129289.fb2 Vergangene Zukunft. Elf der besten Stories des weltber?hmten SF-Autors - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

Vergangene Zukunft. Elf der besten Stories des weltber?hmten SF-Autors - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

Der moderne Zauberer

Zu meiner unangenehmen Überraschung werde ich häufig beschuldigt, humorvoll zu schreiben. Oh, ja, ich versuche es, sicher, aber nur mit allergrößter Vorsicht, und eine Zeitlang war ich der Meinung, das würde ohnehin niemand bemerken.

Humor ist natürlich Geschmacksache. Man kann versuchen, spannend zu schreiben und den Ausgang der Erzählung bereits vorher andeuten. Dann hat man nur eine mäßig spannende Geschichte. Ebenso kann man eine mäßig romantische, eine mäßig aufregende, eine mäßig merkwürdige und sogar eine mäßige Science-Fiction-Geschichte schreiben.

Aber was passiert, wenn man gemäßigt humorvoll schreibt? Ist dann auch das Ergebnis nur mäßig humorvoll? Keineswegs! Die nicht ganz humorvolle Bemerkung, die nicht besonders geistreiche Antwort, die nicht übertrieben farcenhafte Episode wirken besonders öde, dumm und lächerlich.

So habe ich versucht, nur gelegentlich lustig zu sein, und auch dann nur auf sehr zurückhaltende, versteckte Art (wie in »Die verrückte Maschine«). Und wenn ich mich, selten genug, zu einer ganz und gar lustigen Erzählung aufgerafft habe, war ich jedesmal unzufrieden.

Und deshalb sind die meisten meiner Erzählungen ernst (wie Sie ja sicher bemerkt haben).

Aber ganz habe ich es nicht aufgegeben. Eines Tages versuchte ich mich auf Mr. Bouchers Anregung hin an einer Gil-bert-Sullivan-Parodie. Als ich sie beendet hatte, las ich sie noch einmal und mußte herzlich lachen.

Und so hatte ich also auch im humorvollen Metier Erfolg, zumindest aus meiner eigenen Sicht. Ich hatte mich nur in einen leicht übertriebenen, pseudo-viktorianischen Stil einarbeiten müssen, und dabei entdeckte ich, daß es mir gar keine Schwierigkeiten bereitete, lustig zu sein.

Sollte ich jetzt Karriere als Science-Fiction-Humorist machen? Natürlich nicht. Ich blieb auch weiterhin nur gelegentlich humorvoll und schreibe im übrigen ernste Geschichten. Damit fahre ich immer noch am besten.

Trotzdem schrieb ich um 1960 eine Serie Artikel für TV Guide, die rein humorvoll ist, und sie gefallen mir sehr. (Manchmal läßt es sich übrigens nicht ganz vermeiden, daß ich in der mir eigenen schlichten Art feststelle, wie zufrieden ich mit meinen Werken bin. Und warum sollte ich das nicht tun? Ist es denn denkbar, daß ich pro Woche siebzig Stunden an meinem Schreibtisch, verbringe, ohne daß mir die Produkte meiner Geistesarbeit gefallen? Das glauben Sie doch selbst nicht!)

Und jetzt ein abschließendes Wort zu »Der moderne Zauberer«. Es ist nicht nötig, daß man vorher Gilberts und Sullivans »Zauberer« liest, aber es wäre nett, wenn Sie es täten. Dann würden Sie nämlich meine Erzählung noch viel lustiger finden, und natürlich will ich nichts unversucht lassen, um ihr zum echten Durchbruch zu verhelfen.

Es hat mich schon immer verwirrt, daß Nicholas Nitely Junggeselle war, obwohl er das Amt eines Friedensrichters innehatte. Die Atmosphäre seines Berufs, sozusagen, konnte einer Heirat doch nur förderlich sein, und ich war stets sicher, daß er den zarten Banden der Ehe kaum würde entrinnen können.

Als ich neulich im Klub bei einem Gin Tonic davon zu sprechen begann, sagte er: »Vor einiger Zeit konnte ich gerade noch entkommen«, und er seufzte.

»Oh, tatsächlich?«

»Ein hübsches junges Mädchen, süß, intelligent, unschuldig, aber voll wilder Glut und überdies so verführerisch, daß sie sogar das Blut eines so alten Sonderlings, wie ich es bin, in Wallung bringen konnte.«

»Und warum hast du sie gehen lassen?«

»Ich hatte keine andere Wahl.« Er lächelte mich sanft an, und seine leicht gerötete, glatte Gesichtshaut, das glatte graue Haar, die leuchtenden blauen Augen, all das gab ihm das Aussehen eines beinahe Heiligen. »Weißt du, eigentlich war ihr Verlobter schuld ...«

»Ah, sie war schon mit einem anderen verlobt.«

»... und Professor Wellington Johns, der Endokrinologe, der sich nebenbei auch mit moderner Zauberei beschäftigt. Tatsächlich, es war so, daß .« Er seufzte, trank einen Schluck aus seinem Glas und wandte mir das freundliche, liebenswürdige Gesicht eines Menschen zu, der fest entschlossen ist, das Thema zu wechseln.

»Nitely, alter Junge, dabei kannst du es nicht bewenden lassen«, sagte ich unbarmherzig. »Jetzt will ich alles über dein wunderschönes Mädchen wissen - alles über die Sinnenfreuden, die du leichtfertig verspielt hast.«

Bei meiner letzten Bemerkung zuckte er zusammen (ich muß zugeben, daß diese Wortbildung auch zu meinen weniger gelungenen zählt), aber er beruhigte sich wieder und bestellte einen neuen Drink.

