129289.fb2 Vergangene Zukunft. Elf der besten Stories des weltber?hmten SF-Autors - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

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So ein wunderschöner Tag

Wir alle haben unsere liebenswerten Exzentrizitäten, und ich habe ein paar, die mir ganz allein gehören. Zum Beispiel hasse ich schöne Tage. Ein Junitag, 78 Fahrenheit, eine sanfte Brise weht durch üppig grünes Blattwerk oder ein Septembertag, wenn die welken Blätter murmelnd rascheln, ein Tag, der die Landschaft in milden Dunst hüllt, ein Tag, der die Luft mit süßer Frische erfüllt und stillen Frieden über die Welt breitet -solche Tage machen mich ganz unglücklich.

Und dafür habe ich einen guten Grund. (Sie denken doch nicht, daß ich verrückt bin, oder?) Wie ich schon im Vorwort zu »Sally« sagte, bin ich Schriftsteller aus Leidenschaft. Das bedeutet, daß ich meine schönsten Stunden in meinem Arbeitszimmer vor meiner elektrischen Schreibmaschine verbringe (wie gerade jetzt), mich selbst vergesse und die Wörter vor meinen Augen magische Gestalt annehmen. Um jede Ablenkung zu vermeiden, sind die Vorhänge vor den Fenstern geschlossen, und ich arbeite nur bei elektrischem Licht.

Niemand hat etwas dagegen einzuwenden, solange ein typischer New-England-Herbsttag die Luft trüb oder ein typischer New-England-Vorfrühlingstag vor den Fenstern stürmt, oder wenn im Sommer die drückende Luft vom Golf her über New-England streicht, oder wenn im Winter tanzende Flocken eine weiße Decke über New-England breiten. Dann sagt jeder: »Mensch, hast du ein Glück, daß du bei diesem Wetter nicht hinaus mußt!«

Aber wenn dann ein schöner Tag im Mai oder Juni oder September oder Oktober kommt, sagt jeder zu mir: »Warum bleibst du denn an einem so schönen Tag im Zimmer hocken, du Narr!« Und manchmal packen sie mich einfach und zerren mich aus dem Haus, damit ich den schönen Tag genießen kann.

Das Schönste am Schriftstellerdasein ist, daß man all seine

Frustrationen und seinen ganzen Ärger zu Papier bringen kann. Das verhindert das Entstehen von Neurosen und erklärt, warum Schriftsteller meist so liebenswürdige, normale Menschen sind, daß es eine reine Freude ist, mit ihnen Kontakt zu pflegen.

Zum Beispiel schrieb ich 1953 einen Roman, in dem alle Menschen in unterirdischen Städten lebten, sorgfältig abgeschlossen von der frischen Luft. Man könnte natürlich sagen: »Warum erfinden sie einen solchen Alptraum?« und darauf würde ich erstaunt antworten: »Wieso Alptraum?«

Aber wenn ich so etwas sage, klingt das immer wie eine Herausforderung. Nachdem ich nun einmal eine Vorliebe für geschlossene Räume entwickelt habe, fragte ich mich, ob sich das vielleicht ändern ließe.

Also schrieb ich: »So ein wunderschöner Tag«, und dabei gewöhnte ich mich daran, an solchen Tagen, vielleicht zweimal in der Woche, wenn ich bereits einige Stunden gute Arbeit geleistet hatte, nachmittags kleine Spaziergänge zu unternehmen.

Aber ich weiß noch immer nicht, was die Leute an so einem strahlenden Himmel finden.

Am 12. April 2117. Es war ein sehr aufregender Tag für Mrs. Hanshaw, und bei ihrem Sohn, Richard Jr., zeigte sich zum erstenmal diese seltsame Neurose.

Es handelte sich um keine der Neurosen, wie man sie in den gebräuchlichen Lehrbüchern beschrieben findet, und der junge Richard benahm sich genau so, wie sich ein gut erzogener zwölfjähriger Junge zu benehmen hat, der in den besten Verhältnissen lebt.

Und doch, seit dem 12. April konnte sich Richard Hanshaw Jr. nur mit äußerster Selbstüberwindung dazu zwingen, durch ein Tor zu gehen.

Es passierte ohne jegliche Vorwarnung. Am Morgen des 12. April erwachte Mrs. Hanshaw (es war ein ganz gewöhnlicher Morgen), als ihr Mechano lautlos in ihr Zimmer glitt und ihr auf einem Tablett eine Tasse Kaffee brachte. Mrs. Hanshaw plante, am Nachmittag New York zu besuchen, und vorher hatte sie noch einige Dinge zu erledigen, die man einem Mechano nicht gut anvertrauen konnte. Also stieg sie nach zwei kleinen Schlucken aus dem Bett.

