzig das Studium zu beginnen ist ungefähr so, wie 1793 in die Akademie von Saint-Cyr aufgenommen zu werden. Man kommt sich vor wie im falschen Jahr geboren. Andererseits überzeugte mich später Jacopo Belbo, der mindestens fünfzehn Jahre älter als ich war, dass jede Generation diesen Eindruck hat. Man wird immer unter dem falschen Zeichen geboren, und mit Würde auf der Welt sein heißt Tag für Tag sein Horoskop korrigieren.
Ich glaube, wir werden das, was unsere Väter uns in den toten Zeiten gelehrt haben, während sie nicht daran dachten, uns zu erziehen. Man formt sich an Abfällen der Weisheit. Als ich zwölf Jahre alt war, wollte ich, dass meine Eltern mir ein bestimmtes Wochenblatt abonnierten, das die Meisterwerke der Literatur in ComicForm präsentierte. Nicht aus Knausrigkeit, eher aus Argwohn gegenüber Comic Strips versuchte mein Vater, sich zu drücken. »Das Ziel dieser Zeitschrift ist«, erklärte ich daraufhin feierlich, den Werbespruch der Serie zitierend, denn ich war ein pfiffiger und eloquenter Knabe, »auf unterhaltsame Weise zu erziehen.« Mein Vater erwiderte, ohne die Augen von seiner Zeitung zu heben: »Das Ziel deiner Zeitung ist das Ziel aller Zeitungen, nämlich so viele Exemplare wie möglich zu verkaufen.«
An jenem Tag begann ich, ungläubig zu werden.
Will sagen, es reute mich, gläubig gewesen zu sein. Ich hatte mich von einer Passion des Geistes verführen lassen. Das ist Gläubigkeit.
Nicht dass der Ungläubige an nichts glauben dürfte. Er glaubt nur nicht an alles. Er glaubt jeweils an eine Sache und an eine zweite nur, wenn sie sich irgendwie aus der ersten ergibt. Er geht kurzsichtig vor, methodisch, ohne Horizonte zu riskieren. Von zwei Sachen, die nicht zusammenpassen, alle beide zu glauben, mit der Idee im Kopf, es gebe irgendwo noch eine dritte, die sie vereine — das ist Gläubigkeit
Ungläubigkeit schließt nicht Neugier aus, sie ermuntert sie. Misstrauisch gegenüber Ideenketten, liebte ich von den Ideen die Polyphonie. Es genügt, nicht daran zu glauben, und zwei Ideen — die beide falsch sind — können zusammen ein gutes Intervall erzeugen oder einen diabolus in musica. Ich respektierte nicht die Ideen, auf die andere ihr Leben verwetteten, aber zwei oder drei Ideen, die ich nicht respektierte, konnten eine Melodie ergeben. Oder einen Rhythmus, am besten im Jazz.
Später sollte mir Lia sagen: »Du lebst von Oberflächen. Wenn du tief scheinst, dann weil du viele davon verklammerst und so den Anschein eines Festkörpers erzeugst — eines Festkörpers, der, wenn er fest wäre, nicht stehen könnte.«
»Willst du damit sagen, ich wäre oberflächlich?«
»Nein«, hatte sie geantwortet. »Was die anderen Tiefe nennen, ist nur ein Tesserakt, ein vierdimensionaler Kubus. Du trittst auf der einen Seite hinein, auf der andern hinaus, und befindest dich in einer Welt die nicht mit deiner Welt koexistieren kann.«
(Lia, ich weiß nicht, ob ich dich je wiedersehen werde, jetzt da sie auf der falschen Seite eingetreten sind und deine Welt überfallen haben, und das durch meine Schuld: ich habe sie glauben lassen, dass da Abgründe wären, wie sie es in ihrer Schwäche wollten.)
Was dachte ich wirklich vor fünfzehn Jahren? Im Bewusstsein meiner Ungläubigkeit fühlte ich mich schuldig unter so vielen Gläubigen. Da ich fühlte, dass sie im Recht waren, beschloss ich zu glauben, so wie man ein Aspirin nimmt. Es tut nicht weh, und man fühlt sich besser.
Ich fand mich mitten in der Revolution, oder jedenfalls in der verblüffendsten Simulation der Revolution, die es je gegeben hat, und suchte nach einem ehrenhaften Glauben. Ich fand es ehrenhaft, an den Versammlungen und Demonstrationen teilzunehmen, ich schrie im Chor mit den andern: »Faschisten, Bürgerschweine, bald machen wir euch Beine!«, ich warf keine Steine und schleuderte keine Stahlkugeln, weil ich immer Angst hatte, dass die andern mit mir machen würden, was ich mit ihnen machte, aber ich empfand eine Art von moralischem Hochgefühl, wenn ich durch die Gassen der Innenstadt vor der Polizei davonlief. Ich kam nach Hause mit dem Gefühl, eine Pflicht getan zu haben. In den Versammlungen konnte ich mich nicht für die Ideologiedebatten erwärmen, die zwischen den verschiedenen Gruppen geführt wurden — ich hatte immer den Verdacht, dass es genügen würde, das richtige Zitat zu finden, um aus der einen in die andere Gruppe zu wechseln. Ich amüsierte mich mit der Suche nach dem richtigen Zitat. Ich modulierte.
Da es mir bei Demonstrationen hin und wieder passiert war, dass ich mich hinter dem einen oder anderen Spruchband einreihte, um einem Mädchen zu folgen, das meine Phantasie erregte, zog ich daraus den Schluss, dass für viele meiner Genossen die politische Aktivität eine sexuelle Erfahrung war — und Sex war eine Passion. Ich wollte bloß neugierig sein. Gewiss, bei meinen Studien über die Templer und die diversen Gräuel, die man ihnen zugeschrieben hat, bin ich auf die These des Karpokrates gestoßen, nach der man, um sich von der Tyrannei der Engel, der Herren des Kosmos, zu befreien, jede Schandtat begehen und die Verpflichtungen abschütteln müsse, die mit dem Universum und mit dem eigenen Körper ausgehandelt worden sind, denn nur wenn man alle Taten begehe, könne die Seele sich freimachen von ihren Leidenschaften, um zur ursprünglichen Reinheit zurückzugelangen. Während wir den Großen Plan erfanden, entdeckte ich, dass viele Mysteriensüchtige in ihrem Streben nach Erleuchtung diesen Weg gehen. Doch Aleister Crowley, der als der perverseste Mensch aller Zeiten definiert worden ist und der folglich alles, was er nur irgend konnte, mit Verehrern beider Geschlechter getan haben muss, hatte nach Auskunft seiner Biographen nur extrem hässliche Frauen (ich vermute, dass auch die Männer, nach dem, was sie schrieben, nicht besser waren), und mir bleibt der Verdacht, dass er's nie richtig getrieben hat.
Es muss wohl an einem Zusammenhang zwischen Machtdurst und impotentia coeundi liegen. Marx war mir sympathisch, weil ich sicher war, dass er's mit seiner Jenny fröhlich getrieben hat. Man spürt es am ruhigen Atem seiner Prosa und an seinem Humor. Aber einmal, in den Fluren der Universität, sagte ich, wenn man immer mit der Krupskaja ins Bett geht, schreibt man am Ende ein so scheußliches Buch wie Materialismus und Empiriokritizismus. Sie schlugen mich fast zusammen und beschimpften mich als Faschisten. Am lautesten schrie ein großer Typ mit Tatarenschnauzer. Ich erinnere mich noch genau an ihn, heute ist er glattrasiert und gehört zu einer Kommune, in der sie Körbe flechten.
Ich evoziere das Klima von damals hier nur, um zu rekonstruieren, in welcher Geistesverfassung ich zu Garamond kam und mit Jacopo Belbo sympathisierte. Es war die Stimmung dessen, der sich die großen Diskurse über die Wahrheit vornimmt, um an ihnen zu lernen, wie man Fahnen korrigiert. Ich dachte, das Grundproblem bei einem Zitat wie »Ich bin, der ich bin« sei zu entscheiden, wohin der Schlusspunkt gehört, ob vor das Abführungszeichen oder danach.
Deshalb war meine politische Wahl die Philologie. Die Universität Mailand war in jenen Jahren beispielhaft. Während man im ganzen übrigen Land die Hörsäle stürmte, die Professoren attackierte und von ihnen verlangte, nur noch über proletarische Wissenschaft zu sprechen, galt bei uns, von ein paar Zwischenfällen abgesehen, eine Art konstitutioneller Pakt oder territorialer Kompromiss. Die Revolution beherrschte die äußere Zone, das Auditorium Maximum und die großen Flure im Erdgeschoß, während die offizielle Kultur sich auf die inneren Gänge und die oberen Stockwerke zurückgezogen hatte, um dort, geschützt und garantiert, weiterzumachen, als ob nichts geschehen wäre.
So konnte ich die Vormittage unten mit Diskussionen über proletarische Wissenschaft und die Nachmittage oben mit dem Erwerb eines aristokratischen Wissens verbringen. Ich lebte zufrieden in diesen beiden Paralleluniversen und fühlte mich keineswegs gespalten. Auch ich glaubte damals, dass eine Gesellschaft der Gleichen vor der Tür stehe, aber ich sagte mir, dass in dieser neuen Gesellschaft bestimmte Dinge gut (und besser als vorher) funktionieren müssten, zum Beispiel die Züge, und die Sansculotten, die mich umgaben, lernten durchaus nicht, die Kohlen im Kessel zu dosieren, die Weichen zu stellen oder Fahrpläne auszutüfteln. Irgendwer musste sich schließlich auch für die Züge bereithalten.
Nicht ohne ein paar Gewissensbisse fühlte ich mich wie ein Stalin, der unter seinem Schnauzbart grinst und denkt: »Macht nur, macht nur, ihr armseligen Bolschewiken, ich studiere derweilen am Seminar in Tiflis, und dann stelle ich den Fünfjahresplan auf.«
Vielleicht gerade weil ich vormittags im Enthusiasmus lebte, identifizierte ich dann am Nachmittag das Wissen mit Skepsis. Ich wollte etwas studieren, was mir erlauben würde, nur das zu sagen, was sich anhand von Dokumenten belegen ließ, um es von dem zu unterscheiden, was Sache des Glaubens blieb.
Fast zufällig geriet ich in ein Seminar über mittelalterliche Geschichte, schrieb mich ein und wählte eine Dissertation über den Templerprozess. Die Geschichte der Tempelritter hatte mich fasziniert, seit ich einen Blick in die ersten Dokumente geworfen hatte. In jenen Jahren, als wir gegen die Staatsmacht kämpften, empörte mich die Geschichte jenes Prozesses (den als Indizienprozess zu bezeichnen eine Verharmlosung ist), in dem die Templer zum Scheiterhaufen verurteilt wurden. Aber bald entdeckte ich, dass von dem Moment an, da sie verbrannt worden waren, eine Schar von Mysterienjägern anfing, überall nach ihnen zu suchen und zu behaupten, sie existierten noch weiter, ohne je einen Beweis vorzulegen. Dieser visionäre Exzess beleidigte meine Ungläubigkeit, und so beschloss ich, keine Zeit mit diesen Mysterienjägern zu verlieren, sondern mich allein an die zeitgenössischen Quellen zu halten. Die Templer waren ein monastischer Ritterorden, der existierte, solange er von der Kirche anerkannt wurde. Wenn die Kirche den Orden aufgelöst hatte, und das hatte sie vor siebenhundert Jahren getan, dann konnten die Templer nicht mehr existieren, und wenn sie noch existierten, dann waren sie keine Templer. So kam es, dass ich zwar mindestens hundert Bücher verzettelt hatte, aber am Ende bloß etwa dreißig las.
Mit Jacopo Belbo kam ich genau wegen der Templer in Kontakt, bei Pilade, als ich meine Dissertation fast fertig hatte, so gegen Ende 1972.
8
Aus dem Licht und von den Göttern gekommen, bin ich nun im Exil, von ihnen getrennt.
Manichäisches Fragment aus Turfan, M7
Pilades Bar war in jenen Jahren der Freihafen, die galaktische Taverne, in der die Aliens von Ophiuchus, die den Planeten Erde belagerten, sich zwanglos mit den Männern des Imperiums trafen, die auf den Van-Allen-Gürteln patrouillierten. Es war eine Bar am Rande der Mailänder Altstadt, mit Zinktresen und Billard, wohin morgens die Straßenbahner und die Handwerker aus der Gegend kamen, um sich einen kleinen Weißen zu gönnen. Achtundsechzig und in den folgenden Jahren war Pilade dann so etwas wie Rick's Bar geworden, wo man den Aktivisten der Studentenbewegung beim Kartenspiel sehen konnte, am selben Tisch mit dem Journalisten der bourgeoisen Zeitung, der sich nach Redaktionsschluss einen genehmigte, während die ersten Lastwagen schon unterwegs waren, um die Lügen des Systems zu verbreiten. Doch bei Pilade fühlte sich auch der Journalist als ein ausgebeuteter Proletarier, ein Produzent von Mehrwert, in Ketten gelegt, um Ideologie zu fabrizieren, und die Studenten erteilten ihm Absolution.
Zwischen elf Uhr abends und zwei Uhr nachts kamen dann der Verlagslektor, der Architekt, der Skandalreporter mit Ambitionen auf die Kulturseite, die Maler der Brera-Akademie, ein paar mittelprächtige Schriftsteller und Studenten wie ich.
Ein Mindestmaß an alkoholischem Exzess war die Regel, und der alte Pilade hatte, während er seinen Weißwein für die Straßenbahner und die eher aristokratischen Kunden beibehielt, das Sprudelwasser und den Ramazzotti-Bitter mit DOC-Schaumweinen für die demokratischen Intellektuellen und Johnny Walker für die Revolutionäre ersetzt. Ich könnte die politische Geschichte jener Jahre schreiben, indem ich die Tempi und Modi beschriebe, in denen man Schritt für Schritt vom Red Label zum zwölfjährigen Ballantine und schließlich zum Malt überging.
An dem alten Billardtisch forderten Maler und Straßenbahner einander noch zu Partien heraus, aber bei der Ankunft der neuen Kundschaft hatte Pilade nun auch einen Flipper aufgestellt.
Bei mir blieb eine Kugel nur immer ganz kurz im Spiel, und anfangs glaubte ich, es läge an meiner Unaufmerksamkeit oder geringen manuellen Geschicklichkeit. Woran es wirklich lag, begriff ich erst Jahre später, als ich Lorenza Pellegrini flippern sah. Sie war mir zunächst gar nicht aufgefallen, doch eines Abends fasste ich sie ins Auge, als ich Belbos Blick folgte.
Belbo hatte eine Art, in der Bar zu sein, als wäre er bloß auf Durchreise (dabei bewohnte er sie seit mindestens zehn Jahren). Er griff oft in Gespräche ein, am Tresen oder an einem der Tische, aber fast immer mit einer knappen Bemerkung, die jeden Enthusiasmus ersterben ließ, egal wovon gerade die Rede war. Dasselbe gelang ihm auch mit einer anderen Technik, nämlich durch Fragen. Jemand erzählte etwas, erzählte so lebhaft, dass alle wie gebannt zuhörten, und Belbo betrachtete ihn mit seinen blaugrünen, immer ein wenig zerstreut blickenden Augen, hielt das Glas in Hüfthöhe, als hätte er längst zu trinken vergessen, und fragte dann: »Und so ist es wirklich gewesen?« Oder: »Und das haben Sie im Ernst gesagt?« Ich weiß nicht was dabei geschah, aber an dem Punkt begann jeder an der Erzählung zu zweifeln, auch der Erzähler. Es musste der piemontesische Tonfall sein, der Belbos Affirmationen zu Fragen machte und seinen Fragen zu Spott. Piemontesisch an Belbo war auch seine Art zu sprechen, ohne dem Gegenüber zu tief in die Augen zu sehen, aber nicht wie einer, der mit dem Blick ausweicht. Belbos Blick entzog sich nicht dem Dialog. Er bewegte sich einfach, fixierte plötzlich Schnittpunkte von Parallelen, auf die man nicht geachtet hatte, irgendwo an einem unbestimmten Punkt im Raum, und gab einem so das Gefühl, als hätte man bis zu diesem Augenblick blöde den einzigen irrelevanten Punkt angestarrt.
Aber es war nicht nur der Blick — Belbo konnte einen mit einer einzigen Geste, mit einer bloßen Interjektion aus den Angeln heben. Angenommen, du hattest dich zum Beispiel abgemüht zu beweisen, dass Kant tatsächlich die kopernikanische Wende in der modernen Philosophie vollzogen hat, und warst bereit, dein Leben darauf zu verwetten. Belbo, vor dir sitzend, konnte plötzlich seine Hände betrachten oder sein Knie fixieren, oder die Lider halb schließen und ein etruskisches Lächeln andeuten, oder ein paar Sekunden mit offenem Munde dahocken, die Augen zur Decke erhoben, und dann leicht stammelnd sagen: »Ach ja, dieser Kant...« Oder, wenn jemand sich engagiert zu einem Attentat auf das ganze System des transzendentalen Idealismus aufschwang: »Jaaa... und Sie werden dann wirklich all das Durcheinander gewollt haben...?« Wonach er dich auffordernd ansah, als hättest du und nicht er den Zauber gebrochen, und dich ermunterte: »Aber reden Sie weiter, reden Sie doch weiter. Da ist sicher was dran... da ist was... der Mann hatte Geist.«
Manchmal, wenn er sich wirklich sehr ärgerte, reagierte er grob. Da aber das einzige, was ihn auf die Palme brachte, die Grobheit anderer war, blieb seine eigene Grobheit ganz innerlich und regional. Er presste die Lippen zusammen, drehte die Augen kurz zum Himmel, senkte dann rasch den Blick und den Kopf, von links oben nach unten, und sagte halblaut: » Ma gavte la nata.« Es war ein piemontesischer Ausdruck, den er bisweilen erklärte, wenn jemand ihn nicht verstand: » Ma gavte la nata, wörtlich: zieh dir mal den Pfropfen raus. Das sagt man, wenn einer sich aufbläht. Die Idee ist, dass er in diese abnorme Lage geraten ist, weil er einen Pfropfen im Hintern hat. Sobald er ihn rauszieht, pffffiisch, schrumpft er wieder zu normaler Menschengröße zusammen.«
Mit solchen Interventionen konnte er einem ganz unversehens die Vanitas allen Seins enthüllen, und ich war davon fasziniert. Aber ich zog daraus eine falsche Lehre, denn ich nahm sie als Modell der höchsten Verachtung für die Banalität der Wahrheit anderer.
Erst jetzt, nachdem ich mit den Geheimnissen Abulafias auch die Seele Belbos aufgedeckt habe, weiß ich, dass jene Haltung, die ich für illusionslose Nüchternheit hielt und mir zum Lebensprinzip erhob, für ihn eine Form der Melancholie war. Sein respektloser intellektueller Libertinismus verbarg ein verzweifeltes Streben nach Absolutheit. Es war schwer, das auf den ersten Blick zu erkennen, denn Belbo kompensierte die Momente der Flucht, des Zögerns, der Distanzierung mit Momenten entspannter Geselligkeit, in denen er sich damit amüsierte, in fröhlichem Unglauben alternative Absolutheiten zu produzieren. So etwa, wenn er mit Diotallevi Handbücher des Unmöglichen konzipierte, verkehrte Welten, bibliographische Teratologien. Und wenn man ihn dann so enthusiastisch und eloquent beim Bau seiner Sorbonne a la Rabelais sah, konnte man nicht ahnen, wie tief er unter seinem Exil aus der theologischen Fakultät, der wirklichen, litt.
Erst jetzt ist mir klar: Ich hatte jene Adresse einfach weggeworfen, er hatte sie verloren und konnte den Verlust nie verschmerzen.
In Abulafias Dateien habe ich viele Seiten eines Pseudo-Tagebuches gefunden, das Belbo dem Schweigen der Disketten anvertraut hatte, in der Gewissheit, damit seine so oft proklamierte Berufung zum schlichten Betrachter der Welt nicht zu verraten. Einige tragen ein weit zurückliegendes Datum, offenbar alte Aufzeichnungen, die er in den Computer übertragen hatte, sei's aus Nostalgie oder in der Absicht, sie irgendwie zu redigieren. Andere sind aus den letzten Jahren, seit er Abulafia hatte. Er schrieb aus Freude am mechanischen Spiel, oder um einsam über seine Irrtümer zu reflektieren, er machte sich vor, damit nichts zu »kreieren«, denn Kreation, auch wenn sie Irrtümer produziert, geschieht immer aus Liebe zu jemand anderem. Doch allmählich ging Belbo, ohne es zu merken, zur anderen Hemisphäre über. Er kreierte — und hätte er es bloß nie getan: Sein Enthusiasmus für den Großen Plan entsprang genau diesem Bedürfnis, ein BUCH zu schreiben, mochte es auch nur aus einsamen, exklusiven, wilden und absichtlich gemachten Fehlern bestehen. Solange du bloß dir selbst in deiner Leere begegnest, kannst du noch denken, du hättest Kontakt mit dem Einen, aber kaum knetest du an der Materie herum, und sei's an der elektronischen, bist du schon ein Demiurg geworden, und wer sich vornimmt, eine Welt zu erschaffen, hat sich schon mit dem Irrtum und mit dem Bösen kompromittiert.
Filename: Drei Frauen ...
So ist's: toutes les femmes que j'ai rencontrées se dressent aux horizons — avec les gestes piteux et les regards tristes des sémaphores sous la pluie... (Alle Frauen, denen ich begegnet bin, erheben sich an den Horizonten mit den kläglichen Gesten und den traurigen Blicken der Ampeln im Regen ... - Blaise Cendrars)
Schau hoch, Belbo. Erste Liebe, Maria Santissima. Mama, wie sie mich singend im Schoße wiegt, als ich schon längst kein Wiegenlied mehr brauchte, aber ich wollte, dass sie sang, denn ich liebte ihre Stimme und den Lavendelgeruch ihrer Brust: »O Königin des Empyreums, reinste und schönste — gegrüßet seist du, Tochter, Braut, Magd — gegrüßet seist du, Erlösermutter.«
Natürlich, die erste Frau in meinem Leben war nicht meine — wie übrigens per definitionem auch keines anderen Frau. Hab mich sofort in die einzige Frau verliebt, die alles ohne mich schafft.
Dann Marilena (Marylena? Mary Lena?). Lyrisch die Dämmerung zu beschreiben, das goldene Haar, die große hellblaue Schleife, ich aufrecht, die Nase hochgereckt vor der Bank, sie balancierend auf der Rückenlehne, die Arme ausgebreitet, um ihre Schwankungen auszugleichen (graziöse Extrasystolen), der Rock flatternd um ihre rosa Schenkel. Hoch oben, unerreichbar.
Skizze: am selben Abend die Mama, wie sie den rosa Popo meiner Schwester pudert und ich sie frage, wann der Kleinen das Pimmelchen wächst, und die Mama enthüllt mir, dass die kleinen Mädchen keins kriegen, sondern so bleiben. Auf einmal sehe ich Mary Lena wieder, und das Weiß ihrer Höschen, das hervor blitzt unter dem flatternden blauen Rock, und ich begreife, dass sie blond und erhaben ist, unerreichbar, da anders. Keine Beziehung möglich, sie gehört zu einer anderen Rasse.
Dritte Frau gleich verloren im Abgrund, in den sie versank. Soeben im Schlaf gestorben, blasse Ophelia zwischen den Blumen ihrer jungfräulichen Bahre, während der Priester das Totengebet rezitiert, da reckt sie sich plötzlich hoch aus dem Sarg, faltig und weiß, den Finger rächend erhoben, die Stimme hohl: »Pater, beten Sie nicht für mich. Heut Nacht vor dem Einschlafen hatte ich einen unreinen Gedanken, den einzigen in meinem Leben, und nun bin ich verdammt.« Das Büchlein der Ersten Kommunion wiederfinden. War da ein Bild, oder habe ich mir alles ausgedacht? Sicherlich war sie gestorben, während sie an mich dachte, der unreine Gedanke war ich, ich, der ich Mary Lena begehrte, die Unberührbare, da von anderer Art und Bestimmung. Ich bin schuld an ihrer Verdammnis, ich bin schuld an der Verdammnis aller, die sich verdammen, geschieht mir ganz recht, dass ich die drei Frauen nicht gehabt habe: Es ist die Strafe dafür, sie begehrt zu haben.
Die erste verlor ich ans Paradies, die zweite ans Fegefeuer, wo sie den Penis beneidet, den sie nie haben wird, die dritte an die Hölle. Theologisch perfekt. Schon geschrieben.
Aber da ist noch die Geschichte von Cecilia, und Cecilia war auf der Erde. Ich dachte an sie vor dem Einschlafen, ich stieg den Hügel hinauf, um die Milch beim Bauern zu holen, und während die Partisanen vom gegenüberliegenden Hügel auf die Wachtposten schossen, sah ich mich ihr zu Hilfe eilen, um sie zu retten vor einer Schar schwarzer Schergen, die sie mit hochgehaltenen Maschinenpistolen verfolgten... Blonder als Mary Lena, beunruhigender als das Mädchen im Sarg, reiner und holder als die Jungfrau. Cecilia, lebendig und erreichbar, ein Nichts genügte, und ich hätte sie sogar ansprechen können, ich war mir sicher, dass sie einen von meinem Schlag lieben könnte, liebte sie doch schon einen, der hieß Papi, er hatte blondes struppiges Haar auf einem winzigen Schädel, er war ein Jahr älter als ich und hatte ein Saxophon. Und ich nicht mal eine Trompete. Ich habe sie nie zusammen gesehen, aber alle im Unterricht flüsterten kichernd und ellbogenstoßend, dass sie's miteinander trieben. Bestimmt logen sie, diese Bauernlümmel, geil wie die Böcke. Wollten mir wohl zu verstehen geben, dass sie (sie, Marylena Cecilia, Braut und Magd) derart zugänglich war, dass jemand schon Zugang zu ihr gefunden hatte... Auf jeden Fall — vierter Fall — war ich aus dem Spiel.
Schreibt man über solch eine Geschichte einen Roman? Vielleicht sollte ich ihn über die Frauen schreiben, vor denen ich fliehe, weil ich sie haben konnte. Oder gekonnt hätte. Sie haben. Oder ist das dieselbe Geschichte?
Fazit: Wenn man nicht einmal weiß, um welche Geschichte es eigentlich geht, korrigiert man besser die Philosophiebücher.
9
In der rechten Hand trug sie ein gantz güldin Posaun.
Johann Valentin Andreae, Die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz, Straßburg, Zetzner, 1616, 1
In diesem Text wird eine Trompete erwähnt. Vorgestern Abend im Periskop wusste ich noch nicht, wie wichtig das war. Ich hatte nur einen sehr vagen Anhaltspunkt.
Während der langen Nachmittage bei Garamond kam es vor, dass Belbo, vor einem Manuskript verzweifelnd, die Augen von seiner Lektüre hob und auch mich abzulenken versuchte, der ich womöglich gerade am Tisch gegenüber Kupferstiche von der Pariser Weltausstellung für den Umbruch klebte, und dann erging er sich manchmal in alten Erinnerungen — bereit, den Vorhang gleich wieder fallen zu lassen, sobald er argwöhnte, dass ich ihn allzu wörtlich nahm. Er schilderte mir Episoden aus seiner Jugend, aber nur als Exempel, um irgendwelche Eitelkeiten zu geißeln. »Ich frage mich, wo das alles noch enden soll«, sagte er eines Tages.
»Sprechen Sie vom Untergang des Abendlandes?«
»Geht es unter? Ist doch schließlich sein Beruf, oder? Nein, ich spreche von diesen Leuten, die schreiben. Das ist jetzt das dritte Manuskript in einer Woche, eins über das byzantinische Recht, eins über das Finis Austriae und das dritte über die Sonette von Petrarca. Ziemlich verschiedene Dinge, meinen Sie nicht?«
»Denke schon.«
»Eben, und hätten Sie wohl gedacht, dass in allen Dreien an einem bestimmten Punkt der Wunsch und das Liebesobjekt auftauchen? Ist eine richtige Mode heute. Bei Petrarca versteh ich's ja noch, aber beim byzantinischen Recht?«
»Also werden Sie ablehnen?«
»Aber nein, das sind vollfinanzierte Arbeiten, komplett bezahlt vom Nationalen Forschungsrat, und außerdem sind sie nicht schlecht. Allenfalls rufe ich diese drei Leute an und frage sie, ob sie die paar Zeilen nicht streichen können. Die stehen doch sonst selber dumm da.«
»Was kann denn bitte das Liebesobjekt im byzantinischen Recht gewesen sein?«
»Och, das kriegt man immer irgendwie rein ... Freilich, wenn es im byzantinischen Recht ein Liebesobjekt gab, war's nicht das, was der hier sagt. Es ist nie das.«
»Das was?«
»Das, was man meint. Einmal, als ich so fünf oder sechs Jahre alt war, träumte ich, ich hätte eine Trompete. Eine vergoldete. Wissen Sie, das war so einer von diesen Träumen, bei denen man meint, man hätte Honig in den Adern, so eine Art von nächtlicher Pollution, wie man sie in der Pubertät haben kann. Ich glaube, ich war nie so glücklich wie in jenem Traum. Nie mehr. Beim Aufwachen merkte ich dann natürlich, dass die Trompete nicht da war, und fing an zu heulen wie ein Schlosshund. Ich heulte den ganzen Tag lang. Wirklich, diese Vorkriegszeit damals, es muss so um Achtunddreißig gewesen sein, das war schon eine sehr karge Zeit. Heutzutage, wenn ich einen Sohn hätte und ihn so verzweifelt sähe, würde ich sagen, na komm, ich kauf dir eine Trompete — es ging schließlich bloß um ein Spielzeug, das hätte schon nicht die Welt gekostet. Nicht so meine Eltern, die dachten gar nicht daran. Geldausgeben war damals eine ernste Sache. Und es war eine ernste Sache, die Kinder zur Bescheidenheit zu erziehen, ihnen beizubringen, dass sie nicht immer alles kriegen konnten, was sie begehrten. Ich mag die Kohlsuppe nicht, sagte ich zum Beispiel und das stimmte, der Kohl in der Suppe war mir eklig. Nicht dass sie dann etwa sagten, na schön, lass die Suppe für diesmal stehen und nimm bloß das Hauptgericht (wir waren nicht arm, wir hatten Vorspeise, Hauptgang und Dessert). O nein, kein Gedanke, was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Eher schon, als Kompromisslösung, machte sich dann meine Oma daran, den Kohl aus meiner Suppe zu fischen, Strunk für Strunk, Fädchen für Fädchen, und ich musste die entkohlte Suppe essen, die noch ekliger war als vorher, und das war schon eine Konzession, die mein Vater missbilligte.«
»Und die Trompete?«
Er sah mich zögernd an: »Was interessiert Sie so an der Trompete?« »Mich nichts, Sie haben von einer Trompete gesprochen, im Zusammenhang mit dem Liebesobjekt, das dann nicht das richtige ist ...«
»Die Trompete ... An jenem Abend sollten mein Onkel und meine Tante aus *** ankommen, sie hatten keine Kinder, und ich war ihr Lieblingsneffe. Sie sahen mich heulen wegen diesem Trompetentraum und sagten, sie würden's schon richten, am nächsten Tag würden wir ins Kaufhaus gehen, ins Upim, wo es eine ganze Spielwarenabteilung gab, ein wahres Wunderland, und da würde ich die Trompete finden, die ich mir so wünschte. Ich brachte die ganze Nacht lang kein Auge zu und trat den ganzen nächsten Vormittag lang von einem Bein auf das andere. Am Nachmittag gingen wir endlich ins Upim, und da gab es mindestens drei Sorten Trompeten, wahrscheinlich alle aus dünnem Blech, aber mir kamen sie vor wie aus reinem Gold. Es gab ein Signalhorn, eine Zugposaune und eine Pseudotrompete, so eine mit richtigem Mundstück, und sie war auch goldfarben, aber sie hatte Klappen wie ein Saxofon. Ich wusste nicht, welche ich nehmen sollte, und vielleicht zögerte ich zu lange. Ich wollte sie alle drei und machte den Eindruck, als wollte ich keine. Inzwischen hatten Onkel und Tante auf die Preisschilder gesehen. Sie waren nicht knausrig, aber mir schien, dass sie eine Klarinette billiger fanden, so eine aus Bakelit, ganz schwarz und mit silbernen Klappen. ›Was meinst du, würde dir die nicht besser gefallen?‹ fragten sie. Ich probierte sie, blökte gehorsam rein und versuchte mich zu überzeugen, dass sie wunderschön sei, aber in Wirklichkeit überlegte ich und sagte mir, wahrscheinlich wollten sie, dass ich die Klarinette nähme, weil sie billiger war, die Trompete musste ein Vermögen kosten, das konnte ich ihnen nicht zumuten. Man hatte mir immer beigebracht, wenn jemand dir etwas schenken will, was du gern hättest, dann musst du erst mal nein danke sagen, und nicht nur einmal, nicht bloß nein danke sagen und dann gleich die Hand ausstrecken, sondern abwarten, bis man dich drängt und sagt, na nimm schon. Erst dann gibt das wohlerzogene Kind nach. Also sagte ich brav, ich wollte vielleicht gar keine Trompete, vielleicht tät's auch die Klarinette, wenn sie's lieber so hätten. Und ich schaute von unten zu ihnen rauf in der Hoffnung, dass sie mich drängten. Sie drängten mich nicht, Gott hab sie selig. Sie waren sehr glücklich, mir die Klarinette kaufen zu können, weil ich sie doch — wie sie sagten — lieber hätte. Es war zu spät zur Umkehr. Ich kriegte die Klarinette.«
Er sah mich argwöhnisch an: »Wollen Sie wissen, ob ich noch mal von der Trompete geträumt habe?«
»Nein«, sagte ich, »ich will wissen, was das Liebesobjekt war.«
»Ah«, sagte er und beugte sich wieder über sein Manuskript, »sehen Sie, auch Sie sind ganz besessen von diesem Liebesobjekt. Solche Geschichten kann man drehen, wie man will. Aber ... was, wenn ich damals die Trompete genommen hätte? Wäre ich dann tatsächlich glücklich gewesen? Was meinen Sie, Casaubon?«
»Vielleicht hätten Sie dann von der Klarinette geträumt.«
»Nein«, schloss er trocken. »Die Klarinette habe ich nur gekriegt. Ich glaube, ich habe sie nie gespielt.«
»Gespielt oder geträumt?«
»Gespielt«, sagte er mit Nachdruck, und ich weiß nicht wieso, aber ich fühlte mich wie ein Narr.
9
E finalmente altro non si inferisce cabalisticamente da vinum che VIS NUMerorum, dai quali numeri essa Magia dipende.
(Am Ende erschließt man kabbalistischerweise aus vinum nichts andere als VIS NUMerorum, die Kraft der Zahlen, von denen diese Magie abhängt.)
Cesare della Riviera, Il Mondo Magico degli Eroi, Mantova, Osanna, 1603, p. 65
Doch ich sprach von meiner ersten Begegnung mit Belbo. Wir kannten uns schon vom Sehen und hatten ein paarmal kurz bei Pilade miteinander gesprochen, aber ich wusste nicht viel von ihm, nur dass er bei Garamond arbeitete, und Bücher von Garamond waren mir hin und wieder bei meinen Studien in die Hände gefallen. Es war ein kleiner, aber seriöser Verlag. Ein junger Mann, der sich gerade anschickt, seinen Doktor zu machen, fühlt sich stets angezogen von jemandem, der in einem angesehenen Verlag arbeitet.
»Und was treiben Sie?«, fragte er mich eines Abends, als wir beide am äußersten Ende des Zinktresens lehnten, umdrängt von einem Gewühl wie auf einer großen Party. Es war die Zeit, als alle sich duzten, die Studenten die Professoren und die Professoren die Studenten. Ganz zu schweigen von den Kunden in Pilades Bar. »Zahl mir 'n Bier«, sagte der Student im Parka zum Chefredakteur der großen Tageszeitung. Man hätte meinen können, man wäre in Petersburg zur Zeit des jungen Schklowski. Lauter Majakowskis und kein einziger Schiwago. Belbo entzog sich nicht dem allgemeinen Du, aber er gab ihm einen unverkennbar verächtlichen Beiklang. Er sagte du, um zu demonstrieren, dass er auf Vulgarität mit Vulgarität reagierte, dass aber zwischen Vertraulichkeiten und Vertrautheit ein Abgrund klaffte. Nur selten und nur wenige Leute hörte ich ihn mit Zuneigung duzen, oder mit Leidenschaft — nur Diotallevi und ab und zu eine Frau. Zu denen, die er schätzte, ohne sie lange zu kennen, sagte er Sie. So tat er's mit mir während der ganzen Zeit unserer Zusammenarbeit, und ich war stolz auf das Privileg. »Und was treiben Sie?«, fragte er mich also mit, wie ich jetzt weiß, Sympathie.
»Im Leben oder im Theater?«, fragte ich mit einem Rundblick auf Pilades Bühne.
»Im Leben.«
»Ich studiere.«
»Gehen Sie an die Uni oder studieren Sie?«
»Sie werden's nicht glauben, aber das widerspricht sich nicht. Ich beende gerade eine Dissertation über die Tempelritter.«
»Oh, was für ein scheußliches Thema«, sagte er. »Ist das nicht eher was für Irre?«
»Ich studiere die echten. Die Prozessdokumente. Aber was wissen Sie denn von den Templern?«
»Ich arbeite in einem Verlag, und in einen Verlag kommen Weise und Irre. Das Metier des Lektors ist, auf Anhieb die Irren zu erkennen. Wenn einer anfängt, von den Templern zu reden, ist es meistens ein Irrer.«
»Wem sagen Sie das. Ihr Name ist Legion. Aber nicht alle Irren reden von den Templern. Woran erkennen Sie die anderen?«
»Berufserfahrung. Ich will's Ihnen erklären, Sie sind noch jung. Übrigens, wie heißen Sie eigentlich?«
»Casaubon.«
»War das nicht eine Romanfigur in Middlemarch?«
»Keine Ahnung. Jedenfalls war's, glaube ich, auch ein Philologe der Renaissance. Aber ich bin nicht mit ihm verwandt«
»Lassen wir das für ein andermal. Trinken Sie noch was? Pilade, noch mal zwei, danke. Also passen Sie auf. In der Welt gibt es die Idioten, die Dämlichen, die Dummen und die Irren.«
»Sonst nichts?«
»Doch, uns zwei zum Beispiel, oder jedenfalls — ohne wen zu beleidigen — mich. Aber letzten Endes, genau besehen, gehört jeder Mensch zu einer von diesen Kategorien. Jeder von uns ist hin und wieder idiotisch, dämlich, dumm oder irre. Sagen wir, normal ist, wer diese Komponenten einigermaßen vernünftig mischt. Es sind Grundtypen.« »Idealtypen, wie die Deutschen sagen.«
»Bravo. Sie können auch deutsch?«
»Es reicht gerade so für die Bibliografien.«
»Wer zu meiner Zeit deutsch konnte, promovierte nicht mehr. Er verbrachte seine Tage damit, deutsch zu können. Heute passiert das, glaube ich, mit dem Chinesischen.«
»Ich kann's nicht gut genug, drum promoviere ich. Aber zurück zu Ihrer Typologie. Wer ist dann ein Genie, so wie Einstein zum Beispiel?«
»Genie ist, wer eine Komponente in schwindelerregende Höhen treibt, indem er sie mit den anderen nährt.«
Er trank einen Schluck und prostete einem Mädchen zu, das gerade vorbeikam: »Ciao, Bellissima, hast du noch mal Selbstmord versucht?«
»Nein«, antwortete sie. »Jetzt leb ich in einer Kommune.«
»Na prima«, sagte Belbo. Dann drehte er sich wieder zu mir: »Man kann auch kollektiven Selbstmord begehen, meinen Sie nicht?«
»Aber was ist mit den Irren?«
»Ich hoffe, Sie nehmen meine Theorie nicht für reines Gold. Ich kann nicht die ganze Welt erklären. Ich sage nur, was ein Irrer für einen Verlag ist. Die Theorie ist ad hoc entwickelt, okay?«
»Okay. Die nächste Runde ist meine.«
»Okay. Pilade, bitte mit weniger Eis. Sonst geht's direkt ins Blut.