»Du mußt wissen«, begann er, »daß ich die Details erst später erfahren habe.«

Professor Wellington Johns hatte eine große, auffallende Nase, zwei aufrichtige Augen und ein ausgezeichnetes Talent, seine Kleidung stets eine Nummer zu groß erscheinen zu lassen.

»Meine lieben Kinder«, sagte er, »die Liebe ist eine rein chemische Angelegenheit.«

Seine lieben Kinder, die in Wirklichkeit seine Schüler waren und keineswegs seine leiblichen Kinder, hießen Alexander Dexter und Alice Sanger. Sie schienen ganz in der Chemie aufzugehen, wie sie so dasaßen, Hand in Hand. Ihr gemeinsames Alter betrug vielleicht fünfundvierzig Jahre (gleichmäßig aufgeteilt). Und jetzt mußte Alexanders unvermeidlicher Ausruf kommen.

»Vive la chemie!«

Der Professor lächelte mißbilligend.

»Eher die Endokrinologie. Nur die Hormone beeinflussen unsere Gefühle, und es ist nicht überraschend, daß ein spezielles Hormon das Gefühl hervorruft, das wir Liebe nennen.«

»Aber das ist so unromantisch«, murmelte Alice. »Ich bin sicher, daß ich keine Hormone brauche.« Sie warf Alexander einen sehnsüchtigen Blick zu.

»Mein liebes Kind«, sagte der Professor, »von dem Augenblick an, in dem Sie sich verliebten, wimmelte Ihr Blutkreislauf nur so von Hormonen. Ihre Absonderung wird stimuliert durch ...« Einen Augenblick lang bedachte er sehr sorgfältig seine Wortwahl, denn er war ein sehr moralischer Mann, ». durch einige Umwelteinflüsse, die insbesondere durch Ihren jungen Mann hervorgerufen werden, und sobald die hormonale Aktion stattgefunden hat, treibt Sie das Trägheitsgesetz dazu, folgerichtig zu handeln. Ich könnte diese Wirkung leicht verdoppeln.«

»Oh«, sagte Alice und errötete sanft, »wie reizend, wenn Sie das versuchen würden ...« Schüchtern drückte sie Alexanders Hand.

»Ich habe natürlich nicht gemeint«, sagte der Professor und räusperte sich, um seine Verwirrung zu verbergen, »daß ich persönlich versuchen würde, die Bedingungen zu reproduzieren oder zu verdoppeln, die die natürliche Absonderung der Hormone hervorbringt. Ich meine, ich könnte die Hormone durch eine Injektion oder sogar durch eine orale Einnahme in den Körper gelangen lassen, da es sich um Steroidhormone handelt.« Er nahm die Brille ab und putzte sie. »Ich habe diese Hormone isoliert und auf ihre Grundsubstanz zurückgeführt.«

Erstaunt richtete sich Alexander auf.

»Professor! Und Sie haben nichts davon gesagt?«

»Ich muß zuerst noch etwas mehr darüber in Erfahrung brin-gen.«

»Wollen Sie damit sagen . «, Alices braune Augen schimmerten vor Entzücken, ». daß Sie in den Menschen dieses wundervolle Gefühl, diese himmlische Zartheit wahrer Liebe durch - durch eine Pille erwecken können?«

»Ich kann diese Emotion, auf die Sie anspielen, sogar verdoppeln. Durch ziemlich banale Mittel.«

»Und warum tun Sie es nicht?«

Alexander hob protestierend die Hand.

»Aber Liebling! Deine Glut führt dich auf Irrwege. Unser eigenes Glück, unsere bevorstehende Hochzeit läßt dich gewisse Fakten des gewöhnlichen Lebens vergessen. Wenn eine verheiratete Person fälschlicherweise solche Hormone einnimmt .«

Mit einer Spur von Hochmut sagte Professor Johns: »Lassen Sie mich zuerst einmal erklären, daß meine Hormone oder meine amatogenen Prinzipien, wie ich sie nenne .« (denn wie viele praktizierende Wissenschaftler freute er sich an einer gewissen Verachtung für die verfeinerten Spitzfindigkeiten der klassischen Philologie).

»Nennen Sie es Liebestrank«, sagte Alice mit einem schmelzenden Seufzer.

»Meine amatogenen Prinzipien lassen sich auf verheiratete Personen nicht anwenden«, fuhr Professor Johns streng fort. »Die Hormone können nicht funktionieren, wenn sie durch andere Faktoren behindert werden, und die Ehe ist ganz sicherlich ein Faktor, der die Liebe behindert.«

»Ja, das habe ich gehört«, sagte Alexander schwermütig. »Aber ich habe vor, diesen gefühllosen Aberglauben zu widerlegen, was meine Alice betrifft.«

»Alexander«, sagte Alice, »mein Liebster!«

»Ich meine, daß die Heirat eine außereheliche Liebe behindert«, stellte der Professor fest.

»Nun, es ist mir schon zu Ohren gekommen, daß dies manchmal nicht der Fall ist«, warf Alexander ein.

Alice blickte ihn schockiert an.

»Alexander!«

»Es kommt nur selten vor, mein Liebes. Bei den Leuten, die nicht das College besucht haben.«

»Die Ehe kann vielleicht eine gewisse erbärmliche sexuelle Anziehung nicht verhindern«, sagte der Professor, »auch nicht Tendenzen zu einer minderwertigen Tändelei. Aber die wahre Liebe, wie Miß Sanger diese Emotion bezeichnete, kann nicht erblühen, wenn ständig der Gedanke an ein strenges Eheweib und ein paar lästige Kinder im Hintergrund steht.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Ihre Liebestränke - pardon, Ihre amatogenen Prinzipien -, wenn Sie sie verschiedenen Leuten wahllos verabreichen, nur bei den unverheirateten Personen wirken?« fragte Alexander.

