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Langsam hob sich der feuchte Nebel vom Boden empor und schwebte in langen Schwaden davon, die in phantastischen Gestalten die Höhen umflatterten und sich endlich unter einem leichten Lufthauche in die Ferne verloren. Die Sterne blickten vom klaren Himmel hernieder auf den einsamen Knaben, der schon so vieles und schweres erduldet und dort inmitten der pfadlosen Wildnis sich zur Ruhe gelegt hatte.
In wunderbarer Schönheit stieg Eos mit Rosenfingern empor - rötliche Glut hüllte die fernen Bergspitzen ein, so daß sie in überirdischem Schimmer weit in das Land hin leuchteten.
Über den Bergen erschien der Sonnenball und verwandelte mit seinen Strahlen die an Blätter und Grashalmen hängenden Tropfen in ein Meer glitzernder Brillanten. Still war es ringsumher, nur der Bach murmelte sein eintöniges und doch so melodisches Lied.
Endlich trafen die Sonnenstrahlen, die alles ringsumher verschönten und zu neuem Leben riefen, auch die Lider des stillen Schläfers und weckten ihn aus seinem ruhigen Schlummer.
Alonzo schlug die Augen auf - blickte um sich und erhob sich rasch, seine aus Zweigen bestehende feuchte Decke abschüttelnd. Sein erster Blick galt der Stellung der Sonne, sein zweiter dem Laufe des Baches.
Mit Schrecken erkannte er, daß dieser seine Richtung nach Süden nahm, daß er in seinem Bett, an seinem Ufer hingehend sich weit ab von der Straße entfernt hatte, die nach den Llanos führte, weit ab von dem Platze, den er den Gefährten seiner Flucht als Ort der Zusammenkunft bezeichnet hatte. Mit Schrecken dachte er dessen.
Er erkannte die Unmöglichkeit, den Ort der Zusammenkunft zu erreichen; er hoffte, daß ihre Tiere, die den Weg kannten, sie auch im Nebel weiter getragen haben würden, auf der Straße nach den Llanos.
Er blickte um sich.
Im fernen Hintergrunde ragten die steilen nackten Felshöhen, die er verlassen hatte, in Sonnenglut sich badend, rings um ihn erhoben sich waldige Hügel.
Seufzend beschloß Alonzo, seinen Weg allein fortzusetzen, er sah ein, daß er Fernando und dem Mestizen nicht mehr helfen konnte.
Er trank das Wasser des Baches und bändigte das nagende Gefühl des Hungers.
Dann nahm er seine Büchse auf, ging noch einige Zeit am Ufer des Baches her, in der Hoffnung ein seinen Hunger stillendes jagdbares Tier zu überraschen. Für diesen Fall war er entschlossen zu schießen, trotz der Gefahren, die das mit sich führen konnte. Nichts zeigte sich dem suchenden Auge.
Der Wald bestand aus Nadelhölzern, und Beeren oder Früchte, die seinen Hunger hätten stillen können, wuchsen hier nicht.
Nach einiger Zeit wandte sich der Bach nach Osten, das erfreute ihn, denn dort lagen die Llanos, dort lagen Leben, Freiheit und die Heimat. Er erkannte, daß er sich auf einer Hochebene befand, die nur schwach nach Osten abfiel.
Weiterschreitend sah er, aus den Büschen tretend, unerwartet ein gewaltiges Felsmassiv vor sich, dessen zerrissene Massen sich weit nach rechts und links ausdehnten; der Bach verlor sich in einer düsteren Spalte, deren schroff aufragende Wände sich nach oben hin verengten.
Alonzo stand und überlegte.
Sollte er die Felsen überklettern?
Allein er fühlte, daß seine Kraft nachließ und seine Füße waren bereits wund, zerrissen seine leichte Fußbekleidung aus Hirschleder.