Der Mechano trat zurück, ging leise an dem diamagnetischen Feld vorbei, dessen rechteckige Gestalt einen halben Zoll über dem Boden schwebte, und betrat die Küche. Hier übernahm es ein simpler Computer, die verschiedenen Küchengeräte so in Bewegung zu setzen, daß ein angemessenes Frühstück vorbereitet werden konnte.

Nachdem Mrs. Hanshaw den üblichen sentimentalen Blick auf das dreidimensionale Bildnis ihres verstorbenen Gatten geworfen hatte, begann sie mit einer gewissen Zufriedenheit ihr allmorgendliches Ritual. Sie konnte hören, daß ihr Sohn jenseits der großen Halle ebenfalls mit der Morgentoilette begonnen hatte, aber sie wußte, daß es nicht nötig war, dabei einzugreifen. Der Mechano war angewiesen, darauf zu achten, daß Mrs. Hanshaws Sohn duschte, frische Kleider anzog und ein nahrhaftes Frühstück zu sich nahm. Die Tergo-Dusche, die Mrs. Hanshaw vor einem Jahr hatte installieren lassen, beschleunigte das morgendliche Waschen und Abtrocknen auf so angenehme Weise, daß sie sicher sein konnte, Dickie würde auch ohne Beaufsichtigung duschen.

An einem solchen Morgen, wenn sie so beschäftigt war, würde es sicher genügen, wenn sie dem Jungen einmal kurz auf die Wange klopfte, bevor er das Haus verließ. Sie hörte das sanfte Läuten, mit dem der Mechano anzeigte, daß die Schule bald beginnen würde, und fuhr mit dem Lift eine Etage tiefer (das Haar vorerst nur andeutungsweise in die geplante Tagesfrisur gelegt), um ihren Mutterpflichten nachzukommen.

Richard stand am Tor, die Schul-Filmspulen und den Taschenprojektor an einem Riemen um die Schulter gehängt, und runzelte die Stirn.

»Hör mal, Mammy«, sagte er und blickte auf, »ich habe die Schule angewählt, aber es passiert nichts.«

Fast automatisch sagte sie: »Unsinn, Dickie. Das gibt es doch gar nicht.«

»Dann versuch du es doch.«

Mrs. Hanshaw wählte die Nummer. Seltsam, der Schuleingang war doch stets frei, damit er ständig angewählt werden konnte. Sie versuchte einige andere Nummern. Es konnte natürlich sein, daß die Tore ihrer Freunde nicht auf Empfang eingestellt waren, aber da würde doch ein Signal ertönen.

Aber nichts geschah. Das Tor blieb eine undurchdringliche Barriere, all ihren Manipulationen zum Trotz. Offensichtlich funktionierte es nicht mehr - und dabei waren erst fünf Monate seit der jährlichen Inspektion durch die Firma vergangen.

Mrs. Hanshaw war ziemlich ärgerlich.

Gerade an einem Tag, da sie so beschäftigt war, mußte das passieren! Verdrießlich dachte sie daran, daß sie vor einem Monat beschlossen hatte, kein Nebentor installieren zu lassen, um die unnötigen Kosten zu vermeiden. Wie hatte sie denn wissen können, daß ein Tor plötzlich nicht mehr funktionieren würde?

Sie ging zum Visiphon, immer noch wütend, und sagte zu Richard: »Dann wirst du eben über die Straße gehen und Willi-ansons' Tor benutzen.«

Ironischerweise sträubte sich Richard, wie um ihr einen Vorgeschmack auf seine spätere Entwicklung zu geben.

»Aber, Mama! Da mache ich mich doch schmutzig. Kann ich nicht daheimbleiben, bis das Tor repariert ist?«

Aber ebenso ironischerweise bestand Mrs. Hanshaw auf ihrem Befehl. Ihr Finger lag bereits auf der Wählscheibe des Vi-siphons, als sie sagte: »Du wirst dich nicht schmutzig machen, wenn du dir Schmutzabweiser über die Schuhe ziehst. Und vergiß nicht, dich abzuputzen, bevor du ihr Haus betrittst.«

»Ach, Mammy ...«

»Keine Widerrede, Dickie! Du mußt in die Schule. Ich werde dir zusehen, wenn du hinausgehst. Aber schnell, sonst kommst du zu spät!«

Der Mechano, ein fortschrittliches, sehr verantwortungsbewußtes Modell, stand bereits vor Richard und hielt die Schmutzabweiser in seiner Metallhand.

Richard zog die transparenten Plastikhüllen über seine Schuhe und ging mit sichtbarem Widerstreben durch die Halle.

»Ich weiß nicht einmal, wie man das macht, Mammy.«

»Du mußt nur auf den roten Knopf drücken, dort wo du das Schild >Für Notfälle< siehst. Und trödle nicht herum. Oder willst du, daß der Mechano mit dir geht?«

»Um Himmels willen, nein!« rief er mürrisch zurück. »Ich bin doch kein Baby mehr. Glaubst du denn ...« Seine weiteren Worte gingen in einem lauten Türschlagen unter.