Also. Der Idiot redet gar nicht, er sabbert bloß, er ist spastisch. Er pflanzt sich den Pudding auf die Stirn, weil er seine Bewegungen nicht koordinieren kann. Er geht auf der falschen Seite durch die Drehtür.«
»Wie macht er das?«
»Er schafft das. Drum ist er ja ein Idiot. Er interessiert uns hier nicht, man erkennt ihn sofort, und er kommt auch nicht in den Verlag. Lassen wir ihn, wo er ist.«
»Gut, lassen wir ihn.«
»Dämlich zu sein ist komplexer. Es ist ein soziales Verhalten. Dämlich ist, wer immer neben dem Glas redet.«
»Wie meinen Sie das?«
»So.« Er stieß den gestreckten Zeigefinger neben sein Whiskyglas auf den Tresen. »Er will von dem reden, was im Glas ist, aber was er auch tut, er redet daneben. Wenn Sie so wollen, um's in allgemein verständlichen Worten zu sagen: Er benimmt sich immer daneben, er ist der Typ, der sich nach dem Befinden der lieben Frau Gemahlin erkundigt, wenn einem die Frau gerade weggelaufen ist. Genügt das zur Veranschaulichung der Idee?«
»Es genügt, ich kenne den Typ.«
»Der Dämliche ist sehr gefragt, besonders bei mondänen Veranstaltungen und auf Partys. Er bringt alle in Verlegenheit, aber dann bietet er Anlässe zu Kommentaren. In seiner positiven Variante wird er Diplomat. Er redet neben dem Glas, wenn die anderen sich danebenbenommen haben, er bringt die Gespräche auf andere Themen. Aber er interessiert uns hier nicht, er ist nie kreativ, er schafft nichts selber, und daher kommt er auch nicht in die Verlage, um Manuskripte anzubieten. Der Dämliche sagt nicht, dass die Katze bellt, er spricht von Katzen, wenn die andern von Hunden reden. Er vertut sich mit den Konversationsregeln, und wenn er sich gut vertut, ist er wunderbar. Ich glaube, er ist eine aussterbende Gattung, ein Träger eminent bürgerlicher Tugenden. Er braucht einen Salon Verdurin, oder geradezu eine Maison Guermantes. Lest ihr noch diese Sachen, ihr Studenten?«
»Ich schon.«
»Der Dämliche ist Joachim Murat, der die Parade abnimmt und einen hochdekorierten Offizier aus Martinique erblickt. ›Vous êtes négre?‹ fragt er ihn. ›Oui, mon général‹, antwortet der Offizier. Und Murat: ›Bravo, bravo, continuez!‹ Weitermachen. Können Sie mir folgen? Entschuldigen Sie, aber heute Abend feiere ich eine historische Entscheidung in meinem Leben: Ich habe aufgehört zu trinken! Noch einen? Nein, antworten Sie nicht — Sie machen mir Schuldgefühle. Pilade!«
»Und der Dumme?«
»Ah. Der Dumme vertut sich nicht im Benehmen. Er vertut sich im Denken. Er ist der Typ, der sagt, alle Hunde sind Haustiere, und alle Hunde bellen, aber auch die Katzen sind Haustiere, und folglich bellen sie. Oder: Alle Athener sind sterblich, und alle Einwohner von Piräus sind sterblich, also sind alle Einwohner von Piräus Athener.«
»Stimmt ja auch.«
»Ja, aber nur aus Zufall. Der Dumme kann auch was Richtiges sagen, aber aus falschen Gründen.«
»Man kann auch was Falsches sagen, wenn nur die Gründe richtig sind.«
»Bei Gott! Wozu sonst die ganze Mühe, ein animal rationale zu sein?«
»Alle großen Menschenaffen stammen von niederen Formen des Lebens ab, die Menschen stammen von niederen Formen des Lebens ab, also sind alle Menschen große Affen.«
»Nicht schlecht. Wir sind schon auf der Schwelle, wo Sie zu ahnen beginnen, dass etwas nicht stimmt, aber es ist noch eine gewisse Arbeit nötig, um herauszufinden, was genau und warum. Der Dumme ist überaus heimtückisch. Den Dämlichen erkennt man sofort (ganz zu schweigen vom Idioten), aber der Dumme argumentiert fast genau wie man selber, es fehlt nur ein winziges Stückchen. Er ist ein Meister der Paralogismen. Vor ihm kann sich kein Verlagslektor retten, er bräuchte dafür eine Ewigkeit. Bücher von Dummen werden viele veröffentlicht, weil sie uns auf den ersten Blick überzeugen. Der Verlagslektor ist nicht gehalten, den Dummen zu erkennen. Die Akademie der Wissenschaften erkennt ihn nicht, warum sollten es die Verlagsleute tun?«
»Auch die Philosophie erkennt ihn nicht. Der Gottesbeweis des Anselm von Canterbury ist dumm: Gott muss existieren, weil ich ihn als ein Wesen denken kann, das alle Vollkommenheit besitzt, einschließlich der Existenz. Anselm verwechselt die Existenz im Denken mit der Existenz in der Realität.«
»Ja, aber dumm ist auch die Widerlegung von Gaunilo: Ich kann an eine Insel im Meer denken, auch wenn es diese Insel nicht gibt. Er verwechselt das Denken des Zufälligen mit dem Denken des Notwendigen.«
»Ein Kampf zwischen Dummen.«
»Sicher, und Gott amüsiert sich dabei wie närrisch. Er wollte bloß undenkbar sein, um zu demonstrieren, dass Anselm und Gaunilo dumm waren. Welch ein erhabenes Ziel für die Schöpfung, was sage ich, für den Willensakt, kraft dessen Gott sein wollte. Alles finalisiert auf die Anprangerung der kosmischen Dummheit.«
»Wir sind von Dummen umzingelt.«
»Man entgeht ihnen nicht. Alle sind dumm, außer Ihnen und mir. Oder sogar, ohne wen zu beleidigen, außer Ihnen.«
»Mir scheint, hier kommt Gödels Beweis ins Spiel.«
»Keine Ahnung, ich bin ein Idiot. Pilade!«
»He, das ist meine Runde.«
»Wir teilen's dann nachher. Der Kreter Epimenides sagt, alle Kreter sind Lügner. Wenn er das sagt, er, der ein Kreter ist und die Kreter kennt, muss es wahr sein.«
»Das ist dumm.«
»Das ist Paulus. Brief an Titus. Jetzt diesen: Alle, die denken, dass Epimenides ein Lügner ist, können sich nur auf die Kreter verlassen, aber die Kreter verlassen sich nicht auf die Kreter, weshalb kein Kreter denkt, dass Epimenides ein Lügner ist.«
»Das ist dumm, oder?«
»Urteilen Sie selbst. Ich hab's Ihnen ja gesagt — es ist schwierig, den Dummen zu erkennen. Ein Dummer kann auch den Nobelpreis kriegen.«
»Lassen Sie mich mal nachdenken ... Einige von denen, die nicht glauben, dass Gott die Welt in sieben Tagen geschaffen hat, sind keine Fundamentalisten, aber einige Fundamentalisten glauben, dass Gott die Welt in sieben Tagen geschaffen hat — also ist keiner, der nicht glaubt, dass Gott die Welt in sieben Tagen geschaffen hat, ein Fundamentalist. Ist das jetzt dumm oder nicht?«
»Mein Gott, schwer zu sagen ... Ich weiß nicht. Was meinen Sie?«
»Es ist in jedem Fall dumm, auch wenn es wahr wäre. Es verletzt eine Regel des Syllogismus: Man kann keine allgemeinen Schlüsse aus zwei besonderen Fällen ableiten.«
»Und wenn Sie nun der Dumme wären?«
»Dann wäre ich in guter und säkularer Gesellschaft.«
»Da haben Sie recht, die Dummheit umgibt uns. Und vielleicht ist unsere Dummheit in einer anderen Logik als der unseren ihre Weisheit. Die ganze Geschichte der Logik besteht in der Definition eines akzeptablen Begriffs der Dummheit. Nichts zu machen, sie ist zu immens. Jeder große Denker ist eines anderen Dummer.«
»Das Denken als die kohärente Form der Dummheit.«
»Nein, die Dummheit eines Denkens ist die Inkohärenz eines anderen Denkens.«
»Tiefer Gedanke. Schon zwei, gleich macht Pilade zu, und wir sind noch nicht bei den Irren.«
»Bin schon da. Den Irren erkennt man sofort. Er ist ein Dummer, der sich nicht verstellen kann. Der Dumme versucht seine These zu beweisen, er hat eine schräge Logik, aber er hat eine. Der Irre dagegen kümmert sich nicht um Logik, er operiert mit Kurzschlüssen. Alles beweist für ihn alles. Der Irre hat eine fixe Idee und sieht sie durch alles, was er findet, bestätigt. Den Irren erkennt man an der Freiheit, die er sich gegenüber der Beweispflicht nimmt, an der Bereitschaft, überall Erleuchtungen zu finden. Und es mag Ihnen komisch vorkommen, aber der Irre zieht früher oder später immer die Templer aus dem Hut.«
»Immer?«
»Es gibt auch Irre ohne Templer, aber die mit Templern sind die gefährlichsten. Man erkennt sie nicht gleich, es scheint erst, als redeten sie ganz normal, dann aber, plötzlich ...« Er machte Anstalten, noch einen Whisky zu bestellen, überlegte sich's aber dann anders und bat um die Rechnung. »Apropos Templer, vorgestern kam ein Typ zu mir und hat mir ein Manuskript zum Thema gebracht. Ich glaube wirklich, er ist ein Irrer, aber mit menschlichem Antlitz. Das Manuskript fängt ganz harmlos an. Wollen sie mal einen Blick reinwerfen?«
»Gern. Vielleicht finde ich da irgendwas drin, was mir nützt.«
»Glaube ich kaum. Aber wenn Sie mal eine halbe Stunde Zeit haben, kommen Sie doch auf einen Sprung rüber. Via Sincero Renata eins. Wird mir mehr nützen als Ihnen. Sagen Sie mir gleich, ob Ihnen die Arbeit seriös vorkommt.«
»Wieso vertrauen Sie mir?«
»Wer sagt, dass ich Ihnen vertraue? Aber wenn Sie kommen, vertraue ich Ihnen. Ich vertraue der Neugier.«
Ein Student kam hereingestürmt mit verzerrtem Gesicht: »Genossen! Draußen sind die Faschisten im Anmarsch. Mit Fahrradketten!«
»Ich hau sie in Klump«, schrie der Typ mit Tatarenschnauzer, der mich wegen Lenin bedroht hatte.
»Los, Genossen!« Alle rannten hinaus.
»Was ist? Gehen wir nicht mit?« fragte ich schuldbewusst.
»Nein«, sagte Belbo. »Das sind Gerüchte, die Pilade in Umlauf setzt, um das Lokal leer zu kriegen. Für den ersten Abend, seit ich nicht mehr trinke, fühl ich mich ganz schön bedudelt. Müssen die Entzugserscheinungen sein. Alles, was ich Ihnen gesagt habe, bis zu diesem Moment inklusive, ist falsch. Gute Nacht, Casaubon.«
11
Seine Unfruchtbarkeit war unendlich: sie hatte teil an der Ekstase.
E. M. Cioran, Le mauvais démiurge, Paris, Gallimard, 1969 Erwürgte Gedanken«)
Das Gespräch bei Pilade hatte mir Belbos Außenseite gezeigt. Ein guter Beobachter hätte den melancholischen Charakter seines Sarkasmus wahrnehmen können. Ich kann nicht behaupten, er sei eine Maske gewesen. Maske waren vielleicht die Vertraulichkeiten, zu denen er sich im geheimen hinreißen ließ. Sein öffentlich vorgezeigter Sarkasmus enthüllte im Grunde seine wahrste Melancholie, die er im geheimen vor sich selbst zu verbergen suchte, indem er sie mit einer manierierten Melancholie maskierte.
Ich lese diesen Text wieder, den ich unter seinen files gefunden habe, und sehe nun, dass er darin im Grunde das, was er mir am nächsten Tag bei Garamond über seinen Beruf sagen sollte, romanhaft auszuspinnen versuchte. Alles finde ich darin wieder: seine Akribie, seine Leidenschaft, die Enttäuschung des Lektors, der durch Mittelspersonen schreibt, die Sehnsucht nach einer Kreativität, die er nie verwirklichen konnte, die moralische Strenge, die ihn zwang, sich selbst zu bestrafen, weil er etwas begehrte, worauf er kein Recht zu haben meinte, indem er von seinem Begehren ein pathetisches Kitschgemälde entwarf. Nie zuvor bin ich einem begegnet, der sich selber mit solcher Verachtung bemitleiden konnte.
Filename: Surabaya-Jim
Morgen Gespräch mit dem jungen Cinti.
1. Schöne Monografie, streng geschrieben, vielleicht ein bisschen zu akademisch.
2. Am genialsten im Schlusskapitel der Vergleich zwischen Catull, den poetae novi und den modernen Avantgarden.
3. Warum nicht als Einleitung?
4. Muss ihn dazu überreden. Er wird sagen, solche haltlosen Spekulationen gehörten sich nicht für eine philologische Reihe. Er muss auf seinen Lehrer Rücksicht nehmen, sonst bekommt er von ihm kein Vorwort und riskiert seine Karriere. Eine brillante Idee auf den letzten zwei Seiten geht unbemerkt durch, am Anfang springt sie zu sehr ins Auge und kann die Päpste der Zunft irritieren.
5. Aber man braucht sie nur kursiv zu setzen, in Form einer lockeren Vorrede außerhalb der eigentlichen Untersuchung, dann bleibt die Hypothese bloß eine Hypothese, ohne die Seriosität der Arbeit zu kompromittieren. Die Leser jedoch sind sofort gefesselt, sie lesen das Buch unter einem anderen Blickwinkel.
Aber dränge ich ihn damit wirklich zu einem Akt der Befreiung, oder benutze ich ihn bloß, um mein eigenes Buch zu schreiben?
Mit zwei Worten ganze Bücher verändern. Demiurg am Werk anderer sein. Statt weichen Ton zu kneten, kleine Schläge auf den hart gewordenen Ton, aus dem ein anderer schon seine Statue geformt hat. Moses den richtigen Schlag mit dem Hammer versetzen, und er wird sprechen.
Gespräch mit William S.
– Ich habe Ihre Arbeit gelesen, nicht schlecht. Das Stück hat Spannung, Fantasie, Dramatik. Ist es Ihr erster Schreibversuch?
– Nein, ich habe schon eine andre Tragödie geschrieben, die Geschichte zweier Liebender in Verona, die ...
– Gut, aber sprechen wir jetzt von dieser Arbeit, Herr S. Ich frage mich, warum Sie die Geschichte in Frankreich spielen lassen. Wieso nicht in Dänemark? Ich meine ja nur, das würde doch nicht viel Arbeit machen, es genügt, ein paar Namen zu ändern, aus dem Château de Chalons-sur-Marne wird, sagen wir, das Schloss Helsingør ... Ich finde, in einem nordischen, protestantischen Klima, wo der Geist Kierkegaards umgeht, würden all diese existenziellen Fragen ...
– Nun ja, vielleicht haben Sie recht.
– Ja, ich glaube wirklich. Und dann brauchte Ihr Stück noch ein paar dramatische Straffungen, nur da und dort noch eine Retusche, wie wenn der Friseur die letzten Härchen im Nacken stutzt, bevor er Ihnen den Spiegel hinhält ...
– Zum Beispiel der Geist des Vaters. Wieso erst am Ende? Ich würde ihn gleich am Anfang auftreten lassen. Sodass die Mahnung des Vaters sofort das ganze Verhalten des jungen Prinzen bestimmt und ihn in Konflikt mit der Mutter bringt.
– Keine schlechte Idee, ich brauchte bloß eine Szene zu verschieben.
– Genau. Und schließlich der Stil. Greifen wir eine beliebige Stelle heraus, hier, diese zum Beispiel, wo der junge Prinz an die Rampe tritt und mit seiner Meditation über Aktivität und Passivität beginnt. Die Stelle ist wirklich schön, aber mir fehlt noch die rechte Spannung, das geht noch zu wenig unter die Haut: »Handeln oder nicht handeln? Das ist hier meine angstvolle Frage! Ob's edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden oder ...« Wieso meine angstvolle Frage? Ich würde ihn sagen lassen, das ist hier die Frage, dies ist das Problem, verstehen Sie, nicht sein individuelles Problem, sondern die Grundfrage des Daseins überhaupt. Die Alternative ist eher, um es mal so zu sagen, die zwischen Sein und Nichtsein ...
Die Welt bevölkern mit Kindern, die unter anderen Namen leben, und niemand weiß, dass sie deine sind. Als wäre man Gott in Zivil. Du bist Gott, du gehst durch die Stadt, hörst die Leute von dir reden, Gott hier und Gott da, und was für ein wunderbares Universum, und wie elegant die universale Schwerkraft, und du lächelst in deinen Bart (du musst dir einen Bart ankleben, um unter die Leute zu gehen, oder nein, keinen Bart, am Bart erkennen sie dich sofort), und du sagst zu dir selbst (der Solipsismus Gottes ist dramatisch): »Ha, all das habe ich geschaffen, und sie wissen es nicht.« Und jemand rempelt dich auf der Straße an, beschimpft dich womöglich, und du sagst demütig Entschuldigung und gehst weiter, dabei bist du Gott, und wenn du wolltest, brauchtest du bloß mit dem Finger zu schnipsen, und die Welt wäre Asche. Aber du bist so unendlich allmächtig, dass du dir erlauben kannst, gütig zu sein.
Einen Roman zu schreiben über Gott, der inkognito durch seine Schöpfung spaziert ... Vergiss es, Belbo, wenn dir die Idee gekommen ist, ist sie bestimmt auch schon einem andern gekommen.
Variante. Du bist ein Autor, du weißt noch nicht, ein wie großer, die Frau, die du liebtest, hat dich verraten, das Leben hat für dich keinen Sinn mehr. Um zu vergessen, machst du eine Reise auf der Titanic und erleidest Schiffbruch in der Südsee, du rettest dich (als einziger Überlebender) auf einem Eingeborenenboot und verbringst lange Jahre auf einer einsamen, nur von Papuas bewohnten Insel, umhegt von Mädchen, die dir schmachtende Lieder singen, wobei sie ihre nur mit Blütenkränzen bedeckten Brüste wippen lassen. Du gewöhnst dich daran, sie nennen dich Jim, wie sie's mit allen Weißen tun, eines Abends kommt ein Mädchen mit bernsteinfarbener Haut in deine Hütte und sagt: »Ich deine, ich mit dir.« Ja, es ist schön, am Abend auf der Veranda zu liegen und das Kreuz des Südens zu betrachten, während sie dir die Stirne streichelt.
Du lebst im Rhythmus der auf- und untergehenden Sonne und kennst nichts anderes mehr. Eines Tages kommt ein Motorboot mit Holländern, du erfährst, dass zehn Jahre vergangen sind, du könntest mit ihnen davonfahren, aber zu zögerst, du tauschst lieber Kokosnüsse gegen Waren und versprichst, dich um die Hanfernte zu kümmern, die Eingeborenen schuften für dich, du fängst an, von Insel zu Insel zu fahren, bald nennt man dich überall Surabaya-Jim. Ein vom Suff ruinierter portugiesischer Abenteurer kommt, um mit dir zu arbeiten, und du erlöst ihn vom Alkohol, alle Welt spricht inzwischen von dir in jenen Südseegewässern, du berätst den Maharadscha von Brunei bei einer Kampagne gegen die Flusspiraten, bringst eine verrostete alte Kanone aus den Zeiten von Tippo Sahib wieder in Schuss, stellst eine Truppe treu ergebener Malaien auf und trainierst sie, brave Kerle mit betelgeschwärzten Zähnen ... In einem Gefecht am Korallenplateau (oder war's am Susquehanna?) deckt dich der alte Sampan, die Zähne betelgeschwärzt (oder war's der alte Lederstrumpf?), mit seinem eigenen Leib. »Oh, Surabaya-Jim, ich bin glücklich, für dich zu sterben.« — »Oh, mein guter alter Freund Sampanstrumpf!«
Dein Ruhm verbreitet sich durch den ganzen Archipel, von Surabaya bis Port-au-Prince, du verhandelst mit den Engländern, in der Hafenkommandantur von Darwin bist du als Kurtz registriert, du bist nun für alle Welt Kurtz, Surabaya-Jim für die Eingeborenen. Doch eines Abends, während das Mädchen dich auf der Veranda streichelt und das Kreuz des Südens am Himmel erglänzt wie noch nie, aber ach, so ganz anders als der Große Bär, da begreifst du: es zieht dich zurück in die Heimat. Du würdest sie gerne wiedersehen, nur kurz, nur um zu sehen, was dort von dir geblieben ist.
Du nimmst das Motorboot und fährst nach Manila, von dort bringt dich ein Propellerflugzeug nach Bali. Dann weiter über Samoa, die Admiralsinseln, Singapur, Tananarivo, Timbuktu, Aleppo, Samarkand, Basra, Malta, und schon bist du zu Hause.
Achtzehn Jahre sind vergangen, das Leben hat dich gezeichnet, dein Gesicht ist braungegerbt von den Passatwinden, du bist älter geworden, schöner vielleicht. Und kaum bist du angekommen, entdeckst du, dass die Buchläden deine Bücher anpreisen, dein ganzes Werk, in kritischen Neuausgaben, dein Name prangt über dem Tor der alten Schule, in der du lesen und schreiben gelernt hast. Du bist der Große Verschollene Dichter, das Gewissen der Generation. Romantische Mädchen begehen Selbstmord an deinem leeren Grab.
Und dann begegne ich dir, Geliebte, was hast du so viele Runzeln um deine Augen, wie tief zerfurcht vom Schmerz der Erinnerung und von Gewissensbissen ist dein immer noch schönes Gesicht. Fast hätte ich dich gestreift auf dem Trottoir, ich stehe zwei Schritte vor dir, und du hast mich angesehen wie irgendeinen, als suchtest du hinter mir nach einem andern. Ich könnte dich ansprechen, könnte die Zeit auslöschen. Aber wozu? Habe ich nicht schon gehabt, was ich wollte? Ich bin Gott, ich habe dieselbe Einsamkeit, dieselbe Ruhmsucht, dieselbe Verzweiflung, nicht eines meiner Geschöpfe zu sein wie all die andern. Alle leben sie in meinem Licht, nur ich muss im unerträglichen Glanz meiner Finsternis leben.
Geh nur, geh hinaus in die Welt, William S. Du bist berühmt, und wenn du an mir vorbeikommst, erkennst du mich nicht. Ich murmele vor mich hin »Sein oder Nichtsein« und sage mir: »Bravo, gut gemacht, Belbo!« Geh, alter William S. hol dir deinen Anteil am Ruhm: du hast nur geschaffen, ich aber habe dich perfektioniert!
Wir, die den Geburten anderer ans Licht verhelfen, wir dürften eigentlich, ganz wie die Schauspieler, nicht in geweihter Erde begraben werden. Aber die Schauspieler täuschen nur vor, dass die Welt anders sei, als sie ist, wir dagegen fingieren die Vielzahl der möglichen Welten ...
Wie kann das Leben so großzügig sein, eine derart sublime Kompensation für das Mittelmaß zu gewähren?
12
Sub umbra alarum tuarum, Jehova.
(Unter dem Schatten deiner Flügel, Jehova - Psalm 57,2)
Fama Fraternitatis, in Allgemeine und General Reformation, Kassel, Wessel, 1614, Ende
Am nächsten Tag ging ich zu Garamond. Die Nummer l der Via Sincero Renata führte in einen staubigen Durchgang, an dessen Ende ein Hof mit einer Seilerwerkstatt zu sehen war. Im Treppenhaus rechts befand sich ein Fahrstuhl, der in einer Ausstellung für Industrie-Archäologie hätte stehen können, und als ich ihn zu nehmen versuchte, gab er nur ein verdächtiges Knarren von sich, ohne sich in Bewegung zu setzen. Ich beschloss, lieber zu Fuß zu gehen, und stieg zwei Absätze einer steilen, hölzernen, ziemlich staubigen Treppe hinauf. Wie ich später erfuhr, liebte Signor Garamond diesen Ort, weil er ihn an ein altes Pariser Verlagshaus erinnerte. Im ersten Stock verkündete ein Schild »Garamond Editori, s.p.a. «, und eine offene Tür führte in einen Empfangsraum ohne Telefonzentrale, Pförtnerloge oder dergleichen. Aber man konnte nicht eintreten, ohne von einem kleinen Nebenraum aus gesehen zu werden, aus welchem denn auch sofort eine Person vermutlich weiblichen Geschlechts, unbestimmten Alters und von einer Statur, die man euphemistisch als unter dem Durchschnitt bezeichnet hätte, auf mich zugeschossen kam.
Die Person überfiel mich in einer Sprache, die ich schon irgendwo einmal gehört zu haben meinte, bis ich begriff, dass es ein fast ganz der Vokale beraubtes Italienisch war. Ich sagte, ich wolle zu Belbo. Sie hieß mich ein paar Sekunden warten, dann führte sie mich durch den Flur in ein Büro am hinteren Ende.
Belbo empfing mich sehr freundlich: »Na, dann sind Sie ja doch ein ernsthafter Mensch! Treten Sie ein.« Er placierte mich in einen Sessel vor seinem Schreibtisch, der alt wie alles Übrige war, überladen mit Manuskripten wie die Regale ringsum an den Wänden.
»Ich hoffe, Gudrun hat Sie nicht erschreckt«, sagte er.
»Gudrun? Diese ... Signora?«
»Signorina. Sie heißt nicht Gudrun. Wir nennen sie bloß so wegen ihres nibelungischen Äußeren und weil sie irgendwie so teutonisch spricht. Sie will immer alles auf einmal sagen und spart sich die Vokale. Aber sie hat Sinn für ausgleichende Gerechtigkeit: beim Tippen spart sie sich die Konsonanten.«
»Was macht sie hier?«
»Alles, leider. Sehen Sie, in jedem Verlag gibt es eine Person, die unersetzlich ist, weil sie als einzige wiederzufinden vermag, was in dem Chaos verloren geht, das sie anrichtet. Beziehungsweise weil man, wenn ein Manuskript verloren geht, dann wenigstens weiß, wer schuld ist.«
»Verliert sie auch Manuskripte?«
»Nicht mehr als andere. In einem Verlag verlieren alle andauernd Manuskripte. Ich glaube, der Name Verlag kommt genau in diesem Sinn von ›verlegen›, das Manuskripte-Verlegen ist die Hauptbeschäftigung. Aber man braucht schließlich einen Sündenbock, finden Sie nicht? Ich werfe Gudrun nur vor, dass sie nicht die Manuskripte verliert, die ich gerne los wäre. Unangenehme Zwischenfälle bei dem, was der gute Bacon The advancement of learning nannte.«
»Aber wohin gehen sie denn verloren?«
Er breitete die Arme aus. »Entschuldigen Sie, aber merken Sie nicht, wie dumm die Frage ist? Wenn man wüsste wohin, wären sie nicht verloren.«
»Logisch«, sagte ich. »Aber hören Sie. Wenn ich mir die Bücher von Garamond ansehe, scheint mir, dass sie sehr gut gemacht sind, sorgfältig ediert, und Sie haben einen ziemlich reichhaltigen Katalog. Machen Sie alles hier drin? Wie viele sind Sie?«
»Gegenüber ist ein großer Raum mit den Herstellern, hier nebenan sitzt mein Kollege Diotallevi. Aber er betreut die Lehrbücher, die langlebigen Werke, an denen man lange sitzt und die über lange Zeit verkauft werden, sogenannte Longseller. Die kurzlebigen Studienausgaben mache ich. Aber Sie dürfen nicht denken, das wäre allzu viel Arbeit. Gott ja, über manchen Büchern brüte ich lange, die Manuskripte muss ich natürlich lesen, aber im Allgemeinen ist alles schon abgesichertes Zeug, ökonomisch und wissenschaftlich. Veröffentlichungen des Instituts Soundso, Kongressakten, herausgegeben und finanziert von der und der Uni. Wenn der Autor ein Debütant ist, schreibt sein Lehrer ein Vorwort, und die Verantwortung liegt bei ihm. Der Autor korrigiert mindestens zweimal die Fahnen, überprüft die Zitate und Anmerkungen, und die Rechte haben wir. Dann kommt das Buch heraus, nach ein paar Jahren sind ein- bis zweitausend Exemplare verkauft, die Kosten sind gedeckt... Keine Überraschungen, jedes Buch ein Gewinn.«
»Und was machen dann Sie?«
»Och, eine Menge. Vor allem muss ich die Auswahl treffen. Dann gibt es auch ein paar Bücher, die wir auf unsere Kosten rausbringen, meistens Übersetzungen renommierter Autoren, um unser Programm auf Niveau zu halten. Und schließlich gibt es noch Manuskripte, die einfach so reinkommen, die uns von Einzelgängern gebracht werden. Da ist zwar bloß selten was Interessantes dabei, aber man muss sie durchsehen, man weiß ja nie.«
»Macht Ihnen die Arbeit Spaß?«
»Spaß? Ich amüsiere mich prächtig. Das ist das Einzige, was ich wirklich gut kann.«
In der Tür erschien ein hagerer Mann um die Vierzig, der ein mehrere Nummern zu großes Jackett trug.
Er hatte spärliches gelbblondes Haar, das ihm über dichte, ebenfalls gelbblonde Brauen fiel. Seine Stimme war sanft, als redete er mit einem Kind.
»Ich bin schon ganz krank von diesem Vademecum des Beiträgers. Müsste alles neu schreiben und hab keine Lust dazu. Störe ich?«
»Das ist Diotallevi«, sagte Belbo und stellte uns vor.
»Ach, Sie sind wegen der Templer gekommen. Sie Ärmster. Hör mal, Jacopo, mir ist noch was Gutes eingefallen: Zigeunerische Urbanistik.«
»Schön«, sagte Belbo bewundernd. »Ich dachte gerade an Aztekische Reitkunst.«
»Wunderbar. Aber tust du die jetzt in die Potiosektion oder zu den Adynata?«
»Mal sehen«, sagte Belbo, kramte in einer Schublade und zog ein paar Blätter heraus. »Die Potiosektion...« Er blickte auf und sah meine Neugier. »Die Potiosektion ist, wie der Name sagt, die Kunst des Suppeschneidens. Aber nicht doch, wo denkst du hin«, wandte er sich an Diotallevi, »die Potiosektion ist doch keine Abteilung, sondern ein Fach, wie die Mechanische Avunculogratulation und die Pilokatabase, beide in der Abteilung Tetrapilotomie.«
»Was ist Tetralo ...«, fragte ich zögernd. »Die Kunst, ein Haar in vier Teile zu spalten. Diese Abteilung enthält die Lehre unnützer Techniken, zum Beispiel die Mechanische Avunculogratulation, die lehrt die Konstruktion von Maschinen zur Tanten- und Onkelbeglückwünschung. Wir schwanken noch, ob wir auch die Pilokatabase in diese Abteilung einordnen sollen, das ist die Kunst, um ein Haar zu entwischen, was ja nicht ganz unnütz ist, oder?«
»Ich bitte Sie, sagen Sie mir doch endlich, wovon Sie da eigentlich reden!«, flehte ich.
»Ganz einfach, Diotallevi und ich projektieren eine Reform des Wissens. Wir planen eine Fakultät der Vergleichenden Irrelevanz, in der man unnütze oder unmögliche Fächer studieren kann. Die Fakultät zielt auf die Reproduktion von Gelehrten mit der Fähigkeit, die Anzahl der irrelevanten Disziplinen ad infinitum zu steigern.«
»Und wie viele Abteilungen haben Sie schon?«
»Vorläufig vier, aber die könnten bereits alles denkbare Wissen enthalten. Die Abteilung Tetrapilotomie hat propädeutische Funktion, sie schärft den Sinn für die Irrelevanz. Eine wichtige Abteilung ist die der Adynata oder Impossibilia. Zum Beispiel Zigeunerische Urbanistik oder Aztekische Reitkunst... Das Wesen der Disziplin ist das Verständnis der tieferen Gründe ihrer Irrelevanz und, in der Abteilung Adynata, auch ihrer Unmöglichkeit Hier haben wir einstweilen Morphematik des Morsens, Geschichte der Antarktischen Agrikultur, Geschichte der Malerei auf den Osterinseln, Zeitgenössische Sumerische Literatur, Institutionen der Montessorischen Dokimasie, Assyrisch-Babylonische Philatelie, Technologie des Rades in den Präkolumbianischen Reichen, Ikonologie der Blindenschrift, Phonetik des Stummfilms ...«
»Was halten Sie von einer Psychologie der Massen in der Sahara?«
»Gut«, sagte Belbo.
»Gut«, bekräftigte Diotallevi mit Überzeugung. »Sie müssten mitarbeiten. Der Junge hat Talent, was, Jacopo?«
»Ja, hab ich gleich gemerkt. Gestern Abend hat er mit großem Scharfsinn dumme Gedankengänge ersonnen. Aber machen wir weiter, wo das Projekt ihn ja scheint's interessiert. Was hatten wir noch gleich in die Abteilung Oxymoristik getan? Ich finde den Zettel nicht mehr.«
Diotallevi zog ein Papier aus der Tasche und fixierte mich mit sentenziöser Sympathie. »In der Oxymoristik geht es, wie der Name sagt, um die Selbstwidersprüchlichkeit der Disziplin. Deswegen gehört meines Erachtens die Zigeunerische Urbanistik hierhin... «
»Nein«, widersprach Belbo, »nur wenn es Nomadische Urbanistik wäre. Die Adynata betreffen empirische Unmöglichkeiten, die Oxymoristik befasst sich mit begrifflichen Widersprüchen.«
»Na schauen wir mal. Was hatten wir denn in die Oxymoristik getan? Hier: Institutionen der Revolution, Parmenideische Dynamik, Heraklitische Statik, Spartanische Sybaritik, Institutionen der Volksoligarchie, Geschichte der Innovativen Traditionen, Tautologische Dialektik, Boolesche Eristik... «
Jetzt fühlte ich mich herausgefordert: »Darf ich eine Grammatik der Devianz anregen?«
»Schön, schön!«, riefen beide und machten sich eifrig ans Schreiben.
»Es gäbe da ein Problem«, sagte ich.
»Welches?«
»Wenn Sie das Projekt bekannt machen, wird ein Haufen Leute ernsthafte Publikationen vorlegen.«
»Ich hab's dir doch gleich gesagt, Jacopo, das ist ein helles Bürschchen«, sagte Diotallevi. »Wissen Sie, genau das ist nämlich unser Problem. Ohne es zu wollen, haben wir das ideale Profil eines wirklichen Wissens gezeichnet. Wir haben die Notwendigkeit des Möglichen demonstriert. Infolgedessen müssen wir schweigen. Aber jetzt muss ich gehen.«
»Wohin?«, fragte Belbo.
»Es ist Freitagnachmittag.«
»O heiliger Jesus!«, rief Belbo. Dann erklärte er mir: »Hier gegenüber gibt es zwei, drei Häuser, in denen orthodoxe Juden wohnen, Sie wissen schon, solche mit schwarzem Hut und Bart und Löckchen. Es gibt nicht viele davon in Mailand. Heute ist Freitag, und bei Sonnenuntergang beginnt der Sabbat. Also fangen sie jetzt drüben an, alles vorzubereiten, die Leuchter zu putzen, die Speisen zu kochen, die Dinge so einzurichten, dass morgen kein Feuer angemacht werden muss. Auch der Fernseher bleibt die ganze Nacht an, nur sind sie gezwungen, vorher den Kanal zu wählen. Unser Freund Diotallevi hat ein kleines Opernglas, mit dem späht er indiskret rüber und träumt davon, er wäre auf der anderen Seite der Straße.«
»Und wieso?«, fragte ich.