»Ganz recht. Ich habe mit gewissen Tieren experimentiert, die monogame Gewohnheiten haben, obwohl sie nicht mit Bewußtsein den Ritus der Eheschließung erlebt haben. Bei den Tieren, die bereits einen bestimmten Partner hatten, wirkten die Hormone nicht.«

»Dann habe ich eine wunderbare Idee, Professor. Morgen findet im College ein Tanzabend statt. Es werden mindestens fünfzig Paare anwesend sein. Die meisten sind unverheiratet. Gießen Sie doch etwas von Ihrem Liebestrank in den Punsch!«

»Was? Sind Sie verrückt?«

Aber Alice hatte Feuer gefangen.

»Oh, das ist ein himmlischer Einfall, Professor! Der Gedanke, daß alle meine Freunde fühlen wie ich! Professor, Sie würden allen wie ein Engel vom Himmel erscheinen. Aber, Alexander, glaubst du nicht, daß sich die Gefühle vielleicht etwas unkontrolliert entwickeln könnten? Einige deiner Kollegen sind ein bißchen wild, und wenn sie dann in der Hitze ihrer soeben entdeckten Liebe die Mädchen - nun, ja - küssen .«

»Meine liebe Miß Sanger«, sagte Professor Johns indigniert, »ihre überhitzte Einbildungskraft verleitet Sie wohl zu gewis-sen Übertreibungen. Meine Hormone erwecken einzig und allein Gefühle, die zu Eheschließungen führen und keineswegs zu irgendwelchen unanständigen Handlungsweisen.«

»Es tut mir leid«, flüsterte Alice verwirrt. »Ich hätte daran denken sollen, daß Sie ein Mann von so hoher Moral sind, wie mir noch keiner begegnet ist - außer natürlich mein lieber Alexander. Und daß keine Ihrer wissenschaftlichen Entdek-kungen zur Unmoral führen könnte.«

Sie blickte den Professor so jammervoll an, daß er ihr sofort verzieh.

»Dann werden Sie es also tun, Professor?« fragte Alexander drängend. »Nachdem dann eine Massenhochzeit stattfinden wird, werde ich Sorge tragen, daß Nicholas Nitely, ein alter, geschätzter Freund meiner Familie, unter irgendeinem Vorwand anwesend ist. Er ist Friedensrichter und kann leicht all diese Formalitäten wie Heiratslizenzen und so weiter arrangieren.«

»Ich glaube, ich kann nicht zustimmen«, sagte der Professor, der offensichtlich bereits schwach wurde. »Ein Experiment ohne die Einwilligung der Betroffenen durchzuführen! Das wäre sehr unsittlich.«

»Aber Sie bereiten Ihnen doch nur Glück und Freude. Außerdem machen Sie sich um die moralische Atmosphäre auf dem College verdient. Glauben Sie mir, wenn dieser überwältigende Drang zur Eheschließung fehlt, dann passiert es manchmal sogar in einem College, daß die ständigen nahen Kontakte eine Gefahr heraufbeschwören, die ...«

»Ja, das stimmt«, sagte der Professor. »Nun, ich könnte es mit einer verdünnten Lösung versuchen. Jedenfalls werden die Resultate einen gewaltigen wissenschaftlichen Fortschritt erbringen und, wie Sie sagen, auch einen moralischen.«

»Und natürlich werden auch Alice und ich den Punsch trinken«, sagte Alexander.

»Oh, Alexander«, meinte Alice, »ich glaube nicht, daß unsere

Liebe einer künstlichen Nachhilfe bedarf.«

»Es wäre keinesfalls künstlich, mein Herz. Wie der Professor meint, wurde deine Liebe von einem solchen hormonellen Effekt hervorgerufen, allerdings unter mehr gebräuchlichen Umständen.«

Alices Wangen färbten sich rosig.

»Aber warum, mein Einziggeliebter, brauchen wir dann eine Wiederholung?«

»Um uns gegen alle Anfechtungen des Schicksals zu wappnen, mein Engel.«

»Mein Angebeteter, du zweifelst doch nicht etwa an meiner Liebe?«

»Sicher nicht, mein Herzblatt, aber ...«

»Aber? Vertraust du mir nicht, Alexander?«

»Natürlich vertraue ich dir, Alice, aber .«

»Aber? Schon wieder >aber<!« Alice erhob sich zornig. »Wenn Sie kein Vertrauen zu mir haben, Sir, dann gehe ich wohl lieber.« Und sie ging tatsächlich, während ihr die beiden Männer verdutzt nachstarrten.

»Ich fürchte«, sagte Professor Johns, »meine Hormone haben, natürlich indirekt, Ihre Heirat eher verdorben denn begünstigt.«

Alexander schluckte verzweifelt, aber sein Stolz hielt ihn aufrecht.

»Sie wird zurückkommen«, sagte er mit hohler Stimme. »Eine Liebe wie die unsere kann nicht so leicht zerbrechen.«

Der Tanzabend war natürlich das Ereignis des Jahres. Die jungen Männer glänzten, und die jungen Damen glitzerten. Einschmeichelnd durchschwebte die Musik den Saal, und die Füße berührten kaum den Boden. Die Freude war ungetrübt.

