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Aber Irene war nicht eingeschüchtert. Ihre Verzweiflung und ihre Angst um Jacob waren dazu viel zu groß.
Sie trat jetzt auf den Treck-Captain zu und fragte mit stark zitternder, sich fast überschlagender Stimme: »Sie wollen Jacob also wirklich dort liegen lassen, Bradden? Ich kann das nicht glauben!«
»Glauben Sie es nur«, krächzte Bradden.
Er bleckte die gelben, jetzt blutverschmierten Zähne.
Dann hob er die Stimme, so daß alle ihn hören konnten, und verkündete: »Wir können gar nicht anders handeln. Es würde zuviel Zeit kosten, da hinunterzuklettern. Wir haben jetzt schon mehr Zeit verloren, als uns lieb sein kann! Denkt doch an die Krieger der Nez Perce, die uns vielleicht schon auf den Fersen sind. Und denkt an Ebenezers Frau, die schnell in ärztliche Behandlung muß. Wessen Leben sind mehr wert, die von Carol und uns allen oder das eines Indianerfreundes?«
»John hat recht«, unterstützte ihn sein Bruder. »Wir müssen das Vieh zusammentreiben, und dann nichts wie weg. Es sind schon genug von uns gestorben!«
Auch Fred Myers sprach sich dafür aus, den Lagerplatz sofort zu verlassen. Der einzige, der Bedenken dagegen zu haben schien, war Ebenezer Owen.
Irene sah ihn an und bettelte: »Mr. Owen, das dürfen Sie nicht zulassen. Tun Sie doch etwas, bitte!«
»Ich kann nichts tun«, antwortete der bärtige Mann traurig. »John ist unser Captain. Und die Mehrheit steht hinter ihm, wie Sie eben gehört haben, Lady.« Er warf einen Blick auf den noch immer reglosen Jacob. »Außerdem ist Ihr Freund wahrscheinlich tot. Je eher Sie sich an diesen Gedanken gewöhnen, desto besser. Er wird sich das Genick gebrochen haben und sämtliche Knochen dazu.«
Irene konnte sich nicht daran gewöhnen. Sie wußte, daß sie das niemals können würde. Der Gedanke, daß Jacob nicht mehr lebte, war ihr so fremd wie nur irgend etwas.
»Wenn Sie ihm nicht helfen, muß ich es eben allein tun«, sagte sie leise, fast mehr zu sich selbst. »Lassen Sie mir wenigstens Seile da, damit ich zu ihm hinab kann.«
»Das können Sie nicht machen, Lady!« rief Owen erschrocken. »Sie werden abstürzen und auf dem Boden der Schlucht landen. Was soll dann aus Ihrem Kleinen werden?«
»Aber.«, begehrte Irene auf.
Sie verstummte wieder und dachte über Owens Worte nach. An ihnen war etwas Wahres.
Auch wenn es um Jacob ging, durfte sie ihren hilflosen Sohn der Gefahr aussetzen, ganz allein in der Wildnis elend zugrunde zu gehen?
Sie fand keine befriedigende Antwort auf diese Frage. Wofür sie sich auch entschied, einem der beiden geliebten Menschen tat sie unrecht.
Ein Unrecht, daß ihm das Leben kosten konnte.
John Bradden enthob sie der schweren Pflicht, eine Antwort auf diese Frage zu finden, als er sagte: »Natürlich kommt die Frau mit uns. Wir können sie und das Kind nicht den Wilden überlassen. Lewis, du übernimmst ihren Wagen!«
Sein Sohn nickte und sagte: »All right, Dad.«
»Und wenn ich mich weigere?« fragte Irene.
»Dann lasse ich Sie fesseln und einfach in den Wagen werfen«, antwortete der Captain kühl. Dann wandte er sich ab und brüllte seine Befehle zum Abbruch des Lagers.
Die Menschen aus Greenbush verfielen in fieberhafte Aktivität. Ein paar Männer gingen zur Weide und holten die Tiere, während die anderen die Wagen beluden. Das Scheppern von Geschirr mischte sich mit dem Wiehern und Muhen der Pferde, Maultiere und Ochsen. Und mit dem Geschrei der Menschen.
Irene hörte das alles wie aus unendlich weiter Ferne oder wie durch einen dichten Nebel, der die Geräusche zu verschlucken drohte.