»Weil unser guter Diotallevi sich in den Kopf gesetzt hat, er sei Jude.«
»Was heißt in den Kopf gesetzt?« protestierte Diotallevi. » Ich bin Jude. Haben Sie was dagegen, Casaubon?«
»Aber nein, ich bitte Sie!«
»Mein lieber Freund«, sagte Belbo entschieden, »du bist kein Jude.«
»Ach nein? Und mein Name? ›Gott möge dich aufziehen‹ — ein Name wie Diotisalvi, Graziadio, Diosiacontè, alles Übersetzungen aus dem Hebräischen, Gettonamen wie Scholem Alejchem.«
»Diotallevi ist ein Glückwunschname, wie ihn die Standesbeamten den Findelkindern oft gaben. Und dein Großvater war ein Findelkind.«
»Ein jüdisches Findelkind.«
»Diotallevi, du hast hellrosa Haut, eine kehlige Stimme und bist praktisch ein Albino.«
»Es gibt Albino-Kaninchen, und ich bin eben ein Albino-Jude.«
»Diotallevi, man kann nicht einfach beschließen, Jude zu sein, so wie man beschließt, Briefmarkensammler oder Zeuge Jehovas zu werden. Als Jude wird man geboren. Finde dich damit ab, du bist ein Goj wie alle andern.«
»Ich bin beschnitten.«
»Also hör mal! Jeder kann sich beschneiden lassen, zum Beispiel aus hygienischen Gründen. Man braucht bloß einen Arzt mit Thermokauter. In welchem Alter hast du dich denn beschneiden lassen?«
»Seien wir nicht spitzfindig.«
»Doch, seien wir spitzfindig. Juden sind spitzfindig.«
»Niemand kann beweisen, dass mein Großvater kein Jude war.«
»Sicher nicht, er war ja ein Findelkind. Aber er hätte auch der Thronerbe von Byzanz sein können, oder ein Bastard der Habsburger.«
»Niemand kann beweisen, dass er kein Jude war, und er ist nahe am Portico d'Ottavia gefunden worden, beim alten römischen Ghetto.«
»Aber deine Großmutter war keine Jüdin, und das Judentum vererbt sich über die Mütter... «
»... und jenseits aller bürokratischen Argumente — denn auch die Gemeinderegister können jenseits der Buchstabenform gelesen werden — gibt es die Argumente des Blutes, und das Blut sagt mir, dass meine Gedanken zutiefst talmudisch sind, und es wäre rassistisch von dir, zu behaupten, dass auch ein Goj so zuinnerst talmudisch sein kann, wie ich mich zu sein empfinde.«
Sprach's und verließ den Raum. Als er draußen war, sagte Belbo zu mir: »Machen Sie sich nichts daraus. Diese Diskussion führen wir nahezu täglich, nur dass ich jeden Tag ein neues Argument anzubringen versuche. Tatsache ist, dass Diotallevi ein treuer Jünger der Kabbala ist Aber es hat auch christliche Kabbalisten gegeben. Und schließlich, sagen Sie selbst, Casaubon, wenn Diotallevi unbedingt Jude sein will, kann ich mich kaum widersetzen.«
»Kaum. Seien wir demokratisch.«
»Seien wir demokratisch.«
Er zündete sich eine Zigarette an. Ich erinnerte ihn an den Grund meines Besuches: »Sie haben gesagt, Sie hätten ein Manuskript über die Templer.«
»Ja, stimmt... Warten Sie mal, es war in so einer Kunstledermappe... « Er wühlte in einem Stapel von Manuskripten und versuchte, eins aus der Mitte herauszuziehen, ohne die anderen abzuheben. Riskante Operation. Tatsächlich brach der Stapel zusammen und ergoss sich zum Teil auf den Boden. Aber Belbo hielt nun die Kunstledermappe in Händen.
Ich warf einen Blick aufs Inhaltsverzeichnis und überflog die Einleitung. »Betrifft die Verhaftung der Templer. Im Jahre 1307 ließ Philipp der Schöne alle Templer in Frankreich verhaften. Aber es gibt da eine Legende, nach der zwei Tage, bevor Philipp den Haftbefehl erteilte, in Paris ein Heuwagen, von zwei Ochsen gezogen, mit unbekanntem Ziel die Umfriedung des Tempels verließ. Es heißt, es sei eine Gruppe von Rittern unter der Führung eines gewissen Aumont gewesen und sie seien nach Schottland geflohen, um sich dort einer Maurerloge in Kilwinning anzuschließen. Der Legende zufolge haben die Ritter sich mit den freien Maurerzünften identifiziert, in denen die Geheimnisse des Salomonischen Tempels tradiert wurden... Hier, bitte, hab ich mir gleich gedacht. Auch der hier behauptet, den Ursprung des Freimaurertums in jener Flucht der Templer nach Schottland gefunden zu haben. Eine Mär, die seit zweihundert Jahren ständig wiedergekäut wird, reinste Fantasie. Kein Beweis weit und breit, ich könnte Ihnen ein halbes Hundert Bücher anschleppen, die alle denselben Stuss erzählen, eins vom anderen abgeschrieben. Sehen Sie hier, das hab ich aufs Geratewohl aufgeschlagen: ›Der Beweis für die schottische Expedition liegt in der Tatsache, dass sogar heute, nach sechshundertfünfzig Jahren, noch immer Geheimbünde in der Welt existieren, die sich auf die Tempelritter berufen. Wie lässt sich die Fortdauer dieser Erbschaft anders erklären?‹ Verstehen Sie? Wie sollte es möglich sein, dass der Marquis von Carabas nicht existiert, wo doch auch der Gestiefelte Kater beteuert, in seinen Diensten zu stehen?«
»Hab schon verstanden«, sagte Belbo. »Ich werfe das weg. Aber Ihre Templergeschichte interessiert mich. Jetzt, wo ich endlich mal einen Experten vor mir habe, will ich ihn mir nicht entwischen lassen. Wieso reden alle immer nur von den Tempelrittern und nicht zum Beispiel auch von den Maltesern? Nein, sagen Sie's mir nicht jetzt. Es ist schon spät, Diotallevi und ich müssen gleich zu einem Abendessen mit Signor Garamond. Aber ich hoffe, wir werden so gegen halb elf damit fertig sein. Wenn ich kann, überrede ich Diotallevi, auf einen Sprung zu Pilade mitzukommen — er geht gewöhnlich früh schlafen und ist Abstinenzler. Sind Sie dort zu finden?«
»Wo sonst? Ich gehöre zu einer verlorenen Generation und finde mich nur wieder, wenn ich in Gesellschaft der Einsamkeit meinesgleichen beiwohne.«
13
Li frere, li mestre du Temple Qu’estoient rempli et ample D’or et d’argent et de richesse Et qui menoient tel noblesse, Où sont il? que sont devenu?
(Die Brüder, die Meister des Tempels Die angefüllt waren und reichlich Mit Gold und Silber und Schätzen Und die solchen Adel führten Wo sind sie geblieben? Was ist aus ihnen geworden?)
Chronique à la suite du roman de Favel
Et in Arcadia ego. Pilade war an jenem Abend das Inbild des Goldenen Zeitalters. Es war so ein Abend, an dem man spürte, dass die Revolution nicht nur gemacht werden, sondern vom Unternehmerverband gesponsert sein würde. Nur bei Pilade konnte man den Besitzer einer Baumwollfabrik, in Jeansjacke und mit Bart, beim Pokern mit einem künftigen Untergrundkämpfer im Zweireiher und mit Krawatte sehen. Wir standen am Beginn eines großen Paradigmenwechsels. Noch zu Anfang der sechziger Jahre war der Bart ein Abzeichen der Faschisten gewesen — man musste ihn nur wie Italo Balbo tragen: spitz zulaufend, mit glatt rasierten Wangen —, Achtundsechzig war er dann zum Symbol der Protestbewegung geworden, und jetzt wurde er allmählich neutral, ein allgemeines Zeichen der Freiheit. Der Bart war seit jeher Maske gewesen (man klebt sich einen falschen Bart an, um nicht erkannt zu werden), aber zu Beginn der siebziger Jahre konnte man sich auch mit einem echten Bart vermummen. Man konnte lügen, indem man die Wahrheit sagte, ja indem man die Wahrheit enigmatisch und ungreifbar machte, denn angesichts eines Bartes konnte niemand mehr auf die Gesinnung des Trägers schließen. An jenem Abend indessen prangte der Bart auch auf den glatten Gesichtern derer, die gerade dadurch, dass sie keinen trugen, zu verstehen gaben, dass sie durchaus einen tragen könnten und nur der Provokation wegen darauf verzichteten.
Aber ich schweife ab. Gegen elf erschienen Belbo und Diotallevi, einander mit verstörter Miene herbe Kommentare über ihr soeben absolviertes Essen zuraunend. Erst später erfuhr ich, was es mit den Einladungen des Signor Garamond auf sich hatte.
Belbo ging gleich zu seinen bevorzugten Destillaten über, Diotallevi überlegte lange, entnervt, und bestellte schließlich ein Tonicwater. Wir fanden ein Tischchen im hinteren Teil der Bar, das gerade zwei Straßenbahner räumten, die am nächsten Morgen früh aufstehen mussten.
»Also los«, begann Diotallevi. »Diese Templer ...«
»Nein, bitte nicht jetzt«, versuchte ich mich zu drücken. »Das sind doch Sachen, die man überall nachlesen kann.«
»Wir sind für die mündliche Überlieferung«, sagte Belbo.
»Die ist mystischer«, erklärte Diotallevi. »Gott schuf die Welt, indem er sprach. Er hat kein Telegramm geschickt.«
»Fiat lux. Stop. Brief folgt«, murmelte Belbo.
»Vermutlich an die Thessalonicher«, sagte ich.
»Die Templer!« beharrte Belbo.
»Also«, begann ich.
»Man fängt nie mit also an«, tadelte Diotallevi.
Ich machte Anstalten, mich zu erheben. Wartete, dass sie mich baten zu bleiben. Sie taten es nicht. Ich setzte mich wieder und sprach.
»Naja, ich meine, die Geschichte kennt ja doch jeder. Da wäre der erste Kreuzzug, klar? Gottfried von Bouillon betet am Heiligen Grab und erfüllt sein Gelübde, Balduin wird der erste König von Jerusalem, Ein christliches Reich im Heiligen Land. Aber Jerusalem halten ist eine Sache, das übrige Palästina ist eine andere, die Sarazenen sind zwar geschlagen, aber nicht ausgeschaltet. Das Leben ist nicht leicht da unten, weder für die Neuansässigen noch für die Pilger. Tja, und dann kommen 1118, unter Balduin II., neun Typen daher, angeführt von einem gewissen Hugo von Payns, und bilden den ersten Kern eines Ordens der Armen Ritter Christi: einen monastischen Orden, aber mit Schwert und Rüstung. Mit den drei klassischen Gelübden, Armut, Keuschheit, Gehorsam, aber ergänzt um den Schutz der Pilger. Der König, der Bischof, alle in Jerusalem helfen ihnen sofort, spenden Geld, bringen sie im Kloster des alten Tempels von Salomo unter. Tja, und so werden sie Tempelritter.«
»Was sind es für Leute?«
»Hugo und die ersten acht sind wahrscheinlich noch Idealisten, von der Kreuzzugmystik durchdrungen. Aber später sind es dann junge Kerle, zweitgeborene Adelssöhne auf der Suche nach Abenteuern. Das neue Reich von Jerusalem ist ein bisschen das Kalifornien jener Epoche, da kann man sein Glück machen. Zu Hause haben sie nicht viele Chancen, für einige war der Boden wohl auch zu heiß geworden. Ich sehe die ganze Sache etwa so wie die Fremdenlegion. Was macht man, wenn man in der Tinte sitzt? Man geht zu den Templern, da kommt man in der Welt rum, amüsiert sich, darf sich raufen, kriegt zu essen und was zum Anziehen, und am Ende hat man sogar seine Seele gerettet. Natürlich, man musste schon ziemlich am Ende sein, es bedeutete schließlich, in die Wüste zu gehen, in Zelten zu schlafen, tage- und nächtelang keine lebende Seele zu sehen außer anderen Templern, und in der glühenden Sonne zu reiten, quälenden Durst zu ertragen und anderen armen Teufeln den Bauch aufzuschlitzen ...«
Ich hielt einen Augenblick inne. »Vielleicht mach ich's ein bisschen zu sehr auf Western. Wahrscheinlich gab es eine dritte Phase: Der Orden ist reich geworden, inzwischen kommen auch Leute, die zu Hause gut situiert sind. Aber Templer sein heißt jetzt nicht mehr unbedingt, im Heiligen Land zu wirken, man kann auch zu Hause den Templer spielen. Eine komplizierte Geschichte. Mal erscheinen sie als rohe Haudegen, mal legen sie eine gewisse Sensibilität an den Tag. Zum Beispiel kann man nicht sagen, dass sie Rassisten gewesen wären: Sie bekämpften die Muslime, dazu waren sie da, aber in ritterlichem Geist, und man hatte Achtung voreinander. Als der Gesandte des Emirs von Damaskus Jerusalem besucht, überlassen die Templer ihm eine kleine Moschee, die schon zur christlichen Kirche umfunktioniert worden war, damit er dort seine Gebete verrichten kann. Eines Tages kommt ein Franke herein, empört sich über die Anwesenheit eines ›Muselmanns‹ an einem heiligen Ort und misshandelt ihn. Aber die Templer jagen den Intoleranten hinaus und entschuldigen sich für ihn bei dem Muslim. Diese Waffenbrüderschaft mit dem Feind kommt sie schließlich teuer zu stehen, denn im Prozess werden sie auch beschuldigt, Beziehungen zu esoterischen Muslim-Sekten unterhalten zu haben. Was vielleicht sogar stimmte, es war wohl ein bisschen wie bei jenen Abenteurern im vorigen Jahrhundert, die sich die ›Afrikanische Krankheit‹ holten. Sie hatten keine reguläre Klostererziehung genossen, sie waren nicht besonders feinsinnig im Erfassen der theologischen Unterschiede, man muss sie sich vielleicht so vorstellen wie Lawrence von Arabien, der sich nach einer Weile wie ein Scheich anzieht... Naja, und außerdem ist es schwierig, ihre Aktionen richtig einzuschätzen, weil die christlichen Geschichtsschreiber oft, wie Guillaume von Tyrus, keine Gelegenheit auslassen, um sie anzuschwärzen.«
»Warum?«
»Weil sie zu schnell zu mächtig geworden sind. Schuld daran war der heilige Bernhard — Bernhard von Clairvaux, der ist Ihnen doch ein Begriff, nein? Großer Organisator, reformiert den Benediktinerorden, räumt gnadenlos allen Schmuck aus den Kirchen, wenn ein Kollege ihm auf die Nerven geht, wie Abaelard, attackiert er ihn a la McCarthy und würde ihn, wenn er könnte, am liebsten auf den Scheiterhaufen bringen. Ersatzweise lässt er seine Bücher verbrennen. Dann ruft er zum Kreuzzug auf und predigt: Bewaffnet euch und zieht los gegen die Heiden ... «
»Sie mögen ihn nicht«, bemerkte Belbo.
»Ich kann ihn nicht ausstehen, wenn es nach mir ginge, säße er jetzt in einem der inneren Höllenkreise, von wegen Heiliger! Aber er war ein guter PR-Mann seiner selbst, siehe die Position, die ihm Dante verleiht: er macht ihn zum Kabinettschef der Madonna. Heiliger ist er geworden, weil er sich mit den richtigen Leuten zusammengetan hat. Aber ich sprach von den Templern. Bernhard hat sofort gerochen, dass die Idee kultiviert werden muss, er unterstützt diese neun Abenteurer, macht sie zu einer Militia Christi, wir können ruhig sagen, die Templer in ihrer heroischen Version, die hat er erfunden. 1128 lässt er extra ein Konzil in Troyes einberufen, um zu definieren, was genau diese neuen Mönchssoldaten sein sollen, und ein paar Jahre später schreibt er eine Eloge auf diese ›Christus-Milizen‹ und entwirft eine Regel mit zweiundsiebzig Artikeln, amüsant zu lesen, weil man da alles finden kann. Jeden Tag Messe, kein Umgang mit exkommunizierten Rittern, aber wenn einer von ihnen um Aufnahme in den Tempel ersucht, muss man ihn christlich empfangen — da können Sie sehen, wie recht ich hatte, als ich von Fremdenlegion sprach. Weiße Mäntel sollten sie tragen, einfache, ohne Pelz, es sei denn von Lämmern oder von Widdern, feine modische Schnabelschuhe waren verboten, geschlafen wurde in Hemd und Hose, auf einer Matratze mit Laken und brav unter einer Decke ...«
»Muss ganz schön gestunken haben bei der Hitze da«, meinte Belbo.
»Von Gestank reden wir noch. Es gab noch andere Härten in Bernhards Regel: nur eine Schüssel für zwei, beim Essen darf nicht geredet werden, Fleisch nur dreimal die Woche, freitags wird gefastet, aufgestanden wird im Morgengrauen, wenn die Arbeit schwer war, darf man ein Stündchen länger schlafen, aber dafür muss man im Bett dreizehn Vaterunser beten. Es gibt einen Meister, eine ganze Hierarchie absteigender Ränge, bis runter zu den Stallmeistern, Pferdeburschen, Dienern und Knechten. Jeder Ritter soll drei Pferde und einen Knappen haben, keinerlei Schmuck am Zaumzeug, an Sattel und Sporen, einfache, aber gute Waffen, die Jagd ist verboten, außer auf Löwen. Kurzum, ein Leben in Buße und Kampf. Ganz zu schweigen vom Keuschheitsgelübde, auf dem wird besonders herumgeritten, denn es ging ja um Leute, die nicht im Kloster lebten, sondern Krieg führten, die in der Welt lebten, wenn man die Schlangengrube Welt nennen will, die damals das Heilige Land gewesen sein muss. Im Kern sagt die Regel, dass der Umgang mit Frauen höchst gefährlich ist und dass man niemand küssen darf außer der Mutter, der Schwester und der Tante.«
Belbo nickte: »Recht so, allerdings bei der Tante wäre ich vorsichtiger... Aber sagen Sie, hat man die Templer nicht auch der Sodomie bezichtigt? Es gibt da doch dieses Buch von Klossowski, Der Baphomet. War der Baphomet nicht so eine Art teuflische Gottheit bei denen?«
»Darauf komme ich gleich. Aber erst überlegen Sie mal: Die führten ein Leben wie Seeleute, monatelang nur Wüste und nichts als Wüste. Man kommt sich vor wie am Arsch der Welt, es ist Nacht, man legt sich ins Zelt mit dem Typ, mit dem man aus derselben Schüssel gegessen hat, man ist müde und friert und hat Durst und Angst und sehnt sich nach Muttern. Was macht man da?«
»Männerliebe, thebanische Legion«, suggerierte Belbo.
»Aber bedenken Sie, was für ein Höllenleben, umgeben von anderen Kriegern, die kein Gelübde abgelegt haben, wenn die eine Stadt überfallen, greifen sie sich das Maurenmädchen, ambraduftender Bauch und Sammetaugen, und was macht der arme Templer unter den aromatischen Zedern des Libanon? Lassen Sie ihm den Maurenjungen. Und jetzt verstehen Sie auch, warum sich die Redensart ›trinken und fluchen wie ein Templer‹ verbreitet. Es ist ein bisschen wie die Geschichte mit dem Kaplan im Schützengraben: er säuft und flucht mit seinen analphabetischen Kameraden. Und wenn's nur das wäre. In ihrem Wappen sind sie immer zu zweit dargestellt, einer dicht hinter dem andern auf demselben Pferd. Warum, wo doch die Regel jedem von ihnen drei Pferde gönnte? Muss eine Idee von Bernhard gewesen sein, um ihre Armut zu symbolisieren, oder die Duplizität ihrer Rolle als Ritter und Mönche. Aber was meinen Sie wohl, was die Leute sich dabei dachten, wenn sie diese komischen Mönche sahen, die da pärchenweise so eng aneinandergepresst herumgaloppierten, einer mit dem Bauch am Hintern des andern? Man wird sie auch ganz schön verleumdet haben ...«
»Das hatten sie sich ja wohl selbst zuzuschreiben«, warf Belbo ein. »Dieser heilige Bernhard wird doch nicht blöd gewesen sein?«
»Nein, blöd war er nicht, aber auch er war ein Mönch, und Mönche hatten damals eine sonderbare Vorstellung vom Körper... Eben hatte ich noch gefürchtet, meine Geschichte zu sehr als Western aufgezogen zu haben, aber wenn ich's mir recht überlege, hören Sie, was Bernhard über seine geschätzten Ritter sagt, ich habe das Zitat mitgebracht, weil sich's wirklich lohnt: ›Sie meiden und verabscheuen die Mimen, die Taschenspieler und Gaukler, die ungehörigen Lieder und Farcen, sie schneiden sich die Haare kurz, da sie vom Apostel gelernt haben, dass es eine Schande sei für einen Mann, die eigene Haartracht zu pflegen. Nie sieht man sie gekämmt, selten gewaschen, ihr Bart ist struppig, sie stinken und starren vor Schmutz in ihren Rüstungen und in der Hitze.‹ «
»Möchte nicht in ihren Unterkünften übernachtet haben«, meinte Belbo.
»Es war stets kennzeichnend für die Eremiten«, dozierte Diotallevi, »eine gesunde Schmutzigkeit zu kultivieren, um den eigenen Körper zu erniedrigen. War's nicht der heilige Makarios, der auf einer Säule lebte, und wenn ihm die Würmer vom Leibe fielen, las er sie auf und setzte sie sich wieder auf den Leib, damit auch diese Geschöpfe Gottes ihr Festmahl hatten?«
»Der Säulenheilige war Simeon«, sagte Belbo, »und meines Erachtens war er auf die Säule geklettert, um denen, die unten vorbeikamen, auf den Kopf zu spucken.«
»Ich hasse den Geist der Aufklärung«, sagte Diotallevi. »Auf jeden Fall gab's einen Säulenheiligen mit Würmern, wie ich gesagt habe, ob nun Makarios oder Simeon. Doch ich bin keine Autorität in diesen Dingen, denn ich kümmere mich nicht um die Narreteien der Gojim.«
»Und deine Rabbiner von Gerona, die waren sauber, ja?«, fragte Belbo.
»Sie lebten in dreckigen Löchern, weil ihr Gojim sie ins Ghetto verbannt hattet. Eure Templer dagegen besudelten sich aus Lust«
»Dramatisieren wir nicht«, sagte ich. »Haben Sie je einen Trupp Rekruten nach einem Marsch gesehen? Aber ich habe Ihnen das alles bloß erzählt, um den inneren Widerspruch der Templer zu verdeutlichen. Ein Templer musste asketisch und mystisch sein, er durfte nicht fressen und saufen und vögeln, aber er zog durch die Wüste und schnitt den Feinden Christi die Köpfe ab, und je mehr er abschnitt, desto mehr Abschnitte sammelte er für seine Eintrittskarte ins Paradies, er stank und wurde jeden Tag struppiger, und dann kam der heilige Bernhard daher und verlangte auch noch, dass er, wenn er eine Stadt erobert hatte, nicht über die kleinen Maurenmädchen herfiel oder, was weiß ich, auch über die älteren, und dass er in mondlosen Nächten, wenn, wie man weiß, der Samum durch die Wüste fegt, sich nicht eine kleine Gefälligkeit von seinem bevorzugten Kameraden erweisen ließ! Wie schafft man das, gleichzeitig Mönch und Haudegen zu sein? Du schlitzt Bäuche auf und sprichst dazu das Ave Maria, du darfst deiner eigenen Cousine nicht ins Gesicht sehen, und dann kommst du nach tagelanger Belagerung in eine Stadt, die anderen Kreuzfahrer treiben's vor deinen Augen mit der Frau des Kalifen, wundervolle Suleikas öffnen ihre Korsetts und sagen: Nimm mich, nimm mich, aber lass mir das Leben... Nix da, von wegen, der Templer muss standhaft bleiben, stinkig und struppig, wie ihn der heilige Bernhard wollte, und fromm das Abendgebet rezitieren... Andererseits, man braucht nur mal die Retraite zu lesen ...«
»Was ist das?«
»Verhaltensregeln des Ordens, ziemlich spät verfasst, als der Orden schon sozusagen in Pantoffeln war. Es gibt nichts Schlimmeres als eine Armee, die sich langweilt, weil der Krieg vorbei ist. Da werden zum Beispiel an einem bestimmten Punkt Raufereien verboten, Verletzungen eines Christen aus Rache, Umgang mit einer Frau, Verleumdungen eines Bruders. Man darf keinen Sklaven entkommen lassen, nicht aufgebracht sagen: ›Ich haue ab zu den Sarazenen!‹, kein Pferd aus Unachtsamkeit verlieren, keine Tiere verschenken außer Hunden und Katzen, nicht ohne Erlaubnis fortgehen, das Siegel des Meisters nicht zerbrechen, nicht bei Nacht das Quartier verlassen, kein Geld des Ordens verleihen, ohne dazu ermächtigt zu sein, nicht wütend die Kleider auf den Boden werfen ...«
»Verboten kann man entnehmen, was die Leute gewöhnlich tun«, sagte Belbo. »Man kann daraus ein Bild des Alltagslebens gewinnen.«
»Na, schauen wir mal«, sagte Diotallevi. »Ein Templer, aufgebracht durch irgendwas, was die Brüder am Abend zu ihm gesagt oder mit ihm gemacht haben, verlässt heimlich in der Nacht das Quartier, zu Pferd, mit einem maurischen Knappen und drei Kapaunen am Sattel; er reitet zu einer Frau mit lockerem Lebenswandel, schenkt ihr die Kapaune und verschafft sich dadurch Gelegenheit zu einem unerlaubten Beischlaf... Dann, während sie's treiben, macht sich der Maurenbengel mit dem Pferd aus dem Staub, und unser Templer, noch stinkender, verschmitzter und struppiger als gewöhnlich, kommt mit eingezogenem Schwanz nach Hause und zahlt, um nicht verraten zu werden, ein Schweigegeld (aus der Kasse des Ordens) an den üblichen jüdischen Wucherer, der am Tor auf ihn wartet wie ein Geier auf der Stange ...«
»Du sagst es, Kaiphas«, warf Belbo ein.
»Nun ja, man redet halt so in Klischees. Am nächsten Tag bemüht sich unser Templer, wenn schon nicht den Knappen, so wenigstens einen Anschein von seinem Pferd wiederzukriegen. Aber ein Mitttempler kommt ihm auf die Schliche, und am Abend (man weiß ja, in diesen Gemeinschaften ist der Neid zu Hause), als zur allgemeinen Zufriedenheit das Fleisch auf den Tisch kommt, macht er schlüpfrige Anspielungen. Der Hauptmann schöpft Verdacht, der Verdächtige verheddert sich, wird rot, zieht den Dolch aus dem Gürtel und stürzt sich auf den Mitbruder... « »Den Sykophanten«, präzisierte Belbo. »Den Sykophanten, richtig, er stürzt sich auf den Denunzianten und verunstaltet ihm das Gesicht. Dieser greift zum Schwert, die beiden beginnen zu raufen, der Hauptmann brüllt ›Ruhe da!‹ und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, die Brüder grinsen... « »Trinkend und fluchend wie Templer...«, ergänzte Belbo. »Gottverflucht, Gottverdammt, Herrgottsakrament, Himmelnochmal, Potzblitzdonnerundschwefel, Jesusmariaundjoseph!« dramatisierte ich.
»Kein Zweifel, unser Mann gerät außer sich, er... zum Teufel, was macht ein Templer, wenn er außer sich gerät?« »Er läuft blauviolett an«, erwog Belbo. »Genau, du sagst es, er läuft blauviolett an, reißt sich die Kleider vom Leib und wirft sie zu Boden ...«
»Und brüllt: Behaltet dies elende Dreckshemd, ihr und euer Scheißtempel!« schlug ich vor. »Oder vielmehr, er haut mit dem Schwert auf das Siegel, zerbricht es und brüllt: Ich haue ab zu den Sarazenen!«
»Damit hat er mindestens acht Vorschriften auf einen Schlag verletzt.«
»Ja«, sagte ich und ergänzte, um meine These noch besser zu illustrieren: »Können Sie sich so einen Typ vorstellen, der sagt, ich haue ab zu den Sarazenen, wenn ihn dann eines Tages der Blutvogt des Königs verhaftet und ihm die glühenden Eisen zeigt? Rede, Götzendiener! Gestehe, ihr habt ihn euch in den Hintern gesteckt. Was, wir? Ha, eure Zangen machen mich lachen, ihr wisst ja gar nicht, wozu ein Templer fällig ist: Euch steck ich ihn in den Hintern, euch und dem Papst, und wenn er mir unter die Finger kommt, auch dem König Philipp!«
»Er hat gestanden, er hat gestanden! jawohl, so ist es bestimmt gewesen«, rief Belbo. »Abführen! Ins Verlies mit ihm, und jeden Tag eine Kanne Öl drauf, damit er hinterher besser brennt!«
»Wie die kleinen Kinder«, schloss Diotallevi.
Ein Mädchen trat an unseren Tisch, mit einem Leberfleck auf der Nase und Blättern in der Hand. Sie fragte, ob wir schon für die verhafteten Genossen in Argentinien unterschrieben hätten. Belbo unterschrieb sofort, ohne den Text zu lesen. »Auf jeden Fall geht's ihnen schlechter als mir«, sagte er zu Diotallevi, der ihn bestürzt ansah. Dann wandte er sich an das Mädchen: »Er kann nicht unterschreiben, er gehört zu einer indischen Minderheit, bei der es verboten ist, den eigenen Namen zu schreiben. Viele von ihnen sind im Gefängnis, weil die Regierung sie verfolgt« Das Mädchen sah Diotallevi verständnisvoll an und reichte das Blatt zu mir weiter. Diotallevi entspannte sich.
»Wer sind sie?«, fragte ich.
»Was heißt, wer sind sie? Genossen in Argentinien!«
»Ja schon, aber von welcher Gruppe?«
»Taquaras, wieso?«
»Aber die Taquaras sind doch Faschisten«, wagte ich einzuwenden, nach dem bisschen, was ich davon verstand.
»Faschist!« zischte das Mädchen. Und ging davon.
»Aber dann waren diese Templer doch eigentlich arme Teufel«, meinte Diotallevi.
»Nein«, sagte ich, »es ist meine Schuld, wenn dieser Eindruck entstanden ist, ich habe versucht, die Geschichte möglichst lebendig zu machen. Was wir gesagt haben, gilt für die einfache Truppe, aber der Orden erhielt von Anfang an riesige Schenkungen und hatte bald Komtureien in ganz Europa. Stellen Sie sich vor, König Alfons von Aragonien schenkt ihnen ein ganzes Land, und in seinem Testament vermacht er ihnen sogar sein Reich für den Fall, dass er ohne Erben stirbt. Die Templer trauen ihm nicht und machen eine Transaktion, so nach dem Muster: Nein danke, wir hätten lieber ein paar Kleinigkeiten gleich jetzt Aber diese Kleinigkeiten sind ein halbes Dutzend Burgen in Spanien. Der König von Portugal schenkt ihnen einen Wald, der noch von den Mauren besetzt ist, die Templer erstürmen ihn, verjagen die Mauren und gründen einfach so mal die Stadt Coimbra. Und das sind bloß Episoden. Kurz und gut, ein Teil von ihnen kämpft in Palästina, aber das Gros des Ordens entwickelt sich in der Heimat. Und was passiert? Wenn jemand nach Palästina muss und dort Geld braucht und sich nicht traut, mit Juwelen und Gold hinzureisen, überweist er's den Templern in Frankreich oder in Spanien oder Italien, erhält dafür einen Gutschein und löst ihn im Orient ein.«
»Das ist ein Kreditbrief«, sagte Belbo.
»Genau, sie haben den Scheck erfunden, lange vor den ersten Bankiers in Florenz. Und folglich, so peu a peu, teils durch Schenkungen, teils durch Eroberungen mit Waffengewalt, teils durch die Provisionen auf ihre Finanzoperationen, werden die Templer ein multinationaler Konzern. Um solch ein Unternehmen zu führen, braucht man Leute, die den Kopf fest auf den Schultern haben, Leute, die imstande sind, einen wie Papst Innozenz III. zu überreden, ihnen außerordentliche Privilegien einzuräumen: Der Orden darf alles, was er im Krieg erbeutet, behalten, und wo immer er Güter hat, untersteht er weder dem König noch den Bischöfen, noch dem Patriarchen von Jerusalem, sondern ganz allein nur dem Papst. An jedem Ort vom Zehnten befreit, hat er das Recht, in den von ihm kontrollierten Gebieten selber den Zehnten einzutreiben... Mit einem Wort, er ist ein florierendes Unternehmen, in das niemand seine Nase reinstecken kann. Kein Wunder, dass er von den Bischöfen und den weltlichen Herren scheel angesehen wird, und doch kann niemand auf ihn verzichten. Die Kreuzfahrer sind Wirrköpfe, Leute, die losziehen, ohne zu wissen, wohin und was sie dort vorfinden werden, die Templer dagegen sind dort zu Hause, sie wissen, wie man mit dem Feind verhandelt, sie kennen die Gegend und die Kriegskunst. Der Templerorden ist eine seriöse Angelegenheit, auch wenn sein Ruf auf den Rodomontaden seiner Sturmtruppen beruht.«
»Waren es denn bloß Rodomontaden?«, fragte Diotallevi.
»Meistens schon, man staunt immer wieder über die Kluft zwischen ihrer politischen und administrativen Klugheit und ihrem draufgängerischen Stil a la Green Berets, bloß Mut und kein Hirn. Nehmen wir nur mal die Geschichte von Askalon... «
»Ja, nehmen wir sie«, sagte Belbo, der sich für einen Moment weggedreht hatte, um mit übertrieben großer Gebärde eine gewisse Dolores zu begrüßen.
Die so Begrüßte setzte sich zu uns an den Tisch und rief: »Au ja, ich will die Geschichte von Askalon hören, ich will sie hören.«
»Also. Eines Tages beschließen der König von Frankreich, der deutsche Kaiser, König Balduin III. von Jerusalem und die beiden Großmeister der Templer und der Johanniter, die Stadt Askalon zu belagern. Alle ziehen los mit Riesentamtam, der König, der Hofstaat, der Patriarch, die Priester mit ihren Kreuzen und Standarten, die Erzbischöfe von Tyrus, Nazareth und Cäsarea — kurz, die Belagerung wird wie ein großes Fest aufgezogen, mit Zelten vor den Mauern der Stadt und mit Kriegsbannern, Oriflammen, großen Wappenschilden und Trommeln... Askalon war mit hundertfünfzig Türmen befestigt, die Einwohner hatten sich seit geraumer Zeit auf die Belagerung vorbereitet, jedes Haus war mit Schießscharten versehen, jedes zu einer Festung in der Festung ausgebaut worden. Man sollte meinen, die Templer, die doch so dolle Typen waren, die hätten das wissen müssen. Aber von wegen, nix da, sie mühen sich ab, sie bauen sich Belagerungsmaschinen, sogenannte Schildkröten und Türme aus Holz, ihr wisst schon, diese Dinger auf Rädern, die man bis vor die feindlichen Mauern schiebt, wo sie dann Steine und Brandfackeln schleudern, während von hinten die Katapulte große Wackmänner katapultieren... Die Belagerten versuchen, die Türme in Brand zu stecken, aber der Wind steht für sie ungünstig, die Flammen ergreifen die Mauern, das Mauerwerk bricht an mindestens einer Stelle zusammen. Das ist die Bresche! Alle Belagerer rennen los wie ein Mann — und jetzt passiert das Seltsame: der Großmeister des Templerordens lässt den Zugang versperren, sodass nur seine Leute in die Stadt gelangen. Die Böswilligen behaupten später, er hätte das nur getan, damit die Templer allein plündern könnten, die Gutwilligen meinen, er hätte einen Hinterhalt gefürchtet und wollte seine tapferen Krieger vorschicken. Na, jedenfalls, wie auch immer, ich würde ihn nicht zum Chef einer Militärakademie ernennen, denn was passiert? Vierzig Templer preschen mit achtzig Sachen quer durch die ganze Stadt, bis sie an die gegenüberliegende Mauer stoßen, bremsen in einer großen Staubwolke, schauen sich verdutzt in die Augen und fragen sich, was zum Teufel sie da eigentlich wollen, machen kehrt und preschen zurück, Hals über Kopf direkt in den Hinterhalt der Sarazenen, die sie mit einem Hagel von Steinen und Glasscherben aus den Fenstern empfangen und sie allesamt massakrieren, inklusive den Großmeister, um dann die Bresche zu schließen, die Leichen außen an den Mauern aufzuhängen und den Christen draußen mit grässlichem Grinsen obszöne Gesten hinunterzuwerfen, als riefen sie höhnisch — natürlich in ihrer Maurensprache — Fuck you !«
»Der Mohr ist grausam«, nickte Belbo.
»Wie die kleinen Kinder«, wiederholte Diotallevi.
»Wow!«, rief die Dolores hingerissen. »Das müssen ja irre Typen gewesen sein, deine Templer!«
»Mich erinnern sie an Tom und Jerry«, sagte Belbo.
Ich bereute. Schließlich lebte ich seit zwei Jahren mit den Templern und mochte sie. Erpresst vom Snobismus meiner Zuhörer, hatte ich sie als Comicfiguren dargestellt. Schuld war vielleicht Guillaume von Tyrus, der ungetreue Chronist. Sie waren nicht so, die Ritter vom Tempel, sie waren ganz anders. Bärtig und flammend, das prächtige rote Kreuz auf dem weißen Mantel, sprengten sie hoch zu Roß dahin im Schatten ihres schwarz-weißen Banners, des Beauceant, nichts anderes im Sinne, als edel und todesmutig ihren Dienst zu erfüllen, und der Schweiß, von dem Bernhard sprach, war vielleicht ein bronzener Schimmer, der ihrem furchtbaren Lächeln einen sarkastischen Adel verlieh, wenn sie sich anschickten, ihren Abschied vom Leben so grausam zu feiern... Löwen im Krieg, wie Jacques de Vitry sagte, Lämmer voll Sanftmut im Frieden, roh in der Schlacht und fromm im Gebet, wild mit den Feinden und mild zu den Brüdern, gezeichnet vom Weiß und Schwarz ihres Banners, da strahlend rein für die Freunde Christi und finsterschrecklich für seine Feinde.
Pathetische Glaubenskämpfer, letzte Beispiele einer untergehenden Kavallerie — warum behandelte ich sie wie ein beliebiger Ariost, während ich doch ihr Joinville hätte sein können? Mir kamen die Seiten in den Sinn, die ihnen der Verfasser der Histoire de Saint Louis gewidmet hatte, der mit Ludwig dem Heiligen ins Heilige Land gekommen war, als sein Schreiber und Mitstreiter zugleich. Die Templer gab es bereits seit einhundertfünfzig Jahren, Kreuzzüge waren genug geführt worden, um jedes Ideal zuschanden zu machen. Verblasst wie Phantome sind die Heldenfiguren der Königin Melisenda und König Balduins des Leprösen, erschöpft die internen Kämpfe des seit damals blutüberströmten Libanon, Jerusalem ist bereits einmal gefallen, Barbarossa ist in Kilikien ertrunken, Richard Löwenherz kehrt geschlagen und gedemütigt heim im Gewande eben des Templers, die Christenheit hat ihre Schlacht verloren, die Mauren haben einen ganz anderen Sinn für den Zusammenschluss autonomer Potentaten zur gemeinsamen Verteidigung einer Kultur — sie haben Avicenna gelesen, sie sind nicht ignorant wie die Europäer, wie kann man zweihundert Jahre lang einer toleranten, mystischen und zugleich sinnenfreudigen Kultur ausgesetzt sein, ohne ihren Verlockungen nachzugeben, zumal wenn man sie mit der abendländischen Kultur vergleicht, mit dem rohen, rüpelhaften, barbarischen und germanischen Westen? Als es im Jahre 1244 zum letzten und definitiven Fall Jerusalems kommt, ist der Krieg, der hundertfünfzig Jahre zuvor begonnen hatte, verloren, die Christen müssen aufhören, Waffen in ein Land zu tragen, dessen Bestimmung der Frieden ist und der Duft der Zedern des Libanon. Arme Templer, wozu hat euer ganzes Heldenepos gedient?
