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Da war etwas anderes gewesen: Irenes Stimme, ihr Warnruf, der Revolver in Frazer Braddens Faust, die Detonation und Jacobs Sprung aus der Schußlinie.
War er trotzdem getroffen worden?
Er wußte nur noch, daß die Felsen an ihm vorbeirasten. Felsen - und dann diese Büsche, die in sein Gesicht peitschten, seinen Körper einhüllten.
Danach ein Aufschlag, trotz der Abfederung durch die Büsche hart.
Die Folgen waren überwältigender Schmerz und dunkle Nacht in seinem Kopf.
Aber die Nacht hatte nicht alles ausgelöscht. Er erinnerte sich an eine Stimme, die seinen Namen rief, laut, verzweifelt, immer und immer wieder.
Oder hatte er das nur geträumt? So wie er häufig von ihr träumte - von Irene.
Irene!
Der Gedanke an sie veranlaßte Jacob, seine Augen zu öffnen. Ungewohnte Helligkeit blendete ihn. Ein Zeichen, daß die Nacht in seinem Kopf sehr lange gedauert hatte.
Dann sah er Steine von seltsamer Farbe: tief rot!
Niemals zuvor hatte Jacob solche Steine gesehen. Weder während der dreijährigen Walz durch Deutschland noch auf seiner Reise quer durch Nordamerika.
Er hob den Kopf und nahm dafür neue starke Schmerzen in Kauf, als trample ein Ochse auf seinem Schädel herum. Jetzt sah er mehr von den Steinen um sich herum und erkannte, daß nur die in seiner unmittelbaren Umgebung rot waren.
Plötzlich begriff er, daß es keine natürlich Färbung des Gesteins war, sondern sein eigenes getrocknetes Blut.
Jacob blickte sich um, und sein Atem stockte. Unter ihm war der Abgrund, und er lag auf einer kleinen Felsplatte, etwa fünf, sechs Yards unter dem Gebüsch, das aus der steilen Wand wuchs und sein Leben gerettet hatte.
Der Weg in den Abgrund war ungefähr genauso lang wie der Weg nach oben. Jacob brach bei diesem Gedanken in Gelächter aus, aber es wurde nur ein heiseres Keuchen daraus.
War es nicht komisch, daß er in Gedanken von einem Weg sprach? Dabei gab es keinen Weg, nur eine zerklüftete Steilwand.
Und Hilfe?
Jacob spähte nach oben, gegen die blendende Sonne, kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
Dort war niemand, nicht Irene und nicht die Leute aus Greenbush. Niemand, der nach ihm Ausschau hielt und nach ihm rief.
Nur die Sonne, die bereits weit nach Westen gewandert war. Also war es später Nachmittag. Jacobs persönliche Nacht hatte viele Stunden gedauert.
Panik ergriff von dem jungen Deutschen Besitz.
Sie hatten ihn im Stich gelassen, selbst Irene! In einer Lage, aus der er sich nicht selbst befreien konnte.
Das einzige, was er tun konnte, war sterben - auf zwei Arten: Er konnte einfach in die Tiefe springen oder liegenbleiben, bis er verdurstete oder vielleicht auch verblutete, denn noch immer benetzte frisches Blut die Felsen.
Ein Ruck ging durch den großen Körper, und Jacob spannte jeden Muskel an. Die Energie, die ihn alle bisherigen Fährnisse hatte überstehen lassen, ließ nicht zu, daß er sich einfach in sein Schicksal ergab.
Er dachte an die vielen überwundenen Schwierigkeiten, die schon in Deutschland begonnen hatten. Die Mühe, überhaupt auf ein Auswandererschiff zu kommen! Die stürmische Fahrt über den Atlantik, die mehr als einmal zu Scheitern verurteilt schien. Und dann die vielen Abenteuer, die in der Neuen Welt auf den jungen Zimmermann gewartet hatten.
Dabei hatte er sein Ziel noch längst nicht erreicht, seine Familie noch nicht wiedergefunden. Noch nicht einmal Irene und Jamie hatte er heil bei Carl Dilger abgeliefert.
Der Gedanke an die junge Frau und ihren kleinen Sohn ließ ihn vollends wieder zu sich kommen.
Nein, Irene hatte ihn bestimmt nicht im Stich gelassen -nicht freiwillig! Daß sie und Jamie den Leuten aus Greenbush jetzt schutzlos ausgeliefert waren; war für Jacob eher mit schlechten als mit guten Gedanken verbunden.