Mit fliegenden Fingern drehte Mrs. Hanshaw die Wahlscheibe des Visiphons und dachte sich dabei aus, was sie der Firma alles erzählen wollte.

Joe Bloom, ein sehr vernünftiger junger Mann, der eine technische Hochschule mit zusätzlichen Lehrgängen für Kräftefeld-Mechanik besucht hatte, traf in weniger als einer halben Stunde bei Mrs. Hanshaw ein. Er war wirklich ein Fachmann, obwohl Mrs. Hanshaw mit sichtlichem Mißtrauen feststellte, daß er noch sehr jung war.

Sie öffnete die bewegliche Türfüllung, als sie ihn klingeln hörte, und da stand er und bürstete heftig an sich herum, um den Staub der frischen Luft von seinen Kleidern zu entfernen. Er zog die Schmutzabweiser von den Schuhen, ließ sie fallen, wo er stand, und trat ein. Mrs. Hanshaw schloß sofort die Türfüllung, um dem blendend hellen Sonnenlicht den Zugang zu verwehren. Sie hoffte inständig, daß der Fußweg von der Firma bis zu ihrem Haus möglichst unangenehm war. Oder vielleicht funktionierte auch das Firmentor nicht, und der junge Mann hatte seine Geräte noch weiter als die üblichen zweihundert Yards schleppen müssen. Sie wünschte, daß die Firma oder zumindest ihr Repräsentant ein wenig leiden mußte. Sie sollten nur wissen, was es bedeutete, wenn ein Tor zusammenbrach.

Aber er lächelte sie freundlich an und schien keineswegs aus der Ruhe gebracht.

»Guten Morgen, Madam«, sagte er. »Ich bin gekommen, um nach Ihrem Tor zu sehen.«

»Nett von Ihnen«, sagte Mrs. Hanshaw ungnädig. »Der ganze Tag ist mir dadurch verdorben.«

»Das tut mir leid, Madam. Woran liegt es denn?«

»Es funktioniert nicht. Wenn man die Nummern wählt, passiert überhaupt nichts. Nicht einmal ein Signal ertönt. Ich mußte meinen Sohn zu den Nachbarn schicken, durch dieses - dieses Ding da.«

Sie zeigte auf die kleine Tür, durch die der Mechaniker eingetreten war.

Er lächelte nachsichtig.

»Auch das ist ein Tor, Madam, ein handbetriebenes Tor. In früheren Zeiten gab es nur diese Art.«

»Nun ja, wenigstens funktioniert es. Aber mein Junge mußte hinaus in all den Schmutz, mitten durch die Bakterien.«

»Heute ist es gar nicht so schlimm draußen«, sagte er mit der Kennermiene eines Mannes, dessen Beruf es mit sich bringt, daß er nahezu täglich an die frische Luft muß. »Manchmal ist es wirklich unangenehm. Aber sicher wollen Sie, daß ich das Tor da in Ordnung bringe, Madam. Dann werde ich mich also an die Arbeit machen.«

Er setzte sich auf den Boden, öffnete den großen Werkzeugkasten, den er mitgebracht hatte, und in einer halben Minute hatte er mittels eines Entmagnetisiergeräts die Schalttafel entfernt und das komplizierte Innere des Tores freigelegt.

Er pfiff vor sich hin, während er die feinen Elektroden des Kräftefeldmeßgeräts an verschiedene Punkte hielt und aufmerksam den Zeiger der Skala beobachtete. Mrs. Hanshaw sah ihm mit verschränkten Armen zu.

Endlich sagte er: »Ich glaube, jetzt habe ich's.« Mit einer gewandten Drehung nahm er das Bremsventil ab. Er klopfte mit dem Fingernagel darauf und sagte: »Das Bremsventil ist depolarisiert, Madam. Daher kommt der ganze Ärger.« Seine Finger glitten über die kleinen Fächer seines Werkzeugkastens. Schließlich fand er ein Duplikat des Bremsventils, das er soeben ausgebaut hatte.

»So etwas passiert ganz plötzlich«, sagte er, während er die Schalttafel wieder vor den Mechanismus des Tores setzte. »Man kann es nicht vorhersehen. So, jetzt funktioniert es wieder, Madam.«

Er wählte eine Nummer, dann eine andere, und jedesmal wich das dumpfe Grau des Tores zurück und machte einer tiefen samtigen Schwärze Platz.