Dem Wasser des Baches zu folgen war nicht ratsam, denn dessen Strömung wurde reißend, glatt war dessen Grund durch Gerölle und fast immer endeten diese Wasserläufe des Hochgebirges, da wo sie die Felsen durchbrechen, in jähem Absturz.
Er gewahrte an der Felswand, die zu seiner Rechten den Bach einfaßte, etwas wie einen schmalen Pfad auf einem vorspringenden Teil des Felsens.
Hier beschloß er den Durchgang zu versuchen. Bald umhüllte ihn die Dämmerung der schmalen Schlucht, deren Wände feucht waren. Unter ihm rauschte unheimlich das Wasser.
Gefährlich war der Pfad, jeder Fehltritt konnte den Tod bringen.
Schritt für Schritt legte der Knabe den Weg zurück, oft sich nur durch seinen Lasso vor dem Herabstürzen schützend. Lange währte die fast übermenschliche Anstrengung, die ungewöhnliche Kaltblütigkeit und großen Mut erheischte.
Mehrmals mußte er ruhen.
Endlich - endlich zeigte sich Tageslicht vor ihm, der Felsrücken war durchquert.
Der Weg, wenn man von einem solchen reden durfte, führte abwärts, und der Knabe sah eine von Bäumen durchsetzte freundliche Savanne vor sich, auf der Büsche und hohes Gras wuchsen. Er erreichte die Niederung und warf sich nieder, er war erschöpft.
Lange lag er so.
Dann erhob er sich, badete seine Füße in dem Wasser des Baches und umwickelte sie mit Streifen des Ponchos, die er mit zähen Gräsern befestigte.
Langsam schritt er dann weiter.
Trotz emsigen Suchens gelang es ihm nicht, pflanzliche Nahrungsmittel zu entdecken, und auch das Tierleben war hier gering. Er sah wohl hie und da kleinere Vögel, aber nirgends Spuren vierfüßiger Jagdtiere.
Der Hunger wurde ärger, der Knabe fühlte mehr und mehr seine Kräfte ermatten. Dennoch ging er weiter, oftmals auf seinem Wege ausruhend. Ohne Wimperzucken ertrug er die Schmerzen, die ihm seine wunden Füße bereiteten.
Bald stieg er tiefer, und die Vegetation um ihn ward eine andere, die Nadelhölzer zeigten sich nicht mehr, immergrüne Eichen und Platanen umgaben ihn, und höher und grüner wurde das Gras, durch das er schritt. Aber die Nacht kam und Alonzo mußte sich eine Schlafstätte bereiten. Er trug Blätter und Zweige nahe einer Sykomore zusammen, darauf legte er sich nieder und hungrig und erschöpft schlief er ein.
Matt erwachte er und setzte mit kranken Füßen mühsam seine Wanderung fort.
Er sah zu seinem Entzücken einen jungen Hirsch, der zur Tränke ging, eilig legte er die Büchse an die Wange, aber Hand und Auge waren unsicher. Der sonst so treffliche Schütze fehlte und das erschreckte Tier wurde flüchtig. Traurig schlich er weiter, sich begierig nach anderer Jagdbeute umsehend.
Er war endlich so erschöpft, daß er ruhen mußte.
Bald nach Mittag sah er ein langgestrecktes Felsental vor sich, das sich nach Osten öffnete, und ein warmer Lufthauch strömte ihm von unten entgegen.
Er ging hinein über Steingerölle hin, jeder Schritt bereitete ihm Qual.
Das Tal verlief in köstliche Wiesen, die von duftenden Wäldern umgeben waren. Aber er konnte sich des Anblicks nicht erfreuen, er war todesmatt und sank erschöpft am Fuße einer Eiche nieder. Die Luft war hier mild, wie er sie oben nur in abgeschlossenen Tälern kennen gelernt hatte, wenn die Sonne hoch stand.
Schwäche und Müdigkeit lullten ihn ein.
Am anderen Morgen vermochte er sich kaum zu erheben.
Aber mit Energie raffte er sich auf.