Weichheit, Melancholie, morbide Blässe einer alternden Pracht — warum dann nicht den Geheimlehren der islamischen Mystiker lauschen, sich der hieratischen Akkumulation verborgener Schätze widmen? Vielleicht ist dies der Ursprung jener Legende von den Tempelrittern, die noch heute in den Köpfen der Enttäuschten und Suchenden umgeht — die Geschichte einer Macht ohne Grenzen, die nicht mehr weiß, was sie mit sich anfangen soll ...
Und doch, als der Mythos bereits verdämmert, kommt Ludwig der Heilige auf den Thron, der König, der als Tischgenossen den Aquinaten hatte; er glaubt noch an den Kreuzzug, trotz zweier Jahrhunderte voller Träume und gescheiterter Ansätze wegen der Dummheit der Sieger. Lohnt es sich, noch einen Versuch zu wagen? Jawohl, es lohnt sich, sagt Ludwig der Heilige, die Templer stimmen ihm zu und folgen ihm ins Verderben, denn das ist ihr Beruf, wie wäre der Tempelorden zu rechtfertigen ohne Kreuzzug?
Ludwigs Flotte nähert sich der ägyptischen Küste, um Damiette anzugreifen, das feindliche Ufer ist ein einziges Schimmern von Piken und Hellebarden, Standarten und Bannern, Schilden und Krummsäbeln, eine große, prächtig anzusehende Kriegerschar, sagt Joinville, ritterlich, mit Waffen, die gülden in der Sonne erglänzen. Ludwig könnte abwarten, doch er beschließt, um jeden Preis zu landen. »Meine Getreuen, wir werden unbesiegbar sein, wenn wir unzertrennlich in unserer Brüderlichkeit sind. Verlieren wir, so werden wir Märtyrer sein. Siegen wir, so wird Gottes Ruhm dadurch noch größer.« Die Templer glauben es nicht, aber sie haben gelernt, für das Ideal zu kämpfen, dies ist das Bild, das sie von sich abgeben müssen. Sie werden dem König in seinen mystischen Wahnsinn folgen.
Die Landung gelingt unglaublicherweise, die Sarazenen räumen unglaublicherweise Damiette, es ist so unglaublich, dass der König zögert, die Stadt zu betreten, da er dem Frieden nicht traut. Aber es ist wahr, die Stadt ist sein, sein mitsamt ihren Schätzen und ihren hundert Moscheen, die er sogleich in Kirchen des Herrn verwandelt. Dann muss er eine Entscheidung treffen: Soll er auf Alexandria oder auf Kairo marschieren? Die kluge Entscheidung wäre Alexandria gewesen, um Ägypten einen lebenswichtigen Hafen zu nehmen. Aber da tritt der böse Geist der Expedition auf den Plan, der Bruder des Königs, Robert von Artois, ein ehrgeiziger Megalomane, begierig auf schnellen Ruhm wie alle Zweitgeborenen. Er rät, auf Kairo zu zielen, ins Herz Ägyptens. Die Templer, bisher zurückhaltend, ballen die Faust in der Tasche. Der König hat isolierte Gefechte verboten, aber nun ist es der Marschall des Ordens, der das Verbot übertritt. Er erblickt ein Banner der Mamelucken des Sultans und brüllt: »Auf sie, im Namen Gottes, denn unerträglich ist mir eine solche Schmach!«
Bei Mansurah verschanzen sich die Sarazenen am anderen Ufer eines Nilarms, die Franzosen versuchen einen Damm zu bauen, um eine Furt zu schaffen, und schützen ihn mit ihren mobilen Türmen, aber die Sarazenen haben von den Byzantinern die Kunst des griechischen Feuers gelernt. Das griechische Feuer war an der Spitze dick wie ein Fass, und sein Schwanz war gleich einer großen Lanze, es kam daher wie ein Blitz und erschien wie ein fliegender Drache. Und es warf ein so helles Licht, dass man sich im Lager sehen konnte wie am helllichten Tag.
Während das Lager der Christen lichterloh brennt, zeigt ein verräterischer Beduine dem König eine Furt, für dreihundert byzantinische Goldfranken. Der König beschließt anzugreifen, der Übergang ist nicht leicht, viele Christen ertrinken und treiben in den Wellen davon, am anderen Ufer warten dreihundert sarazenische Reiter. Doch schließlich gelangt das Gros nach drüben, die Templer reiten wie immer voran, gefolgt vom Grafen von Artois. Die muslimischen Reiter fliehen, und die Templer warten auf den Rest des christlichen Heeres. Aber Graf Artois prescht mit seinen Mannen los, um den Feinden nachzusetzen.
Daraufhin stürmen nun auch die Templer los, um ihre Ehre zu wahren, aber sie können den Artois nicht mehr erreichen, er ist schon ins feindliche Lager eingedrungen und hat ein Gemetzel angerichtet Die Muslime fliehen nach Mansurah. Darauf hat der Artois nur gewartet, die Templer versuchen ihn zurückzuhalten, Bruder Gilles, der Großkommandant des Ordens, umschmeichelt ihn, indem er sagt er habe doch nun schon ein so großartiges Unternehmen vollbracht, eines der größten, die je in überseeischen Landen gewagt worden seien. Umsonst, der geckenhafte, ruhmsüchtige Graf bezichtigt die Templer des Verrats und behauptet sogar, wenn sie und die Johanniter es nur gewollt hätten, wären jene Gebiete schon längst erobert worden, er jedoch habe nun bewiesen, wozu man imstande sei, wenn man Blut in den Adern habe. Das ist zu viel für die Ehre des Ordens, die Templer stehen niemandem nach, sie stürmen die Stadt und erobern sie, verfolgen die Feinde bis an die Mauern am anderen Ende — und merken auf einmal, dass sie dabei sind, den Fehler von Askalon zu wiederholen. Die Christen — samt Templern — haben sich damit aufgehalten, den Palast des Sultans zu plündern, die Ungläubigen konnten sich wieder sammeln und fallen über die versprengten Häuflein der Plünderer her. Haben die Templer sich erneut von ihrer Gier verblenden lassen? Andere jedoch berichten, Bruder Gilles habe zu Artois, bevor sie ihm in die Stadt gefolgt seien, mit stoischer Luzidität gesagt: »Herr, meine Brüder und ich haben keine Furcht und werden Euch folgen. Aber wisset, dass wir Zweifel haben, und zwar starke, ob Ihr und ich heil zurückkehren werden.« Wie auch immer, Graf Robert von Artois, Gott sei ihm gnädig, wird erschlagen, zusammen mit vielen anderen tapferen Rittern, darunter zweihundertachtzig Templer.
Es war schlimmer als eine Niederlage, es war eine Schande. Und doch wird es nicht als solche registriert, nicht einmal von Joinville: So was kommt eben vor, das ist die Schönheit des Krieges.
Unter der Feder des Herrn de Joinville werden viele dieser Schlachten oder Scharmützel zu harmlosen Tänzchen, zierlichen kleinen Balletten mit da und dort ein paar abgeschlagenen Köpfen und vielen Anrufungen des Herrn im Himmel und gelegentlich einer Klage des Königs über einen seiner Getreuen, der gerade den Geist aufgibt, aber alles wie in Technicolor gedreht, mit purpurnen Satteldecken, goldenen Zaumzeugbeschlägen, funkelnden Helmen und Schwertern unter der gelben Wüstensonne vor dem türkisblauen Meer, und wer weiß, ob die Templer ihre täglichen Schlächtereien nicht wirklich so erlebt hatten.
Der Blick Joinvilles bewegt sich von oben nach unten oder von unten nach oben, je nachdem, ob er gerade vom Pferd fällt oder sich wieder hinaufschwingt, und er erfasst einzelne Szenen, aber der Schlachtverlauf entgeht ihm, alles löst sich in einzelne Zweikämpfe auf, und nicht selten bleibt der Ausgang offen. Joinville eilt dem Herrn von Wanon zu Hilfe, ein Türke trifft ihn mit der Lanze, sein Pferd bricht zusammen, Joinville fliegt im hohen Bogen über den Kopf des Tieres, erhebt sich mit dem Schwert in der Hand, und Messire Erard de Siverey (»Gott sei ihm gnädig«) winkt ihm, sich in ein zerfallenes Haus zu retten, sie werden von einem Trupp Türken buchstäblich überrannt, erheben sich unverletzt, erreichen das Haus, verschanzen sich darin, und die Türken bestürmen sie von oben mit Lanzen. Messire Frederic de Loupey wird am Rücken verwundet, »und so groß war die Wunde, dass das Blut heraussprang wie der Korken aus einer Flasche«, der Siverey wird von einem Hieb im Gesicht getroffen, »dass die Nase ihm auf die Lippen fiel«. Und so weiter, in letzter Minute kommen die Retter, das Haus wird verlassen, der Blick richtet sich auf andere Teile des Schlachtfeldes, neue Szenen, weitere Tode und Rettungsaktionen in letzter Minute und laute Gebete zu Messire Saint-Jacques. Und derweilen ruft der wackere Graf von Soissons, während er wacker Hiebe austeilt: »Seigneur de Joinville, lassen wir diese Kanaille heulen, bei Gott, von diesem Tage werden wir noch sprechen, wenn wir wieder im Kreise der Damen sind!«
Und als der König fragt, was für Nachricht man von seinem Bruder habe, dem zur Hölle gefahrenen Grafen Artois, antwortet ihm Bruder Henry de Ronnay, Oberhaupt des Johanniterordens: »Gute Nachricht, denn gewiss ist Graf Artois jetzt schon im Paradiese.« Gelobt sei Gott für alles, was er uns schickt, sagt der König, und dicke Tränen rinnen ihm aus den Augen.
Nicht immer ist es Ballett, ob zierlich oder blutig. Der Großmeister Guillaume de Sonnac verbrennt lebendigen Leibes im griechischen Feuer, das christliche Heer wird, infolge des großen Leichengestanks und des Mangels an Lebensmitteln, vom Skorbut erfasst, die Flotte des heiligen Ludwig ist zerstört, der König wird von der Ruhr ausgesogen, sodass er in der Schlacht, um Zeit zu gewinnen, sich den Hosenboden aufschneiden muss. Damiette ist verloren, die Königin muss mit den Sarazenen verhandeln und bezahlt ihnen fünfhunderttausend französische Pfund für das Leben des Königs.
Aber Kreuzzüge führt man mit kardinaler Unredlichkeit. In Akkon wird Ludwig als Triumphator empfangen, die ganze Stadt zieht ihm in großer Prozession entgegen, samt Klerus, Frauen und Kindern. Die Templer denken weiter und versuchen, in Verhandlungen mit Damaskus zu treten. Ludwig kriegt Wind davon, erträgt es nicht, übergangen worden zu sein, staucht den neuen Großmeister vor den versammelten Botschaftern der Sarazenenherrscher zusammen, und der Großmeister widerruft das den Feinden gegebene Wort, kniet vor dem König nieder und bittet ihn um Vergebung. Man kann nicht sagen, dass die Ritter sich nicht gut geschlagen hätten, sie waren tapfer und selbstlos, aber der König von Frankreich demütigt sie, um seine Macht zu stabilisieren — und aus demselben Grunde wird sein Nachfolger Philipp sie ein halbes Jahrhundert später auf den Scheiterhaufen schicken.
Im Jahre 1291 wird Akkon von den Sarazenen erobert, und alle Einwohner werden geopfert. Mit dem restlichen Königreich von Jerusalem ist es vorbei. Die Templer sind wohlhabender, zahlreicher und mächtiger denn je, doch im Heiligen Lande, das zu befreien sie sich einst aufgemacht hatten, im Heiligen Lande gibt es die Templer nicht mehr.
Sie leben glanzvoll begraben in ihren Komtureien überall in Europa und im Tempel zu Paris, und sie träumen noch immer von der Esplanade des Tempels zu Jerusalem in den glorreichen Zeiten — die schöne Kirche Sankt Marien in Lateran, vollgestopft mit Votivkapellen und Siegestrophäen, umgeben von emsigen Schmiedewerkstätten, Sattlereien, Tuchwebereien und Kornspeichern, dazu ein Stall mit zweitausend Pferden, ein Gewimmel von Schildknappen, Adjutanten, türkischen Söldnern, die weißen Mäntel mit roten Kreuzen, die braunen Kutten der Hilfskräfte, die Gesandten des Sultans mit großen Turbanen und vergoldeten Helmen, die Pilger, ein Hin und Her von schönen Reiterschwadronen und Kurieren, dazu die Pracht der vollen Tresore, der Hafen, aus dem Befehle und Dispositionen ausgingen, Ladungen für die Burgen des Mutterlandes, der Inseln, der Küsten Kleinasiens...
Vorbei, meine armen Templer, alles vorbei.
Mit einem Mal wurde mir bewusst, an jenem Abend in Pilades Bar, beim fünften Whisky, den Belbo mir förmlich aufzwang, dass ich geträumt hatte, sentimental (welche Schande), aber laut, und dass ich eine wunderschöne Geschichte erzählt haben musste, mit Leidenschaft und Mitgefühl, denn Dolores hatte glänzende Augen, und Diotallevi, der sich inzwischen sogar ein zweites Tonicwater geleistet hatte, drehte seraphisch die Augen zum Himmel, beziehungsweise zur keineswegs sefirothischen Decke der Bar, und murmelte: »Vielleicht waren sie alles das zugleich: verlorene und gerettete Seelen, Rossknechte und Ritter, Bankiers und Recken... «
»Gewiss waren sie einzigartig«, lautete Belbos Urteil. »Aber sagen Sie, Casaubon, mögen Sie sie?«
»Ich promoviere über sie, und wer über die Syphilis promoviert, mag am Ende sogar die bleichen Spirochäten.«
»Ach, schön wie ein Film war das«, seufzte das Mädchen Dolores. »Aber jetzt muss ich gehen, tut mir leid, ich muss noch Flugblätter für morgen abziehen. Bei Marelli wird gestreikt«
»Sei froh, dass du dir das erlauben kannst«, sagte Belbo, hob müde eine Hand und strich ihr übers Haar.
Dann bestellte er den, wie er sagte, letzten Whisky und bemerkte: »Es ist fast Mitternacht. Ich denke dabei nicht an die gewöhnlichen Sterblichen, aber an Diotallevi. Trotzdem, beenden wir die Geschichte, ich möchte noch wissen, was es mit dem Prozess auf sich hatte. Wann, wie, warum ...«
»Cur, quomodo, quando«, stimmte Diotallevi zu. »Ja ja!«
14
Er sagte aus, er habe am Abend zuvor mit eigenen Augen gesehen, wie vierundfünfzig Brüder besagten Ordens auf einem Karren zum Scheiterhaufen geführt worden seien, weil sie die obengenannten errores nicht hätten gestehen wollen, und er habe sagen hören, sie seien verbrannt worden, und er selber würde, weil er fürchte, daß er nicht gut standzuhalten vermochte, so man ihn verbrennte, aus Angst vor dem Tode gestehen und auch beeiden, vor den genannten Herren Kommissaren und vor einem jedem beliebigen andern, so man ihn verhörte, daß alle dem Orden vorgeworfenen errores wahr seien, und daß er, so man es von ihm verlangte, sogar gestehen würde, unseren lieben Herrn Jesum Christum umgebracht zu haben.
Aussage des Templers Aimery de Villiers-le-Duc am 13.5.1310
Ein Prozess voller Lücken, Widersprüche, Rätsel und Dummheiten. Die Dummheiten waren am auffälligsten, und da sie mir unerklärlich waren, warf ich sie mit den Rätseln zusammen. In jenen glücklichen Studientagen glaubte ich noch, dass die Dummheit Rätsel erzeuge. Vorgestern Abend im Periskop dachte ich, dass die schrecklichsten Rätsel, um nicht als solche erkannt zu werden, sich als Verrücktheit tarnen. Heute denke ich, dass die Welt ein gutartiges Rätsel ist, das unsere Verrücktheit schrecklich macht, weil sie sich anmaßt, es nach ihrer Wahrheit zu deuten.
Die Templer hatten kein Ziel mehr. Oder besser gesagt, sie hatten die Mittel zum Zweck gemacht, sie verwalteten ihren immensen Reichtum. Kein Wunder, dass ein auf Zentralisierung erpichter Monarch wie Philipp der Schöne sie scheel ansah. Wie ließ sich ein souveräner Orden unter Kontrolle halten? Der Großmeister hatte den Rang eines Fürsten von Geblüt, er befehligte eine Armee, verwaltete einen immensen Grundbesitz, war gewählt wie der Kaiser und besaß eine unumschränkte Autorität. Der französische Staatsschatz befand sich nicht in den Händen des Königs, sondern wurde im Pariser Tempel gehütet. Die Templer waren die Depositäre, Prokuristen und Verwalter eines formal auf den Namen des Königs eingetragenen Kontos. Sie kassierten, bezahlten, spekulierten mit den Zinsen, kurzum: sie benahmen sich wie eine große Privatbank, aber mit allen Privilegien und Freiheiten einer Staatsbank. Und des Königs Schatzmeister war ein Templer ... Kann man unter solchen Bedingungen ernstlich regieren?
Wen man nicht schlagen kann, den muss man umarmen. Philipp ersuchte den Orden, ihn zum Ehrenmitglied zu ernennen. Die Antwort war negativ. Eine Beleidigung, die sich ein König merkt. Er wandte sich an den Papst und legte ihm nahe, die Templer mit den Johannitern zu fusionieren, um den neuen Orden dann einem seiner Söhne zu unterstellen. Der Großmeister des Tempels, Jacques de Molay, kam mit großem Pomp aus Zypern angereist, wo er inzwischen wie ein Monarch im Exil residierte, und legte dem Papst eine Denkschrift vor, in der er scheinbar die Vorteile, in Wahrheit aber die Nachteile der Fusion hervorhob. Ohne Scham gab Molay unter anderem zu bedenken, dass die Templer reicher als die Johanniter seien, die Fusion also mehr den einen als den anderen zugutekäme, was den Seelen seiner Ritter sehr zum Schaden gereichen würde. Molay gewann diese erste Partie des beginnenden Spiels, der Fall wurde zu den Akten gelegt.
Nun blieb nur noch die Verleumdung, und hier hatte der König leichtes Spiel. Gerüchte über die Templer waren seit Langem im Umlauf. Wie mussten sie den guten Franzosen erscheinen, diese »Kolonialisten«, die herumliefen und den Zehnten eintrieben, ohne selber etwas dafür zu entrichten, inzwischen nicht einmal mehr ihren Blutzoll als Hüter des Heiligen Grabes? Gewiss waren auch sie Franzosen, aber doch nicht ganz richtige, eher pieds noirs oder, wie man damals sagte, poulains, Fohlen. Sie gaben sich exotisch, womöglich unterhielten sie sich miteinander gar in der Maurensprache, an die sie sich gewöhnt hatten. Sie waren Mönche, aber ihre wüst-arroganten Sitten waren bekannt, schon vor
Jahren hatte Papst Innozenz III. sich veranlasst gesehen, eine Bulle De insolentia Templariorum zu schreiben. Sie hatten das Armutsgelübde abgelegt, aber sie traten auf mit dem Prunk einer aristokratischen Kaste, der Habsucht des neuen Bürgertums und der Dreistigkeit einer Musketiertruppe.
Es bedarf wenig, um vom Gerücht zum Geraune, zur schlüpfrigen Anspielung überzugehen — Homosexuelle, Häretiker, Götzendiener, die einen bärtigen Kopf anbeten, bei dem man nicht weiß, woher er kommt, aber bestimmt nicht aus dem Pantheon der guten Gläubigen. Womöglich teilen sie die Geheimnisse der Ismaeliten, verkehren gar mit den Assassinen des Alten vom Berge ... Philipp und seine Ratgeber wissen sich dieses Gerede zunutze zu machen.
Hinter Philipp stehen seine zwei teuflischen Einbläser, Marigny und Nogaret. Marigny ist der, der am Ende die Hand auf den Schatz des Tempels legen und ihn für den König verwalten wird, bis ihn die Johanniter bekommen, wobei nicht ganz klar ist, wer von den Zinsen profitiert. Nogaret, der Siegelbewahrer des Königs, war 1303 der Stratege des Zwischenfalls von Anagni, als der römische Fürst Sciarra Colonna den Papst Bonifatius VIII. geohrfeigt hatte, woraufhin dieser binnen Monatsfrist an der Demütigung verstarb.
An einem bestimmten Punkt tritt ein gewisser Esquieu de Floyran auf den Plan. Wegen irgendwelchen nicht präzisierten Delikte eingekerkert und zum Tode verurteilt, ist er in der Zelle angeblich einem abtrünnigen Templer begegnet, der ebenfalls auf die Enthauptung wartete und ihm schreckliche Dinge anvertraut hatte. Gegen seine Freilassung und eine schöne Summe Geldes verkauft Floyran, was er weiß. Was er weiß, ist, was alle inzwischen raunen. Aber nun ist man vom Geraune zur Aussage vor Gericht übergegangen. Der König teilt die sensationellen Enthüllungen Floyrans dem Papst mit, der jetzt Clemens V. ist, derselbe, der den päpstlichen Sitz nach Avignon verlagert hat. Der Papst weiß nicht recht, ob er's glauben soll, auf jeden Fall weiß er, dass es nicht leicht ist, sich in die Angelegenheiten der Templer einzumischen. Aber 1307 gibt er sein Placet zur Eröffnung eines offiziellen Verfahrens. Molay wird informiert, doch er gibt sich gelassen. Er nimmt weiter an der Seite des Königs an den offiziellen Zeremonien teil, als Fürst unter Fürsten. Clemens zieht den Prozess in die Länge, der König argwöhnt, dass der Papst den Templern Zeit lassen will, zu verschwinden. Nichts ist falscher als das, die Templer trinken und fluchen ahnungslos weiter in ihren Burgen. Und dies ist das erste Rätsel.
Am 14. September 1307 schickt der König versiegelte Botschaften an alle Vögte und Seneschalle des Reiches mit dem Befehl, die Templer überall zu verhaften und ihre Güter zu beschlagnahmen. Zwischen dem Erlass des Haftbefehls und der Verhaftung vergeht ein ganzer Monat, doch die Templer ahnen offenbar nichts. Am Morgen des 13. Oktober werden sie alle umstellt und — weiteres Rätsel — ergeben sich kampflos. Und man bedenke, in den Tagen davor haben die Beamten des Königs, um sicherzugehen, dass ihnen bei der Beschlagnahme nichts entgeht, eine Art Bestandsaufnahme des Templervermögens durchgeführt, im ganzen Lande, mit kindischen administrativen Vorwänden. Und die Templer haben nichts gemerkt — machen Sie sich's bequem, Herr Vogt, sehen Sie sich um, wo Sie wollen, fühlen Sie sich wie zu Hause ...
Als der Papst von der Verhaftung erfährt, versucht er's mit einem Protest, aber nun ist es zu spät Die königlichen Kommissare haben schon angefangen, mit Eisen und Strick zu arbeiten, und viele Ritter haben unter der Folter bereits gestanden. Nun kann man sie nur noch den Inquisitoren überantworten, die zwar damals noch nicht das Feuer anwandten, aber es geht auch so. Die Geständigen wiederholen ihre Geständnisse.
Und dies ist das dritte Rätsel: Gewiss ist Folter angewandt worden, und zwar schlimme, wenn sechsunddreißig Ritter daran gestorben sind, aber von diesen Männern aus Eisen, die es gewohnt waren, dem grausamen Türken standzuhalten, hält keiner den Schergen des Königs stand. In Paris verweigern bloß vier von einhundertachtunddreißig Templern das Geständnis. Alle andern gestehen, einschließlich Jacques de Molay.
»Aber was gestehen sie denn?«, fragte Belbo.
»Sie gestehen genau das, was im Haftbefehl geschrieben stand. Ihre Aussagen weichen kaum voneinander ab, jedenfalls in Frankreich und Italien. In England dagegen, wo ihnen niemand ernstlich den Prozess machen will, tauchen zwar in den Aussagen auch die üblichen Anklagen auf, aber sie werden ordensfremden Zeugen zugeschrieben, die nur berichten, was sie vom Hörensagen wissen. Mit einem Wort, die Templer gestehen nur dort, wo jemand will, dass sie gestehen, und nur das, was er von ihnen hören will.«
»Normaler Inquisitionsprozess«, sagte Belbo. »Von der Sorte haben wir schon andere gesehen.«
»Trotzdem ist das Verhalten der Angeklagten bizarr. Die Anklagepunkte lauten, die Ritter hätten bei ihren Initiationsritualen dreimal Christus verleugnet, auf das Kruzifix gespuckt, sich entblößt und in posteriori parte spine dorsi (auf den unteren Teil der Wirbelsäule... in Beleidigung der Menschenwürde) küssen lassen, also auf den Hintern, danach auf den Nabel und auf den Mund, in humane dignitatis opprobrium; schließlich hätten sie, sagt der Anklagetext, sich wechselseitig dem Beischlaf hingegeben, alle miteinander. Die Orgie. Dann sei ihnen der Kopf eines bärtigen Götzen gezeigt worden, und sie hätten ihn anbeten müssen. Und was erwidern sie auf diese Beschuldigungen? Geoffroy de Charnay, derselbe, der später mit Jacques de Molay auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird, sagt, ja, das sei schon vorgekommen, er habe Christus verleugnet, aber nur mit den Lippen, nicht mit dem Herzen, und er könne sich nicht erinnern, ob er auf das Kruzifix gespuckt habe, weil an jenem Abend alles so schnell gegangen sei. Was den Kuss auf den Hintern betreffe, ja, auch das sei ihm widerfahren, und er habe den Präzeptor der Auvergne sagen hören, im Grunde sei's besser, sich mit den Brüdern zu vereinigen, als sich mit einer Frau zu kompromittieren, aber er selber habe keine fleischlichen Sünden mit andern Rittern begangen. Kurz, man gesteht, aber es sei nur ein Spiel gewesen, niemand habe ernstlich daran geglaubt, die anderen haben's vielleicht getan, aber ich nicht, ich hab nur aus Höflichkeit mitgemacht ... Jacques de Molay, der Großmeister, nicht der letzte der Bande, sagt, er habe, als man ihm das Kruzifix zum Draufspucken hinhielt, nur so getan, aber auf den Boden gespuckt. Er räumt ein, dass die Initiationsrituale ungefähr so gelaufen seien, aber wie's der Zufall will — er könne es nicht genau sagen, weil er während seiner ganzen Karriere nur ganz wenige Brüder initiiert habe. Ein anderer sagt, er habe den Meister zwar schon geküsst, aber nicht auf den Hintern, sondern bloß auf den Mund, allerdings habe der Meister dann ihn auf den Hintern geküsst. Einige gestehen mehr als nötig: Sie hätten nicht nur Christus verleugnet, sondern auch behauptet, er sei ein Verbrecher gewesen, sie hätten die Jungfräulichkeit Mariens geleugnet, und aufs Kruzifix hätten sie sogar uriniert, und das nicht nur am Tage ihrer Initiation, sondern auch während der Karwoche; sie glaubten nicht an die Sakramente, und sie hätten sich nicht damit begnügt, nur den Baphomet anzubeten, sondern auch den Teufel in Gestalt einer Katze ...«
Nicht minder grotesk, wenn auch nicht ganz so unglaublich, ist das Ballett, das daraufhin zwischen König und Papst beginnt. Der Papst will den Fall in die Hand nehmen, der König zieht es vor, den Prozess allein durchzufahren, der Papst möchte den Orden nur vorübergehend verbieten, um die Schuldigen zu bestrafen, und ihn dann wieder in seiner ursprünglichen Reinheit erneuern, der König will, dass der Skandal um sich greift und der Prozess den Orden in seiner Gesamtheit erfasst, damit er ihn endgültig zerschlagen kann, politisch und religiös, aber vor allem finanziell.
Schließlich taucht ein Dokument auf, das ein Meisterwerk der Jurisprudenz ist. Hochgelehrte Magister der Theologie legen fest, dass den Verurteilten kein Verteidiger zuerkannt werden dürfe, damit es nicht dazu komme, dass sie widerriefen; da sie ja gestanden hätten, sei es nicht nötig, einen Prozess zu eröffnen, der König müsse von Amts wegen handeln, einen Prozess mache man nur, wenn es Zweifel gebe, und von Zweifeln könne hier nicht die Rede sein. »Also wozu ihnen dann noch einen Verteidiger geben, außer um ihre eingestandenen Verfehlungen zu verteidigen, da doch die Evidenz der Fakten ihr Verbrechen beweist?«
Weil jedoch die Gefahr besteht, dass der Prozess dem König entgleitet und in die Hände des Papstes gelangt, ziehen der König und Nogaret einen sensationellen Fall auf, eine Affäre, die den Bischof von Troyes involviert, der aufgrund der Anzeige eines mysteriösen Intriganten, eines gewissen Noffo Dei, der Hexerei bezichtigt wird. Später stellt sich heraus, dass dieser Noffo Dei gelogen hat — wofür er dann gehängt wird —, aber bis dahin ergießen sich über den armen Bischof öffentliche Anklagen wegen Sodomie, Sakrileg und Wucher. Dieselben, die man den Templern vorwirft. Vielleicht will der König damit den Söhnen Frankreichs bedeuten, dass die Kirche kein Recht habe, über die Templer zu richten, da sie selber nicht immun gegen deren Verfehlungen sei, oder er will nur einfach dem Papst eine Warnung erteilen. Das Ganze ist eine ziemlich obskure Geschichte, ein undurchsichtiges Spiel zwischen Polizei und Geheimdiensten, mit Infiltrationen und Denunziationen ... Der Papst gerät in die Bredouille und genehmigt schließlich, dass zweiundsiebzig Templer verhört werden, die im Verhör bekräftigen, was sie unter der Folter gestanden haben. Doch der Papst setzt auf ihre Reue und spielt die Karte der Abschwörung aus, um ihnen vergeben zu können.
Hier geschieht nun noch etwas anderes — etwas Rätselhaftes, das einen der Punkte darstellte, die ich in meiner Dissertation aufklären sollte, wobei ich mich zwischen widersprüchlichen Quellen hin- und hergerissen sah: Kaum hat der Papst nach langen Bemühungen endlich die Aufsicht über die Templer erlangt, überstellt er sie wieder dem König. Ich habe nie begriffen, was da passiert ist. Molay widerruft sein Geständnis, Clemens bietet ihm Gelegenheit, sich zu verteidigen, und schickt drei Kardinale, ihn zu verhören. Am 26. November 1309 unternimmt Molay eine hochfahrende Verteidigung des Ordens und seiner Reinheit, wobei er sich bis zur Bedrohung der Ankläger steigert, dann wird er von einem Abgesandten des Königs aufgesucht, einem gewissen Guillaume de Plaisans, den er für seinen Freund hält, nimmt obskure Ratschläge entgegen und gibt am 28. desselben Monats eine sehr schüchterne und vage Erklärung ab: Er sei nur ein armer und ungebildeter Ritter, sagt er, und beschränkt sich darauf, die (inzwischen weit zurückliegenden) Verdienste des Tempelordens aufzuzählen, die Almosen, die er gegeben, den Blutzoll, den er im Heiligen Lande entrichtet habe, und so weiter. Obendrein kommt auch noch Nogaret und erinnert an die mehr als freundschaftlichen Kontakte, die der Orden mit Saladin gehabt habe — womit wir bei der Insinuation eines hochverräterischen Verbrechens wären. Molays Rechtfertigungen klingen peinlich, der Mann, der seit zwei Jahren im Gefängnis sitzt, erscheint in dieser Aussage nur noch als Nervenbündel, aber als Nervenbündel hatte er sich auch schon gleich nach der Verhaftung gezeigt. In einer dritten Aussage, im März des folgenden Jahres, befolgt Molay eine andere Strategie: Er sage nichts und werde nichts sagen, außer vor dem Papst.
Szenenwechsel, diesmal zum epischen Drama. Im April 1310 verlangen fünfhundertfünfzig Templer, zur Verteidigung ihres Ordens gehört zu werden, prangern die Foltern an, denen die Geständigen unterzogen worden sind, negieren und widerlegen alle Anklagepunkte als unhaltbare Verleumdungen. Doch der König und Nogaret verstehen ihr Handwerk. Einige Templer widerrufen? Um so besser, dann sind sie als Rückfällige und Meineidige zu betrachten — als relapsi, eine schreckliche Anklage in jenen Zeiten —, da sie hochmütig ableugnen, was sie bereits gestanden hatten. Vergeben kann man allenfalls dem, der gesteht und bereut, nicht aber dem, der keine Reue zeigt, da er sein Geständnis widerruft und meineidig sagt, er habe nichts zu bereuen. Vierundfünfzig meineidige Widerrufer werden zum Tode verurteilt.
Die Reaktion der anderen Häftlinge kann man sich leicht vorstellen: Wer gesteht, bleibt am Leben, wenn auch im Gefängnis, und wer am Leben bleibt, kann noch hoffen. Wer nicht gesteht oder gar widerruft, kommt auf den Scheiterhaufen. Die fünfhundert noch lebenden Widerrufer widerrufen den Widerruf.
Die Rechnung der Reumütigen geht auf, denn 1312 werden diejenigen, die nicht gestanden haben, zu lebenslänglichem Kerker verurteilt, während die Geständigen freikommen. Philipp hatte kein Interesse an einem Massaker, er wollte nur den Orden zerschlagen. Die freigelassenen Ritter, nach vier bis fünf Jahren Gefängnis an Leib und Seele zermürbt, verschwinden still in anderen Orden, sie wollen nur noch vergessen werden, und dieses Verschwinden, diese Auslöschung wird noch lange auf der Legende vom heimlichen Überleben des Ordens lasten.
Jacques de Molay verlangt weiter, vom Papst angehört zu werden. Clemens beruft ein Konzil ein, in Vienne anno 1311, jedoch ohne Molay einzuladen. Er sanktioniert die Auflösung des Ordens und weist dessen Güter den Johannitern zu, obwohl sie einstweilen noch vom König verwaltet werden.
Drei Jahre vergehen, schließlich kommt es zu einer Verständigung zwischen König und Papst, und am 19. März Anno Domini 1314, in Paris auf dem Platz vor Notre-Dame, wird Molay zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Als er das Urteil vernimmt, durchzuckt ihn ein jäher Anflug von Würde. Er hatte erwartet, dass der Papst ihm gestatten würde, sich zu rechtfertigen, er fühlt sich verraten. Er weiß genau, wenn er noch einmal widerruft, wird auch er ein meineidiger relapsus sein. Was geht in seinem Herzen vor, nach fast siebenjährigem Warten auf das Urteil? Findet er zum Mut seiner Vorgänger zurück? Beschließt er, dass er, zermürbt, wie er ist, und mit der Aussicht, seine Tage lebendig eingemauert und entehrt zu beenden, nun ebenso gut einen schönen Tod auf sich nehmen kann? Er beteuert seine und seiner Brüder Unschuld und sagt, die Templer hätten nur ein Delikt begangen: Sie hätten aus Feigheit den Tempel verraten. Er mache dabei nicht mit.
Nogaret reibt sich die Hände: für öffentliches Vergehen öffentliche — und endgültige — Verurteilung, im Schnellverfahren. So wie Molay hatte sich auch Geoffroy de Charnay verhalten, der Präzeptor der Normandie. Der König entscheidet noch selbigen Tages: Ein Scheiterhaufen wird an der Spitze der Ile de la Cité errichtet. Bei Sonnenuntergang werden Molay und Charnay verbrannt.
Nach der Überlieferung soll der Großmeister des Templerordens, ehe er starb, den Ruin seiner Verfolger prophezeit haben. Tatsächlich starben der Papst, der König und Nogaret noch im selben Jahre. Was Marigny betraf, so geriet er nach dem Tod des Königs in den Verdacht der Unterschlagung.
Seine Feinde bezichtigten ihn der Hexerei und brachten ihn an den Galgen. Viele begannen, Molay als einen Märtyrer zu sehen. Dante hat den Unmut vieler Zeitgenossen über die Verfolgung der Templer zum Ausdruck gebracht.
Hier endet die Historie und beginnt die Legende. In einem ihrer Kapitel heißt es, als Ludwig XVI. guillotiniert worden war, sei ein Unbekannter auf das Schafott gesprungen und habe gerufen: »Jacques de Molay, du bist gerächt!«
Dies mehr oder minder war die Geschichte, die ich an jenem Abend bei Pilade erzählte, alle naselang unterbrochen von meinen Zuhörern.