»Würden Sie hier bitte unterschreiben, Madam«, sagte der junge Mann. »Und würden Sie noch Ihre Kundennummer da-zuschreiben. So, vielen Dank, Madam.«

Er wählte die Nummer seiner Firma, und mit freundlichem Kopfnicken trat er durch das Tor. Als sein Körper in die schwarze Finsternis tauchte, schloß sich der Eingang sofort wieder. Die Gestalt des jungen Mannes verschwamm, wurde unsichtbar, bis man nur noch eine Ecke seines Werkzeugkastens ahnen konnte. Eine Sekunde, nachdem er völlig verschwunden war, wandelte sich die Schwärze des Tores wieder in dumpfes Grau.

Eine halbe Stunde später, als Mrs. Hanshaw endlich ihre so unangenehm unterbrochenen Tagesvorbereitungen beendet hatte und ihr Ärger über das Mißgeschick bereits abflaute, klingelte das Telefon, und jetzt begannen die ernsthaften Schwierigkeiten.

Miß Elizabeth Robbins war ziemlich ratlos. Der kleine Dick Hanshaw war immer ein guter Schüler gewesen, und es war ihr sehr unangenehm, daß sie sich jetzt über ihn beklagen mußte. Aber sie sagte sich, daß er sich heute wirklich sehr merkwürdig benommen hatte. Sie würde mit seiner Mutter sprechen, nicht mit dem Schuldirektor.

Sie verließ die Klasse, nachdem sie einen Studenten als Aufsichtsperson angefordert hatte, und ging zu den Visiphonzellen. Sie stellte die Verbindung her und sah sich Mrs. Hanshaws wohlfrisiertem Kopf gegenüber.

Mrs. Hanshaw musterte sie erstaunt, dann fragte sie: »Sind Sie Richards Lehrerin?«

»Ja, Mrs. Hanshaw.« Miß Robbins kam gleich zur Sache. »Ich rufe Sie an, um Ihnen mitzuteilen, daß Richard heute morgen sehr spät in der Schule eingetroffen ist.«

»Tatsächlich? Aber das kann nicht sein. Ich habe gesehen, wie er aus dem Haus gegangen ist.«

Miß Robbins sah sie erstaunt an.

»Sie meinen, Sie haben gesehen, wie er das Tor benutzt hat?«

»Nein«, sagte Mrs. Hanshaw schnell. »Unser Tor hat für kurze Zeit nicht funktioniert, und da habe ich ihn zu einem Nachbarn geschickt, damit er dessen Tor benutzt.«

»Sind Sie ganz sicher?«

»Natürlich bin ich sicher. Sie glauben doch nicht, daß ich Sie anlüge!«

»Nein, nein, Mrs. Hanshaw, das wollte ich natürlich nicht damit sagen. Ich meinte, sind Sie sicher, ob er den Weg zum Nachbarn auch gefunden hat? Er hätte sich ja verirren können.«

»Das ist lächerlich. Wir haben genaue Straßenkarten, und ich bin überzeugt, daß Richard weiß, wo sich jedes Haus in Distrikt A-3 befindet.« Mit dem selbstsicheren Stolz einer Mutter, die weiß, was ihre Pflicht ist, fügte sie hinzu: »Nicht daß er dieses Wissen jemals gebraucht hätte, natürlich. Bisher hat das

Tor stets funktioniert.«

Miß Robbins kam aus einer Familie, die sich den Gebrauch ihres Eingangs sehr genau hatte einteilen müssen (die Betriebskosten waren sehr hoch) und sie hatte als Kind weite Strecken zu Fuß laufen müssen. Deshalb ärgerte sie sich über Mrs. Hanshaws hochmütigen Tonfall und erwiderte mit fester Stimme: »Nun, ich fürchte, Mrs. Hanshaw, Dick hat das Tor des Nachbarn nicht benutzt. Er kam fast eine Stunde zu spät zur Schule, und der Zustand seiner Schmutzabweiser ließ ziemlich deutlich erkennen, daß er querfeldein getrampt ist. Sie waren schmutzig.«

»Schmutzig? Was hat er gesagt? Womit hat er sich entschuldigt?«

Miß Robbins konnte nicht anders. Es bereitete ihr Vergnügen, die andere Frau so aufgeregt zu sehen.

»Er wollte nicht darüber sprechen: Offen gesagt, Mrs. Hanshaw, ich habe den Eindruck, daß er krank ist. Deshalb habe ich Sie angerufen. Vielleicht sollte ein Arzt nach ihm sehen.«

»Hat er Fieber?« Die Stimme der besorgten Mutter klang immer schriller.