Oder sie war in den meisten Fällen ungetrübt. Alexander Dexter stand in einer Ecke, mit trübem Blick und eisigem Gesicht. So gut er auch aussah, kein einziges junges Mädchen näherte sich ihm. Es war wohlbekannt, daß er zu Alice Sanger gehörte, und unter diesen Umständen würde es keinem College-Mädchen im Traum einfallen, einer anderen den künftigen Ehemann wegzuschnappen. Aber wo war Alice?

Sie war nicht mit Alexander gekommen, und Alexanders Stolz verbot es ihm, nach ihr zu suchen. Er konnte nichts anderes tun, als unter halbgeschlossenen Lidern die kreisenden Paare wachsam zu beobachten.

Professor Johns näherte sich ihm. Er trug Gesellschaftskleidung, die nicht ganz nach Maß gemacht zu sein schien.

»Kurz vor dem Mitternachtstoast werde ich meine Hormone in den Punsch geben«, sagte er. »Ist Mr. Nitely noch hier?«

»Gerade habe ich ihn noch gesehen. In seiner Eigenschaft als Sittenwächter ist er sehr damit beschäftigt, dafür zu sorgen, daß die rechte Distanz zwischen den tanzenden Paaren gewahrt bleibt. Ich glaube, die Nähe, die gerade noch erlaubt ist, beträgt vier Finger. Mr. Nitely hat sehr eifrig die Messungen vorgenommen, die zu dieser Regel führten.«

»Sehr gut. Oh, ich hatte vergessen zu fragen, ob der Punsch Alkohol enthält. Alkohol würde nämlich eine völlig entgegengesetzte Wirkung meiner amatogenen Prinzipien hervorrufen.«

Obwohl Alexanders Herz so bitter schmerzte, fand er doch genug innere Haltung, um den, wenn auch unbeabsichtigten Verdacht, den man gegen seinen Stand hegte, entschieden von sich zu weisen.

»Alkohol, Professor? Dieser Punsch wurde streng nach den Prinzipien hergestellt, denen alle jungen College-Studenten unterworfen sind. Er enthält nur reinen Fruchtsaft, Zucker und eine gewisse Menge Zitronenschale.«

»Gut«, sagte der Professor. »Ich habe den Hormonen ein Beruhigungsmittel beigefügt, das die Subjekte unseres Experiments in Schlaf versetzen soll, während die Hormone wirken. Wenn sie erwachen, wird jeder das erste Individuum, das er erblickt - natürlich eine Person des anderen Geschlechts - mit einer reinen, edlen Glut lieben, die nur in einer Heirat enden kann.«

Als die Mitternachts stunde nahte, ging der Professor zwischen all den glücklichen Paaren hindurch, die fröhlich tanzten und einen vier Finger breiten Abstand voneinander hielten, und gelangte zu dem großen Punschgefäß.

Alexander, vor Verzweiflung den Tränen nahe, trat auf den Balkon. Dabei verfehlte er Alice, die im selben Augenblick durch eine andere Tür vom Balkon in den Ballsaal trat.

»Mitternacht!« rief eine fröhliche Stimme. »Prost! Prost auf all die Schönheiten des Lebens!«

Sie drängten sich um das Punschgefäß. Kleine Gläser wurden herumgereicht.

»Auf das Leben!« riefen sie, und mit dem ganzen Enthusiasmus junger College-Studenten tranken sie die feurige Mischung aus reinem Fruchtsaft, Zucker und Zitronenschale -und natürlich schluckten sie auch die Beruhigungsmittel und die amatogenen Prinzipien des Professors.

Als der Dunst in ihre Köpfe stieg, sanken sie langsam zu Boden.

Alice stand allein. Noch immer hielt sie ihr Glas in der Hand. Ihre Augen schimmerten feucht von unvergessenen Tränen.

»Oh, Alexander, Alexander! Wenn du auch an mir zweifelst, so bist du doch meine einzige Liebe. Du willst, daß ich trinke, und so werde ich trinken.« Dann sank auch sie anmutig zu Boden.

Nicholas Nitely suchte nach Alexander, um den er sich sorgte. Er hatte ihn ohne Alice ankommen sehen, und er konnte nur annehmen, daß zwischen den Liebenden ein Streit stattgefunden hatte. Er konnte es durchaus verantworten, die jungen Leute sich selbst zu überlassen. Immerhin waren sie keine wilden Jugendlichen, sondern College-Studenten und -Studentinnen, die hervorragenden Familien entstammten und eine gute Erziehung genossen hatten. Er konnte sich voll darauf verlassen, daß sie den vier Finger breiten Abstand einhalten würden.

Er fand Alexander auf dem Balkon. Schwermütig starrte der junge Mann zum sternenübersäten Himmel empor.

»Alexander, mein Junge!« Nicholas Nitely legte seinem jungen Freund die Hand auf die Schulter. »Ich erkenne dich nicht wieder. Sich so tiefen Depressionen hinzugeben! Aber, aber, mein Lieber!«

Alexanders Kopf senkte sich, als er die Stimme seines guten alten Freundes erkannte.

»Es ist unmännlich, ich weiß, aber ich sehne mich nach Alice. Ich war grausam zu ihr, und jetzt empfange ich meine gerechte Strafe. Und doch, Mr. Nitely, wenn Sie nur wüßten ...« Er preßte die geballte Rechte auf die Brust, in die Nähe seines Herzens. Die Stimme versagte ihm.