So fragte mich Belbo an einem bestimmten Punkt: »Also das ... sind Sie sicher, dass Sie das nicht bei Orwell gelesen haben, oder bei Koestler?« Und an einem anderen: »Also das ist ja genau wie bei ... na, wie heißt doch gleich der mit der Kulturrevolution? ...« Diotallevi kommentierte dann jedes- mal sentenziös: »Historia magistra vitae«, worauf Belbo zu ihm sagte: »He, he, ein Kabbalist glaubt nicht an die Geschichte«, und er, unerschütterlich: »Eben, alles wiederholt sich im Kreise, die Geschichte ist Lehrmeisterin des Lebens, weil sie lehrt, dass sie nicht existiert. Jedoch die Permutationen zählen.«
»Aber alles in allem«, sagte Belbo am Ende, »was waren denn nun diese Templer für Leute? Zuerst haben Sie sie uns wie Sergeanten in einem Film von John Ford vorgeführt, dann als Dreckschweine, dann wie Ritter in einer alten Miniatur, dann als Gottes eigene Bankiers, die ihren schmutzigen Geschäften nachgehen, dann wieder als eine geschlagene Armee, dann als Anhänger einer luziferischen Sekte und schließlich als Märtyrer des freien Denkens ...Was waren sie?«
»Es wird schon einen Grund dafür geben, dass sie zum Mythos geworden sind. Wahrscheinlich waren sie alles zugleich. Was war die katholische Kirche, könnte sich ein Historiker vom Mars im Jahre dreitausend fragen, wer waren die Christen? Die, die sich von den Löwen auffressen ließen, oder die, die die Ketzer erschlugen? Alles zugleich.«
»Aber all diese schlimmen Sachen, die ihnen vorgeworfen wurden, hatten sie die nun getan oder nicht?«
»Das Schöne ist, dass ihre eigenen Anhänger, ich meine die Neotempler diverser Epochen, diese Frage bejahen. Rechtfertigungen gibt es viele. Erste These: es handelte sich um Mutproben — nach dem Motto: Willst du ein Templer sein, dann zeig uns, dass du ein Kerl bist, spuck aufs Kruzifix, und wir werden ja sehen, ob Gottes Blitzschlag dich trifft; wenn du in diesen Orden eintrittst, musst du dich mit Haut und Haaren den Brüdern verschreiben, also lass dich auf den Hintern küssen. Zweite These: sie wurden aufgefordert, Christus zu verleugnen, damit man sah, wie sie sich verhalten würden, wenn sie den Sarazenen in die Hände fielen. Eine idiotische These, finde ich, denn man bringt nicht jemandem bei, der Folter zu widerstehen, indem man ihn genau das tun lässt, wenn auch nur symbolisch, was der Folterer von ihm verlangen wird. Dritte These: die Templer im Orient waren mit manichäischen Ketzern in Berührung gekommen, die das Kreuz verachteten, weil es das Werkzeug der Folter des Herrn war, und die predigten, man müsse der Welt entsagen und auf Ehe und Nachkommenschaft verzichten. Eine alte Idee, typisch für viele Häresien in den ersten Jahrhunderten, die später auch bei den Katharern wieder auftaucht — und es gibt eine ganze Richtung der Tradition, nach der die Templer zutiefst vom Katharismus durchtränkt waren. Das würde auch die Sodomie erklären, selbst wenn sie nur symbolisch war. Nehmen wir an, die Ritter sind mit diesen Häretikern in Berührung gekommen: sie waren gewiss keine Intellektuellen; ein bisschen aus Naivität, ein bisschen aus Snobismus und Korpsgeist bastelten sie sich eine private Folklore zusammen, die sie von anderen Kreuzfahrern unterschied. Sie praktizierten ihre Riten als Erkennungsgesten, ohne sich groß zu fragen, was sie bedeuteten.«
»Und der Baphomet?«
»Sehen Sie, in vielen Aussagen ist zwar von einer figura Baphometi die Rede, aber es könnte sich auch um einen Fehler des ersten Schreibers handeln, der sich dann in allen Dokumenten wiederholt hat, zumal wenn die Protokolle manipuliert worden sind. In anderen Fällen spricht manchmal jemand von Mohammed (istud caput vester deus est, et vester Mahumet — dieser Kopf ist euer Gott und euer Mohammed), und das würde bedeuten, dass die Templer sich eine synkretistische Liturgie zurechtgemacht hatten. In einigen Aussagen heißt es auch, sie seien aufgefordert worden, ›Yalla‹ anzurufen, was Allah gewesen sein muss. Aber die Muslime verehren keine Bildnisse von Mohammed, also wer könnte dann sonst die Templer beeinflusst haben? In den Aussagen heißt es, viele hätten diese Köpfe gesehen, und manchmal ist es anstatt eines Kopfes sogar ein ganzes Götzenbild, aus Holz, mit Kraushaar, vergoldet, und immer mit Bart. Es scheint, dass die Inquisitoren einige dieser Köpfe gefunden und den Verhörten gezeigt haben, aber am Ende ist keine Spur von ihnen geblieben, alle haben sie gesehen, keiner hat sie gesehen. Wie die Geschichte mit der Katze: die einen haben eine graue gesehen, die anderen eine rote, die dritten eine schwarze. Aber stellen Sie sich ein Verhör mit glühenden Eisen vor: Hast du während deiner Initiation eine Katze gesehen? Sicher, wieso auch nicht, auf einem Templergut mit all den Vorräten, die es vor Mäusen zu schützen galt, muss es von Katzen gewimmelt haben. Damals war die Katze in Europa noch nicht sehr verbreitet als Haustier, aber in Ägypten schon. Wer weiß, vielleicht haben sich die Templer zu Hause Katzen gehalten, entgegen den Gebräuchen der braven Leute, die Katzen als verdächtige Tiere ansahen. Und so kann es auch mit den Baphomet-Köpfen gewesen sein, vielleicht waren es Reliquiare in Form eines Kopfes, das gab es damals. Natürlich gibt es auch Leute, die behaupten, der Baphomet sei eine alchimistische Figur gewesen.«
»Die Alchimie ist immer im Spiel«, sagte Diotallevi mit Überzeugung. »Wahrscheinlich kannten die Templer das Geheimnis, wie man Gold macht.«
»Sicher kannten sie es«, sagte Belbo. »Man stürmt eine sarazenische Stadt, schlachtet Frauen und Kinder ab und rafft alles zusammen, was man kriegen kann... In Wahrheit ist das Ganze eine ziemlich krause Geschichte.«
»Vielleicht hatten sie auch ein krauses Durcheinander in ihren Köpfen, verstehen Sie? Was kümmerten sie die doktrinären Debatten? Die Geschichte ist voll von Geschichten solcher Eliten, die sich ihren eigenen Stil zurechtbosselten, ein bisschen großmäulig, ein bisschen mystisch, sie wussten selber nicht recht, was sie taten... Natürlich gibt es dann auch die esoterische Deutung: Sie wussten sehr genau, was sie taten, sie wussten alles, sie waren Jünger der orientalischen Mysterien, und sogar der Arschkuss hatte einen initiatischen Hintersinn.«
»Erklären Sie mir mal ein bisschen, was der Arschkuss für einen initiatischen Hintersinn hatte«, sagte Diotallevi.
»Gewisse moderne Esoteriker behaupten, die Templer hätten sich auf indische Lehren berufen. Der Kuss auf den Hintern habe dazu gedient, die Schlange Kundalini zu wecken, eine kosmische Kraft, die an der Wurzel des Rückgrats sitze, in den Geschlechtsdrüsen, und die, wenn sie einmal geweckt worden sei, die Zirbeldrüse erreiche... «
»Die von Descartes?«
»Ja, ich glaube, und da sollte sie dann in der Stirn ein drittes Auge öffnen, das Auge der direkten Sicht in Zeit und Raum. Deswegen sucht man noch heute nach dem Geheimnis der Templer.«
»Philipp der Schöne hätte lieber die modernen Esoteriker verbrennen sollen, anstatt diese armen Teufel.«
»Ja, aber die modernen Esoteriker haben keinen Pfennig.«
»Da sehen Sie mal, was für Geschichten man noch zu hören bekommt«, schloss Belbo. »Jetzt verstehe ich endlich, warum diese Templer so vielen von meinen Irren im Kopf herumspuken.«
»Ich glaube, das Ganze ist ein bisschen wie Ihre Geschichte von gestern Abend. Ein krauser, verdrehter Syllogismus. Benimm dich wie ein Dummer, und du wirst undurchschaubar für alle Ewigkeit. Abrakadabra, Mene Tekel Upharsin, Pape Satan Pape Satan Aleppe, le vierge le vivace et le bel aujourd'hui — jedes Mal wenn ein Dichter, ein Prediger, ein Potentat oder Magier irgendein bedeutungsloses Gekrächze von sich gegeben hat, verbringt die Menschheit Jahrhunderte damit, seine Botschaft zu ergründen. Die Templer bleiben unergründlich wegen der Konfusion, die in ihren Köpfen herrschte. Deswegen werden sie von so vielen verehrt.«
»Eine positivistische Erklärung«, sagte Diotallevi.
»Ja, vielleicht bin ich ein Positivist«, sagte ich. »Mit einer kleinen chirurgischen Operation an der Zirbeldrüse hätten die Templer leicht Johanniter werden können, also normale Menschen. Der Krieg zerstört die Gehirnkreisläufe, muss der Kanonendonner sein, oder das griechische Feuer. Sehen Sie sich die Generäle an.«
Es war ein Uhr nachts. Diotallevi schwankte, betrunken vom Tonicwater. Wir verabschiedeten uns. Ich hatte mich gut unterhalten. Und sie auch. Wir wussten noch nicht, dass wir begonnen hatten, mit dem griechischen Feuer zu spielen, das brennt und verzehrt.
15
Erars de Syverey me dist: »Sire, se vous cuidiés que je ne mi hoir n’eussiens reprouvier, je vous iroie querre secours au conte d’Anjou, que je voi là en mi les chans.« Et je li dis: »Mes sires Erars, il me semble que vous feriés vostre grant honour, se vous nous aliés querre aide pour nos vies sauver; car la vostre est bien en avanture.«
(Erard de Siverey sprach zu mir: »Sire, so Ihr dafür Sorge traget, dass weder ich noch mein Erbe dadurch Unehre haben, werde ich hingehen, um Euch Hilfe zu holen vom Grafen Anjou, den ich dort inmitten der Felder sehe.« Und ich sprach zu ihm: »Messire Erard, mir scheint, Ihr werdet Euch große Ehre machen, so Ihr hingehet, um Hilfe zu holen für unser Leben, denn das Eure ist gar sehr gefährdet.)
Joinville, Histoire de Saint Louis, 46, 226
Nach dem Abend der Templer hatte ich mit Belbo nur flüchtige Gespräche in der Bar, in die ich immer seltener ging, da ich an meiner Dissertation arbeitete.
Eines Tages war eine große Demonstration gegen die neofaschistischen Putschkomplotte angesetzt, die an der Universität beginnen sollte und zu der, wie damals üblich, alle antifaschistischen Intellektuellen aufgerufen waren. Großes Polizeiaufgebot, aber wie es schien, war man übereingekommen, die Sache laufen zu lassen. Typisch für jene Zeiten: eine nicht genehmigte Demonstration, aber solange nichts Schlimmes passierte, würde die Ordnungsmacht sich damit begnügen, zuzuschauen und aufzupassen, dass die Linke (damals gab es viele territoriale Kompromisse) gewisse Grenzen nicht überschritt, die ideell durch das Zentrum von Mailand gezogen waren. Im südlichen Teil der Altstadt dominierte die Protestbewegung, jenseits des Largo Augusto und in der ganzen Zone um Piazza San Babila hielten sich die Faschisten auf. Wenn jemand die Grenze übertrat, gab es Zwischenfälle, aber sonst passierte nichts, wie zwischen Dompteur und Löwe. Wir glauben gewöhnlich, dass der Dompteur vom wütenden Löwen angegriffen wird, den er dann bändigt, indem er die Peitsche schwingt oder einen Pistolenschuss abgibt. Irrtum: der Löwe ist schon satt und mit Drogen besänftigt, wenn er in die Arena kommt, und will niemanden angreifen. Wie jedes Tier hat er rings um sich eine bestimmte Sicherheitszone, außerhalb welcher passieren kann, was will, ohne dass er sich rührt. Wenn der Dompteur einen Fuß in die Zone des Löwen setzt, faucht der Löwe, dann hebt der Dompteur die Peitsche, aber in Wirklichkeit macht er einen Schritt rückwärts (als nähme er Anlauf zu einem Sprung), und der Löwe beruhigt sich wieder. Eine simulierte Revolution muss ihre eigenen Regeln haben.
Ich war zu der Demonstration gegangen, aber ohne mich einer bestimmten politischen Gruppe anzuschließen. Ich blieb am Rande, auf der Piazza Santo Stefano, wo sich die Unorganisierten trafen, Zeitungs- und Verlagsleute, Intellektuelle und Künstler, die gekommen waren, ihre Solidarität zu beweisen. Die ganze Blase aus Pilades Bar.
Unversehens fand ich mich neben Belbo. Er war in Begleitung einer Frau, mit der ich ihn öfter in der Bar gesehen hatte, sodass ich annahm, sie wäre seine Freundin (sie verschwand später — heute weiß ich warum, nachdem ich die Geschichte in dem file über Doktor Wagner gelesen habe).
»Sie auch hier?«, fragte ich.
»Was wollen Sie?« Er lächelte verlegen. »Man muss doch was für sein Seelenheil tun. Crede firmiter et pecca fortiter ... (Glaube fest und sündige kräftig …) Erinnert Sie diese Szene hier nicht an etwas?«
Ich sah mich um. Es war ein sonniger Nachmittag, einer von jenen Tagen, an denen Mailand schön ist, mit seinen gelben Fassaden unter einem zart metallblauen Himmel. Die Polizei vor uns war eingepanzert in ihren Helmen und Schilden aus Plastik, die stählern zu schimmern schienen, während ein Kommissar in Zivil, aber mit einer grellen Trikolorenschärpe um den Leib, die Front der Seinen abschnitt. Ich blickte hinter mich auf die Spitze des Zuges: die Demonstranten hatten sich in Bewegung gesetzt, aber gemessenen Schrittes, die Reihen waren dicht, aber unregelmäßig, fast Serpentinen, die Masse erschien wie stachelborstig mit ihren Fahnen, Standarten, Stangen und Transparenten. Ungeduldige Grüppchen stimmten rhythmische Sprechchöre an. Längs der Flanken des Zuges patrouillierten die sogenannten Katangas, vermummte Kämpfer mit roten Tüchern vor dem Gesicht, knallbunten Hemden und breiten nägelbeschlagenen Gürteln über Jeans, die durch alle Winde und Wetter gegangen waren; auch die langen Schlagstöcke, die sie in der Hand trugen, getarnt als zusammengerollte Fahnen, erschienen wie Elemente einer Palette, ich dachte unwillkürlich an Dufy und seine heiteren Farben. Von Dufy kam ich per Assoziation auf Guillaume Dufay. Ich hatte den Eindruck, in einer alten Miniatur zu leben, unter den Neugierigen am Straßenrand glaubte ich ein paar Damen zu sehen, androgyne Gestalten, die auf das große Fest der Kühnheit warteten, das ihnen verheißen war ... All dies schoss mir blitzartig durch den Sinn, ich hatte irgendwie ein Gefühl von deja vu, als erblickte ich etwas Altbekanntes, nur wusste ich nicht, was es war.
»Ist das nicht die Einnahme von Askalon?«, fragte Belbo.
»Bei Gott und Messire Saint-Jacques!«, rief ich aus. »Sie haben recht, es ist wirklich das Kreuzfahrerheer! Ich bin sicher, dass einige von diesen heute Abend im Paradies sein werden!«
»Ja«, sagte Belbo, »die Frage ist nur, auf welcher Seite die Sarazenen sind.«
»Die Polizei ist teutonisch«, stellte ich fest, »so teutonisch, dass wir die Horden von Alexander Newski sein könnten, aber vielleicht bringe ich meine Texte durcheinander. Sehen Sie dort die Gruppe, das müssen die Mannen des Grafen Artois sein, sie beben vor Kampfeslust, denn unerträglich ist ihnen die Schmach, schon gehen sie mit Drohgebrüll auf die Feinde los.«
In diesem Moment passierte der Zwischenfall. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, der Zug hatte sich voranbewegt, eine Gruppe von Aktivisten mit Fahrradketten und Gesichtsmützen hatte angefangen, die Front der Polizei einzudrücken, um zur Piazza San Babila durchzubrechen, aggressive Sprechchöre brüllend. Der Löwe regte sich, und diesmal mit einer gewissen Entschiedenheit. Die vordere Reihe der Front tat sich auf, und es erschienen die Wasserwerfer. Aus den Vorposten des Zuges flogen die ersten Steine, die ersten Stahlkugeln schwirrten, ein Trupp Polizisten stürmte brutal prügelnd in die Menge, und der Zug begann zu wanken. In diesem Moment ertönte von Weitem, hinten aus der Via Laghetto, ein Schuss. Vielleicht war's nur ein geplatzter Reifen, vielleicht ein Knallfrosch, vielleicht war's ein echter Pistolenschuss, abgefeuert von einem jener »Autonomen«, die ein paar Jahre später regelmäßig die P38 benutzen sollten.
Panik brach aus. Die Polizei blies zum Angriff, die Demonstranten teilen sich in die Kämpfer, die den Waffengang annahmen, und die anderen, die ihre Aufgabe für beendet ansahen. Ich fand mich unter Letzteren, rannte Hals über Kopf die Via Larga hinunter in der panischen Angst, von irgendeinem Schlägertrupp gefasst zu werden, in wessen Auftrag auch immer. Plötzlich sah ich neben mir Belbo mit seiner Gefährtin. Sie liefen schnell, aber ohne Panik.
An der Ecke der Via Rastrelli packte mich Belbo am Arm und rief. »Hier lang, junger Mann!« Ich wollte ihn fragen, warum, die Via Larga schien mir bequemer und belebter, und als wir in das Labyrinth der Gässchen zwischen der Via Pecorari und dem erzbischöflichen Ordinariat eindrangen, packte mich die Klaustrophobie. Mir schien, dass es dort, wo Belbo mich hinführte, viel schwieriger sein würde, mich zu tarnen, falls irgendwo Polizisten auftauchen sollten. Doch er bedeutete mir zu schweigen, bog um zwei, drei Ecken, immer langsamer laufend, und so gelangten wir schließlich in ruhiger Gangart, ohne zu rennen, an die Rückseite des Doms, wo der Verkehr normal war und keine Echos der Schlacht hindrangen, die kaum zweihundert Meter entfernt von uns tobte. Wir gingen schweigend um den Dom und erreichten die Vorderfront auf der Seite der Galleria. Belbo kaufte ein Säckchen Körner und begann in seraphischer Ruhe die Tauben zu füttern. Wir waren vollständig untergetaucht in der samstäglichen Menge, Belbo und ich in Jackett und Krawatte, seine Begleiterin in der Uniform der gepflegten Mailänderin, grauer Rollkragenpullover mit Perlenkette, ob echt oder nicht. Belbo stellte sie mir vor: »Das ist Sandra, kennt ihr euch?«
»Vom Sehen. Hallo.«
»Schauen Sie, Casaubon«, erklärte er mir dann, »wenn man fliehen muss, läuft man nie in gerader Linie davon. Nach dem Beispiel der Savoyer in Turin hat Napoleon III. das alte Paris ›entkernt‹ und mit einem Netz von Boulevards überzogen, das alle seither als ein Meisterwerk an urbanistischer Weitsicht bewundern. Aber die geraden Straßen dienen zur besseren Kontrolle der aufständischen Massen. Wenn möglich, siehe die Champs-Élysées, müssen auch die Seitenstraßen breit und gerade sein. Wo das nicht möglich war, wie in den engen Gassen des Quartier Latin, hat der Mai 68 sein Bestes gegeben. Wenn man wegläuft, versteckt man sich in die schmalen Gassen. Keine Ordnungsmacht der Welt kann sie alle kontrollieren, und auch die Bullen haben Angst, in kleinen Gruppen da reinzugehen. Wenn man zweien alleine begegnet, haben sie meistens mehr Angst als man selber, und in stiller Übereinkunft machen sich beide Seiten in der Gegenrichtung aus dem Staub. Wenn man an einer Massenkundgebung teilnehmen will und die Gegend nicht gut kennt, macht man am Tag davor eine kleine Ortsbesichtigung, und dann stellt man sich an die Ecke, wo die engen Gassen beginnen.«
»Haben Sie einen Kurs in Bolivien gemacht?«
»Die Überlebenstechniken lernt man nur als Kind, es sei denn, man meldet sich zu den Green Berets. Ich habe die schlimmen Jahre, die des Partisanenkriegs, in *** verbracht« — er nannte mir ein piemontesisches Städtchen zwischen dem Monferrat und in Nordhängen des ligurischen Apennins. »Ein wahrer Glücksfall für einen, der im Herbst 43 aus der Stadt evakuiert worden war, der richtige Ort und die richtige Zeit, um alles zu genießen: die Razzien, die SS, die Schießereien auf den Straßen ... Ich erinnere mich, wie ich eines Abends auf den Hügel stieg, um frische Milch vom Bauern zu holen, da höre ich plötzlich über mir so ein Sirren zwischen den Baumwipfeln: frr, frrr. Ich begreife, dass sie von einer Anhöhe weiter oben auf die Eisenbahnlinie schießen, die hinter mir unten durchs Tal läuft. Der instinktive Reflex ist, wegzulaufen oder sich auf den Boden zu werfen. Ich mache einen Fehler, laufe talwärts, und plötzlich höre ich aus den Feldern um mich herum ein tschak tschak tschak. Es waren die Einschläge der zu kurz geratenen Schüsse, die nicht bis zur Bahnlinie gelangten. Mir wird klar, dass ich, wenn sie von hoch oben ins Tal runterschießen, nach oben weglaufen muss: je höher ich gelangen desto höher fliegen mir die Geschosse über den Kopf. Meine Großmutter hatte einmal, als sie mitten in eine Schießerei zwischen Faschisten und Partisanen geraten war, die sich aus den Waldrändern rechts und links von ihr über ein Maisfeld hinweg beschossen, eine großartige Idee: da sie auf jeder der beiden Seiten riskierte, von einer verirrten Kugel getroffen zu werden, warf sie sich mitten auf dem Feld zu Boden, genau zwischen den beiden Linien. So blieb sie zehn Minuten lang liegen, mit dem Gesicht nach unten, in der Hoffnung, dass die beiden Linien nicht zu weit vorrückten. Es ging gut ... Sehen Sie, wenn man diese Dinge als Kind gelernt hat, behält man sie in den Reflexen.«
»Dann waren Sie also bei der Resistenza?«
»Als Zuschauer«, sagte er, und ich spürte eine leichte Verlegenheit in seinem Ton. »1943 war ich elf Jahre alt, am Ende des Krieges gerade dreizehn. Zu jung, um aktiv teilzunehmen, alt genug, um alles genau zu verfolgen, mit der Aufmerksamkeit eines Fotografen, würde ich sagen. Aber was konnte ich tun? Nur hingehen und gucken. Und weglaufen, so wie heute.«
»Jetzt könnten Sie's erzählen, statt die Bücher anderer zu redigieren.«
»Ist schon alles erzählt worden, Casaubon. Wenn ich damals zwanzig gewesen wäre, hätte ich in den fünfziger Jahren Erinnerungspoesie geschrieben. Zum Glück bin ich zu spät geboren, als ich hätte schreiben können, blieb mir nichts anderes übrig, als die schon geschriebenen Bücher zu lesen. Auf der anderen Seite hätte ich auch mit einer Kugel im Kopf in den Hügeln enden können.«
»Auf welcher Seite?«, fragte ich, schämte mich aber dann. »Entschuldigen Sie, das war ein dummer Witz.«
»Nein, das war kein dummer Witz. Sicher, heute weiß ich es, aber eben erst heute. Wusste ich's damals? Wissen Sie, dass man sein Leben lang von Gewissensbissen geplagt sein kann, nicht weil man die falsche Seite gewählt hat — das könnte man ja wenigstens noch bereuen —, sondern weil man außerstande war, sich selbst zu beweisen, dass man nicht die falsche Seite gewählt hätte ... Ich war potenziell ein Verräter. Welches Recht hätte ich heute, irgendeine Wahrheit zu schreiben und sie anderen beizubringen?«
»Also hören Sie«, sagte ich, »potenziell hätten Sie auch ein Ungeheuer wie Jack the Ripper werden können, aber Sie sind es nicht geworden. Das sind doch Neurosen! Oder haben Sie irgendwelche konkreten Anhaltspunkte für Ihre Gewissensbisse?«
»Was sind konkrete Anhaltspunkte bei diesen Dingen? Ach, übrigens, apropos Neurosen, heute Abend muss ich zu einem Essen mit Doktor Wagner. Höchste Zeit, mich auf den Weg zu machen, ich werde ein Taxi an der Scala nehmen. Gehen wir, Sandra?«
»Doktor Wagner?«, fragte ich, während wir uns verabschiedeten. »Er persönlich?«
»Ja, er ist für ein paar Tage in Mailand, und vielleicht kann ich ihn überreden, uns etwas von seinen unveröffentlichten Schriften zu geben, für ein Aufsatzbändchen. Wäre ein schöner Coup.«
Demnach stand Belbo schon damals in Kontakt mit Doktor Wagner. Ich frage mich, ob es wohl jener Abend gewesen war, an dem Wagner (französisch auszusprechen: Wagnère) Belbo gratis analysierte, ohne dass einer der beiden es wusste. Aber vielleicht war das auch später gewesen.
Jedenfalls war es damals das erste Mal gewesen, dass Belbo auf seine Kindheit in *** zu sprechen kam. Merkwürdig, dass er dabei von Fluchten erzählte — fast glorreichen Fluchten, im Glorienschein der Erinnerung, doch ins Gedächtnis gekommenen, nachdem er — mit mir, aber vor meinen Augen, unrühmlich, wenn auch klug — erneut geflohen war.
16
Danach sagte Bruder Etienne de Provins, vor die genannten Kommissare geführt und von diesen gefragt, ob er den Orden verteidigen wolle, nein, das wolle er nicht, und so ihn die Meister verteidigen wollten, sollten sie das nur tun, aber er sei vor der Verhaftung nur ganze neun Monate lang im Orden gewesen.
Aussage am 27.11.1309
Unter Abulafias files hatte ich einen Text gefunden, der von drei anderen Fluchten erzählte. Daran dachte ich vorgestern Abend im Periskop, als ich es im Dunkeln knacken, knistern und rascheln hörte — und mir sagte, bleib ruhig, das ist die Art, wie Museen, Bibliotheken, alte Paläste nachts miteinander sprechen, das sind nur Schränke, die sich setzen, Rahmen, die auf die abendliche Feuchtigkeit reagieren, langsam abbröckelnder Putz und rissig werdendes Mauerwerk. Du kannst nicht fliehen, sagte ich mir, denn schließlich bist du ja hergekommen, um zu erfahren, was mit einem geschehen ist, der versucht hat, einer Reihe von Fluchten ein Ende zu setzen, indem er einen Akt sinnlosen (oder verzweifelten) Mutes beging, vielleicht um jene so oft hinausgeschobene Begegnung mit der Wahrheit herbeizuzwingen.
Filename: Canaletto
Bin ich vor einem Polizeiangriff weggelaufen, oder erneut vor der Geschichte? Und was wäre der Unterschied? Bin ich aus moralischen Gründen zur Demonstration gegangen, oder um mich ein weiteres Mal vor der GELEGENHEIT auf die Probe zu stellen? Sicher, ich habe die großen Gelegenheiten verpasst, weil ich zu früh gekommen war, oder zu spät, aber schuld war mein Geburtsjahr. Ich wäre gern auf jenem Maisfeld gewesen, um zu schießen, auch auf die Gefahr hin, dabei meine Großmutter zu treffen. Ich war nicht aus Feigheit abwesend, sondern aus Altersgründen. D'accord. Und bei der Demonstration? Da bin ich erneut aus Altersgründen geflohen, dieser Kampf ging mich nichts an. Aber ich hätte ein Risiko eingehen können, auch ohne Enthusiasmus, nur um mir zu beweisen, dass ich damals auf dem Maisfeld zu wählen gewusst hätte. Hat es Sinn, die falsche Gelegenheit zu wählen, um sich zu überzeugen, dass man die richtige gewählt hätte? Wer weiß, wie viele von denen, die sich heute dem Kampf gestellt haben, es so machten. Aber eine falsche Gelegenheit ist nicht die GELEGENHEIT.
Kann man feige sein, weil einem scheint, dass der Mut der andern in keinem Verhältnis zur Nichtigkeit des Anlasses steht? Wenn ja, dann macht Klugheit feige. Und so verpasst man die gute Gelegenheit, wenn man das Leben damit verbringt, auf sie zu lauern und über sie nachzugrübeln. Die Gelegenheit ergreift man instinktiv, und im Augenblick weiß man noch nicht, dass es die GELEGENHEIT ist. Vielleicht habe ich sie ja schon einmal ergriffen und weiß es bloß nicht? Wie kommt man dazu, ein schlechtes Gewissen zu haben und sich als Feigling zu fühlen, bloß weil man im falschen Jahrzehnt geboren ist? Antwort: du fühlst dich als Feigling, weil du einmal ein Feigling gewesen bist.
Und wenn ich auch damals der GELEGENHEIT ausgewichen wäre, weil ich sie als inadäquat empfand?
Das Haus in *** beschreiben, wie es einsam auf dem Hügel zwischen den Weingärten steht — sagt man nicht, die Hügel hätten die Form von Brüsten? —, und dann die Straße, die zu den Ausläufern des Dorfes hinunterführt, zu den letzten Häusern am Rande der Siedlung — oder den ersten (klar, das wirst du nie wissen, solange du keinen Standpunkt wählst). Den kleinen Evakuierten beschreiben, wie er den Schutz der Familie verlässt und sich hinunterwagt in die verstreute Ortschaft, wie er durch die Hauptstraße schleicht, ängstlich und neidisch vorbei am Viottolo.
Der Viottolo war der Versammlungsort der Viottolobande. Schmutzige laute Jungen vom Lande. Ich war zu städtisch, ich blieb ihnen besser fern. Aber um zur Piazza zu gelangen, mit dem Kiosk und dem Papierwarenladen, blieb mir nichts anderes übrig, wenn ich nicht einen geradezu kontinentalen und schmachvollen Umweg machen wollte, als über den Canaletto zu gehen. Die Jungs vom Viottolo waren kleine Aristokraten im Vergleich zu denen der Canalettobande, benannt nach einem kanalisierten Bach, der durch die ärmste Gegend der Siedlung floss. Die vom Canaletto waren wirklich verdreckt, subproletarisch gemein und brutal.
Die vom Viottolo konnten die Zone der Canalettos nicht durchqueren, ohne attackiert und verprügelt zu werden. Am Anfang wusste ich noch nicht, dass ich zum Viottolo gehörte, ich war gerade erst angekommen, aber die vom Canaletto hatten mich gleich als Feind identifiziert. Ich schlenderte durch ihr Gebiet mit einer aufgeschlagenen Zeitung vor der Nase, so einer kleinen bunten Kinderzeitung, in der ich beim Gehen las, und sie hatten mich sofort im Visier. Ich fing an zu rennen und sie hinterher, sie schmissen mit Steinen, einer davon durchschlug die Zeitung, die ich im Rennen weiter aufgeschlagen hielt, um eine Art Haltung zu bewahren. Ich konnte mich retten, aber die Zeitung war hin. Am nächsten Tag beschloss ich, in die Viottolobande einzutreten.
Ich präsentierte mich in ihrer Ratsversammlung und wurde mit Gewieher empfangen. Damals hatte ich dichtes, tendenziell senkrechtstehendes Haar, fast wie der Typ in der Reklame für die Buntstifte von Presbitero. Die Vorbilder, die mir das Kino, die Werbung und die Sonntagsspaziergänge nach der Messe boten, waren Jünglinge in schulterwattierten Zweireihern mit schmalen Lippenbärtchen und glatt anliegendem pomadisierten Haar. Damals nannte man die straff zurückgebürstete Frisur im Volksmund die mascagna. Ich wollte eine mascagna. Also kaufte ich mir auf der Piazza am Montag, wenn Markt war, für lächerliche Summen im Vergleich zur Lage der Aktienbörse, aber enorme für mich, Tuben mit einer körnigen Brillantine, hart wie Kunsthonig, und verbrachte Stunden damit, sie in meine widerspenstigen Haare zu streichen, bis sie glatt wie eine Kappe anlagen. Dann zog ich ein Netz darüber, um sie glattzuhalten. Die Jungs vom Viottolo hatten mich schon ein paarmal mit dem Netz gesehen und mir spöttische Wörter nachgerufen in ihrem rauen Dialekt, den ich einigermaßen verstand, aber nicht sprach. An jenem Tag, nachdem ich zwei Stunden mit dem Netz im Haus verbracht hatte, nahm ich es ab, überprüfte den süperben Effekt im Spiegel und begab mich zum Treffen mit denen, welchen ich Treue zu schwören gedachte. Als ich eintraf, hatte die Brillantine bereits ihre glutinöse Funktion beendet und mein Haar begonnen, sich wieder in seine vertikale Position aufzurichten, aber in Zeitlupe. Große Begeisterung bei den Viottolos, die mich umringten und sich auf die Schenkel schlugen. Ich bat um Aufnahme in ihre Bande.
Leider sprach ich italienisch: ich war eben ein Andersartiger. Der Anführer trat vor, ein Junge namens Martinetti, der mir groß wie ein Turm vorkam, schimmernd mit nackten Füßen. Er entschied, dass ich hundert Tritte in den Hintern erdulden müsse. Vielleicht sollten sie die Schlange Kundalini wecken. Ich willigte ein. Stellte mich an die Mauer, rechts und links an den Armen von zween Mareschallen gehalten, und erduldete hundert Tritte mit nacktem Fuß. Martinetti erfüllte seine Aufgabe mit Enthusiasmus, Kraft und Methode, er trat nicht mit der Fußspitze zu, sondern mit dem Ballen, um sich nicht die Zehen zu verletzen. Das Ritual wurde rhythmisch vom Chor der Bandenmitglieder begleitet. Sie zählten die Tritte im Dialekt. Dann beschlossen sie, mich in einen Kaninchenstall einzusperren, für eine halbe Stunde, während welcher sie sich in gutturalen Gesprächen ergingen. Schließlich ließen sie mich raus, als ich über das Kribbeln in meinen erstarrten Beinen klagte. Ich war stolz auf mich, denn ich hatte die wilde Liturgie einer wilden Gruppe mit Würde bestanden. Ich war ein Mann, den sie Pferd nannten.
Damals gab es in *** auch teutonische Recken, nicht sehr wachsame, denn die Partisanen hatten sich noch nicht bemerkbar gemacht — es war so gegen Ende 43 oder Anfang 44. Eine unserer ersten Unternehmungen war, uns in eine Baracke einzuschleichen, während draußen ein paar Genossen den Wachposten umschmeichelten, so einen blonden Langobarden, der ein enormes Brötchen verzehrte, mit — so schien uns, und wir erschauerten — Salami und Marmelade. Der Störtrupp bezirzte den Deutschen, indem er seine Waffen lobte, und wir andern in der Baracke (in die man von hinten eindringen konnte) raubten derweilen einige Brötchen mit Sprengstoff. Ich glaube nicht, dass der Sprengstoff je benutzt worden ist, aber in Martinettis Plänen ging es darum, ihn draußen auf dem Feld hochgehen zu lassen, zu pyrotechnischen Zwecken und, wie ich heute weiß, mit sehr primitiven, inadäquaten Methoden. Später folgten dann auf die Deutschen die italienischen Partisanenbekämpfer der Decima Mas (sie waren hart, die faschistischen Ledernacken, aber nicht so brutal wie die Schwarzen Brigaden, die auch Kriminelle aus den Gefängnissen rekrutierten und skrupellos gegen die Zivilbevölkerung vorgingen). Sie hatten einen Kontrollposten unten am Fluss eingerichtet, genau an der Kreuzung, wo abends um sechs die Schülerinnen aus dem Internat Maria Ausiliatrice herunterkamen. Nun ging es darum, die Burschen von der Decima (die kaum älter als achtzehn sein konnten) zu überreden, ein paar deutsche Handgranaten zu bündeln, solche mit langem Stiel, und sie dann so zu werfen, dass sie auf dem Wasser explodierten, genau in dem Moment, wenn die Mädchen kamen. Martinetti wusste präzis, was zu tun war und wie man die Zeiten kalkulierte. Er erklärte es den Schwarzhemden, und der Effekt war enorm: eine Fontäne schoss hoch aus dem Bachbett mit Donnergetöse, genau als die Mädchen um die Ecke bogen. Allgemeine Flucht mit großem Gekreische, und wir und die Schwarzhemden lachten uns tot. An jene glorreichen Tage hätten sich — nach dem Feuertod von Molay — noch die Überlebenden von Salò erinnert.
Hauptsport der Viottolos war, Patronenhülsen und andere Kriegsüberbleibsel zu sammeln, woran nach dem 8. September kein Mangel war, zum Beispiel alte Stahlhelme, Patronengürtel und Proviantbeutel, manchmal auch noch intakte Patronen. Um eine intakte Patrone zu benutzen, ging man so vor: man nahm sie vorsichtig in die Hand, führte sie in ein Türschloss ein und drehte sie fest; dann ließ das Geschoss sich herausschrauben und kam in die Spezialsammlung. Die Hülse wurde vom Pulver entleert (manchmal enthielt sie auch ein Material in Form dünner Schnüre), das dann in Serpentinen ausgelegt und abgebrannt wurde. Die Hülse, die um so mehr galt, wenn die Kapsel noch intakt war, kam als Neuzugang in die Armee. Ein guter Sammler hatte viele davon, die er wie Zinnsoldaten aufstellte, sortiert nach Fabrikat, Farbe, Form und Größe. Da gab es die einfachen Fußsoldaten — die Hülsen der italienischen MP und der englischen Sten —, dann die Bannerträger und Ritter — Moschetto-Karabiner, Sturmgewehr 91 (das Garand sahen wir erst bei den Amerikanern) — und schließlich, die begehrteste Trophäe, als hoch aufragende Großmeister die MG-Hülsen.
Während wir uns diesen Friedensspielen hingaben, eröffnete Martinetti uns eines Tages, dass der Moment gekommen sei. Die Duellforderung sei der Canalettobande zugestellt worden, und sie habe den Fehdehandschuh aufgenommen. Der Kampf werde auf neutralem Boden stattfinden, hinterm Bahnhof. Heute Abend um neun.
Es war ein sommerlicher Spätnachmittag, schwülwarm und voller Erregung. Jeder von uns rüstete sich mit den fürchterlichsten Paraphernalien, schnitzte sich Knüppel, die gut in der Hand lagen, füllte sich die Patronen- und Provianttaschen mit Steinen in verschiedener Größe. Einer hatte sich aus dem Riemen eines Karabiners eine Peitsche gemacht, eine schreckliche Waffe, wenn sie entschlossen gehandhabt wurde. Zumindest in jenen Abendstunden fühlten wir uns allesamt als Helden, ich besonders. Es war die Erregung vor dem Angriff, stechend, schmerzlich, wunderbar — leb wohl, meine Schöne, leb wohl, hart und süß ist das Los des Kriegers, wir schickten uns an, unsere Jugend zu opfern, wie man es uns vor dem 8. September in der Schule gelehrt hatte.
Martinettis Plan war raffiniert ausgedacht: wir würden den Bahndamm weiter nördlich überqueren, um sie von hinten zu fassen, unerwartet, praktisch bereits als Sieger. Dann drauf mit Gebrüll und keine Gnade.
Bei Einbruch der Dämmerung kletterten wir wie geplant die steile Böschung hinauf, schwer beladen mit Steinen und Knüppeln. Oben angelangt, sahen wir sie schon hinter dem Bahnhofsklo stehen. Sie erblickten uns sofort, da sie genau in unsere Richtung spähten. So blieb uns nichts anderes übrig, als möglichst schnell runterzulaufen, ohne ihnen Zeit zu lassen, sich lange über die Evidenz unserer Taktik zu wundern.
Niemand hatte uns vor dem Angriff mit Feuerwasser versorgt, aber wir stürmten trotzdem voran mit Gebrüll. Dann, etwa hundert Meter vorm Bahnhof, geschah es. Dort standen die ersten Häuser des Dorfes, und obwohl es nur wenige waren, bildeten sie doch schon ein kleines Gassengewirr. Es geschah, dass die kühnste Gruppe sich furchtlos auf die Feinde stürzte, während ich und — zu meinem Glück — ein paar andere die Gangart verlangsamten und hinter den Ecken der Häuser stehen blieben, um aus der Ferne zuzusehen.
Hätte uns Martinetti in Vor- und Nachhut eingeteilt, wir hätten nur unsere Pflicht getan, aber so war's eine Art von spontaner Aufteilung. Die Mutigen vorn, die Feigen hinten. Und aus unserem Schlupfwinkel, ich noch ein Stückchen weiter hinter den andern, beobachteten wir den Kampf. Der nicht stattfand.