"Ich muß zu Wohnungen der Menschen kommen, sie wohnen am Abhange des Gebirges, ich weiß es."
Er schritt unsicher dahin, aber nach zwei Stunden mühevollen Marsches wollten ihn die durch Hunger und Anstrengung erschöpften Glieder nicht mehr tragen.
Er befand sich in einem Wiesental, das alte Bäume umgaben, zwischen denen Farnen und Schlingpflanzen wucherten. Er ließ sich an der Wurzel eines Baumes nieder, ihm war todeselend zu Mute.
"Muß ich hier sterben? So jung schon sterben? Mag es sein. Ich hatte wenig Freude auf der Erde. - O Vater, o liebe Mutter - bald werde ich bei euch sein."
Er versank in einen Zustand, der ihn der Außenwelt entrückte.
Wunderbare Träume von Glanz und Pracht durchfluteten tröstend sein armes Gehirn, er sah den Himmel vor sich offen und Melodien, süß und bestrickend, lullten ihn in Selbstvergessen ein.
Der laue Wind strich durch die Zweige der Bäume und die Blätter rauschten und flüsterten im Winde in jener geheimnisvollen Weise, die nur wenige der Sterblichen verstehen.
Beklagten sie den Knaben, der todesmatt zu ihren Füßen lag und die sonst so leuchtenden Augen vielleicht für immer geschlossen hatte?
Sangen sie ihm das Lied der Vergänglichkeit alles Irdischen?
Sie flüsterten und rauschten fort und fort.
"O, was sehe ich!" ließ eine rauhe Stimme sich vernehmen - "sieh dorthin, Felipe, dort liegt ein Toter."
Nach einiger Zeit sagte eine andere Stimme: "Nein, tot ist der Bursche nicht - er scheint ohnmächtig zu sein. Wie kommt der hierher?"
Alonzo vernahm diese Stimmen, wie aus weiter Ferne zu ihm dringend. Man schüttelte ihn und er schlug matt die Augen auf.
Verstört sah er sich um. Noch wirkten seine im wirren Hirn erzeugten Träume nach. Aber er sah den Himmel, die Bäume und die zwei Männer, die da vor ihm standen. Er war in diese Welt zurückgekehrt und mit dieser Erkenntnis empfand er auch wieder das ganze Elend seiner Lage.
"Oh" - stöhnte er leise - "bei der Liebe Gottes gebt - zu essen - erbarmt euch!"
"Der Junge ist dem Verschmachten nah - und ein hübscher kräftiger Bursche ist es."
"Dem können wir abhelfen."
Der eine der Männer setzte Alonzo eine kleine Flasche an die Lippen, die mit Wein gefüllt war und ließ ihn einen Schluck nehmen.
Der Jüngling fühlte, wie neues Leben durch seine Adern rann.
Dann reichte ihm derselbe Mann ein kleines Stück Maisbrot, das er vorher mit etwas Wein angefeuchtet hatte.
Alonzo aß. Einen gierigen Blick warf er auf das größere Stück in der Hand des Mannes, doch alsbald wandte er ihn auch wieder ab, trotz des nagenden Hungers, er fürchtete, unmännliche Schwäche zu verraten.
Mit klarerem Blicke sah er jetzt auch, daß zwei Männer in der Tracht der Montaneros vor ihm standen, die ein Maultier mit sich führten, das einen Saumsattel trug.
"Nur langsam, Muchacho - könnte dir schaden, zu viel auf einmal. Wie kommst du hierher? Hast dich verlaufen, wie?"
"Aus den Bergen," erwiderte schwach Alonzo.
"Kann mir's denken, sind nicht für jedermann die Berge."
Er gab ihm wieder Maisbrot und noch einen Schluck Wein. Alonzo fühlte mit Entzücken, welche Wirkung der Wein und die Nahrung ausübten.
"Du hast eine Büchse, wie ich sehe, verstehst sie auch zu gebrauchen, wie?"
Alonzo nickte.