»Glaubst du, weil ich unverheiratet bin, so sind mir solche Gefühle fremd?« Nitely blickte den jungen Mann besorgt an. »Täusche dich nicht! Es gab Zeiten, wo auch ich wußte, was es heißt, mit gebrochenem Herzen zu lieben. Begehe nicht denselben Fehler wie einst ich! Möge dein Stolz nicht eure Wiedervereinigung verhindern. Suche sie, mein Junge, suche sie und entschuldige dich! Du darfst nicht ein einsamer, alter Junggeselle werden - wie ich.«

Alexanders Rücken straffte sich.

»Ich will tun, was Sie sagen, Mr. Nitely. Ich werde sie suchen.«

»Dann geh hinein. Ich glaube, kurz bevor ich herauskam, habe ich sie drinnen gesehen.«

Alexanders Herz sank.

»Vielleicht sucht sie gerade jetzt nach mir. Ich will gehen -doch nein! Gehen Sie zuerst, Mr. Nitely. Ich möchte noch etwas hier bleiben, um mich zu fassen. Ich will nicht, daß sie mich unmännliche Tränen vergießen sieht.«

»Natürlich, mein Junge.«

Nitely blieb erstaunt in der Tür zum Ballsaal stehen. Hatte eine allgemeine Katastrophe die jungen Leute zu Boden geworfen? Fünfzig Paare lagen auf dem Parkett, und manche lagen in höchst unanständiger Weise aufeinander.

Aber bevor er sich aufraffen konnte, um Alarm zu schlagen, die Polizei zu rufen, nachzusehen, ob es Tote gab, oder irgend etwas anderes zu tun, erhoben sie sich, kamen mühsam auf die Füße.

Nur eine Gestalt blieb liegen. Ein einsames Mädchen in Weiß. Ein Arm lag in graziöser Pose unter dem hübschen Kopf. Es war Alice Sanger, und Nitely eilte zu ihr. Er achtete nicht auf das Geschrei, das sich rings um ihn erhob, und sank auf die Knie.

»Miß Sanger! Meine liebe Miß Sanger! Sind Sie verletzt?«

Langsam öffnete sie ihre schönen Augen und sagte: »Mr. Nitely! Ich habe noch nie bemerkt, daß Sie so bezaubernd aussehen.«

»Ich?« Erschrocken wich Nitely zurück, aber sie hatte sich bereits erhoben. Ein Leuchten war in ihrem Blick, ein Glanz, wie ihn Nitely seit dreißig Jahren in keinem Mädchenauge mehr gesehen hatte - und in solcher Intensität überhaupt noch nie.

»Mr. Nitely, Sie werden mich doch nicht verlassen«, sagte sie.

»Nein, nein«, erwiderte Nitely verwirrt. »Wenn Sie mich brauchen, werde ich natürlich bleiben.«

»Ich brauche Sie. Ich brauche Sie von ganzem Herzen, mit ganzer Seele. Ich brauche Sie, wie eine dürstende Blume den Morgentau braucht. Ich brauche Sie, wie einst Thisbe ihren Pyramus.«

Noch immer wich Nitely zurück und blickte sich hastig um, ob vielleicht jemand diese ungewöhnliche Erklärung gehört hatte. Aber niemand schien ihn zu beachten. Soweit er vernehmen konnte, war die Luft erfüllt von Erklärungen ähnlicher

Art, und manche waren sogar noch entschiedener und direkter.

Sein Rücken stieß gegen eine Wand, und Alice kam ihm so nahe, daß das Vier-Finger-Gesetz sich in Nichts auflöste.

»Miß Sanger, bitte!« sagte Nitely bestürzt.

»Miß Sanger? Ich bin Miß Sanger für Sie?« rief Alice leidenschaftlich. »Mr. Nitely! Nicholas! Mach mich zu deiner Alice! Heirate mich!«

Von allen Seiten kamen nun die Rufe »Heirate mich! Heirate mich!«, und junge Männer und Mädchen drängten sich um Nitely, denn sie wußten, daß er Friedensrichter war.

»Trauen Sie uns, Mr. Nitely!« schrien sie. »Trauen Sie uns!«

Er konnte nur zurückschreien: »Ich muß erst einmal die Heiratslizenzen einholen!«

Sie traten zurück, um ihn seine Aufgabe erfüllen zu lassen. Nur Alice folgte ihm.

Nitely traf Alexander an der Balkontür und drängte ihn wieder hinaus in die frische Luft. Im selben Augenblick gesellte sich Professor Johns zu der kleinen Gruppe.

»Alexander! Professor Johns«, sagte Nitely erregt. »Etwas äußerst Ungewöhnliches ist geschehen .«

»Ja«, erwiderte der Professor, und sein sanftes Gesicht strahlte vor Freude. »Das Experiment war ein voller Erfolg. Das Prinzip läßt sich viel wirkungsvoller auf Menschen anwenden als auf meine Versuchstiere.« Er bemerkte Nitelys Verwirrung und erklärte ihm in kurzen Zügen, was geschehen war.

Nitely hörte zu und murmelte: »Seltsam, seltsam. Ich weiß nicht, wieso, aber das kommt mir bekannt vor . « Er preßte beide Fäuste an die Stirn, aber es half nichts.

Alexander trat zu Alice. Er sehnte sich danach, sie an seine starke Brust zu pressen, wenn er auch wußte, daß kein Mädchen von guter Erziehung an einem solchen Gefühlsausdruck Gefallen finden konnte, wenn sie dem betreffenden Mann noch nicht verziehen hatte.