»Das nicht. Ich glaube, er ist nicht krank im physischen Sinn. Nur seine ganze Art und sein Blick ...« Sie zögerte, dann sagte sie vorsichtig: »Vielleicht würde eine Routineuntersuchung bei einem Psychiater .«

Sie konnte den Satz nicht beenden. Mit frostiger Stimme, die so beleidigend klang, wie ihre gute Erziehung es zuließ, fragte Mrs. Hanshaw: »Wollen Sie damit etwa andeuten, daß Sie Richard für einen Neurotiker halten?«

»Oh, nein, Mrs. Hanshaw. Aber ...«

»Es hörte sich aber so an. Allein der Gedanke! Er war immer völlig gesund. Ich werde die Angelegenheit mit ihm besprechen, wenn er nach Hause kommt. Ich bin überzeugt, daß er mir eine ganz normale, einleuchtende Erklärung für sein Verhalten geben kann.«

Die Verbindung wurde abrupt unterbrochen, und Miß Robbins fühlte sich verletzt. Sie hatte doch nur versucht zu helfen. Sie blickte auf die große Wanduhr in der Halle und eilte ins Klassenzimmer zurück. Die Englischstunde begann in wenigen Minuten.

Aber ihre Gedanken waren nicht ganz bei der Englischstunde. Automatisch rief sie die Schüler auf und ließ kleine Absätze aus ihren Englisch-Aufsätzen vorlesen. Gelegentlich nahm sie einige der Passagen auf Tonband auf und ließ sie durch den Vokalisator laufen, um ihren Schülern zu demonstrieren, wie man Englisch las.

Die mechanische Stimme des Vokalisators ließ wie stets ihr perfektes Englisch ertönen, aber es fehlte ihr wie immer jeder Ausdruck. Manchmal fragte sich Miß Robbins, ob es richtig war, den Schülern eine Aussprache einzutrichtern, der es an Individualität mangelte, die zu völlig eintöniger, undifferen-zierter Akzentuierung und Intonation führen mußte.

Aber heute waren ihre Gedanken woanders. Sie beobachtete Richard Hanshaw. Er saß ruhig auf seinem Platz und merkte offensichtlich nichts von seiner Umwelt. Er war ganz in sich versunken und schien sich in einen fremden Jungen verwandelt zu haben. Er mußte an diesem Morgen irgendeine außergewöhnliche Erfahrung gemacht haben. Sicher hatte sie richtig gehandelt, als sie seine Mutter angerufen hatte, obwohl sie natürlich nicht diese Bemerkung über die psychiatrische Untersuchung hätte machen sollen. Andererseits war das heutzutage gar nichts Besonderes. Viele Leute unterzogen sich einer psychiatrischen Routineuntersuchung. Das war gar keine Schande. Wenigstens sollte man es nicht als solche betrachten.

Schließlich rief sie Richard auf. Sie mußte seinen Namen zweimal sagen, bevor er aufstand und antwortete.

Das Aufsatzthema lautete: »Wenn du auf einem altertümlichen Fahrzeug eine Reise unternehmen könntest, welches würdest du wählen und warum?« Miß Robbins stellte dieses Thema zu je-dem Semester. Es war ein gutes Thema, denn es weckte zugleich auch den Sinn für Geschichte. Es zwang die Kinder, über die Sitten und Gebräuche vergangener Zeitalter nachzudenken.

Richard begann mit leiser Stimme zu lesen.

»Wenn ich mir ein altertümliches Fahrzeug aussuchen könnte, würde ich ein Großverkehrsflugzeug wählen. Es bewegt sich zwar sehr langsam, aber es ist sauber. Weil es durch die Stratosphäre fliegt, muß es völlig abgeschlossen sein, und deshalb kann man von keiner Krankheit angesteckt werden. Nachts kann man die Sterne fast so gut wie in einem Planetarium sehen. Wenn man nach unten blickt, kann man die Erde wie eine Landkarte sehen. Manchmal sieht man auch Wolken ...« Er las noch etwa hundert Wörter weiter.

Als er geendet hatte, sagte Miß Robbins freundlich: »Man sagt >vee-ick-ulls<, Richard. Kein >h<. Der Akzent liegt auf der ersten Silbe. Und du darfst nicht sagen >travels slow< und >see good<. Wie sagt man richtig?« Sie wandte sich an die Klasse.

Ein kleiner Chor von Antworten erklang, und sie fuhr fort: »Richtig. Was ist also der Unterschied zwischen einem Adjektiv und einem Adverb? Wer kann es mir sagen?«

Der Unterricht lief weiter. Zur Mittagspause gingen manche Kinder nach Hause, manche aßen in der Schule. Auch Richard blieb in der Schule. Das fiel Miß Robbins auf, weil er das normalerweise nicht tat.

Der Nachmittag verstrich, und als die Glocke den Schulschluß anzeigte, schrien und lachten die Kinder wie üblich durcheinander, fünfundzwanzig Jungen und Mädchen kramten ihre Sachen zusammen und nahmen gemächlich Aufstellung.

Miß Robbins schlug die Hände zusammen.

»Schnell, Kinder! Zelda, geh auf deinen Platz!«

»Mir ist eine Filmspule heruntergefallen«, jammerte das Mädchen.

