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Das Lachen blieb ihm im Halse stecken, als der Wagen plötzlich anhielt.
»O nein«, stöhnte Irene auf. »Schon wieder ein Zwischenfall.«
»Wahrscheinlich ist wieder ein Wagen im Morast steckengeblieben«, meinte Martin fast gleichgültig.
Sie warteten ab. Warteten auf den Ruf, der die Passagiere eines Wagens zum Aussteigen und Schieben aufforderte. Aber sie hörten diesen Ruf nicht. Ihr Wagen fuhr in der Mitte der langen Schlange. Vermutlich befand sich der liegengebliebene Wagen ziemlich weit vorn. Zu weit, um die Kommandos zu hören. Hinter ihnen konnte er kaum liegen, denn das hätte sie nicht aufgehalten.
Die Minuten verrannen, ohne daß etwas geschah. Gerade wollte sich Jacob bei ihrem Kutscher erkundigen, was los sei, als der vielstimmige Schrei der Fahrer ertönte, der Ochsen, Maultiere und Pferde dazu bringen sollte, sich für ihre menschlichen Herren anzustrengen.
Der Kastenwagen ruckte knarrend an und bewegte sich vorwärts, erst kaum merklich, dann immerhin so schnell, wie ein Mann normalerweise ging. Mehr war bei den schwer beladenen Wagen und dem aufgeweichten Boden nicht möglich.
Jacob kletterte zwischen Menschen, Kisten, Taschen und Säcken nach vorn, schlug die festgezurrte Plane ein Stück beiseite und fragte den Kutscher nach dem Grund des Aufenthalts.
»Drei Reiter sind zu uns gestoßen«, sagte der Alte kaum verstehbar, während er heftig ein großes Stück Kautabak in seinem Mund bearbeitete. »Jetzt ändern wir unsere Richtung, wie es aussieht.«
Als der Deutsche nach vorn sah, fand er die Aussage des Fahrers bestätigt. Der Kopf der Wagenschlange vollführte eine Drehung, der die Kolonne vom Lauf des Blue River wegführen würde. Und damit auch weg von Blue Springs, ihrem Ziel.
»Ich sehe einmal nach, was los ist«, sagte Jacob zu seinen Freunden im Wagen, kletterte ganz auf den Bock und sprang von dort hinunter in den Morast, in dem er fast bis zu den Knien versank. Nicht zum erstenmal an diesem Tag.
Die Wagen hatten den Boden zusätzlich aufgewühlt. Jacob beeilte sich, etwas von der Kolonne wegzukommen, bis er nur noch bis zum Rand seiner Stiefel im Schlamm stand.
Die unterschiedlichsten Wagen mit den unterschiedlichsten Zugtieren rumpelten an ihm vorbei. Plumpe Kastenwagen mit notdürftig übergespannten Planen. Große Conestogas, sogenannte Prärieschoner, die fast zu schwer für den aufgeweichten Boden waren. Geräumige Murphy-Wagen mit rundum geschlossener Verdeckplane und flachem Wagenbett. Kleine Dearborn-Wagen, die sich aufgrund ihres geringen Gewichts noch am leichtesten durch den Schlamm wühlten.
Die Fahrer beachteten Jacob kaum, so erschöpft waren sie von der langen, anstrengenden Fahrt, die nur zur Mittagsstunde durch eine kurze Rast unterbrochen worden war. Außerdem hatten sie sich so unter ihre Ölhäute und breitkrempigen Hüte verkrochen, daß jede Bewegung zur Seite einen unerwünschten Wasserstrom ins Gesicht oder in den Nacken zur Folge gehabt hätte.
Jacob zog seine Schirmmütze weit nach vorn, um sein Gesicht vor den großen, harten Tropfen zu schützen, die hagelartig in dichten Reihen auf das weite, offene Grasland niederprasselten. Bei Sonnenschein hätte er sich vielleicht bewundernd umgesehen, um alle Einzelheiten dieses immer wieder neuen Landes in sich aufzunehmen. Aber jetzt, wo der wolkenverhangene Himmel die Sonne aussperrte, sah alles nur öde und trostlos aus.
Mit weit ausholenden Schritten stapfte der junge Zimmermann nach vorn und überholte einen Wagen nach dem anderen. Egal ob Maultiere, Ochsen oder Pferde, alle Zugtiere waren in einen müden Trott verfallen, der es ihnen gerade noch erlaubte, die Wagen weiterzuziehen. Mühelos lief Jacob an ihnen vorüber, obwohl sich seine schweren Rindslederstiefel bei jedem Schritt am Boden festsaugten und sich erst nach kräftigem Ziehen mit einem lauten Schmatzen wieder lösten.