Als sich die beiden Gruppen bis auf ein paar Meter genähert hatten, machten sie halt und standen sich zähnefletschend gegenüber. Die Anführer traten vor und verhandelten. Es war ein Jalta, sie beschlossen, sich die Einflusszonen zu teilen und gelegentliche Transite zu dulden, wie einst die Christen und Moslems im Heiligen Land. Die Solidarität zwischen den beiden Ritterheeren obsiegte (ist das ein Gallizismus?) über die Unausweichlichkeit der Entscheidungsschlacht. Jeder hatte eine schöne Mutprobe abgelegt. In schöner Eintracht zogen sie sich auf gegnerische Seiten zurück. In schöner Eintracht zogen die Gegner sich auf entgegengesetzte Seiten zurück. Sie gingen einträchtig auseinander.
Heute sage ich mir, dass ich damals stehen geblieben war, weil ich lachen musste. Aber damals sagte ich mir das nicht. Ich fühlte mich einfach nur feige.
Heute sage ich mir, noch feiger, wenn ich damals weitergelaufen wäre, hätte ich nichts riskiert und in den folgenden Jahren besser gelebt. Ich habe die GELEGENHEIT verpasst, mit zwölf Jahren. Und das ist, wie wenn man beim ersten Mal keine Erektion hat: man bleibt impotent fürs ganze Leben.
Einen Monat danach, als die Viottolos und die Canalettos sich aufgrund einer zufälligen Grenzverletzung unversehens auf offenem Feld gegenüberstanden und Erdklumpen aufeinander zu schmeißen begannen, trat ich, vielleicht beruhigt durch den Verlauf der letzten Begegnung, vielleicht auch begierig auf Märtyrertum, in die erste Reihe vor. Es war ein unblutiger Zusammenstoß, außer für mich. Einer der Erdklumpen, der offenkundig ein Herz von Stein in sich barg, traf mich an der Lippe und spaltete sie. Ich floh, rannte heulend nach Hause, und meine Mutter musste lange mit einer Pinzette herumpulen, um mir die Krümel aus der Wunde zu holen, die sich innen im Mund gebildet hatte. Tatsache ist, dass ich noch heute ein kleines Knötchen vorn im Mund habe, unter dem rechten unteren Eckzahn, und wenn ich mit der Zunge drüberfahre, spüre ich ein Vibrieren, ein leichtes Erschauern.
Aber dieses Knötchen erteilt mir keine Absolution, denn ich habe es mir aus Versehen zugezogen, nicht aus Mut. Ich fahre mit der Zunge drüber, und was tue ich? Ich schreibe. Aber schlechte Literatur erlöst nicht.
Nach jener Demonstration sah ich Belbo etwa ein Jahr lang nicht mehr. Ich hatte mich in Amparo verliebt und ging nicht mehr zu Pilade, beziehungsweise die wenigen Male, wenn ich mit Amparo auf einen Sprung hineingeschaut hatte, war Belbo nicht da gewesen. Und Amparo mochte das Lokal nicht. Ihr moralischer und politischer Rigorismus — vergleichbar nur ihrer Anmut und ihrem herrlichen Stolz — ließ sie Pilade als einen Club für demokratische Dandys empfinden, und den demokratischen Dandyismus betrachtete sie als ein Element, das subtilste, des kapitalistischen Herrschaftsgefüges. Es war ein Jahr voller Engagement, in großem Ernst und großer Freude. Ich arbeitete lustvoll, aber in Ruhe an meiner Dissertation.
Eines Tages traf ich Belbo auf der Straße, nur wenige Schritte vor seinem Büro. »Hallo, sieh da«, rief er freudig, »mein Lieblingstempler! Gerade hat mir jemand ein Destillat von unsäglichem Alter geschenkt. Wie wär's, wollen Sie nicht auf einen Sprung mit raufkommen? Ich habe Pappbecher und den Nachmittag frei.«
»Das ist ein Zeugma«, bemerkte ich.
»Nein, ein Bourbon, ich glaube aus der Zeit vor dem Fall von Alamo.«
Ich ging mit hinauf. Aber kaum hatten wir einen Schluck probiert, kam Gudrun herein und sagte, da wäre ein Herr. Belbo schlug sich mit der Hand an die Stirn. Er habe diese Verabredung ganz vergessen, sagte er, aber die Sache rieche nach einer Verschwörung. Soweit ich begriff, wollte der Typ ihm ein Buch präsentieren, in dem es auch um die Templer ging. »Ich werde ihn gleich abwimmeln«, meinte Belbo. »Aber helfen Sie mir mit scharfsinnigen Bemerkungen.«
Es war bestimmt nur ein Zufall gewesen. Und so ging ich ins Netz.
17
So verschwanden die Tempelritter mit ihrem Geheimnis, in dessen Schatten eine schöne Hoffnung auf die irdische Stadt pulsierte. Aber das Abstraktum, an das ihr Bemühen gekettet war, setzte sein unerreichbares Leben in unbekannten Regionen fort... und mehr als einmal im Laufe der Zeiten ließ es seine Inspiration in die Geister derer fließen, die sie aufzunehmen vermochten.
Victor Emile Michelet, Le secret de la Chevalerie, 1930, 2
Er hatte ein Gesicht wie aus den vierziger Jahren. Nach den alten Illustrierten zu urteilen, die ich zu Hause im Keller gefunden hatte, mussten alle Leute in den vierziger Jahren so ein Gesicht gehabt haben. Muss der Hunger gewesen sein, der in Kriegszeiten herrscht: er macht die Wangen hohl und die Augen fiebrig. Ich hatte das Gesicht in Erschießungsszenen gesehen, auf beiden Seiten. In jenen Zeiten erschossen sich Männer mit gleichen Gesichtern gegenseitig.
Gekleidet war er in einen blauen Anzug mit weißem Hemd und perlgrauer Krawatte, ich fragte mich unwillkürlich, warum er in Zivil gekommen war. Das unnatürlich schwarze Haar war an den Schläfen glatt zurückgebürstet in zwei maßvoll pomadisierten Strähnen und ließ auf dem blanken Schädel feine Streifen, regelmäßig wie Telegrafendrähte, die sich V-förmig von der Stirn aus verteilten. Das Gesicht war braun gebrannt und gezeichnet, nicht nur von — explizit kolonialen — Furchen. Eine bleiche Narbe furchte die linke Wange, von der Lippe bis zum Ohr, und da er ein schwarzes Menjoubärtchen trug, war auch dessen linke Seite kaum merklich gefurcht an der Stelle, wo die Haut sich weniger als einen millimeterbreit geöffnet und wieder geschlossen hatte. Mensurschmiss oder Streifschuss?
Er stellte sich vor: Oberst Ardenti, reichte Belbo die Hand und nickte mir zu, als Belbo mich als seinen Mitarbeiter definierte. Setzte sich, schlug die Beine übereinander, zog sich die Hose über den Knien zurecht und entblößte dabei ein Paar braune Socken, kurze.
»Oberst ... im aktiven Dienst?«, fragte Belbo.
Ardenti entblößte einige teure Prothesen: »Eher in Pension. Oder, wenn Sie so wollen, in der Reserve. Sieht vielleicht nicht so aus, aber ich bin nicht mehr der Jüngste.«
»Sieht nicht so aus«, sagte Belbo.
»Dabei habe ich vier Kriege mitgemacht«
»Da mussten Sie ja mit Garibaldi angefangen haben.«
»Nein. Erst Leutnant, als Freiwilliger, in Abessinien. Dann Hauptmann, als Freiwilliger, in Spanien. Dann Major, erneut in Afrika, bis zur Aufgabe jener Küste. Silbermedaille. Dreiundvierzig dann ... Sagen wir: ich hatte die Verliererseite gewählt. Habe alles verloren, außer der Ehre. Hatte jedoch den Mut, neu anzufangen. Fremdenlegion. Brutstätte für Helden. Sechsundvierzig Sergeant, achtundfünfzig dann Oberst, bei Massu. Offenbar wähle ich immer die Verliererseite. Als der Linke de Gaulle an die Macht kam, ließ ich mich pensionieren und ging nach Frankreich. Hatte mir gute Kontakte in Algerien aufgebaut und gründete eine Export-Import-Firma in Marseille. Diesmal hatte ich, glaube ich, die siegreiche Seite gewählt, denn jetzt lebe ich von der Rendite und kann mich meinem Hobby widmen — so sagt man doch heutzutage, oder? Und in den letzten Jahren habe ich die Ergebnisse meiner Forschungen zu Papier gebracht. Hier ... « er öffnete seine Ledermappe und zog einen dicken Ordner hervor, der mir damals rot erschien.
»Also«, sagte Belbo, »ein Buch über die Templer?«
»Die Templer«, nickte der Oberst. »Eine Passion, die ich quasi seit meiner Jugend habe. Auch sie waren Glücksritter, die auf der Suche nach Ruhm durchs Mittelmeer zogen.«
»Herr Casaubon beschäftigt sich mit den Templern«, sagte Belbo. »Er kennt die Thematik besser als ich. Erzählen Sie.«
»Die Templer haben mich schon immer interessiert. Ein Häuflein edler Ritter, die das Licht Europas unter die Wilden der beiden Tripolis trugen ...«
»Die Gegner der Templer waren eigentlich gar nicht so wild«, sagte ich in konziliantem Ton.
»Sind Sie je Gefangener der Rebellen im Maghreb gewesen?«, fragte er mich sarkastisch.
»Bisher nicht.«
Er fixierte mich, und ich war froh, nie in seiner Truppe gedient zu haben. »Entschuldigen Sie«, sagte er zu Belbo, »ich gehöre zu einer anderen Generation.« Er sah mich herausfordernd an. »Sind wir hier, um einen Prozess zu führen, oder um ...«
»Wir sind hier, um über Ihre Arbeit zu sprechen, Herr Oberst«, sagte Belbo. »Bitte erzählen Sie uns davon.«
»Ich möchte eines gleich klarstellen«, sagte der Oberst und legte eine Hand auf seinen Ordner. »Ich bin bereit, zu den Publikationskosten beizutragen, ich schlage Ihnen kein Verlustgeschäft vor. Wenn Sie wissenschaftliche Garantien verlangen, kann ich sie Ihnen bringen. Gerade erst vor zwei Stunden habe ich mich mit einem einschlägigen Experten getroffen, der eigens aus Paris hergekommen ist. Er wird ein maßgebliches Vorwort schreiben können ... « Er erriet Belbos Frage und winkte ab, als wollte er sagen, dass es im Augenblick besser sei, angesichts der Delikatheit des Falles keine Namen zu nennen.
»Doktor Belbo«, sagte er dann, »hier auf diesen Seiten habe ich das Material für eine Geschichte. Eine wahre. Und keine banale. Besser als die amerikanischen Kriminalromane. Ich habe etwas gefunden, etwas sehr Wichtiges, aber es ist nur der Anfang. Ich möchte öffentlich mitteilen, was ich weiß, damit diejenigen, die dieses Puzzlespiel vervollständigen können, es lesen und sich bemerkbar machen. Ich möchte einen Köder auswerfen. Und ich muss es unverzüglich tun. Derjenige, der vor mir in Erfahrung gebracht hatte, was ich heute weiß, ist vermutlich umgebracht worden, eben damit er sein Wissen nicht verbreiten konnte. Wenn ich das, was ich weiß, zweitausend Lesern sage, wird niemand mehr daran interessiert sein, mich aus dem Weg zu räumen.« Er machte eine Pause. »Die Herren wissen etwas über die Verhaftung der Templer?«
»Herr Casaubon hat mir kürzlich davon erzählt, und es hat mich frappiert, dass sich die Templer so widerstandslos verhaften ließen und offenbar nichts ahnten ...«
Der Oberst lächelte mitleidig. »In der Tat. Es ist kindisch zu glauben, dass Leute, die so mächtig waren, dass der König von Frankreich vor ihnen zitterte, nicht in der Lage gewesen sein sollten, rechtzeitig in Erfahrung zu bringen, dass vier Halunken den König gegen sie aufhetzten und dass der König daraufhin den Papst aufhetzte. Nein, ich bitte Sie! Da muss es doch einen Plan gegeben haben. Und zwar einen weitreichenden, hochgespannten, ja erhabenen Plan. Nehmen Sie an, die Templer hätten einen Plan zur Eroberung der Welt gehabt und das Geheimnis einer immensen Machtquelle gekannt, ein Geheimnis, für das kein Opfer zu groß war, für dessen Bewahrung es sich sogar lohnte, das ganze Pariser Hauptquartier aufzugeben, die über ganz Frankreich, Spanien, Portugal, England, Italien verstreuten Güter, und die Burgen im Heiligen Land, die monetären Guthaben, alles ... Philipp der Schöne muss es geahnt haben, warum sonst sollte er eine Verfolgung auslösen, die schließlich die Blüte der französischen Ritterschaft in Misskredit brachte. Die Templer begreifen, dass der König begriffen hat und sie zu vernichten trachtet, es hat keinen Sinn, ihm frontal entgegenzutreten, der Plan erfordert Zeit, der Schatz, oder was immer es gewesen sein mag, muss erst noch genauer lokalisiert werden, oder man kann ihn nur langsam ausbeuten ... Und die geheime Führung des Tempels, deren Existenz mittlerweile alle einräumen ...«
»Alle?«
»Gewiss. Es ist undenkbar, dass ein so mächtiger Orden so lange überleben konnte, ohne ein geheimes Führungsgremium zu haben.«
»Das Argument ist makellos«, sagte Belbo mit einem Seitenblick zu mir.
»Ergo«, fuhr der Oberst fort, »sind auch die Folgerungen evident. Der Großmeister gehört natürlich zur geheimen Führung, ist aber nur die Deckung nach außen, das Aushängeschild. Gauthier Walther sagt in seinem Buch La chevalerie et les aspects secrets de l'histoire, der Welteroberungsplan der Templer habe als Endziel das Jahr Zweitausend anvisiert! Die Templer beschließen also, in den Untergrund zu gehen, und um das tun zu können, ist es erforderlich, dass der Orden in den Augen der Welt verschwindet. Sie opfern sich, das ist es, was sie tun, samt ihrem Großmeister. Einige lassen sich umbringen, vermutlich hat man sie ausgelost. Andere unterwerfen sich, tarnen sich durch den Eintritt in andere Orden. Wo landen die unteren Ränge? Die Laienbrüder, die Bau- und Zimmerleute, die Glaser ...? Nun, so entsteht die Zunft der Freien Maurer, die sich über die Welt verbreitet, man kennt die Geschichte. Doch was geschieht in England? Der König widersetzt sich dem Druck des Papstes und gestattet den Templern, ihr Leben friedlich in ihren Ordensburgen zu beenden. Und die Templer in Frankreich lassen sich alles brav und bieder gefallen! Schlucken Sie das? Ich nicht. In Spanien beschließt der Orden, den Namen zu ändern, und wird zum Orden von Montesa. Tja, meine Herren, das waren Leute, die einen König zu überzeugen vermochten, die so viele Wechsel in ihren Tresoren hatten, dass sie ihn binnen einer Woche in den Bankrott hätten treiben können. Auch der König von Portugal ist kompromissbereit: Hört zu, liebe Freunde, sagt er, nennt euch fortan nicht mehr Ritter des Tempels, sondern Ritter Christi, und ich bin's zufrieden. Und in Deutschland? Kaum Prozesse, rein formale Abschaffung des Ordens, aber dort haben die Templer immerhin auch einen Bruderorden, die Deutschordensritter, die zu jener Zeit etwas mehr tun, als nur einen Staat im Staate zu gründen: Sie sind der Staat, sie beherrschen ein Gebiet, so groß wie das der Länder, die heute unter der Knute Russlands leben, und sie machen weiter so bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, bis die Mongolen kommen — aber das ist eine andere Geschichte, denn die Mongolen haben wir ja immer noch vor den Toren ... Aber schweifen wir nicht ab ...«
»Nein, bitte nicht«, sagte Belbo. »Fahren wir fort.«
»Eh bien. Wie jeder weiß, verließ zwei Tage, bevor Philipp den Haftbefehl erteilte, also einen Monat, bevor die Verhaftung erfolgte, ein Heuwagen, von zwei Ochsen gezogen, mit unbekanntem Ziel den Tempelbezirk von Paris. Auch Nostradamus spricht davon in einer seiner Centuries ...« Der Oberst suchte nach einer Seite in seinem Manuskript:
Souz la pasture d'animaux ruminant par eux conduits au ventre herbipolique soldats cachés, les armes bruit menant...
(Unter dem Futter von wiederkäuenden Tieren, von ihnen gezogen zum herbipolischen Bauch, Soldaten verborgen, die Waffen schon klirrend ...)
»Der Heuwagen ist eine Legende«, sagte ich, »und ich würde Nostradamus nicht als Autorität in Sachen Geschichtsschreibung nehmen.« »Bedeutend ältere Leute als Sie, junger Mann, haben vielen Prophezeiungen des Nostradamus Glauben geschenkt. Andererseits bin ich nicht so naiv, die Heuwagengeschichte wörtlich zu nehmen. Sie ist ein Symbol. Das Symbol für die evidente und gesicherte Tatsache, dass Jacques de Molay in Voraussicht der bevorstehenden Verhaftung das Kommando und die geheimen Instruktionen an seinen Neffen übertrug, den Grafen von Beaujeu, der daraufhin zum verborgenen Oberhaupt des nun verborgenen Tempelordens wurde.«
»Gibt es dafür geschichtliche Dokumente?«
»Die offizielle Geschichte«, lächelte bitter der Oberst, »ist die von den Siegern geschriebene. Nach der offiziellen Geschichte sind Männer wie ich nicht existent. Nein, unter der Sache mit dem Heuwagen verbirgt sich etwas anderes. Der geheime Kern des Ordens begab sich in ein ruhiges Zentrum und begann, von dort aus sein klandestines Netz zu spinnen. Von dieser Evidenz bin ich ausgegangen. Seit Jahren, schon seit der Zeit vor dem Kriege habe ich mich immer wieder gefragt wo diese Brüder im Heroismus geblieben sein mochten. Als ich mich dann ins Privatleben zurückzog, beschloss ich, endlich nach einer Spur zu suchen. In Frankreich war die Flucht mit dem Heuwagen erfolgt, in Frankreich also musste ich nach dem Ort der Gründungsversammlung des klandestinen Kerns suchen. Aber wo?«
Er hatte Sinn für Theatralik. Belbo und ich wollten nun wissen, wo. Wir fanden kein besseres Mittel, als zu sagen: »Sagen Sie's!«
»Ich sage es. Woher kamen die Templer? Woher stammte ihr Gründer Hugo von Payns? Aus der Champagne, aus der Nähe von Troyes. Und in der Champagne regierte Graf Hugo de Champagne, der ihn wenige Jahre nach der Gründung, 1125, in Jerusalem traf. Dann kam er nach Hause zurück und setzte sich, wie es scheint, mit dem Abt von Citeaux in Verbindung, dem er half, in seinem Kloster die Lektüre und die Übersetzung bestimmter hebräischer Texte zu initiieren. Denken Sie nur, die Rabbiner aus der Haute Bourgogne werden nach Citeaux eingeladen, zu den weißen Benediktinern, und von wem? Vom heiligen Bernhard, zum Studium wer weiß welcher Texte, die Hugo in Palästina gefunden hat. Und Hugo offeriert den Mönchen Bernhards einen Wald bei Bar-sur-Aube, wo dann Clairvaux entstehen wird. Und was macht Bernhard?«
»Er wird zum Cheftheoretiker der Templer«, sagte ich.
»Er unterstützt sie, jawohl. Und warum? Wissen Sie, dass er die Templer mächtiger als die Benediktiner werden lässt? Dass er den Benediktinern verbietet, Ländereien und Häuser als Geschenk anzunehmen, und dann die Ländereien und Häuser den Templern geben lässt? Haben Sie je den Forêt d'Orient bei Troyes gesehen? Ein riesiges Waldgebiet mit einer Burg nach der andern. Und derweilen kämpfen die Ritter in Palästina gar nicht mehr, wissen Sie das auch? Sie installieren sich im Tempel zu Jerusalem, und statt die Muselmänner zu töten, schließen sie mit ihnen Freundschaft. Sie nehmen Kontakt zu ihren Eingeweihten auf. Kurz gesagt, Bernhard von Clairvaux, finanziell unterstützt vom Grafen der Champagne, gründet einen Orden, der sich im Heiligen Land mit den arabischen und jüdischen Geheimsekten in Verbindung setzt. Eine unbekannte Führung plant die Kreuzzüge, um den Orden gedeihen zu lassen, nicht umgekehrt, und sie stellt ein Machtgefüge dar, das sich der königlichen Jurisdiktion entzieht ... Eh bien, ich bin kein Mann der Wissenschaft, ich bin ein Mann der Tat. Statt lange Vermutungen anzustellen, tat ich, was all die wortreichen Gelehrten nie getan haben. Ich bin dorthin gegangen, woher die Templer kamen und wo sie zweihundert Jahre lang ihre Basis hatten, wo sie sich bewegen konnten wie die Fische im Wasser ...«
»Der Große Vorsitzende Mao lehrt, dass die Revolutionäre sich im Volk bewegen müssen wie die Fische im Wasser«, sagte ich.
»Bravo Ihrem Großen Vorsitzenden. Die Templer, die eine weit größere Revolution planten als Ihre bezopften Kommunisten ...«
»Sie tragen keine Zöpfe mehr.«
»Nein? Um so schlimmer für sie. Die Templer, sagte ich, konnten nicht anders als Zuflucht in der Champagne suchen. Aber wo dort? In Payns? In Troyes? Im Wald von Orient? Nein. Payns war und ist ein kleines Nest, und damals war es bestenfalls eine Burg. Troyes war eine Stadt, da gab es zu viele Leute des Königs. Der Wald, templerisch per Definition, war der erste Ort, wo die Garden des Königs nach ihnen suchen würden, wie sie es dann ja auch taten. Nein: Provins, sagte ich mir. Wenn es einen sicheren Ort gab, dann war es Provins!«
18
Könnten wir mit dem Auge ins Innere der Erde eindringen und von Pol zu Pol sehen, oder von unseren Füßen bis zu den Antipoden, wir würden mit Schrecken eine über und über von Rissen und Höhlen durchlöcherte Masse erblicken.
Thomas Burnet, Telluris Theoria Sacra, Amsterdam, Wolters, 1694, p. 38
»Wieso Provins?«
»Nie in Provins gewesen? Magischer Ort, man spürt es noch heute, gehen Sie mal hin. Magischer Ort, noch immer ganz von Geheimnis durchweht. Im elften Jahrhundert ist er der Sitz des Grafen der Champagne, und er bleibt noch lange ein freies Gebiet, in dem die Zentralmacht nichts zu melden hat. Die Templer sind dort zu Hause, noch heute heißt eine Straße nach ihnen. Kirchen, Paläste, eine Burg, die das ganze Umland beherrscht. Und Geld, Händler, Märkte, ein Gewimmel, in dem man leicht untertauchen kann. Aber vor allem, seit prähistorischen Zeiten, Höhlen. Ein Netz von Höhlen und Gängen, das sich unter dem ganzen Hügel hinzieht, regelrechte Katakomben, einige davon können Sie noch heute besichtigen. Orte, in denen man sich ungesehen treffen kann, und selbst wenn die Feinde eindringen, können sich die Verschwörer in wenigen Sekunden zerstreuen, Gott weiß wohin, und wenn sie die Gänge gut kennen, sind sie schon irgendwo raus und auf der anderen Seite wieder rein, auf lautlosen Katzenpfoten, und fallen von hinten über die Invasoren her, um sie im Dunkeln niederzumachen. Bei Gott, ich versichere Ihnen, meine Herren, diese Höhlen scheinen wie gemacht für Kommandounternehmen, zack zack, schnell wie der Blitz hineingeschlüpft, das Messer zwischen den Zähnen, in jeder Hand eine Bombe, und die andern hingemacht in ihrer Mausefalle, bei Gott!«
Seine Augen funkelten. »Begreifen Sie, was für ein fabelhaftes Versteck Provins sein kann? Ein Untergrund wie geschaffen für heimliche Treffen, und von den Einheimischen macht keiner den Mund auf. Gewiss, die Männer des Königs kommen auch nach Provins, verhaften die Templer, die sich an der Oberfläche zeigen, und bringen sie nach Paris. Reynaud de Provins wird gefoltert, aber er schweigt. Nach dem geheimen Plan, das ist klar, musste er sich fangen lassen, damit man glaubte, Provins sei gesäubert worden, aber zugleich musste er ein Signal aussenden: Provins hält stand. Provins, der Ort der neuen unterirdischen Templer ... Höhlen und Gänge, die von Haus zu Haus fuhren, man tritt wie von ungefähr in einen Kornspeicher, und heraus kommt man in einer Kirche. Höhlen, die mit Säulen und Gewölben ausgebaut sind, jedes Haus in der Stadt hat noch heute einen Keller mit Spitzbogengewölben, es werden mehr als hundert sein, jeder Keller, was sage ich, jeder unterirdische Saal war der Eingang zu einem der Höhlengänge.«
»Vermutungen«, sagte ich.
»Nein, junger Mann. Beweise. Sie haben die Höhlen von Provins nicht gesehen. Säle und Säle, im Innern der Erde, voller Wandzeichnungen. Die meisten finden sich in den Seitenhöhlen, den Lateralalveolen, wie die Höhlenforscher sie nennen. Es sind hieratische Darstellungen druidischen Ursprungs. Aus der Zeit vor der Ankunft der Römer. Cäsar ist dort vorbeigekommen, und dort unten planten die Gallier den Widerstand, den Zauber, den Hinterhalt. Und dann gibt's da auch die Symbole der Katharer, jawohl, meine Herren, die Katharer waren nicht nur im Süden, die im Süden wurden vernichtet, die in der Champagne haben insgeheim überlebt und sich hier versammelt, in diesen Katakomben der Ketzerei. Einhundertdreiundachtzig sind oben verbrannt worden, und die anderen haben unten überlebt. In den Chroniken werden sie bougres et manichéens genannt und wie sich's trifft, die bougres waren die Bogomilen, Katharer bulgarischer Herkunft, sagt Ihnen das Wort bougre im Französischen nichts? Anfangs bedeutete es Sodomit, weil man behauptete, die bulgarischen Katharer hätten dieses kleine Laster ... « Der Oberst lachte ein bisschen gezwungen. »Und wer wurde nun desselben kleinen Lasters bezichtigt? Sie, die Templer! Kurios, nicht wahr?«
»Bis zu einem gewissen Punkt«, sagte ich. »Wer damals einen Ketzer erledigen wollte, beschuldigte ihn der Sodomie ...«
»Gewiss, und denken Sie nicht, ich dächte, die Templer hätten ... Ich bitte Sie, das waren Kriegsmänner, uns Kriegsmännern gefallen die schönen Frauen. Ob mit oder ohne Gelübde, ein Mann ist ein Mann. Ich habe das hier nur erwähnt, weil ich nicht glaube, dass es ein Zufall ist, wenn katharische Häretiker in einem Templermilieu Zuflucht fanden, und in jedem Fall hatten die Templer von ihnen gelernt, wie man sich im Untergrund bewegt.«
»Aber letzten Endes«, sagte Belbo, »sind das alles doch Hypothesen ...«
»Ausgangshypothesen. Ich habe Ihnen nur dargelegt, warum ich darauf verfallen bin, Provins zu erkunden. Kommen wir nun zu der eigentlichen Geschichte. Im Zentrum von Provins gibt es ein großes gotisches Gebäude, die Grange-aux-Dimes, das ist der Kornspeicher, in dem man den Zehnten einlagerte, und Sie wissen, dass eines der Privilegien der Templer darin bestand, den Zehnten direkt eintreiben zu dürfen, ohne dem Staat etwas dafür zu schulden. Unter diesem Speicher, wie überall, ein Netz von Gängen, heute in sehr schlechtem Zustand. Nun also, während ich in den Archiven von Provins suche, fällt mir eine Lokalzeitung von 1894 in die Hände. Darin wird berichtet, dass zwei Dragoner, die Chevaliers Camille Laforge aus Tours und Edouard Ingolf aus Petersburg (sic, aus Petersburg), einige Tage zuvor die Grange besichtigt hätten, mit einem Wärter, und dabei auch in einen der unterirdischen Säle hinabgestiegen seien, im zweiten Stock unter der Erde, wo dann der Wärter, um ihnen zu zeigen, dass es darunter noch weitere Stockwerke gebe, mit dem Fuß aufgestampft habe, so dass man es dröhnen hörte. Der Chronist lobt die kühnen Dragoner, die sich nun mit Laternen und Seilen versahen, in wer weiß welche Höhlen eindrangen wie Kinder in ein Bergwerk und sich auf allen Vieren durch mysteriöse Gänge zwängten. Schließlich gelangten sie, sagt die Zeitung, in einen großen Saal mit einem schönen Kamin und einen Brunnen in der Mitte. Sie ließen ein Seil mit einem Stein hinab und entdeckten, dass der Brunnen elf Meter tief war ... Eine Woche später kamen sie mit stärkeren Seilen wieder, und während die anderen beiden das Seil hielten, ließ sich Ingolf in den Brunnen hinab und entdeckte eine große Kammer mit gemauerten Wänden, zehn mal zehn Meter groß und fünf Meter hoch. Nacheinander stiegen auch die anderen hinab und stellten fest, dass sie sich im dritten Untergeschoss befanden, dreißig Meter unter der Erde. Was die drei dort unten taten, ist nicht bekannt. Der Chronist gesteht, dass er, als er sich an Ort und Stelle begeben hatte, um die Sache nachzuprüfen, nicht den Mut fand, sich in den Brunnen abzuseilen. Die Geschichte erregte mich, und so beschloss ich, den Ort zu besichtigen. Doch seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts sind viele unterirdische Gänge zusammengestürzt, und wenn dieser Brunnen auch existiert haben mag, weiß heute niemand mehr, wo er sich befindet. Mir schoss durch den Kopf, dass die Dragoner dort unten etwas gefunden haben könnten. Gerade in jenen Tagen hatte ich ein Buch über das Geheimnis von Rennes-le-Château gelesen, auch so eine Geschichte, in der die Templer eine gewisse Rolle gespielt haben. Ein kleiner Landpfarrer ohne einen Pfennig und ohne Zukunft, der sich in einem Dorf von zweihundert Seelen eine alte Kirche restaurieren will, hebt im Chorboden eine Steinplatte ab und findet darunter ein Etui mit uralten Handschriften, sagt er. Nur mit Handschriften? Man weiß nicht genau, was passiert, aber in den folgenden Jahren wird er unendlich reich, wirft mit vollen Händen um sich, lebt in Saus und Braus, kommt vor ein Kirchengericht ... Und wenn nun einem jener Dragoner oder beiden etwas Ähnliches passiert wäre? Ingolf steigt als erster hinunter, findet ein kostbares Objekt in handlichen Dimensionen, versteckt es unter der Jacke, steigt wieder hinauf und sagt den zwei anderen nichts ... Kurzum, ich bin ein Dickkopf, und wäre ich keiner, ich hätte ein anderes Leben geführt.« Der Oberst fuhr sich mit einem Finger über die Narbe. Dann hob er die Hände an die Schläfen und ließ sie rechts und links bis in den Nacken gleiten, um sich des ordnungsgemäßen Zustandes seiner Frisur zu versichern.
»Nun, ich fahre also nach Paris, gehe zur Post und suche alle Telefonbücher Frankreichs nach einer Familie Ingolf durch. Ich finde nur eine, in Auxerre, und schreibe, ich sei ein Privatgelehrter, der sich für archäologische Dinge interessiere. Zwei Wochen später erhalte ich Antwort von einer alten Wäscherin: sie sei die Tochter jenes Ingolf und würde gern wissen, warum ich mich für ihn interessierte, ja ob ich um Gottes willen womöglich etwas von ihm wüsste ... Ich sagte ja, dass da ein Geheimnis lag. Ich eilte sofort nach Auxerre, das Fräulein Ingolf lebt in einem ganz mit Efeu zugewachsenen Häuschen mit einem hölzernen Gartentürchen, das nur mit einem Bindfaden und einem Nagel verschlossen ist. Ein bejahrtes Fräulein, reinlich und nett, nicht sehr gebildet. Fragt mich gleich, was ich von ihrem Vater wisse, und ich sage ihr, ich wisse nur, dass er eines Tages in einen unterirdischen Raum in Provins hinabgestiegen sei und dass ich eine historische Studie über jene Gegend schriebe. Sie fällt aus allen Wolken, nie gehört, dass ihr Vater je in Provins gewesen war. Gewiss, er sei bei den Dragonern gewesen, aber er habe den Dienst schon anno 95 quittiert, noch vor ihrer Geburt. Er habe dann jenes Häuschen in Auxerre gekauft und drei Jahre später ein Mädchen aus dem Ort geheiratet, das ein paar Ersparnisse hatte. Die Mutter sei dann 1915 gestorben, als sie, die Kleine, erst fünf Jahre alt war. Was den Vater betreffe, der sei 1935 verschwunden. Ja, buchstäblich verschwunden. Er sei nach Paris gefahren, wie er es mindestens zweimal im Jahr gemacht habe, und seither habe sie nichts mehr von ihm gehört. Die lokale Gendarmerie habe nach Paris telegrafiert: nichts, in Luft aufgelöst. Vermutlich tot. Und so war unser Fräulein allein geblieben und hatte angefangen zu arbeiten, weil mit dem väterlichen Erbe nicht viel los war. Offenbar hatte sie keinen Mann gefunden, und aus den Seufzern zu schließen, die sie an dieser Stelle ausstieß, muss es da eine Geschichte gegeben haben, die einzige in ihrem Leben, und die endete offenbar schlecht. ›Und dann immer mit dieser Angst, Monsieur Ardenti, mit diesen andauernden Gewissensbissen, nichts über den armen Papa zu wissen, nicht mal wo sein Grab ist, wenn er überhaupt irgendwo eins hat!‹ Sie hatte Lust, über ihn zu sprechen: er sei so zärtlich gewesen, so ruhig, methodisch und so gebildet. Er habe die Tage oben in seinem kleinen Mansardenzimmer verbracht, mit Lesen und Schreiben. Sonst nur ein bisschen Gartenarbeit und ein paar Schwätzchen mit dem Apotheker — auch der längst gestorben. Ab und zu, wie gesagt, eine Reise nach Paris, in Geschäften, wie er sich ausgedrückt habe. Aber er sei jedes Mal mit einem Päckchen Bücher zurückgekommen. Das Zimmer sei noch ganz voll davon, ob ich's mal sehen wollte? Wir stiegen hinauf. Eine aufgeräumte und saubere Kammer, in der die gute Mademoiselle Ingolf immer noch einmal wöchentlich Staub wischte, sagte sie, der Mama könne sie ja wenigstens noch Blumen ans Grab bringen, aber für den Papa könne sie nur das tun. Alles sei noch so, wie er es verlassen habe, sie hätte ja gerne studiert, um all diese Bücher lesen zu können, aber es seien lauter Sachen in altfranzösisch, lateinisch, deutsch und sogar russisch, weil doch der Papa in Russland geboren war und dort die Kindheit verbracht hatte, er war der Sohn eines Beamten der französischen Botschaft gewesen. Die Bibliothek enthielt etwa hundert Bände, die meisten davon (und ich frohlockte) über den Templerprozess, zum Beispiel die Monumens historiques relatifs à la condamnation des Chevaliers du Temple von Raynouard, 1813, eine antiquarische Kostbarkeit. Viele Bände über Geheimschriften, eine richtige Kryptologensammlung, einige über Paläografie und Diplomatik. Es gab auch ein Kontobuch mit alten Haushaltsrechnungen, und als ich es durchblätterte, fand ich eine Notiz, die mich hochzucken ließ: sie betraf den Verkauf eines Etuis, ohne weitere Angaben und ohne den Namen des Käufers. Es waren keine Zahlen genannt, aber das Datum war 1895, und sofort danach folgten präzise Summen, das Hauptbuch eines klugen Mannes, der seine Ersparnisse mit Umsicht verwaltet. Einige Einträge über den Kauf von Büchern bei Pariser Antiquaren. Mit einmal wurde mir klar, wie die Sache gelaufen sein musste: Ingolf fand in der Höhle ein goldenes Etui, besetzt mit Edelsteinen, steckte es sich ohne lange zu überlegen in die Tasche, stieg wieder hinauf und sagte kein Wort zu seinen Kameraden. Zu Hause öffnete er das Etui und fand darin ein Pergament. Er fuhr nach Paris, kontaktierte einen Antiquar, einen Halsabschneider, einen Sammler, und verschaffte sich durch den Verkauf des Etuis, wenn auch unter Preis, ein kleines Vermögen. Aber er tat noch mehr, er quittierte den Dienst, zog sich aufs Land zurück und fing an, sich Bücher zu kaufen und das Pergament zu studieren. Vielleicht hatte er schon den Schatzsucher in sich, sonst wäre er nicht in den Untergrund von Provins gestiegen, vielleicht hatte er genügend Bildung, um zu beschließen, dass er seinen Fund allein entziffern könnte. Er arbeitete in aller Ruhe, ohne sich zu hetzen, als guter Monomane, mehr als dreißig Jahre lang. Erzählte er jemandem von seinem Fund? Wer weiß. Tatsache ist, dass er 1935 glaubte, am richtigen Punkt angelangt zu sein, oder auch an einem toten Punkt, denn nun beschloss er, sich an jemanden zu wenden, entweder um ihm zu sagen, was er wusste, oder um sich von ihm sagen zu lassen, was er nicht wusste. Aber das, was er wusste, muss etwas so Geheimes und Schreckliches gewesen sein, dass der, dem er davon erzählte, ihn verschwinden ließ ... Doch zurück zu der Mansarde. Erst einmal musste ich sehen, ob Ingolf nicht irgendwelche Spuren hinterlassen hatte. So sagte ich zu der guten Mamsell, vielleicht würde ich, wenn ich die Bücher ihres Herrn Vaters durchsähe, eine Spur von seiner Entdeckung in Provins finden und könnte ihn dann in meiner Studie ausführlich würdigen. Sie war begeistert, der arme Papa, sagte sie, natürlich, ich könne den ganzen Nachmittag bleiben und wenn nötig auch am nächsten Tag wiederkommen, sie brachte mir Kaffee, machte mir Licht an und ließ mich allein. Das Zimmer hatte glatte weiße Wände, nirgends waren Kommoden, Kästen, Truhen oder dergleichen, in denen man suchen konnte, aber ich vernachlässigte nichts, schaute unter, auf und in die wenigen Möbel, in einen fast leeren Kleiderschrank, in dem es nach Mottenpulver roch, schaute hinter die drei, vier Bilder mit Landschaftsdrucken. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten, ich sage nur, dass ich gut gearbeitet habe, das Sofapolster muss nicht nur abgetastet werden, man muss auch Nadeln hineinstechen, um zu horchen, ob sie nicht auf Fremdkörper stoßen ...«
Ich begriff, dass der Oberst nicht nur auf Schlachtfeldern Dienst getan hatte.