»Dann heb sie auf. Nun, Kinder, rasch, rasch!«

Sie drückte auf einen Knopf, und eine Wand des Klassen-zimmers glitt zurück. Ein großes graues Tor erschien. Es war kein gewöhnliches Tor, wie es gewöhnliche Schüler benutzen, wenn sie zur Mittagspause nach Hause gingen. Nein, dieses Tor war ein hochmodernes Modell und der Stolz dieser teuren Privatschule.

Zusätzlich zu seiner doppelten Breite besaß das Tor einen automatischen Nummernsucher, der es möglich machte, daß man in automatischen Intervallen auf verschiedene Hausnummern einstellen konnte.

Zu Beginn des Semesters hatte Miß Robbins fast einen ganzen Nachmittag damit verbracht, die Mechanik mit den Hausnummern der neuen Schüler zu füttern. Aber danach mußte man sich, Gott sei Dank, nicht mehr darum kümmern. Alles lief wie am Schnürchen.

Die Klasse stellte sich in alphabetischer Reihenfolge auf, zuerst die Mädchen, dann die Jungen. Das Tor wurde samtig schwarz, und Hester Adams winkte und ging hindurch.

»Wiederse...«

Das Wort wurde in der Mitte abgeschnitten, wie immer. Das Tor wurde wieder grau, dann schwarz, und Theresa Cantrocchi verschwand. Grau, schwarz, Zelda Charlowicz. Grau, schwarz, Patricia Coombs. Grau, schwarz, Sara May Evans.

Die Schlange wurde kleiner, als das Tor ein Kind nach dem anderen verschluckte und nach Hause transportierte. Natürlich passierte es manchmal, daß die Eltern vergessen hatten, ihr Tor auf Empfang einzustellen, und dann blieb das Schultor grau. Nach einer Minute ging es zur nächsten Hausnummer über, und der betreffende Schüler mußte warten, bis alle Kinder transportiert worden waren. Danach brachte ein Visiphonanruf bei den vergeßlichen Eltern die Sache in Ordnung. Es war natürlich nicht sehr angenehm für einen Schüler, wenn ihm das passierte, und besonders die sensiblen Kinder litten sehr unter der Vorstellung, daß man sich zu Hause recht wenig Gedanken um sie machte. Miß Robbins führte den Eltern immer wieder eindringlich die möglichen schädlichen Folgen für die kindliche Seele vor Augen, aber es passierte trotzdem in jedem Semester mindestens einmal.

Die Mädchen waren schon alle verschwunden. John Abra-mowitz trat durch das Tor, dann Edwin Byrne ...

Natürlich bereitete es auch Schwierigkeiten, wenn ein Junge oder Mädchen die Reihenfolge durcheinanderbrachte. Sie taten es immer wieder, obwohl die Lehrerin scharf aufpaßte, besonders zu Beginn des Semesters, wenn sie sich noch nicht so an die strenge Schulordnung gewöhnt hatten.

Wenn das passierte, dann wurden die Kinder in falsche Häuser gebracht und mußten zurückgesandt werden. Es dauerte meist mehrere Minuten, bis das Durcheinander entwirrt wurde, und manche Eltern reagierten ziemlich ärgerlich auf solche Verwicklungen.

Plötzlich merkte Miß Robbins, daß die Reihe der Kinder sich nicht mehr bewegte. Sie ging auf den Jungen zu, der ganz vorn stand. »Geh doch durch, Samuel! Worauf wartest du?«

»Das ist nicht meine Nummer, Miß Robbins«, sagte Samuel Jones triumphierend.

»Nun, wessen Nummer ist das?« Ungeduldig glitt ihr Blick über die fünf Jungen, die noch übriggeblieben waren. »Wer fehlt denn?«

»Dick Hanshaw, Miß Robbins.«

»Wo ist er?«

Ein anderer Junge antwortete im selbstgerechten Tonfall, den Kinder immer annehmen, wenn sie einer Autoritätsperson von den Missetaten ihrer Freunde berichten.

»Er ist durch den Notausgang gegangen, Miß Robbins.«

»Was?«

Das Klassentor war zu einer anderen Nummer übergegangen, und Samuel Jones ging hindurch. Die anderen folgten ihm.

Miß Robbins stand allein im Klassenzimmer. Sie ging zum Notausgang. Es war eine ganz kleine Tür mit Handbetrieb. Sie war in einer Mauernische verborgen, so daß sie die einheitliche Gestaltung des Raumes nicht störte. Sie öffnete die Tür einen kleinen Spalt. Sie war eingebaut worden, um die Kinder bei Feuergefahr aus dem Klassenzimmer zu lassen, ein Anachronismus, der einem antiquierten Gesetz zuzuschreiben war, einem Gesetz, das den modernen automatischen Feuerlöschmethoden, über die alle öffentlichen Gebäude verfügten, keine Rechnung trug. Da war nichts draußen - nur »draußen«. Das Sonnenlicht brannte, und ein scharfer Wind blies.