»Alice, mein verlorenes Lieb, wenn in deinem Herzen nur eine Spur von Großmut ist ...«

Aber sie wich vor seinen Armen zurück, die sich ihr flehend entgegenstreckten.

»Ich habe den Punsch getrunken, Alexander. Es war dein Wunsch.«

»Aber du hättest es doch nicht tun müssen! Es war falsch, ganz falsch!«

»Aber ich habe es getan. Oh, Alexander, ich kann nie mehr die Deine sein.«

»Nie mehr die Meine? Was soll das heißen?«

Und Alice ergriff Nitelys Arm, umklammerte ihn voller Glut.

»Mein Herz gehört für alle Zeit Mr. Nitely, ich meine, Nicho-las. Meiner Leidenschaft für ihn, meiner Sehnsucht, seine Frau zu werden, kann ich nicht widerstehen. Er ist mein Leben.«

»Du bist treulos?« schrie Alexander ungläubig.

»Wie grausam von dir, dies treulos zu nennen«, sagte Alice schluchzend. »Ich kann nichts dagegen tun.«

»Nein, sicher nicht«, sagte Professor Johns, der höchst konsterniert zugehört hatte, nachdem er Nitely die Sachlage erklärt hatte. »Sie kann kaum etwas dagegen tun. Es ist ganz einfach eine endokrinologische Erscheinung.«

»Sicher ist das so«, sagte Nitely, der mit seinen eigenen en-dokrinologischen Erscheinungen zu kämpfen hatte. »Es ist ja gut, mein Liebes.« Er strich in beinahe väterlicher Weise über Alices Haar. Und als sie ihr reizendes Gesicht zu ihm erhob, einer Ohnmacht nahe, überlegte er, ob es nicht eine ebenso väterliche Geste wäre - nein, eher eine freundschaftliche -, auf diese Lippen seine eigenen zu pressen.

Aber Alexander schrie in seines Herzens tiefster Verzweiflung: »Du bist treulos - treulos wie Cressida!« und rannte aus dem Saal.

Und Nitely wäre ihm gefolgt, wenn nicht Alice die Arme um seinen Hals gelegt und auf seine langsam schmelzenden Lippen einen Kuß gedrückt hätte, der keineswegs töchterlich war.

Er war nicht einmal freundschaftlich.

Sie kamen vor Nitelys kleinem Junggesellenhäuschen an. Ein keusches Schild hing über der Tür. Darauf stand in alten englischen Lettern »Friedensrichter«. Das Häuschen verströmte eine Atmosphäre von Melancholie und zugleich friedvoller Ruhe. Rasch setzte Nitelys linke Hand den kleinen Teekessel auf den kleinen Herd. (Seinen rechten Arm umklammerte immer noch Alice. Mit einem Scharfsinn, der weit über ihre Jahre hinausging, hatte sie erkannt, daß nur unerbittliche Ausdauer das Unmögliche ermöglichen konnte.)

Durch die offene Tür des Eßzimmers sah man in Nitelys Arbeitsraum. Sowohl gelehrsame als auch freudenspendende Bücher reihten sich an den Wänden.

Nitely griff sich an die Stirn (mit der linken Hand).

»Mein liebes Kind«, sagte er zu Alice, »es ist wirklich erstaunlich - wenn du deinen Griff bitte etwas lockern könntest, damit der Blutkreislauf wieder einsetzen kann ... Es ist wirklich erstaunlich, daß ich immer daran denken muß, dies alles sei schon einmal geschehen.«

»Sicher ist das noch nie geschehen, mein lieber Nicholas«, sagte Alice und lehnte ihren entzückenden Kopf an seine Schulter. Sie lächelte ihn mit einer sanften Schüchternheit an, die ihre Schönheit noch betörender machte - so betörend wie Mondlicht, das sich in unbewegtem Wasser spiegelt. »Kann es schon jemals einen so weisen Magier gegeben haben wie Professor Johns, einen so überaus modernen Zauberer?«

»Einen so modernen . « Nitely fuhr so heftig auf, daß die Füße der zarten Alice einen Zoll über dem Boden schwebten. »Dickens soll mich holen, wenn das nicht stimmt.«

»Nicholas, was ist? Du erschreckst mich, mein Engel!«

Er lief in sein Arbeitszimmer, und Alice mußte ihm wohl oder übel folgen. Sein Gesicht war blaß, seine Lippen fest auf-einandergepreßt, als er einen Band von den Regalen nahm. Vorsichtig blies er den Staub ab.

»Ach«, sagte er zerknirscht, »wie habe ich doch die unschuldigen Freuden meiner Jugend vernachlässigt! Mein Kind, da ich den rechten Arm noch immer nicht gebrauchen kann, würdest du bitte in diesem Buch blättern, bis ich >halt< sage?«

Sie boten ein Bild vorehelicher Glückseligkeit, wie man es wohl selten findet. Seine linke Hand hielt das Buch fest, ihre rechte wendete langsam die Seiten.

»Ich habe recht!« sagte Nitely mit plötzlicher Erregung. »Kommen Sie, mein lieber Professor Johns! Eine höchst überraschende Übereinstimmung - ein erschreckendes Beispiel für jene geheimnisvollen Mächte, die manchmal aus irgendwelchen verborgenen Gründen mit uns ihr Spiel treiben.«

Professor Johns hatte sich selbst einen Tee bereitet und nippte nun geduldig an der Tasse. Er benahm sich ganz so, wie sich ein diskreter Gentleman von intellektuellem Wesen in Gegenwart zweier glühend Liebender benimmt. Er hatte sich nämlich in ein Nebenzimmer zurückgezogen.