Eine innere Unruhe hatte ihn ergriffen und trieb ihn voran. Die plötzliche Kursänderung irritierte ihn - mehr noch, beunruhigte ihn. Seit er seine deutsche Heimat verlassen hatte und nach dem fernen Amerika aufgebrochen war, hatte er ein Gespür für gefährliche Situationen entwickelt. Dies hier schien eine zu sein, wenn ihn sein Gefühl nicht ganz und gar täuschte.
Bald sah er die vier Reiter, die ihre Pferde dicht beieinander hielten und die Kolonne anführten. Es sah so aus, als unterhielten sie sich angeregt. Noch konnte er durch die Regenschleier nur ihre groben Umrisse erkennen. Die drei, die er nicht kannte, mußten die Neuankömmlinge sein, die vor einigen Minuten zu dem Treck gestoßen waren. Der vierte Mann war Nate Collum, der irische Treckführer.
Collum hatte Jacob bemerkt, riß seinen knochigen Braunen herum und trieb ihn auf den Deutschen zu. Dicht vor dem Auswanderer hielt er an. Jacob sah eine Unzahl winziger Wassertropfen in seinem struppigen, roten Vollbart glitzern.
»Was wollen Sie schon wieder?« schrie der Treckführer gegen das Prasseln des Regens, das Knarren der Wagen und die anstachelnden Schreie der Fahrer an und stützte sich dabei so weit nach vorn aufs Sattelhorn, daß es aussah, als wollte er sich jeden Augenblick auf Jacob stürzen.
Jacob wäre davon nicht überrascht gewesen, denn während der Mittagsrast hatte er sich den stiernackigen Iren zum Feind gemacht.
Obwohl die Schiffahrtsgesellschaft, der die PRIDE OF MISSOURI gehörte, den Transport der Passagiere nach Blue Springs bereits bezahlt hatte, wollte Collum noch einmal bei den Fahrgästen abkassieren. Er drohte offen damit, alle, die nicht bezahlten, einfach in der unbewohnten Prärie zurückzulassen. Ein paar der Betroffenen zahlten daraufhin widerwillig.
Da mischten sich Jacob und Martin ein und bestanden darauf, daß Collum kein Anrecht auf zusätzlichen Lohn hätte. Als der Treckführer zur Waffe greifen wollte, sprang Jacob nach vorn, hob drohend seine großen Fäuste und fragte Collum, ob er nicht lieber einen ehrlich Kampf Mann gegen Mann wollte.
Aber Collum gab klein bei. Er sah, daß seine Passagiere, durch das Beispiel der beiden Deutschen ermutigt, geschlossen Front gegen ihm zu machen begannen, und gab die bereits einkassierten Gelder zurück. Trotz seiner gewaltigen Körperkräfte war er ein Feigling, der nur dann auftrumpfte, wenn er sich seines Sieges sicher war.
Seit diesem Vorfall war Nate Collum auf Jacob und Martin etwa so gut zu sprechen wie ein eingefleischter Südstaatler auf Präsident Lincoln.
»Was ist los?« schrie Jacob zurück. »Warum ändern wir unsere Richtung?«
»Weil die Brücke bei Lone Rock eingestürzt ist. Der Blue River ist dort so stark, daß er sie einfach weggerissen hat. Wir müssen Blue Springs auf dieser Seite des Flusses umgehen.«
»Dauert das nicht länger?«
»Etwa zwei Stunden. Der Weg führt durch felsiges, hügeliges Gelände und ist etwas beschwerlicher.«
»Woher wissen Sie das mit der Brücke?«
»Die drei haben es mir eben gesagt«, antwortete Collum und zeigte auf die anderen Reiter, die Jacob, obwohl er sie nur schemenhaft sah, auf unheimliche Weise bekannt vorkamen; dabei kannte der Auswanderer niemanden im Grenzgebiet zwischen Missouri und Kansas.