Miß Robbins schloß die Tür. Sie war froh, daß sie Mrs. Hanshaw angerufen hatte. Sie hatte ihre Pflicht getan. Jetzt war es offensichtlicher denn je, daß irgend etwas mit Richard nicht stimmte. Sie unterdrückte den Impuls, seine Mutter noch einmal anzurufen.

Mrs. Hanshaw besuchte an diesem Tag doch nicht New York. Sie blieb zu Hause und überließ sich ihren halb ängstlichen, halb ärgerlichen Gedanken. Ihr Ärger richtete sich hauptsächlich gegen die unverschämte Miß Robbins.

Fünfzehn Minuten vor Schulende trieb sie ihre Angst zum Tor. Im letzten Jahr hatte sie eine automatische Vorrichtung einbauen lassen, die es täglich um fünf Minuten vor drei auf die Nummer des Klassentors einstellte. Das Tor behielt diese Einstellung bei und sperrte sich gegen jede manuelle Betätigung, bis Richard eintraf.

Ihr Blick heftete sich auf das trübe Grau des Tores, und sie wartete. Ihre Finger schlangen sich ineinander.

Das Tor wurde genau zur richtigen Zeit schwarz, aber nichts geschah. Die Minuten verstrichen, und Richard erschien nicht.

Eine Viertelstunde vor vier war sie außer sich vor Angst. Normalerweise hätte sie die Schule angerufen, aber sie konnte es nicht, nicht heute, nicht, nachdem diese Lehrerin so deutliche Zweifel an Richards geistiger Gesundheit geäußert hatte.

Mrs. Hanshaw ging unruhig auf und ab, zündete sich mit zit-ternden Fingern eine Zigarette an und drückte sie wieder aus. Vielleicht war gar nichts Besonderes vorgefallen. Vielleicht blieb Richard aus irgendeinem Grund länger in der Schule. Aber das hätte er ihr doch vorher gesagt. Dann kam ihr ein Gedanke. Er wußte doch, daß sie geplant hatte, New York zu besuchen und erst spät abends zurückzukehren .

Nein, sicher hätte er es ihr gesagt. Warum sollte sie sich in falschen Hoffnungen wiegen?

Langsam zerbröckelte ihr Stolz. Sie mußte die Schule anrufen oder sogar (sie schloß die Augen, und Tränen quollen zwischen ihren Wimpern hervor) die Polizei.

Als sie die Augen öffnete, stand Richard vor ihr. Er hielt den Blick gesenkt, und seine ganze Haltung drückte aus, daß er ein Donnerwetter erwartete.

»Hallo, Mammy.«

Mrs. Hanshaws Angst verwandelte sich augenblicklich in Zorn.

»Wo bist du gewesen, Richard?«

Und dann, bevor sie sich weiter über gedankenlose Söhne verbreiten konnte, die die Herzen ihrer Mütter brachen, bemerkte sie gewisse Veränderungen in seiner äußeren Erscheinung, und vor Schreck stockte ihr beinahe der Atem.

»Du warst im Freien!«

Ihr Sohn blickte auf seine staubigen Schuhe herab. Die Schmutzabweiser waren verschwunden. Er blickte auf die Schmutzstreifen an seinen Ärmeln, auf den kleinen Riß in seinem Hemd.

»Ach, Mammy, ich habe nur gedacht, ich .« Er verstummte.

»War irgend etwas mit dem Klassentor nicht in Ordnung?«

»Mit dem Klassentor war alles in Ordnung, Mammy.«

»Ist dir klar, daß ich vor Angst halb krank war?« Sie wartete vergeblich auf eine Antwort. »Nun, wir sprechen noch miteinander, junger Mann. Zuerst nimmst du einmal ein Bad, und jedes einzelne Stück deiner Kleidung wird weggeworfen. Me-chano!«

Aber der Mechano hatte bereits ganz richtig reagiert, als er »nimmst du ein Bad« vernommen hatte, und war schon lautlos ins Badezimmer geglitten.

»Du ziehst deine Schuhe gleich hier aus«, sagte Mrs. Hanshaw. »Und dann marsch ins Bad!«

Richard gehorchte resignierend. Er wußte, daß jeder Protest vergebens sein würde.

Mrs. Hanshaw ergriff die schmutzigen Schuhe mit Daumen und Zeigefinger und warf sie in den Abfallkanal, der wie in leiser Bestürzung über die unerwartete Ladung rasselte. Mrs. Hanshaw wischte ihre Hände sorgfältig mit einem Papiertuch ab, das sie dann ebenfalls in den Kanal warf.