»Sind Sie sicher, daß Sie meine Anwesenheit auch wirklich wünschen?« rief er.

»Allerdings. Sir. Ich würde gern Ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Rate ziehen.«

»Aber Sie befinden sich doch in einer Lage ...«

»Professor!« rief Alice mit schwacher Stimme.

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, mein liebes Kind«, sagte der Professor und trat ein. »Mein alter, versponnener Geist ist voller lächerlicher Vorurteile. Es ist lange her, seit ich ...« Er trank einen großen Schluck Tee (den er sehr stark zubereitet hatte) und gewann sofort seine Selbstbeherrschung wieder.

»Professor«, sagte Nitely, »das liebe Kind nannte Sie einen modernen Zauberer, und das brachte mich sofort auf Gilberts und Sullivans >Zauberer<.«

»Wer sind Gilbert und Sullivan?« fragte der Professor mild.

Nitely warf einen inbrünstigen Blick zum Himmel, als wolle er darum flehen, daß das unvermeidliche Donnerwetter nicht gerade sein Haus treffen möge. Mit heiserer Stimme flüsterte er: »Sir William Schwenck Gilbert und Sir Arthur Sullivan haben den Text und die Musik der großartigsten musikalischen Komödien geschrieben, die die Welt je gesehen hat. Eine dieser Operetten nennt sich >Der Zauberer<. Auch in ihr kommt ein Liebestrank vor. Ein sehr moralischer Liebestrank, der zwar verheirateten Leuten nichts anhaben kann, aber doch die junge Heldin von ihrem hübschen jungen Liebhaber trennt und sie in die Arme eines älteren Mannes treibt.«

»Und ist es dabei geblieben?« fragte Professor Johns.

»Nein . Wirklich, mein Liebes, die Bewegungen deiner Finger in meinem Nacken wecken unleugbar angenehme Gefühle, aber sie lenken mich doch sehr ab . Die jungen Liebenden werden wieder vereint, Professor.«

»Aha«, sagte Professor Johns. »Angesichts der nahen Verwandtschaft von erfundener Handlung und wirklichem Leben könnte uns der Schluß dieser Operette vielleicht den Weg weisen, wie wir Alice und Alexander wieder vereinen. Ich nehme an, daß Sie nicht mit einem ständig gebrauchsunfähigen Arm durchs Leben gehen wollen.«

»Ich will nicht wieder mit Alexander vereint werden«, sagte Alice. »Ich will nur meinen Nicholas.«

»Dieser erfrischende Standpunkt hat etwas für sich«, meinte Nitely. »Und trotzdem - die Jugend muß gerettet werden. In der Operette wird das Problem recht wirksam gelöst, und aus diesem besonderen Grund wollte ich Sie sprechen, Professor.« Er lächelte wohlwollend. »In dem betreffenden Stück wird die Wirkung des Liebestranks völlig durch die Tat des Gentlemans neutralisiert, der den Trank verabreicht hat, des Gentlemans, dem Sie im wirklichen Leben entsprechen.«

»Und was hat er getan?«

»Er beging Selbstmord. Ganz einfach. In irgendeiner Weise, die von den Autoren nicht näher erklärt wird, konnte dieser Selbstmord die Effekte des Liebestranks zunichte machen und .«

Aber jetzt hatte der Professor sein Gleichgewicht wiedergefunden. Mit Grabesstimme erklärte er: »Mein lieber Mr. Nitely, wenn ich auch tiefes Mitgefühl für die jungen Leute empfinde, die in dieser traurigen Klemme sitzen, so muß ich doch mit aller Entschiedenheit betonen, daß ich unter keinen Umständen einem Selbstopfer zustimmen kann. Eine solche Tat kann vielleicht im Zusammenhang mit Liebestränken, die sich aus gewöhnlichen Weinen zusammensetzen, sehr wirksam sein. Aber ich kann Ihnen versichern, daß meine amatogenen Prinzipien von meinem Tod in keiner Weise beeinflußt würden.«

Nitely seufzte.

»Das habe ich befürchtet. Und tatsächlich, zwischen uns gesagt, diese Operette endet ziemlich unbefriedigend. Es ist vielleicht das armseligste Ende, das sich in der gesamten Gattung findet.« In stummer Entschuldigung blickte er empor zum Geist William S. Gilberts. »Das Ende kommt ziemlich unvorbereitet. Es wird an keiner Stelle des Stücks vorher angedeutet. Eine Person wird bestraft, die die Bestrafung nicht verdient. Kurz gesagt, dieses Ende ist eines Genies, wie Gilbert es war, völlig unwürdig.«

»Vielleicht ist Gilbert gar nicht schuld daran«, sagte Professor Johns. »Vielleicht hat sich irgendein Pfuscher eingemischt.«

»Davon ist nichts bekannt.«

Aber der wissenschaftliche Geist des Professors begann angesichts dieses ungelösten Rätsels bereits eifrig zu arbeiten.

»Das kann man leicht testen. Wir müssen den schöpferischen Geist dieses - dieses Gilbert studieren. Er hat doch noch andere Stücke geschrieben, nicht wahr?«

»Vierzehn, zusammen mit Sullivan.«

»Gibt es da vielleicht ein Ende, das eine ähnliche Situation in etwas angemessenerer Weise löst?«

Nitely nickte.

»Oh, ja. In >Ruddigore<.«

»Wer ist das?«

»Ruddigore ist ein Ort. Die Hauptperson ist der böse Baron von Ruddigore. Natürlich steht er unter einem Fluch.«

»Natürlich«, murmelte Professor Johns. Er nahm an, daß bösen Baronen so etwas häufig passierte, und war der Meinung, daß ihnen recht geschah.