»Wer sind sie?«
Collum hob die breiten Schultern an und ließ sie wieder fallen. »Reisende, nehme ich an. Sie haben ihre Namen nicht genannt.« Der Blick aus seinen tückischen Augen wurde feindselig. »Warum stellen Sie so viele Fragen, Mr. Dutchman?«
»Weil es mir seltsam vorkommt, daß wir plötzlich unseren Kurs ändern. Weil es mir seltsam vorkommt, daß sich die Fremden nicht mit Namen vorgestellt haben. Und weil es mir seltsam vorkommt, daß sie jetzt mit uns reiten. Wo wollen sie denn hin?«
Collum kratzte überlegend an seiner Nase. »Hm, das haben sie so ausdrücklich nicht gesagt. Aber da sie uns begleiten wollen, wird ihr Ziel wohl auch Blue Springs sein.«
»Woher wissen sie dann das mit der eingestürzten Brücke?«
»Sie werden da gewesen sein und vergeblich versucht haben, bei Lone Rock über den Fluß zu kommen.«
»Und was machen sie hier? Wenn sie nach Blue Springs wollen, sind sie von Lone Rock aus genau in die entgegengesetzte Richtung geritten. Andernfalls hätten sie wohl kaum mit uns zusammentreffen können.«
Der Ire kratzte jetzt so heftig an seinem voluminösen Riechorgan, daß man befürchten mußte, er könnte es jeden Moment abreißen. »Verdammt, verflucht und zugenäht, bei meiner toten Großmutter, die daheim in Irlands kühler Erde liegt, das paßt tatsächlich nicht zusammen.«
»Ich würde sogar sagen, es stinkt zum Himmel. Und es riecht nach einer Falle.«
Unwillkürlich legte Collum die Rechte auf den Revolver an seiner Hüfte. »Da könnte was dran sein, Mr. Dutchman. Aber was machen wir jetzt?«
»Die Frage ist wohl eher, was die jetzt machen«, meinte Jacob und sah nach vorn, von wo die drei Fremden auf ihn und den Treckführer zugeritten kamen. Wahrscheinlich wunderten sie sich, wo Collum so lange blieb.
Als die Regenschleier ihre Gesichter nicht mehr verdeckten, erkannte Jacob die Reiter sofort. Alle waren noch recht jung, etwa in Jacobs Alter.
Der vorderste Reiter, groß, schlank, blaß, mit hoher Stirn und hellbraunem Haar, machte einen zurückhaltenden, fast schüchternen Eindruck. Aber das täuschte. Er konnte sehr gefährlich werden.
Rechts hinter ihm ritt ein noch jüngerer Mann, der die Familienähnlichkeit mit dem anderen nicht leugnen konnte; aber er wirkte nicht so scheu, sondern aggressiv. Ständig zwinkerte er mit seinen stahlblauen Augen. Als Jacob genauer hinsah, bemerkte er, daß sein linker Mittelfinger ein Stück kürzer als normal war; das letzte Glied fehlte. Der junge Bursche hatte es sich selbst abgeschossen, als Jacob aus dem Camp von Quantrills Freischärlern geflohen war.
Der dritte Reiter erinnerte mit seinem kräftigen Körperbau und dem roten Bart ein wenig an Collum, war nur etliche Jahre jünger.
Die Namen der drei Männer hatte sich ebenso wie ihr Aussehen unauslöschlich in Jacobs Gedächtnis gebrannt: Frank James, Jesse James und Cole Younger. Sie gehörten zu William Clarke Quantrills wilder Guerilla-Horde und hatten einen Anschlag auf Präsident Lincoln verübt, an dessen Scheitern Jacob einen gewissen Anteil hatte. Sie erkannten Jacob nur wenige Sekunden später.
Jesse James reagierte zuerst und riß den Revolver aus dem Lederholster an seiner rechten Hüfte. Der Regenumhang behinderte ihn, was Jacob Gelegenheit gab, Collum eine Warnung zuzurufen und hinter einen vorbeifahrenden Kastenwagen in Deckung zu laufen. Da bellte auch schon die Waffe auf, und das Blei spritzte an der Stelle in den Schlamm, an der Jacob eben noch gestanden hatte.
Nate Collum mochte den Deutschen nicht. Aber als dieser Fremde auf ihn schoß, wußte der Treckführer, daß die drei Reiter seine Feinde waren, nicht der >Dutchman<, wie er jeden Deutschen nannte. Er zog seinen 44er Dean Harding und richtete ihn auf den jungen Reiter, der auf den Deutschen geschossen hatte.
Doch der Bruder des Schießers, der schüchtern wirkende Mann namens Frank James, war schneller. Mit unbewegtem Gesicht schoß er den Treckführer aus dem Sattel.