Sie blieb am Rand der Schlucht stehen und schrie immer wieder Jacobs Namen in die Tiefe, getrieben von der verzweifelten Hoffnung, doch noch eine Antwort zu erhalten. Ihre bangen Augen starrten auf den reglosen Körper, gewillt, auch die winzigste Bewegung zu registrieren.
Aber Jacob antwortete nicht.
Er rührte sich nicht, lag einfach nur da, lang ausgestreckt, mit dem Gesicht auf dem Felsen.
Wie tot.
Die Wagen waren bereit zur Abfahrt. Männer kamen, um Irene zu holen. Ebenezer Owen war bei ihnen und legte vorsichtig seine Hände auf Irenes Schultern.
»Hören Sie doch endlich auf, nach ihm zu rufen«, sagte er. »Sie sind schon ganz heiser, Lady. Es hat doch keinen Sinn. Ihr Freund ist tot, glauben Sie mir.«
Tot.
Dieses eine, kurze, verhängnisvolle Worte spukte in Irenes Kopf herum, als sie neben Lewis Bradden auf dem Fahrerkasten ihres Wagens saß.
Als der Treck der Verdammten sich in Bewegung setzte und den Lagerplatz verließ.
Als sie Jacob allein zurückließ, ohne Hilfe. Den Mann, der ihr immer treu zur Seite gestanden hatte, seit sie die Reise nach Amerika angetreten hatte.
Sie wurde das Gefühl nicht los, daß sie ihn im Stich ließ. Gleichgültig, ob er noch lebte oder nicht. Sie hätte sich vergewissern müssen.
Irene fühlte sich, als sei ein Teil von ihr selbst gestorben. Durch das Handeln der Menschen aus Greenbush wurde sein Tod gewiß. Denn wenn Jacob zu diesem Zeitpunkt noch lebte, ohne Hilfe konnte er es nicht überleben.
Das grauenvolle Wort ließ sie an nichts anderes mehr denken, tanzte wie irre in ihrem Kopf herum: Tot.
*
Die Welt bestand aus Schmerzen, Erinnerungsfetzen, Schmerzen und nochmals Schmerzen.
Erst ganz langsam setzten sich die Bruchstücke von Erinnerungen zu Bildern zusammen, die gegen die Schmerzen Bestand hatten, sie sogar ein wenig zurückdrängten.
Aber selbst der Versuch, die flüchtigen Erinnerungen festzuhalten, war schmerzhaft. Trotzdem versuchte er es. Er wußte, daß die Erinnerungen sein Leben bedeuteten. Ließ er sie los, begab er sich in die verlockenden Arme des Schlafes, der leicht ewiges Vergessen bedeuten konnte.
Mit Planen bedeckte Wagen zogen durch die dämmerige Welt der schemenhaften Gedanken. Eine endlose Schlange aus Holz und Planen, Ochsen, Maultieren, Pferden und Menschen, die unendlich langsam über ein riesiges Gebirge kroch - die Rocky Mountains.
Die Rockies?
Plötzlich wußte er, daß dies nicht die Erinnerungen waren, die mit seinen Schmerzen zu tun hatten. Es waren alte Erinnerungen. Auch sie waren mit Schmerzen verbunden, aber mit solchen, die er längst verwunden hatte. So wie er das große Felsengebirge überwunden hatte, das wie ein von Gott geschaffener Riegel den Weg ins Gelobte Land versperrte -nach Oregon.
Aber er war in Oregon. Auch hier waren Berge - ja, die Cascade Mountains. Und auch hier war er in einem Wagenzug gewesen, ein kleiner Zug nur, bestehend aus vier Wagen.
Greenbush!
Mit dem Namen der Siedlung, aus der die Wagen kamen, kehrte auch die Erinnerung an die Ereignisse zurück, aus denen seine Schmerzen resultierten.
Schmerzen, die vom Kopf bis zu den Zehen reichten und vor keinem Glied seines Körpers haltzumachen schienen.
Jacob erinnerte sich an den Streit mit dem Treck-Captain und an den gnadenlosen Kampf gegen John Bradden.
So gnadenlos und hart, daß er jetzt jeden Knochen im Leib spürte? Hatte der Mann mit der Narbe ihn derart zusammengeschlagen?