»Der Fluch zwingt ihn, jeden Tag ein Verbrechen zu begehen«, fuhr Nitely fort. »Wenn ein Tag ohne Verbrechen vergeht, muß er unabwendbar eines qualvollen Todes sterben.«

»Wie schrecklich«, flüsterte die weichherzige Alice.

»Natürlich kann sich niemand jeden Tag ein neues Verbrechen ausdenken«, sagte Nitely, »und so wird unser Held gezwungen, seine Erfindungsgabe zu benutzen, um den Fluch zu umgehen.«

»Wie?«

»Er überlegt folgendermaßen: Wenn er sich ganz vorsichtig weigert, ein Verbrechen zu begehen, kann er doch gleichzeitig dem Tod seine Aufwartung machen. Mit anderen Worten, er unternimmt einen Selbstmordversuch, und das ist natürlich ein Verbrechen. So erfüllt er die Bedingungen des Fluchs.«

»Ich verstehe«, sagte der Professor. »Gilbert glaubte offensichtlich, man kann alle Probleme lösen, indem man sie zu ihren logischen Schlußfolgerungen führt.« Er schloß die Augen, und zahllose Gedanken fluteten hinter seiner edlen Stirn.

Dann öffnete er die Augen.

»Nitely, alter Junge, wann wurde der >Zauberer< uraufgeführt?«

»1877.«

»Na also. 1877 herrschte das Viktorianische Zeitalter. Die Institution der Ehe konnte auf der Bühne nicht scherzhaft behan-delt werden. Man konnte der Handlung zuliebe keine komische Angelegenheit daraus machen. Die Ehe war heilig, ein Sakrament ...«

»Genug der langen Rede«, sagte Nitely. »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Auf die Ehe. Heiraten Sie das Mädchen, Nitely. Verheiraten Sie auch all die anderen Paare, und zwar sofort. Ich bin sicher, daß so etwas Ähnliches Gilberts ursprüngliche Absicht war.«

»Aber gerade das wollen wir doch verhindern«, sagte Nitely, der von diesem Vorschlag trotzdem sichtlich angetan war.

»Ich nicht«, sagte Alice mannhaft (obwohl sie natürlich keineswegs mannhaft wirkte, sondern im Gegenteil sehr weiblich und bezaubernd).

»Verstehen Sie denn nicht?« fragte Professor Johns. »Sobald die Paare verheiratet sind, verlieren die amatogenen Prinzipien, die sich ja nur auf Unverheiratete anwenden lassen, ihre Kraft. Die Personen, die sich auch ohne die Hilfe der Hormone lieben würden, bleiben natürlich miteinander verbunden. Die anderen werden die Ehe annullieren lassen.«

»Großer Gott«, sagte Nitely, »wie wunderbar einfach! Natürlich! Das muß auch Gilbert beabsichtigt haben, bis ein schok-kierter Theaterleiter oder -manager die Änderung erzwungen hat.«

»Und es hat funktioniert?« fragte ich. »Du hast doch ausdrücklich gesagt, die Hormone des Professors sollten außereheliche Beziehungen verhindern und .«

»Es hat funktioniert«, sagte Nitely und ignorierte meine Bemerkung.

Eine Träne zitterte auf seinem Augenlid, und ich kann nicht sagen, ob das von den traurigen Erinnerungen kam oder von der Tatsache, daß er schon bei seinem vierten Gin Tonic angelangt war.

»Es hat funktioniert«, erklärte er. »Alice und ich heirateten, und unsere Ehe wurde fast sofort in stummer Übereinstimmung annulliert. Mit der Begründung, daß die Eheschließung unter Zwang erfolgt war. Und da wir uns ständig unter der Aufsicht von Anstandsdamen befanden, führte dieser Zwang unglücklicherweise zu gar nichts.« Er seufzte. »Jedenfalls heirateten Alice und Alexander bald danach, und soviel ich weiß, erwartet sie jetzt als Ergebnis verschiedener Begleitumstände ein Kind.«

Er hob den Blick von den spärlichen Überresten in seinem Glas, und plötzlich stockte ihm der Atem.

»Du lieber Gott! Schon wieder sie!«

Überrascht hob ich den Kopf. Eine Vision in Hellblau erschien in der Tür. Stellen Sie sich ein Gesicht vor, wie zum Küssen gemacht, eine Gestalt, wie zur Liebe geschaffen.

»Nicholas!« rief sie. »So warte doch!«

»Ist das Alice?« fragte ich.

»Nein, nein. Das ist jemand ganz anderer - eine völlig andere Geschichte. Aber ich muß jetzt gehen.«

Er stand auf, und mit einer für seine Jahre und sein Körpergewicht bemerkenswerten Behendigkeit verschwand er durch das Fenster. Die begehrenswerte weibliche Erscheinung folgte ihm mit ebenso bemerkenswerter Behendigkeit.

Ich schüttelte mitleidig den Kopf. Offensichtlich wurde der arme Mann ständig von diesen wunderbaren Schönheiten geplagt, die aus diesem oder jenem Grund für ihn erglühten. In Gedanken an ein solch schreckliches Geschick leerte ich mein Glas in einem Zug und wunderte mich über die seltsame Tatsache, daß ich noch niemals ähnliche Schwierigkeiten gehabt hatte.

Und wütend bestellte ich einen weiteren Drink, während sich ein sehr vulgärer Ausruf unaufgefordert auf meine Lippen drängte.