»Blieben die Bücher, auf jeden Fall war es gut, mir die Titel zu notieren und nachzusehen, ob nicht irgendwo Randnotizen waren, Unterstreichungen, irgendein Hinweis ... Schließlich zog ich einen schweren alten Band etwas ungeschickt aus dem Regal, er fiel zu Boden, und heraus flatterte ein handgeschriebenes Blatt. Das Papier und die Tinte sahen nicht sehr alt aus, es konnte gut in Ingolfs letzten Lebensjahren geschrieben sein. Rasch überflog ich es, gerade lange genug, um am oberen Rand zu lesen: ›Provins 1894.‹ Sie können sich meine Erregung vorstellen, die Flut von Gefühlen, die mich bestürmten ... Mir wurde klar, dass Ingolf mit dem originalen Pergament nach Paris gefahren war und dies die Kopie sein musste. Ich zögerte nicht. Das Fräulein Ingolf hatte die Bücher ihres Vaters jahrelang abgestaubt, ohne je dieses Blatt zu bemerken, andernfalls hätte sie mir davon erzählt. Eh bien, sie würde auch weiterhin nichts davon wissen. Die Welt teilt sich in Sieger und Besiegte. Ich hatte meinen Anteil an Niederlagen reichlich gehabt, jetzt musste ich den Sieg beim Schopfe ergreifen. Ich steckte das Papier in die Tasche. Der Alten sagte ich zum Abschied, ich hätte leider nichts Interessantes gefunden, hätte aber ihren Herrn Vater gerne zitiert, wenn er etwas geschrieben hätte, und sie segnete mich. Meine Herren, ein Mann der Tat, durchglüht von einer Passion wie der meinen, darf sich nicht allzu viel Skrupel machen angesichts der Misere eines ohnehin vom Schicksal geschlagenen Wesens.«
»Rechtfertigen Sie sich nicht«, sagte Belbo. »Sie haben es getan. Jetzt reden Sie.«
»Jetzt zeige ich Ihnen den Text. Sie werden mir gestatten, Ihnen eine Fotokopie vorzulegen. Nicht aus Misstrauen. Nur um das Original nicht der Abnutzung auszusetzen.«
»Aber es war doch nicht das Original«, sagte ich. »Es war doch Ingolfs Kopie eines angeblichen Originals.«
»Junger Mann, wenn das Original nicht mehr existiert, ist die letzte Kopie das Original.«
»Aber Ingolf könnte doch falsch abgeschrieben haben.«
»Sie wissen nicht, ob es so ist. Ich aber weiß, dass Ingolfs Abschrift die Wahrheit sagt, denn ich sehe nicht, wie die Wahrheit anders sein könnte. Ergo ist Ingolfs Kopie das Original. Sind wir uns darüber einig, oder wollen wir hier intellektuelle Spielchen anfangen?«
»Die hasse ich«, sagte Belbo. »Also zeigen Sie uns Ihre originale Kopie.«
19
Seit Beaujeu hat der Orden nie einen Augenblick aufgehört zu bestehen, und seit Aumont kennen wir eine ununterbrochene Folge der Großmeister des Ordens bis auf unsere Tage, und wenn der Name und die Residenz ebenso wie der Rang des wahren Großmeisters und der wahren Oberen, die den Orden regieren und die erhabenen Werke leiten, heute ein Geheimnis ist, welches, nur den wahrhaft Erleuchteten bekannt, in undurchdringlichem Dunkel bewahrt wird, so weil die Stunde des Ordens noch nicht gekommen und die Zeit noch nicht erfüllt ist ...
Handschrift um 1760, in G. A. Schiffmann, Die Entstehung der Rittergrade in der Freimaurerei um die Mitte des 18. Jahrhunderts, Leipzig, Zechel, 1882, p. 178-190
Es war unser erster Kontakt mit dem Plan. An jenem Tag vor über zwölf Jahren hätte ich auch woanders sein können. Wäre ich an jenem Tag damals nicht in Belbos Büro gewesen, dann wäre ich jetzt ... Ja was? Sesamsamenverkäufer in Samarkand? Herausgeber einer Taschenbuchreihe in Blindenschrift? Direktor der First National Bank in Franz-Joseph-Land? Die sogenannten »kontrafaktischen« Konditionalsätze sind immer wahr, weil die Prämisse falsch ist. Doch an jenem Tag war ich in Belbos Büro, und deswegen bin ich nun da, wo ich bin.
Mit theatralischer Geste hatte der Oberst uns das Blatt präsentiert. Ich habe es noch hier zwischen meinen Papieren, in einer Klarsichtfolie, noch grauer und verblasster, als es schon damals war, bei dem schlechten Xeroxpapier jener Jahre. In Wirklichkeit waren es zwei Texte, ein dicht gedrängter, der die obere Hälfte der Seite bedeckte, und ein lückenhafter in verstümmelten Zeilen.
Der erste Text war eine Art dämonischer Litanei, wie eine Parodie auf altsemitische Sprachen:
Kuabris Defrabax Rexulon Ukkazaal Ukzaab Urpaefel Taculbain Habrak Hacoruin Maquafel Tebrain Hmcatuin Rokasor Himesor Argaabil,Kaquaan Docrabax Reisaz Reisabrax Decaiquan Oiquaquil Zaitabor Quaxaop Dugraq Xaelobran Disaeda Magisuan Raitak Huidal Uscolda Arabaom Zipreus Mecrim Cosmae Duquifas Rocarbis
»Nicht sehr klar«, bemerkte Belbo.
»Nein, nicht wahr?«, sagte der Oberst maliziös. »Und ich hätte mein Leben lang vergeblich darüber gebrütet, wenn ich nicht eines Tages zufällig an einem Bouquinistenstand ein Buch über Trithemius gefunden hätte und wenn mein Blick, als ich zerstreut darin blätterte, nicht zufällig auf eine chiffrierte Botschaft gefallen wäre: ›Pamersiel Oshurmy Delmuson Thafloyn...‹ Ich hatte eine Spur gefunden, und die wollte ich nun bis ans Ende verfolgen. Trithemius war für mich ein Unbekannter, aber in Paris fand ich eine Ausgabe seiner Steganografie, boc est ars per occultam scripturam animi sui voluntatem absentibus aperiendi certa, Frankfurt 1606. Die Kunst, durch okkulte Schriften die eigene Seele den Abwesenden zu öffnen. Faszinierender Kerl, dieser Trithemius. Benediktinerabt in Spannheim, auf der Wende vom fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert, ein Gelehrter, der Hebräisch und Chaldäisch konnte, dazu orientalische Sprachen wie das Tatarische; stand in Verbindung mit Theologen, Kabbalisten, Alchimisten, sicher mit dem großen Cornelius Agrippa von Nettesheim und vielleicht auch mit Paracelsus ... Er tarnt seine Enthüllungen über Geheimschriften mit nekromantischen Possen, sagt zum Beispiel, man müsse chiffrierte Botschaften absenden von der Sorte, die Sie vor Augen haben, und der Empfänger müsse dann Engel anrufen wie Pamersiel, Padiel, Dorothiel und so weiter, die ihm dann helfen würden, den wahren Sinn der Botschaft zu verstehen. Aber die Beispiele, die Trithemius bringt, sind oft militärische Botschaften, und das Buch ist dem Pfalzgrafen Herzog Philipp von Bayern gewidmet und stellt eines der ersten Beispiele ernsthafter kryptografischer Arbeit dar, wie sie heute von den Geheimdiensten betrieben wird.«
»Entschuldigen Sie«, sagte ich, »aber wenn ich recht verstehe, hat dieser Trithemius mindestens hundert Jahre nach der Abfassung dieses Textes gelebt ...«
»Trithemius war Mitglied einer Sodalitas Celtica, in der man sich mit Philosophie, Astrologie und pythagoreischer Mathematik befasste. Sehen Sie den Zusammenhang? Die Templer sind ein initiatischer Orden, der sich unter anderem auf die Weisheit der alten Kelten beruft, das ist inzwischen erwiesene Tatsache. Auf die eine oder andere Weise erlernt Trithemius dieselben kryptografischen Systeme, die auch schon von den Templern benutzt worden sind.«
»Beeindruckend«, sagte Belbo. »Und was sagt nun diese geheime Botschaft?«
»Gemach, meine Herren. Trithemius präsentiert vierzig größere und zehn kleinere Kryptosysteme. Ich hatte Glück, beziehungsweise die Templer von Provins hatten sich nicht allzu viel Mühe gegeben, wohl in der Gewissheit, dass ohnehin niemand ihren Schlüssel erraten würde. Ich probierte sofort das erste der vierzig größeren Kryptosysteme, das heißt, ich ging von der Hypothese aus, dass in diesem Text nur die Anfangsbuchstaben zählen.«
Belbo bat um das Blatt und überflog es. »Aber auch dann kommt nur eine sinnlose Buchstabenfolge heraus: kdruuuth...«
»Natürlich«, sagte der Oberst mit Nachsicht. »Die Templer hatten sich nicht allzu viel Mühe gegeben, aber sie waren auch nicht allzu faul. Diese erste Buchstabenfolge ist ihrerseits eine chiffrierte Botschaft, und hier dachte ich nun sofort an die zweite Serie der zehn kleineren Kryptosysteme. Sehen Sie, für diese zweite Serie benutzte Trithemius drehbare Scheiben, und die des ersten Systems ist diese hier ...«
Er zog eine andere Fotokopie aus seiner Mappe, rückte seinen Stuhl an den Tisch und verdeutlichte uns seine Demonstration, indem er die einzelnen Buchstaben mit der Kappe seines geschlossenen Füllfederhalters antippte.
Chiffierscheibe
aus Trithemius, Clavis Steganographiae, Frankfurt a. M. 1606
»Es ist das einfachste System. Beachten Sie nur den äußeren Kreis. Für jeden Buchstaben der Botschaft in Klarschrift nimmt man den Buchstaben, der vorausgeht. Für A schreibt man Z, für B schreibt man A und so weiter. Kinderspiele für einen Geheimagenten heute, aber damals wurde dergleichen als Hexerei angesehen. Zum Dechiffrieren geht man natürlich den umgekehrten Weg und ersetzt jeden Buchstaben des Chiffrierten durch den folgenden. Ich hab's probiert, und sicher war es auch Glück, dass der erste Versuch gleich klappte, aber voila, hier ist die Lösung.« Er schrieb: » Les XXXVI inuisibles separez en six bandes — die sechsunddreißig Unsichtbaren geteilt in sechs Gruppen.«
»Und was heißt das?«
»Auf den ersten Blick nichts. Es handelt sich um eine Art Überschrift oder Präambel zur Konstitution eines Bundes, aus rituellen Gründen in Geheimsprache geschrieben. Für den Rest haben sich unsere Templer, wohl in der Gewissheit, dass sie ihre Botschaft an einem unzugänglichen Ort deponieren würden, mit dem normalen Französisch des vierzehnten Jahrhunderts begnügt. Sehen wir uns nun den zweiten Text an.«
a la ... Saint Jean
36 p charrete de fein
6 … entiers avec saiel
P ... les blancs mantiax
r ... s ... chevaliers de Pruins pour la ... j. nc.
6 foiz 6 en 6 places
chascune foiz 20 a .... 120 a ....
iceste est l'ordonation
al donjon li premiers
it li secunz joste iceus qu i... pans
it al refuge
it a Nostre Dame de l'altre part de l'iau
it a l'hostel des popelicans
it a la pierre
3 foiz 6 avant la feste ... la Grant Pute.
»Und das soll die unchiffrierte Botschaft sein?«, fragte Belbo enttäuscht und amüsiert.
»Es ist klar, dass in Ingolfs Abschrift die Pünktchen für unleserliche Wörter stehen, für Stellen, an denen das Pergament zersetzt war ... Doch hier nun meine definitive Transkription, in der ich mit Konjekturen, die Sie mir als luzide und unangreifbar zu definieren gestatten werden, den Text in seinem einstigen Glanz, wie man so sagt, wiederhergestellt habe.«
Mit der Geste eines Zauberkünstlers drehte er die Fotokopie um und zeigte uns, was er in Blockschrift auf die Rückseite geschrieben hatte:
A LA (NUIT DE) SAINT JEAN
36 (ANS) P(OST LA) CHARRETTE DE FOIN
6 (MESSAGES) ENTIERS AVEC SCEAU P(OUR) LES BLANCS MANTEAUX
R(ELAP)S(I) CHEVALIERS DE PROVINS POUR LA (VEN)J(A)NC(E)
6 FOIX 6 EN 6 PLACES
CHACUNE FOI 20 A(NS FAIT) 120 A(NS)
CECI EST L'ORDONNATION:
AU DONJON LES PREMIERS
IT(ERUM) LES SECONDS JUSQU'A CEUX QUI (ONT?) PAINS
IT(ERUM) AU REFUGE
IT(ERUM) A NOTRE DAME DE L'AUTRE PART DE L'EAU
IT(ERUM) A L'HOTEL DES POPELICANS
IT(ERUM) A LA PIERRE
3 FOIX 6 AVANT LA FETE (DE) LA GRANDE PUTAIN.
Übersetzt:
in der Johannisnacht
36 Jahre nach dem Heuwagen
6 Botschaften intakt mit Siegel
für die Weißen Mäntel (= die Tempelritter)
relapsi aus Provins für die (= bereit zur) Rache
6 mal 6 an 6 Orten
jedes Mal 20 Jahre macht 120 Jahre
dies ist der Plan:
zum Donjon (gehen) die ersten
wiederum (= nach weiteren 120 Jahren) die zweiten bis zu denen mit Broten
wiederum (dito) zum Refugium
wiederum zu Notre Dame auf der anderen Seite des Flusses
wiederum zur Herberge der Popelicans
wiederum zum Stein
3 mal 6 (= 666) vor dem Fest der Großen Hure
»Dunkler als die schwärzeste Nacht«, sagte Belbo.
»Sicher, das muss alles erst noch interpretiert werden. Aber Ingolf hat es gewiss verstanden, so wie ich es verstanden habe. Es ist weniger dunkel, als es scheint, wenn man die Geschichte des Ordens kennt.«
Pause. Der Oberst bat um ein Glas Wasser, dann griff er wieder zu seinem Füllfederhalter und hob an, uns den Text zu erläutern, Zeile für Zeile.
»Also: in der Johannisnacht, sechsunddreißig Jahre nach dem Heuwagen. Die zur Fortführung des Ordens bestimmten Templer fliehen vor der Verhaftung im September 1307, auf einem Heuwagen. Damals rechnete man das Jahr von Ostern bis Ostern. Also endet das Jahr 1307 bei dem, was nach unserem Kalender Ostern 1308 wäre. Jetzt rechnen Sie sechsunddreißig Jahre nach dem Ende von 1307 (also nach unserem Ostern 1308), und Sie kommen auf Ostern 1344. Das angegebene Datum ist also unser Jahr 1344. Die Botschaft wird im Boden der Krypta in einem kostbaren Behälter deponiert, sozusagen als Grundsteindokument, als notarielle Beurkundung eines Ereignisses, das an jenem Ort stattgefunden hat, nach der Konstitution des geheimen Ordens in der Johannisnacht, also am 23. Juni 1344.«
»Warum erst 1344?«
»Ich nehme an, in den Jahren von 1307 bis 1344 hat der geheime Orden sich reorganisiert und auf das Projekt gewartet, dessen Start das Pergament beglaubigt. Er musste warten, bis sich die Wogen gelegt hatten und die Fäden zwischen den in fünf bis sechs Ländern verstreuten Templern wieder geknüpft waren. Andererseits haben die Templer genau sechsunddreißig Jahre gewartet, nicht fünfunddreißig oder siebenunddreißig, weil offensichtlich die Zahl sechsunddreißig für sie einen mystischen Wert hatte, wie uns ja auch die chiffrierte Botschaft bestätigt. Die Quersumme von sechsunddreißig ist neun, und ich brauche Ihnen die tieferen Bedeutungen dieser Zahl nicht zu erklären.«
»Darf ich?« Es war die Stimme von Diotallevi, der hinter uns eingetreten war, auf Katzenpfoten wie die Templer von Provins.
»Ein gefundenes Fressen für dich«, sagte Belbo und stellte ihn vor. Der Oberst schien nicht besonders gestört, im Gegenteil, er machte eher den Eindruck, als wünschte er sich ein möglichst großes und aufmerksames Publikum. Er setzte seine Interpretation fort, und Diotallevi lief das Wasser im Munde zusammen vor diesem Schlemmermahl an Zahlenmystik. Reinste Gematrie.
»Wir kommen zu den Siegeln: sechs intakte Dinge mit einem Siegel. Ingolf findet ein Etui, offensichtlich verschlossen mit einem Siegel. Für wen ist es versiegelt worden? Für die Weißen Mäntel, also die Templer. Nun finden wir in der Botschaft ein r, dann fehlen ein paar Buchstaben, dann ein alleinstehendes s. Ich lese das als relapsi. Warum? Wir alle wissen, dass die relapsi die geständigen Täter waren, die ihr Geständnis widerrufen hatten, und diese ›Rückfälligen‹ haben eine nicht unbedeutende Rolle im Prozess der Templer gespielt. Die Templer von Provins bekennen sich stolz zu ihrer Natur als relapsi. Sie sind diejenigen, die sich von der infamen Komödie des Prozesses lossagen. Also, hier ist die Rede von Rittern aus Provins, die sich ›rückfällig‹ zu etwas bereit erklären. Wozu? Die wenigen Buchstaben am Ende der Zeile legen das Wort ›vainjance‹ nahe: vengeance, Rache.«
»Rache wofür?«
»Meine Herren! Die gesamte Templermystik, vorn Prozess bis heute, dreht sich um den Plan einer Rache für Jacques de Molay. Ich halte nicht viel von den Riten der Freimaurer, aber selbst sie, eine bürgerliche Karikatur der Tempelritterschaft, sind noch ein, wenn auch degenerierter, Reflex davon. Und einer der Rittergrade in der Freimaurerei nach schottischem Ritus ist der des Ritters Kadosch, nach dem hebräischen Wort für Rache.«
»Okay, die Templer sinnen also auf Rache. Und weiter?«
»Wie viel Zeit wird dieser Racheplan in Anspruch nehmen? Die chiffrierte Botschaft hilft uns, die unchiffrierte zu verstehen. Verlangt werden sechs Ritter sechsmal an sechs verschiedenen Orten, sechsunddreißig geteilt in sechs Gruppen. Dann heißt es: jedes Mal zwanzig, und hier ist etwas nicht klar, aber in Ingolfs Abschrift sieht es aus wie ein a. Jedes Mal zwanzig Jahre, habe ich daraus deduziert, und sechsmal zwanzig macht hundertzwanzig. Wenn wir den Rest der Botschaft betrachten, finden wir eine Liste von sechs Orten oder sechs Aufgaben, die erfüllt werden müssen. Von einer ›Ordonation‹ ist die Rede, einem Plan, einem Projekt, einem Vorgehen, das befolgt werden muss. Und es heißt, dass die ersten zu einem ›Donjon‹ gehen sollen, also zu einer Burg, die zweiten zu einem anderen Ort, und so weiter bis zum sechsten. Infolgedessen sagt uns das Dokument, dass es noch sechs andere versiegelte Dokumente geben muss, verstreut über diverse Punkte, und es scheint mir evident, dass die Siegel eines nach dem anderen erbrochen werden sollen, im Abstand von jeweils hundertzwanzig Jahren ...«
»Aber warum jedes Mal zwanzig Jahre?« fragte Diotallevi.
»Nun, diese Ritter der Rache sollen alle hundertzwanzig Jahre eine Mission an einem bestimmten Ort erfüllen. Es handelt sich um eine Form von Stafettenlauf. Klar ist, dass nach der Johannisnacht 1344 sechs Ritter aufbrechen und sich jeder an einen der sechs im Plan vorgesehenen Punkte begeben. Aber der Hüter des ersten Siegels kann schlechterdings nicht hundertzwanzig Jahre lang weiterleben. Die Sache ist daher so zu verstehen, dass jeder Hüter eines jeden Siegels zwanzig Jahre im Amt bleiben soll, um dann das Kommando an einen Nachfolger zu übergeben. Zwanzig Jahre ist ein vernünftiger Zeitraum, sechs Hüter pro Siegel, jeder zwanzig Jahre im Dienst, gewährleisten, dass im hundertzwanzigsten Jahr der sechste Siegelbewahrer, sagen wir: eine Instruktion lesen und sie dem ersten Bewahrer des zweiten Siegels übergeben kann. Deshalb spricht die Botschaft im Plural: Die einen dahin, die andern dorthin ... Jeder Ort soll sechsmal innerhalb von hundertzwanzig Jahren sozusagen kontrolliert werden. Rechnen Sie nun das alles zusammen: vom ersten bis zum sechsten Ort sind es fünf Übergaben, je eine nach hundertzwanzig Jahren, macht sechshundert Jahre. Addieren Sie sechshundert zu 1344, und herauskommt 1944. Was auch durch die letzte Zeile bestätigt wird. Deren Bedeutung ganz sonnenklar ist«
»Nämlich?«
»Die letzte Zeile heißt: ›dreimal sechs vor dem Fest (der) Großen Hure.‹ Auch hier ein Zahlenspiel, denn die Quersumme von 1944 ist genau achtzehn. Achtzehn ist dreimal sechs, und diese neue wunderbare Zahlenkoinzidenz suggeriert den Templern eine weitere höchst subtile Anspielung. 1944 ist das Jahr, in dem der Plan sich erfüllen soll. In Hinblick worauf? Nun, natürlich auf das Jahr Zweitausend! Die Templer glauben, dass am Ende des zweiten Jahrtausends ihr Jerusalem kommt, ein irdisches Jerusalem, das Anti-Jerusalem. Man verfolgt sie als Häretiker? Wohlan, aus Hass auf die Kirche identifizieren sie sich mit dem Antichrist. Bekanntlich ist die Zahl 666 in der gesamten okkulten Tradition die Zahl des Großen Tieres. Das Jahr Sechshundertsechsundsechzig, das Jahr des Tieres, ist das Jahr Zweitausend, in welchem die Rache der Templer triumphieren wird, das Anti-Jerusalem ist das Neue Babylon, und deshalb ist 1944 das Jahr des Festes der Grande Pute, der Großen Hure von Babylon, von der die Apokalypse spricht! Die Anspielung auf die Zahl 666 ist eine Provokation, eine trotzige Kriegergeste. Ein Bekenntnis zur eigenen Andersartigkeit, würde man heute sagen ... Schöne Geschichte, nicht wahr?«
Er sah uns mit feuchten Augen an, und feucht glänzten auch seine Lippen und sein Schnurrbart, indes seine Hände zärtlich über den Ordner strichen.
»Okay«, sagte Belbo, »hier werden die Etappen eines Plans skizziert. Aber worin besteht er?«
»Sie fragen zu viel. Wenn ich das wüsste, hätte ich es nicht nötig, meinen Köder auszuwerfen. Aber eines weiß ich: dass in dieser Zeitspanne etwas passiert sein muss und dass der Plan nicht erfüllt worden ist, andernfalls würden wir es, mit Verlaub gesagt, wissen. Und ich kann mir auch denken, warum: 1944 war ein schwieriges Jahr, die Templer konnten schließlich nicht ahnen, dass da ein Weltkrieg im Gange sein würde, der alle Kontakte erschwerte.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische«, sagte Diotallevi, »aber wenn ich recht verstehe, kommt nach der Öffnung des ersten Siegels die Dynastie seiner Hüter nicht zum Erlöschen. Sie geht weiter bis zur Öffnung des letzten Siegels, wenn alle Repräsentanten des Ordens präsent sein müssen. Somit hätten wir jedes Jahrhundert, beziehungsweise alle hundertzwanzig Jahre, immer sechs Siegelbewahrer an jedem Ort, also zusammen sechsunddreißig.«
»Genau«, sagte Ardenti.
»Sechsunddreißig Ritter für jeden der sechs Orte macht zusammen 216, die Quersumme ist 9. Und da es sich um sechs Jahrhunderte handelt, multiplizieren wir 216 mit 6 und kommen auf 1296, eine Zahl, deren Quersumme 18 ist, also dreimal sechs, 666.« Diotallevi wäre vermutlich zur arithmetischen Neubegründung der Universalgeschichte fortgeschritten, wenn Belbo ihn nicht gestoppt hätte mit einem Blick, wie ihn eine Mutter ihrem Kind zuwirft, wenn es etwas Ungehöriges tut. Doch der Oberst erkannte in Diotallevi einen Erleuchteten.
»Großartig, was Sie mir da demonstrieren, Herr Doktor! Sie wissen, dass neun die Anzahl der ersten Ritter war, die den Kern des Templerordens in Jerusalem konstituierten!«
»Der Große Name Gottes, wie er im Tetragrammaton ausgedrückt ist«, sagte Diotallevi, »hat zweiundsiebzig Lettern, und sieben plus zwei macht neun. Aber ich will Ihnen noch mehr sagen, wenn Sie erlauben. Nach der pythagoreischen Tradition, welche die Kabbala aufgreift (oder von welcher sie inspiriert wird), ergibt die Summe der ungeraden Zahlen von eins bis sieben sechzehn, und die Summe der geraden Zahlen von zwei bis acht ergibt zwanzig, und zwanzig plus sechzehn macht sechsunddreißig.«
»Mein Gott, Herr Doktor«, rief bebend der Oberst, »ich wusste es doch, ich wusste es! Sie bestätigen mich. Ich bin der Wahrheit nahe!«
Mir war nicht ganz klar, inwieweit Diotallevi aus der Arithmetik eine Religion machte oder aus der Religion eine Arithmetik, und vermutlich war beides der Fall: ich hatte vor mir einen Atheisten, der die Entrückung in höhere Himmel genoss. Er hätte ein Fanatiker des Roulette werden können (und das wäre besser für ihn gewesen), aber er wollte lieber ein ungläubiger Rabbi sein.
Ich weiß nicht mehr genau, was geschah, aber Belbo intervenierte mit seinem gesunden piemontesischen Menschenverstand und brach den Zauber. Dem Oberst blieben noch ein paar Zeilen zu interpretieren, und wir alle waren neugierig auf seine Deutung. Und es war bereits sechs Uhr abends. Sechs, dachte ich, das heißt auch achtzehn ...
»Okay«, sagte Belbo. »Also immer sechsunddreißig pro Jahrhundert, rüsten die Templer sich Schritt für Schritt, um den Stein zu entdecken. Aber worum handelt es sich bei diesem Stein?«
»Wohlan, es handelt sich selbstredend um den Gral.«
20
Das Mittelalter wartete auf den Helden des Gral und darauf, daß das Haupt des Heiligen Römischen Reiches ein Inbild und eine Manifestation des »Königs der Welt« selber werde... daß der unsichtbare Kaiser auch der manifestierte sei und das Zeitalter der Mitte... auch die Bedeutung eines Zeitalters des Zentrums habe... Das unsichtbare und unverletzliche Zentrum, der Souverän, der wiedererwachen muß, ja selbst der rächende und wiederherstellende Held sind keine Phantasien einer mehr oder minder toten Vergangenheit, sondern die Wahrheit derer, die heute als einzige sich mit Recht lebendig nennen können.
Julius Evola, Il mistero del Graal, Rom, Edizioni Mediterranee, 1983, Kap. 23 und Epilog
»Sie meinen, da spielt auch der Gral mit rein«, erkundigte sich Belbo.
»Natürlich. Und das meine nicht nur ich. Über die Sage vom Gral brauche ich mich hier nicht zu verbreiten, ich spreche mit gebildeten Leuten. Es geht um die Ritter der Tafelrunde, um die mystische Suche nach jenem wundertätigen Gegenstand, der für einige der Kelch war, der das Blut Christi auffing, nach Frankreich gelangt durch Joseph von Arimathia, für andere ein Stein mit geheimnisvollen Kräften. Oftmals erscheint der Gral als gleitendes Licht ... Er ist ein Symbol, das für eine immense Kraft steht, für eine ungeheure Energiequelle. Er gibt Nahrung, heilt Wunden, blendet, streckt nieder ... Ein Laserstrahl? Mancher hat an den Stein der Weisen gedacht, den die Alchimisten suchten, doch selbst wenn es so wäre, was war der Stein der Weisen anderes als das Symbol einer kosmischen Energie? Die Literatur darüber ist endlos, aber es lassen sich unschwer einige unbestreitbare Merkmale ausmachen. Wenn Sie den Parzival des Wolfram von Eschenbach lesen, werden Sie sehen, dass der Gral darin so erscheint, als würde er in einer Burg der Templer gehütet! War Wolfram ein Eingeweihter? Ein Unvorsichtiger, der etwas ausgeplaudert hat, was er besser verschwiegen hätte? Doch nicht genug damit. Definiert wird dieser von den Templern gehütete Gral wie ein vom Himmel gefallener Stein: lapis exillis. Man weiß nicht recht, ob das ›Stein vom Himmel‹ (ex coelis) heißen soll, oder ob es von ›Exil‹ kommt. In jedem Fall ist es etwas, das von weither kommt, und manche haben gemeint, es könnte ein Meteorit gewesen sein. Was uns betrifft, ist die Sache klar: ein Stein. Was immer der Gral auch gewesen sein mag, für die Templer symbolisiert er den Gegenstand oder das Ziel des Plans.«
»Entschuldigen Sie«, sagte ich, »aber nach der Logik des Dokuments müssten die Ritter sich doch zum sechsten Treffen bei oder auf einem Stein einfinden, nicht einen Stein finden.«
»Auch dies wieder eine höchst subtile Ambivalenz, eine weitere leuchtende mystische Analogie! Gewiss ist das sechste Treffen auf einem Stein geplant, und wir werden noch sehen, auf welchem, aber auf diesem Stein, wenn die Weitergabe des Plans und die Öffnung der sechs Siegel vollendet ist, werden die Ritter erfahren, wo sie den wahren Stein finden können! Was im Übrigen ja das Wortspiel Christi ist: Du bist Petrus, und auf diesem Stein... Auf dem Stein werdet ihr den STEIN finden.«
»So muss es sein«, sagte Belbo. »Bitte, fahren Sie fort. Casaubon, unterbrechen Sie nicht immerzu. Wir sind begierig, den Rest zu hören.«
»Also«, sagte der Oberst. »Die evidente Bezugnahme auf den Gral hat mich lange glauben lassen, dass der Schatz ein immenses Lager an radioaktivem Material sei, womöglich von einem andern Planeten gefallen. Nehmen Sie nur zum Beispiel, in der Sage, die mysteriöse Wunde des Amfortas... Als wäre er ein Radiologe, der sich zu lange den Strahlungen ausgesetzt hat.. Und tatsächlich darf man sie nicht berühren. Warum nicht? Bedenken Sie, welche Erregung die Templer empfunden haben müssen, als sie ans Tote Meer gelangten — teeriges, schweres Wasser, auf dem man wie ein Korken schwimmt, und es hat heilende Kräfte... Sie könnten in Palästina ein Uranlager entdeckt haben, sie könnten begriffen haben, dass es sich nicht sofort ausbeuten ließ. Die Beziehungen zwischen dem Gral, den Templern und den Katharern sind von einem verdienstvollen deutschen Offizier wissenschaftlich erforscht worden, ich spreche von Otto Rahn, einem Obersturmbannführer der SS, der sein Leben damit verbracht hat, in großer Strenge über die europäische und arische Natur des Grals nachzudenken — ich will nicht sagen, wie und warum er sein Leben 1939 verlor, aber es gibt Leute, die versichern... eh bien, kann ich vergessen, was Ingolf widerfahren ist? Rahn zeigt uns die Beziehungen zwischen dem Goldenen Vlies der Argonautensage und dem Gral... kurzum, es ist evident, dass eine Verbindung zwischen dem mystischen Gral der Sage, dem Stein der Weisen (lapis!) und jener immensen Kraftquelle besteht, auf welche die Getreuen Hitlers an der Schwelle des Krieges und noch bis zum letzten Atemzug hofften. Beachten Sie auch, dass in einer Version der Sage die Argonauten eine Schale erblicken, eine Schale, sage ich, die über dem Weltenberg mit dem Lichterbaum schwebt! Die Argonauten finden das Goldene Vlies, und ihr Schiff wird in die strahlende Milchstraße des südlichen Sternhimmels verzaubert, wo sie mit dem Kreuz, dem Triangel und dem Altar Zeugnis von der Lichtnatur des Ewigen Gottes ablegen. Das Triangel versinnbildlicht die göttliche Trinität, das Kreuz das göttliche Liebesopfer, und der Altar ist der Tisch des Abendmahles, auf dem der Kelch der Wiedergeburt stand. Kein Zweifel, der keltisch-arische Ursprung all dieser Symbole ist unverkennbar!«
Der Oberst schien von derselben heroischen Exaltation ergriffen, die seinen Obersturmunddrang oder wie zum Teufel das hieß in den Opfertod getrieben hatte. Man musste ihn auf den Boden der Realität zurückholen.
»Was schließen Sie daraus?«, fragte ich.
»Junger Mann, sehen Sie's nicht mit eigenen Augen? Man hat vom Gral als einem Luziferischen Stein gesprochen und ihn in Zusammenhang mit der Figur des Baphomet gebracht. Der Gral ist eine Energiequelle, die Templer sind die Hüter eines energetischen Geheimnisses, und nun entwerfen sie ihren Plan. Wo werden sie ihre geheimen Sitze einrichten? Hier, meine Herren« — der Oberst sah uns mit komplizenhafter Miene an, als säßen wir in einer Verschwörerrunde —, »ich hatte eine Spur, eine falsche, aber nützliche. Ein Autor, der irgendwo ein Geheimnis aufgeschnappt haben musste, Charles-Louis Cadet-Gassicourt (und wie sich's trifft, stand sein Opus in Ingolfs Bibliothek), schreibt 1797 ein Buch, Le tombeau de Jacques Molay ou le secret des conspirateurs a ceux qui veulent tout savoir, in dem er behauptet, Molay habe, ehe er starb, vier geheime Logen gegründet, in Paris, in Schottland, in Stockholm und in Neapel. Diese vier Logen hätten sämtliche Monarchen vernichten und die Macht des Papstes zerstören sollen. Kein Zweifel, Gassicourt war ein exaltierter Träumer, aber ich bin von seiner Idee ausgegangen, um herauszufinden, wo die Templer wirklich ihre geheimen Sitze etablieren konnten. Ich hätte die Rätsel der Botschaft nicht lösen können, wenn ich nicht eine Leitidee gehabt hätte, das ist klar. Aber ich hatte eine, nämlich die auf zahllosen Evidenzen begründete Überzeugung, dass der templerische Geist seiner Inspiration nach keltisch war, druidisch, er war der Geist des nordischen Ariertums, das die Tradition mit der Insel Avalon identifiziert, dem Sitz der wahren hyperboreischen Kultur. Sie werden wissen, dass diverse Autoren die Insel Avalon mit dem Garten der Hesperiden gleichgesetzt haben, mit der Ultima Thule und dem Kolchis des Goldenen Vlieses. Nicht zufällig war der größte Ritterorden in der Geschichte der Orden vom Goldenen Vlies. Womit klar wird, was sich in dem Wort ›Donjon‹ verbirgt. Es ist die Nordische Burg, in der die Templer den Gral hüteten, vermutlich der sagenhafte Montsalvat.«
Er hielt einen Augenblick inne. Er wollte, dass wir ihm an den Lippen hingen. Wir hingen.
»Kommen wir zum zweiten Befehl: die Siegelbewahrer sollen dahin gehen, wo sich der oder diejenigen befinden, die etwas mit Broten machen. An sich ist die Angabe klar: der Gral ist der Kelch mit dem Blute Christi, das Brot ist der Leib Christi, der Ort, wo das Brot gegessen wurde, ist der Ort des Letzten Abendmahls, also Jerusalem. Undenkbar, dass die Templer sich dort unten, auch nach der Rückeroberung durch die Sarazenen, nicht eine geheime Basis gesichert hatten. Offen gestanden, zu Anfang hatte mich dieses jüdische Element in einem Plan, der ganz unter dem Zeichen der arischen Mythologie steht, einigermaßen verwirrt. Dann habe ich darüber nachgedacht und mir gesagt: Wir sind es, die Jesus noch immer als einen Ausdruck der jüdischen Religiosität betrachten, weil die römische Kirche es uns so lehrt. Die Templer wussten sehr wohl, dass Jesus ein keltischer Mythos ist. Der ganze Bericht der Evangelien ist eine hermetische Allegorie — Wiederauferstehung nach Verwesung in den Eingeweiden der Erde undsoweiter undsofort. Christus ist nichts anderes als das Elixier der Alchimisten. Andererseits wissen alle, dass die Trinität ein arischer Begriff ist — und sehen Sie, deswegen steht die ganze Templerregel, diktiert von einem Druiden wie Bernhard von Clairvaux, unter dem Zeichen der Dreizahl.«
Der Oberst trank einen weiteren Schluck Wasser. Seine Stimme war heiser. »Kommen wir nun zu der dritten Etappe: das Refugium. Es ist Tibet.«
»Und wieso Tibet?«
»Nun, vor allem, weil Wolfram von Eschenbach am Ende erzählt, dass die Templer Europa verließen und den Gral nach Indien verbrachten. Zur Wiege des arischen Geschlechts. Das Refugium ist Agarttha. Sie werden doch sicher schon von Agarttha gehört haben, dem Sitz des Königs der Welt, der unterirdischen Stadt, von der aus die Herren der Welt den Gang der Menschheitsgeschichte beherrschen und lenken. Die Templer haben sich eins ihrer Zentren direkt an den Wurzeln ihrer Spiritualität geschaffen. Kennen Sie die Beziehungen zwischen dem Reich von Agarttha und der Synarchie?«
»Ehrlich gesagt, nein... «
»Na, ist auch besser so, es gibt Geheimnisse, die tödlich sein können. Aber schweifen wir nicht ab. Auf jeden Fall wissen alle, dass Agarttha vor sechstausend Jahren gegründet wurde, zu Beginn der Epoche des Kali-Yuga, in der wir heute noch leben. Die Aufgabe der Ritterorden war seit jeher, den Kontakt zu diesem geheimen Zentrum zu halten, die aktive Kommunikation zwischen der Weisheit des Orients und der Weisheit des Okzidents zu sichern. Und somit ist klar, wo das vierte Treffen stattfinden soll, nämlich in einem anderen druidischen Heiligtum, in der Stadt der Jungfrau, das heißt der Kathedrale von Chartres. Chartres liegt von Provins aus gesehen auf der anderen Seite des Hauptflusses der Ile de France, der Seine.«
Wir konnten unserem Gesprächspartner nicht mehr folgen: »Was hat denn Chartres mit Ihrer keltisch-druidischen Linie zu tun?«
»Woher, glauben Sie wohl, kommt die Idee der Jungfrau?