Er mußte ihnen helfen!
Aber wie?
Es gab nur zwei Möglichkeiten: Aufstieg oder Abstieg. Beide Strecken waren ungefähr gleich lang und gleich gefährlich. Aber was sollte er unten im Canyon? Das vergrößerte nur die Distanz zu dem Wagentreck.
Also Aufstieg!
Diesen Entschluß gefaßt zu haben, versetzte ihn in Euphorie. Die Euphorie, etwas zu tun, um aus seiner mißlichen Lage zu kommen, um Irene und Jamie beizustehen.
Aber als er sich die Felsen über sich näher betrachtete, erhielt die Euphorie einen schnellen Dämpfer.
Jenseits der Büsche mochte ein Mensch, der im Klettern geübt war - und das war Jacob als Zimmermann -, einigermaßen Halt finden. Aber zwischen der kleinen Felsplatte, auf der er lag, und den Büschen war die Wand so fest und glatt wie das Eis in der Heimat, wenn die Winterkälte selbst die Elbe zufrieren ließ.
Jacobs Geist arbeitete fieberhaft - und fand eine Lösung für das Problem. Er zog sich aus, Jacke und Hemd, dann Stiefel und Hose.
Jede Bewegung bereitete ihm neue Schmerzen. Er biß die Zähne zusammen und verbannte jeden Gedanken daran, wie es erst während der Kletterpartie sein würde.
Jacob war froh, daß er Schnürstiefel trug. Er band sie mittels der langen Schnürsenkel aneinander und hängte sie dann um seinen Hals.
Ohne das dicke Leder um seine Füße konnte er besser klettern. Zwar würde ihn das Gewicht beim Aufstieg behindern, aber er würde die Stiefel brauchen, wenn er oben ankam.
Falls er oben ankam, berichtigte er sich in Gedanken.
Dann verknotete er Hose, Hemd und Jacke zu einem festen Seil mit einer großen Schlaufe, die aus seinem Gürtel bestand. Mehrmals zerrte er an der Schlaufe und an dem behelfsmäßigen Seil, um die Haltbarkeit zu prüfen.
Er stellte sich gerade an der Felswand auf und wagte den ersten Wurf. Als er mit dem rechten Arm Schwung holte, und das Schlingenende loslies, fuhr ein wahnsinniges Stechen in seine rechte Schulter. Sein unkontrolliertes Zusammenzucken brachte die Schlinge aus der Bahn. Sie verfehlte das Gebüsch um ein ganzes Stück, fiel wieder nach unten und klatschte traurig auf den Rand der Felsplatte.
Erschöpft lehnte Jacob sich mit dem Rücken gegen den glatten Fels und holte tief Atem. Wenn ihm dieser Wurf schon solche Anstrengung bereitete, wie sollte er dann die Kletterpartie überstehen?
Besorgt blickte er in den Himmel. Langsam, aber unablässig wanderte die Sonne westwärts. In die Richtung, in die vermutlich auch der Treck mit Irene und Jamie verschwunden war.
Wenn es sich nicht beeilte, würde er den Aufstieg heute nicht mehr schaffen. Eine ganze Nacht würde ihm verloren gehen.
Aber es konnte noch schlimmer kommen: Falls das Tageslicht mitten in seinem Aufstieg verlosch, war das sein Todesurteil. Doch warten wollte er nicht - wegen Irene und Jamie. Ein zweites Mal warf er die Schlinge. Jetzt war er auf den Schmerz in seiner rechten Schulter vorbereitet und ließ sich von ihm nicht beeinflussen.
Die Schlinge rutschte über das Buschwerk und blieb auf ein paar dicken Ästen liegen.
Sie lag nur locker auf den Büschen. Ganz vorsichtig zog Jacob an seinem seltsamen Seil, wobei er die Gürtel schlinge nicht aus den Augen ließ. Stück für Stück rutschte sie an den Ästen hinunter. Mehrmals verfing sie sich im Zweigwerk, und Jacob mußte das Seil hin und her ziehen, um sie wieder loszumachen. Dann lag sie endlich dicht an der Felswand, und er zog sie durch heftiges Zerren am Seil zusammen.
Er dachte an den abbröckelnden Boden, der ihn in diese fast ausweglose Lage gebracht hatte. Falls die Büsche in ebenso lockerem Erdreich saßen, konnte es seinen Tod bedeuten, wenn er sein ganzes Gewicht an das Seil hängte.