"Nun, so kannst du nicht mehr zu Grunde gehen, hier in diesen Bergen ist Wild genug. Wo willst du denn hin, Knabe?"
"In die Llanos."
"Hm, ist noch weit genug. Erreichst aber bald Ansiedlungen, wo man dich gastfreundlich aufnehmen und dir weiterhelfen wird."
"Ihr habt mir das Leben gerettet, Sennores, ich war dem Tode nahe."
"Siehst du, der liebe Gott hat uns des Weges geschickt, solltest noch nicht sterben, Kind, mußt ihm dankbar sein."
"Ich bin es."
Wieder gab ihm der schwarzbärtige, bieder aussehende Mann etwas zu essen, der andere sah mit innigem Vergnügen zu. Beide sprachen dann leise miteinander.
"Wir müssen dich leider verlassen, Kind," sagte der, der ihn gespeist hatte, jetzt zu Alonzo, "haben wichtige Geschäfte, müssen die kostbare Chinarinde suchen. Wollen dir aber von unseren Nahrungsmitteln geben. Wenn du nach Osten gehst, triffst du bald Menschen. Mehr vermögen wir nicht zu tun."
"Ihr mögt mich getrost allein lassen, Sennores," sagte mit tiefer Dankbarkeit Alonzo, "schon fühle ich, wie die Kraft wiederkehrt, ich werde bald die Niederlassungen erreichen."
Sie legten Maisbrot, ein Säckchen mit Maismehl und einige Stücke getrockneten Fleisches neben ihn hin, die sie dem Packsattel ihres Tieres entnommen hatten, schüttelten ihm die Hand und empfahlen ihn dem Schutze des Allmächtigen. Dann zogen sie mit ihrem Maultiere davon und verschwanden im Walde.
In hoffnungsfreudiger Stimmung, an Leib und Seele gekräftigt, blieb Alonzo zurück.
Jetzt erst gewahrte er die Schönheit der Szenerie um sich her.
Trotz der Begierde nach Speise hatte er Willenskraft genug, sich zu bezwingen, einsehend wie gefährlich ihm deren Befriedigung werden könne. Aber mit neuer Lebenskraft ausgerüstet, sah er jetzt nach seiner Büchse, nach Pulverhorn und Kugelbeutel, und war befriedigt, sie in gutem Zustande zu finden.
Dann beschäftigte er sich mit seinen wunden Füßen.
Er kroch zu dem nahen Bache, wusch sie, hüllte sie in einen kühlenden Umschlag von Blättern und umwickelte sie wieder mit den Stücken des Poncho.
Von Zeit zu Zeit aß er einen Bissen.
Dann machte er sich ein Lager in den Büschen zurecht. Er mußte geduldig hier ausharren, bis seine Füße geheilt waren und sein Körper wieder Spannkraft erlangt hatte.
Von Zeit zu Zeit dachte er mit ernster Trauer seiner Gefährten auf der Flucht, hoffend, daß auch sie dem Tode entgangen seien.
Die Luft war milde, und hell schien die Sonne hernieder. Die Akazien und Weiden an dem Bache, die Farnen, die Blüten der Schlingpflanzen, der Fuchsien und Myrten, die Eichen und Platanen bildeten sein Entzücken; er war aus den finsteren Bergen des Hochgebirges in eine andere Welt geraten.
Gegen Abend sah er Hirsche am Bache, er hob die Büchse und erlegte jetzt mit sicherem Schusse einen Spießer. Er mußte frisches Fleisch, und mehr noch, neue Fußbekleidung haben.
Er kroch hin, nahm das Tier aus und schnitt aus der Decke Stücke heraus, die er, warm wie sie waren, mit der inneren Seite um die Füße legte und festband. Die Hirschhaut schmiegte sich so der Form des Fußes dauernd an.
Dann entzündete er Feuer, briet einige Stücke des jungen Hirsches und hielt ein köstliches Mahl. Ein Gefühl des Wohlbehagens durchströmte ihn und glücklich schlief er ein.