Die ersten Jungfrauen, die in Europa auftauchen, sind die schwarzen Jungfrauen der Kelten. Bernhard von Clairvaux lag einmal als junger Mann in der Kirche von Saint Voirles auf den Knien vor einer schwarzen Jungfrau, und sie presste aus ihrer Brust drei Milchtropfen, die auf die Lippen des künftigen Gründers der Templer fielen. Daher die Romane über den Gral, als Deckmantel für die Kreuzzüge, und die Kreuzzüge, um den Gral wiederzufinden. Die Benediktiner sind die Erben der Druiden, das weiß doch jeder.«
»Aber wo sind diese schwarzen Jungfrauen dann geblieben?«
»Sie wurden aus dem Weg geräumt von denen, die daran interessiert waren, die nordische Tradition zu verdunkeln und die keltische Religiosität in die mediterrane Religiosität zu überführen, indem sie den Mythos der Maria von Nazareth erfanden. Und wo man sie nicht verschwinden lassen konnte, wurden sie verwandelt und denaturiert, wie die zahlreichen schwarzen Madonnen, die man noch immer dem Fanatismus der Massen darbietet. Doch wenn man die Bilder der Kathedralen richtig liest, wie es der große Fulcanelli getan hat, sieht man, dass diese Geschichte in klaren Lettern erzählt wird, und in klaren Lettern wird auch das Verhältnis dargestellt, das die keltischen Jungfrauen mit der alchimistischen Tradition templerischen Ursprungs verbindet, die aus der schwarzen Jungfrau das Symbol der Urmaterie macht, an welcher die Sucher nach jenem Stein der Weisen arbeiten, der, wie wir sahen, nichts anderes ist als der Gral. Und überlegen Sie einmal, woher wohl jenem anderen großen Erben der Druiden, dem Propheten Mohammed, die Inspiration zu dem schwarzen Stein von Mekka gekommen ist.. In Chartres hat man die Krypta zugemauert, die in jenen unterirdischen Raum führt, wo sich die ursprüngliche heidnische Statue noch befindet, aber wer gut sucht, kann in der Kathedrale noch eine schwarze Jungfrau finden, Notre-Dame du Pilier, skulptiert von einem noch onanistisch geprägten Kanonikus. Die Statue hält den magischen Zylinder der großen Odinspriesterinnen in der Hand, und zu ihrer Linken ist der magische Kalender dargestellt, auf dem einst — ich sage einst, denn diese Skulpturen haben sich leider nicht vor dem Vandalismus der orthodoxen Kanoniker retten können — die heiligen Tiere Odins zu sehen waren: der Hund, der Adler, der Löwe, der Weiße Bär und der Werwolf. Andererseits ist es keinem Erforscher der gotischen Esoterik entgangen, dass es dort — ich spreche noch immer von Chartres — auch eine Statue gibt, die den Kelch des Grals in der Hand trägt. Ach, meine Herren, wenn man die Kathedrale von Chartres noch zu lesen wüsste, ohne den Touristenführern katholisch-apostolisch-römischer Provenienz zu folgen, aber mit dem Vermögen zu sehen, ich meine mit den Augen der Tradition zu sehen, ich sage Ihnen, die wahre Geschichte, die jene Festung Ereks erzählt... «
»Okay, und jetzt die Popelicans. Wer sind die?«
»Es sind die Katharer. Einer der Schmähnamen, die man jenen Ketzern gegeben hat, war Popelicans oder Popelicant. Die Katharer in Okzitanien sind vernichtet worden, ich bin nicht so naiv, an ein Treffen in den Ruinen von Montségur zu glauben, aber die Sekte ist nicht tot, es gibt eine ganze Geografie des okkulten Katharertums, das sogar Dante hervorgebracht hat, und die Dichter des dolce stil nuovo und die Sekte der Fedeli d'Amore. Das fünfte Treffen ist irgendwo in Norditalien oder in Südfrankreich.«
»Und das letzte Treffen?«
»Nun, wo ist der älteste, heiligste und stabilste aller keltischen Steine, das Sanktuar der Sonnengottheit, das privilegierte Observatorium, in dem die Nachfahren der Templer von Provins, ans Ziel ihres Planes gelangt und nunmehr vereint, die von den sechs Siegeln verhüllten Geheimnisse miteinander vergleichen können, um endlich herauszufinden, wie sich die ungeheure Macht ausnutzen lässt, die der Besitz des Heiligen Grals verleiht? In England natürlich, es ist der magische Kreis von Stonehenge! Was sonst?«
»O basta la«, sagte Belbo. Nur ein Piemontese kann die Gemütslage verstehen, in der man diesen Ausdruck höflichen Staunens vorbringt Keines seiner Äquivalente in anderen Sprachen oder Dialekten (Was Sie nicht sagen! Dis donc! Are you kidding?) kann das souveräne Desinteresse wiedergeben, den Fatalismus, mit dem er die unerschütterliche Überzeugung bekräftigt, dass die andern allesamt, und rettungslos, Kinder einer unbeholfenen Gottheit sind.
Aber der Oberst war kein Piemontese und schien geschmeichelt von Belbos Reaktion.
»Ja, sehen Sie? Das ist der Plan, das ist die Ordonation in ihrer wunderbaren Schlichtheit und Kohärenz. Und beachten Sie Folgendes: Nehmen Sie eine Karte von Europa und Asien, ziehen Sie die Linie, der die Etappen des Planes folgen, vom Norden, wo die Burg steht, nach Jerusalem, von Jerusalem nach Agarttha, von Agarttha nach Chartres, von Chartres an die Küsten des Mittelmeers und von da nach Stonehenge. Heraus kommt eine Zeichnung, eine Rune etwa in dieser Form.«
The Seal of Focalor
aus A. E. Waite, The Book of Black Magic, London 1898
»Und was ist das?«, fragte Belbo.
»Das ist dieselbe Rune, die einige der wichtigsten Zentren der templerischen Esoterik idealiter miteinander verbindet: Amiens, Troyes, das Reich des heiligen Bernhard an den Rändern des Forèt d'Orient, Reims, Chartres, Rennes-le-Château und den Mont Saint-Michel, eine weitere uralte druidische Kultstätte. Und dieselbe Zeichnung erinnert auch an das Sternbild der Jungfrau.«
»Ich bin zwar nur Dilettant in Astronomie«, sagte Diotallevi schüchtern, »aber soweit ich mich erinnere, sieht die Jungfrau ganz anders aus und hat elf Sterne... «
Der Oberst lächelte nachsichtig: »Meine Herren, meine Herren, Sie wissen besser als ich, dass alles davon abhängt, wie man die Linien zieht, und dass man sie dann als Wagen oder als Bär betrachten kann, ganz nach Belieben, und wie schwer es zu entscheiden ist, ob ein Stern noch zu einer Konstellation gehört oder nicht mehr. Sehen Sie sich die Jungfrau noch einmal an, betrachten Sie Spika als unteren Punkt, entsprechend der provencalischen Küste, nehmen Sie insgesamt nur fünf Sterne, und die Ähnlichkeit wird sie frappieren.«
»Man muss nur entscheiden, welche Sterne man weglässt«, sagte Belbo.
»Genau«, bestätigte der Oberst.
»Hören Sie«, sagte Belbo, »wie können Sie ausschließen, dass die Treffen planmäßig stattgefunden haben und die Ritter bereits an der Arbeit sind, ohne dass wir es wissen?« »Ich sehe nirgendwo die Symptome, und erlauben Sie mir zu sagen: leider. Der Plan ist unterbrochen worden, vielleicht sind diejenigen, die ihn zu Ende fuhren sollten, nicht mehr da, vielleicht haben die Gruppen der Sechsunddreißig sich im Zuge einer weltweiten Katastrophe aufgelöst. Doch eine Handvoll Beherzter, die die richtigen Informationen hätte, könnte die Fäden wieder aufnehmen. Jenes Etwas ist noch da. Und ich suche nach den richtigen Männern. Deshalb will ich das Buch veröffentlichen: um Reaktionen hervorzurufen. Und gleichzeitig versuche ich mich in Kontakt mit Leuten zu setzen, die mir helfen können, die Antwort in den Mäandern des traditionellen Wissens zu suchen. Gerade heute wollte ich den größten Experten in diesen Dingen treffen. Doch leider, obwohl eine Leuchte, hat er mir nichts sagen können, auch wenn er sich sehr für meine Geschichte interessierte und mir ein Vorwort versprochen hat... «
»Entschuldigen Sie«, sagte Belbo, »aber war es nicht ein bisschen unklug, Ihr Geheimnis jenem Herrn anzuvertrauen? Sie selbst haben doch von Ingolfs Fehler gesprochen... «
»Ich bitte Sie«, antwortete der Oberst, »Ingolf war ein armer Tropf. Ich habe mich mit einem über jeden Verdacht erhabenen Gelehrten in Verbindung gesetzt. Einem Mann, der keine voreiligen Hypothesen wagt. Was Sie schon daran ersehen können, dass er mich gebeten hat, mit der Präsentation meines Werkes in einem Verlag lieber noch zu warten, bis er alle strittigen Punkte geklärt habe... Nun, ich wollte mir seine Sympathie nicht verscherzen und habe ihm nicht gesagt, dass ich zu Ihnen gehen würde, aber Sie werden verstehen, dass ich, in dieser Phase meiner Bemühungen angelangt, mit Recht ungeduldig bin. Jener Herr... ach, zum Teufel mit der Zurückhaltung, ich möchte nicht, dass Sie mich für einen Aufschneider halten. Es handelt sich um Rakosky... « Er machte eine Pause und wartete auf unsere Reaktion. »Um wen?« enttäuschte ihn Belbo.
»Na, um den großen Rakosky! Eine Autorität in der Traditionsforschung, Exdirektor der Cahiers du Mystère!« »Ah«, sagte Belbo. »Ja, mir scheint, Rakosky, sicher... « »Eh bien, ich behalte mir vor, meinen Text endgültig zu überarbeiten, nachdem ich noch einmal die Ratschläge jenes Herrn angehört habe, aber ich möchte die Sache beschleunigen, und wenn ich einstweilen zu einer Einigung mit Ihrem Hause käme... Ich wiederhole, die Sache ist eilig, ich muss Reaktionen wecken, Hinweise sammeln... Es gibt Leute, die Bescheid wissen und nicht reden... Bedenken Sie nur, meine Herren: genau 1944, obwohl ihm aufgeht, dass er den Krieg verloren hat, beginnt Hitler von einer Geheimwaffe zu sprechen, die ihm erlauben soll, die Lage zu wenden. Es heißt, er sei verrückt gewesen. Und wenn er nun nicht verrückt war? Können Sie mir folgen?« Auf seiner Stirn glänzten Schweiß tropfen, und sein Schnurrbart sträubte sich fast, wie bei einer Katze. »Kurzum«, schloss er, »ich werfe den Köder aus. Wir werden ja sehen, ob jemand anbeißt.«
Nach allem, was ich von Belbo damals wusste und dachte, hätte ich nun erwartet, dass er den Oberst mit ein paar höflichen Sätzen hinauskomplimentieren würde. Statt dessen sagte er: »Hören Sie, Oberst, die Sache klingt hochinteressant, ganz unabhängig von der Frage, ob es ratsam für Sie ist, mit uns oder lieber mit einem anderen Verlag abzuschließen. Sie haben doch hoffentlich noch zehn Minuten Zeit, nicht wahr?« Dann wandte er sich an mich: »Für Sie ist es spät, Casaubon, ich habe Sie schon lange genug aufgehalten. Vielleicht sehen wir uns morgen, ja?«
Es war eine Entlassung. Diotallevi fasste mich unter den Arm und sagte, er müsse auch gehen. Wir verabschiedeten uns. Der Oberst gab Diotallevi einen warmen Händedruck und warf mir ein knappes Kopfnicken zu, begleitet von einem kühlen Lächeln.
Während wir die Treppe hinuntergingen, sagte Diotallevi: »Sicher fragen Sie sich, warum Belbo Sie hinausgeschickt hat. Nehmen Sie's nicht als Unhöflichkeit. Er muss dem Oberst ein sehr diskretes Angebot machen. Die Diskretion ist eine Anordnung von Signor Garamond. Ich verziehe mich auch, um keine Verlegenheit aufkommen zu lassen.«
Wie ich später begriff, versuchte Belbo, den Oberst der Hydra Manuzio in den Rachen zu werfen.
Ich schleppte Diotallevi zu Pilade, wo ich einen Campari trank und er einen Rabarbaro. Das schien ihm, sagte er, mönchisch, archaisch und quasi templerisch.
Ich fragte ihn, was er von dem Oberst hielt.
»In Verlagen«, sagte er, »fließt aller Schwachsinn der Welt zusammen. Aber da im Schwachsinn der Welt die Weisheit des Höchsten aufblitzt, betrachtet der Weise den Schwachsinnigen mit Demut.« Dann entschuldigte er sich, er müsse gehen. »Heute Abend habe ich ein Festmahl.«
»Eine Party?«, fragte ich.
Er schien verstört ob meiner Seichtheit. »Sohar«, präzisierte er. »Lech Lechah. Noch ganz unverstandene Seiten.«
21
... des grâles, der sô swaere wigt daz in diu valschlîch menscheit nimmer von der stat getreit.
([der] Gral [] wiegt so schwer, daß ihn die ganze sündige Menschheit nicht von der Stelle rücken könnte)
Wolfram von Eschenbach, Parzival, IX, 477
Der Oberst hatte mir nicht gefallen, aber er hatte mich interessiert. Man kann auch lange und fasziniert einen Gecko betrachten. Ich war dabei, die ersten Tropfen des Giftes zu kosten, das uns alle ins Verderben führen sollte.
Am folgenden Nachmittag ging ich wieder zu Belbo, und wir sprachen ein wenig über unseren Besucher. Belbo meinte, er sei ihm wie ein Mythomane vorgekommen. »Haben Sie gesehen, wie er diesen Rokoschki oder Raskolski erwähnte, als wäre es Kant?«
»Na, und dann sind das doch alte Geschichten«, sagte ich. »Ingolf war ein Irrer, der daran glaubte, und der Oberst ist ein Irrer, der an Ingolf glaubt.«
»Vielleicht hatte er gestern daran geglaubt, und heute glaubt er an was anderes. Ich will Ihnen was sagen: Bevor ich ihn gestern wegschickte, habe ich ihm eine Verabredung für heute Vormittag mit ... mit einem anderen Verlag arrangiert, einem gefräßigen Verlag, der jedes Buch druckt, wenn es der Autor selbst finanziert. Er schien begeistert. Na, und vorhin erfahre ich, dass er gar nicht hingegangen ist. Dabei hatte er mir die Fotokopie der chiffrierten Botschaft hiergelassen, hier, sehen Sie. Er lässt das Geheimnis der Templer einfach so rumliegen, als wär's nichts! Diese Leute sind so.«
In dem Augenblick klingelte das Telefon. Belbo nahm ab. »Ja? Am Apparat, ja, Verlag Garamond. Guten Tag. Bitte ... Ja, er ist gestern Nachmittag hergekommen, um mir ein Buch anzubieten ... Entschuldigen Sie, über Verlagsangelegenheiten kann ich prinzipiell nicht sprechen, wenn Sie mir bitte sagen würden ...«
Er hörte ein paar Sekunden zu, dann sah er mich plötzlich kreideweiß an und sagte: »Der Oberst ist umgebracht worden oder so was in der Art.« Dann wieder in den Apparat: »Entschuldigen Sie, ich sprach gerade mit Casaubon, einem Mitarbeiter, der gestern bei dem Gespräch mit dabei war ... Ja, Oberst Ardenti ist hergekommen, um uns von einem Projekt zu erzählen, das er im Auge hat, eine Geschichte, die ich für reine Fantasterei halte, über einen angeblichen Schatz der Templer. Das waren Ordensritter im Mittelalter ...«
Instinktiv legte er eine Hand über den Hörer, als wollte er das Gespräch abschirmen, dann sah er, dass ich ihn beobachtete, nahm die Hand weg und sagte zögernd: »Nein, Doktor De Angelis, dieser Herr hat von einem Buch gesprochen, das er schreiben wollte, aber nur ganz vage ... Wie? Alle beide? Jetzt gleich? Geben Sie mir die Adresse.«
Er legte auf. Blieb ein paar Sekunden lang schweigend sitzen, nervös mit den Fingern auf den Schreibtisch trommelnd. »Tja, Casaubon, entschuldigen Sie bitte, ich hab Sie ganz unbedacht in die Sache mit reingezogen. Die Nachricht hat mich so überrascht. Es war ein Kommissar, ein gewisser De Angelis. Scheint, dass der Oberst in einer Pension gewohnt hat, und jemand sagt, er hätte ihn heute Nacht dort tot aufgefunden ...«
»Sagt? Und dieser Kommissar weiß nicht, ob es stimmt?«
»Ja, klingt komisch, aber der Kommissar weiß es nicht. Scheint, dass sie meinen Namen und die Verabredung gestern mit mir in einem Notizbuch gefunden haben. Ich glaube, wir sind ihre einzige Spur. Was soll ich Ihnen sagen? Kommen Sie, fahren wir hin.«
Wir riefen ein Taxi. Unterwegs nahm mich Belbo am Arm. »Casaubon, vielleicht ist es ja nur ein Zufall. Jedenfalls mein Gott, vielleicht denke ich ja verquer, aber bei uns zu Hause sagte man immer ›besser keine Namen nennen‹ ... Es gab da so ein Krippenspiel, im Dialekt, das ich als Kind gesehen habe, so eine fromme Farce mit Hirten, bei denen man nicht recht wusste, ob sie aus Bethlehem waren oder aus den Hügeln von Asti ... Die drei Könige aus dem Morgenland kamen und fragten den Hirtenjungen, wie sein Padrone heißt, und er sagte: Gelindo. Als Gelindo das hörte, nahm er seinen Stock und gab dem Jungen eine Tracht Prügel, weil man, wie er sagte, keine Namen vor irgendwelchen Dahergelaufenen nennt.. Also jedenfalls, wenn Sie einverstanden sind: der Oberst hat uns nichts von Ingolf und von der Botschaft aus Provins erzählt.«
»Wir wollen ja nicht wie Ingolf enden«, sagte ich und versuchte zu lächeln.
»Ich wiederhole, es ist sicher bloß eine Dummheit. Aber aus gewissen Sachen hält man sich lieber raus.«
Ich erklärte mich einverstanden, blieb aber beunruhigt. Schließlich war ich ein Student, der an Demonstrationen teilnahm, und eine Begegnung mit der Polizei machte mir Unbehagen. Wir gelangten zu der Pension. Keine der besseren, ziemlich weit draußen. Vor dem Haus Polizisten. Sie dirigierten uns sofort zu dem Appartement — wie sie es nannten — des Oberst Ardenti. Auf der Treppe weitere Polizisten. Sie führten uns in Nummer 27 (sieben und zwei macht neun, dachte ich). Zimmer mit Bett, Vorraum mit Tischchen, Küchenecke, Bad mit Dusche, ohne Vorhang, durch die halb offene Tür war nicht zu sehen, ob es auch ein Bidet gab, aber in einer Pension wie dieser war das wahrscheinlich der erste und einzige Komfort, den die Gäste verlangten. Fade Möblierung, nicht viel persönliches Zeug, aber alles wüst durcheinander, jemand musste in großer Eile Schränke und Koffer durchwühlt haben. Vielleicht die Polizei, mit den Beamten in Zivil und denen in Uniform zählte ich insgesamt zehn Personen.
Ein noch ziemlich junger Typ mit ziemlich langen Haaren kam uns entgegen. »Ich bin De Angelis. Doktor Belbo? Doktor Casaubon?«
»Ich bin nicht Doktor, ich studiere noch.«
»Studieren Sie, studieren Sie. Wenn Sie nicht Ihren Doktor machen, werden Sie nie zur Polizei gehen können, und Sie ahnen ja gar nicht, was Ihnen da entgeht.« Er wirkte genervt. »Entschuldigen Sie, aber fangen wir gleich mit den nötigen Präliminarien an. Hier, dies ist der Pass, der dem Bewohner dieses Zimmers gehörte, ausgestellt auf einen Oberst Ardenti. Erkennen Sie ihn?«
»Er ist es«, sagte Belbo. »Aber helfen Sie mir, mich zurechtzufinden. Am Telefon habe ich nicht verstanden, ob er tot ist oder ...«
»Ich wäre froh, wenn Sie mir das sagen könnten«, knurrte De Angelis mit einer Grimasse. »Aber ich denke, Sie haben das Recht, etwas mehr zu erfahren. Also, dieser Signor Ardenti, oder Oberst oder was er war, ist vor vier Tagen hier abgestiegen. Sie werden gemerkt haben, es ist nicht gerade das Grand Hotel. Es gibt einen Portier, der um elf schlafen geht, weil die Gäste Hausschlüssel haben, dann zwei bis drei Zimmermädchen, die morgens kommen, um die Betten zu machen, und einen versoffenen Alten, der als Hausdiener fungiert und den Gästen Getränke bringt, wenn sie klingeln. Versoffen, ich wiederhole es, und verkalkt: ihn zu verhören war eine Qual. Der Portier behauptet, dass er gern nachts als Gespenst durch die Flure schleicht und schon manchen Gast erschreckt hat. Gestern Abend so gegen zehn sieht der Portier den Ardenti nach Hause kommen, zusammen mit zwei Herren, die er mit raufnimmt. Hier kümmert man sich nicht mal drum, wenn einer 'ne ganze Bande von Transvestiten mit aufs Zimmer nimmt, also wieso dann um zwei normale Typen, auch wenn sie, wie der Portier meint, einen ausländischen Akzent hatten. Um halb elf klingelt Ardenti nach dem Alten und lässt sich 'ne Flasche Whisky, ein Mineralwasser und drei Gläser bringen. Gegen eins oder halb zwei hört es der Alte dann erneut aus Nummer 27 klingeln, schrill und stoßweise, sagt er. Aber so, wie wir ihn heute Morgen vorfanden, muss er um die Zeit schon 'ne ganze Menge intus gehabt haben, und nicht vom Besten. Er steigt rauf, klopft, hört keine Antwort, schließt mit seinem Passepartout auf, findet alles durcheinander, so wie's jetzt ist, und auf dem Bett den Oberst, mit aufgerissenen Augen und einer Drahtschlinge um den Hals. Der Alte rennt runter, weckt den Portier, keiner der beiden hat Lust, noch mal raufzugehen, sie greifen zum Telefon, aber die Leitung ist tot Heute Morgen funktionierte sie bestens, aber wollen wir's ihnen mal glauben. Darauf läuft der Portier zu der Telefonzelle auf dem kleinen Platz an der Ecke, um die Polizei zu verständigen, während der Alte sich zu dem Haus gegenüber schleppt, wo ein Arzt wohnt. Alles in allem brauchen sie etwa zwanzig Minuten, kommen zurück, warten unten ganz verstört, der Doktor hat sich inzwischen angezogen und kommt fast gleichzeitig mit der Polizeistreife. Sie gehen zu Nummer 27 rauf, und im Bett ist niemand.«
»Wie niemand?«, fragte Belbo.
»Nichts, keine Leiche, das Bett ist leer. Daraufhin geht der Arzt wieder nach Hause, und meine Kollegen finden bloß das, was Sie hier sehen. Sie befragen den Alten und den Portier, mit dem Ergebnis, das Sie kennen. Wo sind die zwei Herren geblieben, die um zehn mit dem Ardenti raufgegangen waren? Keine Ahnung, sie konnten auch zwischen elf und eins gegangen sein, und niemand hätte es gemerkt. Waren sie noch im Zimmer, als der Alte reinkam? Keine Ahnung, er war nur eine Minute drin und hat weder in die Küchenecke noch ins Bad gesehen. Hätten sie sich mit der Leiche verdrücken können, als die beiden Unglücksraben draußen waren, um Hilfe zu holen? Schon möglich, es gibt eine Außentreppe, die zum Hof führt, und von da kommt man durch eine Hintertür in eine Seitenstraße. Aber vor allem, war überhaupt eine Leiche da gewesen, oder war der Oberst womöglich um Mitternacht mit den beiden Typen weggegangen, und der Alte hat alles bloß geträumt? Der Portier wiederholt, es wäre nicht das erste Mal, dass der Alte weiße Mäuse gesehen hätte, einmal hätte er eine Dame nackt am Fenster erhängt gesehen, und dann sei sie 'ne halbe Stunde später frisch wie 'ne Rose nach Hause gekommen. Auf dem Klappbett des Alten hätte man so ein Pornoheftchen gefunden, vielleicht sei ihm die schöne Idee gekommen, mal raufzuschleichen und durchs Schlüsselloch in das Zimmer der Dame zu spähen, und dann hätte er einen Vorhang gesehen, der sich im Zwielicht bewegte ... Das einzig Sichere ist: das Zimmer befindet sich nicht in normalem Zustand, und der Ardenti ist verschwunden. Aber jetzt habe ich schon zu lange geredet Jetzt sind Sie an der Reihe, Doktor Belbo. Die einzige Spur, die wir haben, ist ein Zettel, der hier neben dem Tischchen am Boden lag: 14 Uhr, Hotel Principe e Savoia, Mr. Rakosky; 16 Uhr, Garamond, Doktor Belbo. Sie haben mir bestätigt, dass er bei Ihnen war. Nun sagen Sie mir, was passiert ist.«
22
al des grâles pflihtgesellen von in vrâgens niht enwellen.
(Die Gralsritter wollten nicht mehr befragt werden)
Wolfram von Eschenbach, Parzival, XVI, 819
Belbo fasste sich kurz: er wiederholte, was er dem Kommissar schon am Telefon gesagt hatte, ohne weitere Einzelheiten von Belang. Der Oberst habe uns eine obskure Geschichte erzählt, etwas von einem Schatz, dessen Spuren er in gewissen Dokumenten in Frankreich gefunden hätte, aber Genaueres habe er nicht verraten. Anscheinend glaube er, ein gefährliches Geheimnis entdeckt zu haben, und wolle es publik machen, um nicht der Einzige zu sein, der davon weiß. Er habe angedeutet, dass andere vor ihm, die das Geheimnis entdeckt hätten, auf mysteriöse Weise verschwunden seien. Die Dokumente habe er nur zeigen wollen, wenn ihm ein Vertrag zugesichert würde, aber er, Belbo, könne niemandem einen Vertrag zusichern, bevor er nicht etwas gesehen habe, und so seien sie mit einer vagen Verabredung auseinandergegangen. Der Oberst habe noch ein Treffen mit einem gewissen Rakosky erwähnt und gesagt, es handle sich um den ehemaligen Direktor der Cahiers du Mystère. Er wolle ihn um ein Vorwort bitten. Anscheinend habe Rakosky ihm geraten, mit der Publikation noch abzuwarten. Der Oberst habe ihm nicht gesagt, dass er zu Garamond gehen wollte. Das sei alles.
»Gut, gut«, sagte De Angelis. »Welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht? «
»Er ist uns ziemlich exaltiert vorgekommen, und er hat auf eine Vergangenheit, sagen wir: etwas nostalgischer Art angespielt, auch auf eine Zeit in der Fremdenlegion.«
»Dann hat er Ihnen die Wahrheit gesagt, wenn auch nicht die ganze. In gewisser Hinsicht hatten wir schon ein Auge auf ihn, ohne uns allzu viel Mühe zu machen. Von solchen Fällen haben wir viele ... Also, Ardenti war nicht sein richtiger Name, aber er hatte einen regulären französischen Pass. Seit ein paar Jahren kam er ab und zu kurz nach Italien, und wir hatten ihn, ohne sicher zu sein, als einen gewissen Capitano Arcoveggi identifiziert, der 1945 in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Kollaboration mit der SS, um ein paar Leute nach Dachau zu schicken. Auch in Frankreich hatte man ein Auge auf ihn, er war einmal wegen Betrugs angeklagt und hatte sich gerade noch rausreden können. Wir nehmen an, nehmen an, wohlgemerkt, dass er derselbe ist, der unter dem Namen Fassotti letztes Jahr von einem Kleinindustriellen aus Peschiera Borromeo angezeigt worden war. Er hatte ihm eingeredet, im Corner See liege noch Mussolinis legendärer Dongo-Schatz, er habe die Stelle identifiziert und brauchte bloß ein paar Zigmillionen Lire, für zwei Taucher und ein Motorboot.. Kaum hatte er die Moneten eingesackt verschwand er auf Nimmerwiedersehen. Nun bestätigen Sie mir, dass er die Schatzsuchermanie hatte.«
»Und dieser Rakosky?«, fragte Belbo.
»Schon überprüft. Im Principe e Savoia ist ein Rakosky, Wladimir abgestiegen, mit einem französischen Pass. Vage Beschreibung, distinguierter Herr. Dieselbe Beschreibung wie von dem Portier hier in der Pension. Bei der Alitalia heißt es, er hätte heut morgen den ersten Flug nach Paris genommen. Ich habe Interpol verständigt. He, Annunziata, ist schon was aus Paris gekommen?«
»Noch nichts, Dottore.«
»Na fein. Also dieser Oberst Ardenti, oder wie er heißt, kommt vor vier Tagen nach Mailand, wir wissen nicht, wie er die ersten drei Tage verbringt, gestern Nachmittag um zwei trifft er vermutlich den Rakosky im Hotel, aber er sagt ihm nicht, dass er zu Ihnen gehen will, und das finde ich interessant. Abends kommt er hierher, wahrscheinlich mit Rakosky und einem anderen Typ, und von da an wird alles ganz unklar. Auch wenn die beiden ihn nicht umgebracht haben, durchsuchen sie sicher das Appartement. Was suchen sie? In der Jacke ... ach ja, wenn er ausgegangen ist, muss er in Hemdsärmeln ausgegangen sein, denn die Jacke mit dem Pass ist noch da, aber glauben Sie nicht, dass die Sache damit einfacher wird, denn der Alte sagt, er hätte ihn mit der Jacke auf dem Bett liegen sehen, aber vielleicht war's ja auch nur eine Hausjacke, Herrgott, mir scheint, ich bin hier in einem Käfig voller Narren ... also in der Jacke, sagte ich, hatte er Geld genug, fast zu viel ... Demnach haben sie etwas anderes gesucht Und die einzige gute Idee haben Sie mir gegeben: Der Oberst hatte Dokumente. Wie sahen sie aus?«
»Er hatte einen braunen Ordner«, sagte Belbo.
»Mir kam er rot vor«, sagte ich.
»Braun«, beharrte Belbo. »Aber vielleicht täusche ich mich.«
»Ob braun oder rot«, sagte De Angelis, »hier ist er jedenfalls nicht mehr. Die beiden Herren von gestern Abend müssen ihn mitgenommen haben. Also muss es um diesen Ordner gehen. Meines Erachtens wollte Ardenti gar kein Buch veröffentlichen. Er hatte irgendwelches Material zusammengetragen, um Rakosky zu erpressen, und wollte ihn mit Verlagskontakten unter Druck setzen. Das würde zu ihm passen. Aber man könnte auch noch andere Hypothesen aufstellen. Die zwei gehen weg, nachdem sie ihn bedroht haben, Ardenti kriegt Angst, schnappt sich den Ordner, lässt alles andere liegen und macht sich Hals über Kopf aus dem Staub. Und vorher macht er womöglich, wer weiß aus welchen Gründen, den Alten glauben, er wäre ermordet worden ... Aber das ist alles viel zu romanhaft und würde das Durcheinander nicht erklären. Andererseits, wenn die zwei ihn umbringen und den Ordner entwenden, warum entwenden sie dann auch die Leiche? Naja, wir werden ja sehen. Entschuldigen Sie, ich bin leider gezwungen, Ihre Personalien aufzunehmen.«
Er drehte meinen Studentenausweis zweimal in der Hand. »Sie studieren Philosophie, eh?«
»Wir sind viele«, sagte ich.
»Sogar zu viele. Und Sie beschäftigen sich mit diesen Templern ... Sagen Sie, wenn ich mich über diese Leute informieren wollte, was müsste ich dann lesen?«
Ich nannte ihm zwei allgemein verständliche, aber einigermaßen seriöse Bücher. Sagte ihm, dass er darin zuverlässige Informationen bis zum Prozess finden würde, aber danach sei alles Gefasel.
»Aha, verstehe«, sagte er. »Nun also auch die Templer. Eine Gruppe, die ich noch nicht kannte.«
Der vorhin angesprochene Annunziata erschien mit einem Telegramm: »Hier ist die Antwort aus Paris, Dottore.«
Er las. »Na bestens. In Paris ist dieser Rakosky unbekannt, aber seine Passnummer entspricht derjenigen eines vor zwei Jahren gestohlenen Dokuments. Damit hätten wir glücklich alles beisammen. Monsieur Rakosky existiert nicht. Sie sagen, er war Direktor einer Zeitschrift ... wie hieß sie noch gleich?« Er notierte sich den Namen. »Wir werden das überprüfen, aber ich wette, dass auch die Zeitschrift nicht existiert, oder sie hat ihr Erscheinen seit wer weiß wie lange schon eingestellt. Gut, meine Herren. Danke für Ihre Mitarbeit, vielleicht muss ich Sie noch mal belästigen. Ach ja, noch eine letzte Frage. Hat dieser Ardenti irgendwie durchblicken lassen, dass er Verbindungen zu politischen Gruppen hat?«
»Nein«, sagte Belbo. »Er machte eher den Eindruck, als hätte er die Politik aufgegeben, um sich der Schatzsuche zu widmen.«
»Und der Überlistung von Unbedarften«, ergänzte der Kommissar. Dann wandte er sich an mich: »Ihnen hat er nicht gefallen, denke ich mir.«
»Mir gefallen Typen wie er nicht«, sagte ich. »Aber es kommt mir nicht in den Sinn, sie mit Drahtschlingen zu erwürgen. Höchstens idealiter.«
»Natürlich. Ist realiter auch zu anstrengend. Aber keine Angst, Signor Casaubon, ich gehöre nicht zu denen, die alle Studenten für Kriminelle halten. Gehen Sie beruhigt Ihrer Wege. Viel Glück bei der Promotion.«
Belbo hatte noch eine Frage: »Entschuldigen Sie, Kommissar, nur um zu kapieren — sind Sie von der Mordkommission oder von der Politischen?«
»Gute Frage. Mein Kollege von der Mordkommission ist gestern Nacht hergekommen. Dann haben sie in den Archiven etwas über die Vergangenheit des Ardenti gefunden und die Sache mir übertragen. Ich bin von der Politischen. Aber ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob ich hier der richtige bin. Das Leben ist nicht so einfach wie in den Kriminalromanen.«
»Dachte ich mir«, sagte Belbo und gab ihm die Hand.
Wir gingen, und ich war nicht beruhigt. Nicht wegen des Kommissars, der mir in Ordnung schien, sondern weil ich zum ersten Mal in meinem Leben mitten in einer obskuren Affäre steckte. Und gelogen hatte. Und Belbo mit mir.
Wir verabschiedeten uns auf der Straße vor seinem Büro und waren beide verlegen.
»Wir haben nichts Schlimmes getan«, sagte Belbo schuldbewusst. »Ob der Kommissar nun von Ingolf und den Katharern weiß oder nicht, macht kaum viel Unterschied. Das waren doch alles bloß Spinnereien. Vielleicht musste Ardenti aus ganz anderen Gründen verschwinden, da gäbe es Tausende. Vielleicht ist Rakosky vom israelischen Geheimdienst und hat eine alte Rechnung beglichen. Vielleicht ist er von irgendeinem großen Boss geschickt worden, den der Oberst reingelegt hatte. Vielleicht war er ein alter Kamerad aus der Fremdenlegion mit einem Hass auf ihn. Vielleicht war er ein algerischer Killer. Vielleicht war die Sache mit dem Templerschatz bloß eine Nebenaffäre im Leben unseres Obristen. Jaja, ich weiß schon, der Ordner ist weg, ob rot oder braun. Das haben Sie übrigens gut gemacht, dass Sie mir da widersprochen haben, so war's klar, dass wir ihn nur flüchtig gesehen hatten ...«
Ich schwieg, und Belbo wusste nicht, wie er schließen sollte.
»Sie werden sagen, ich wäre erneut weggelaufen ... wie damals in der Via Larga.«
»Unsinn. Wir haben es richtig gemacht. Auf Wiedersehen.«
Er tat mir leid, weil er sich feige vorkam. Ich kam mir nicht feige vor, mir war beigebracht worden, dass man die Polizei belügt. Grundsätzlich. Aber so ist es nun mal, das schlechte Gewissen vergiftet die Freundschaft.
Nach jenem Tage sah ich Belbo lange nicht mehr. Ich war sein schlechtes Gewissen und er das meine.
Aber damals gelangte ich zu der Überzeugung, dass ein Student in jedem Falle verdächtiger ist als ein Promovierter. Ich arbeitete noch ein weiteres Jahr und füllte zweihundertfünfzig Ordner mit Material über den Templerprozess. Es waren Jahre, in denen die Promotion noch als Prüfstein für loyale Befolgung der Gesetze des Staates galt, und man wurde mit Nachsicht behandelt.
In den folgenden Monaten fingen dann einige Studenten zu schießen an, die Zeit der großen Demonstrationen im Freien ging zu Ende.
Ich war knapp an Idealen. Aber ich hatte ein Alibi: durch meine Liebe zu Amparo liebäugelte ich mit der Dritten Welt. Amparo war schön, klug, Brasilianerin, Marxistin, enthusiastisch, cool, hatte ein Stipendium und ein herrlich gemischtes Blut. Alles zugleich.
Kennengelernt hatte ich sie auf einer Party, und impulsiv hatte ich zu ihr gesagt: »Entschuldige, aber ich würde gern mit dir schlafen.«
»Du bist ein dreckiger Macho.«
»Dann vergiss es.«
»Ich vergesse es nicht. Ich bin eine dreckige Feministin.«
Sie musste zurück nach Brasilien, und ich wollte sie nicht verlieren. Sie war es, die mich in Kontakt mit einer Universität in Rio brachte, wo ein Lektor für Italienisch gesucht wurde. Ich bekam die Stelle für zwei Jahre, mit der Aussicht auf Verlängerung. Und da mir Italien allmählich ein bisschen eng wurde, nahm ich an.
Und außerdem, sagte ich mir, würde ich in der Neuen Welt keinen Templern begegnen.
Illusionen, dachte ich vorgestern Abend im Periskop. Als ich die Stufen zu Garamond hinaufstieg, war ich in den Palast eingedrungen. Also sprach Diotallevi: Binah ist der Palast, den Chochmah sich errichtet, indem sie sich ausdehnt aus dem ursprünglichen Punkt. Wenn Chochmah die Quelle ist, so ist Binah der Fluss, der ihr entspringt, um sich dann zu teilen in seine vielerlei Arme, bis alle sich schließlich ins große Meer der letzten Sefirah ergießen — und in Binah sind alle Formen schon vorgeformt.