Sie leistete Richard beim Abendessen nicht Gesellschaft, sondern ließ ihn in der Obhut des Mechanos. Und das war schlimmer, als wenn er ganz allein gewesen wäre. Sie dachte, daß er dies als deutliches Zeichen ihrer Mißbilligung auffassen würde. Diese Maßnahme würde ihn zu der Einsicht bringen, daß er Unrecht getan hatte eindringlicher, als dies Schimpftira-den oder sonstige Strafen vermocht hätten. Denn Richard war ein sehr sensibler Junge, wie sie sich immer wieder einredete.

Aber sie ging nach oben, um ihm gute Nacht zu sagen.

Sie lächelte und gab ihrer Stimme einen sanften Klang. Das war wohl das beste. Er war mehr als genug bestraft worden.

»Also, was ist heute passiert, Dickie-Boy?« So hatte sie ihn genannt, als er noch ein Baby war, und allein der Klang dieses Namens rührte sie schon beinahe zu Tränen.

Aber er wandte den Blick ab.

»Ich will eben einfach nicht mehr durch diese verdammten Tore gehen«, sagte er verstockt.

»Aber warum denn nicht?«

Seine Hände krampften sich um das weiße Bettuch (frisch, sauber, antiseptisch - nach Gebrauch wurde es natürlich weggeworfen).

»Ich mag die Tore eben nicht.«

»Aber wie stellst du dir denn vor, daß du zur Schule kommst?«

»Ich werde eben früher aufstehen«, murmelte er.

»Aber mit den Toren ist doch alles in Ordnung.«

»Ich mag sie nicht.« Er blickte sie nicht an.

»Nun ja, jetzt wirst du erst einmal gut schlafen, und morgen sieht alles ganz anders aus.«

Sie küßte ihn und verließ den Raum. Dabei strich ihre Hand automatisch durch den Photozellen-Strahl, und Richards Schlafzimmer verdunkelte sich.

Sie konnte in der Nacht nicht einschlafen. Warum konnte Di-ckie plötzlich die Tore nicht leiden? Sie hatten ihn doch bisher nie gestört. Sicher, das Tor hatte heute morgen nicht funktioniert, aber deshalb müßte er es jetzt, wo es wieder in Ordnung war, doch um so mehr schätzen.

Dickie benahm sich richtig unvernünftig.

Unvernünftig? Das erinnerte sie an Mrs. Robbins und ihre Diagnose, und Mrs. Hanshaws Mundwinkel begannen in der Zurückgezogenheit ihres dunklen Schlafzimmers unkontrolliert zu zittern. Unsinn! Der Junge hatte sich eben etwas aufgeregt, und ein ruhiger, gesunder Schlaf war sicher die einzige Therapie, die er brauchte.

Aber als sie am nächsten Morgen aufstand, hatte ihr Sohn das Haus bereits verlassen. Der Mechano konnte nicht sprechen, aber er konnte auf Fragen durch Zeichen seiner Metallhände antworten, die »Ja« oder »nein« bedeuten. Nach einer halben Minute hatte sich Mrs. Hanshaw vergewissert, daß Richard dreißig Minuten früher als gewöhnlich aufgestanden war, auf das Duschen verzichtet hatte und aus dem Haus geeilt war.

Aber nicht durch das Tor.

Sondern durch die kleine handbetriebene Tür in der Hauswand.

Um drei Uhr nachmittags läutete Mrs. Hanshaws Visiphon. Mrs. Hanshaw ahnte, wer sie anrief, und als sie den Hörer abhob, stellte sie fest, daß ihre Ahnung sie nicht getrogen hatte. Ein rascher Blick in den Spiegel überzeugte sie, daß man ihr die langen Stunden des Grübelns und der Sorge nicht anmerkte. Dann schaltete sie ihr eigenes Übertragungsgerät ein.

»Ja, bitte, Miß Robbins«, sagte sie kalt.

Richards Lehrerin war etwas außer Atem.

»Mrs. Hanshaw«, sagte sie. »Richard hat die Klasse durch den Notausgang verlassen, obwohl ich ihm ausdrücklich sagte, er solle das reguläre Klassentor benutzen. Ich weiß nicht, wohin er gegangen ist.«

»Er wird nach Hause kommen«, sagte Mrs. Hanshaw fest.

Miß Robbins blickte sie bestürzt an.

»Billigen Sie denn seine Handlungsweise?«

Mrs. Hanshaw war blaß geworden. Aber sie richtete sich gerade auf und war entschlossen, die Lehrerin in ihre Schranken zu weisen.

»Ich glaube nicht, daß es Ihnen zusteht, Richard zu kritisieren. Wenn mein Sohn das Klassentor nicht benutzen will, so ist das seine und meine Sache. Es gibt doch wohl kein Schulgesetz, das ihn zwingt, durch das Klassentor die Schule zu verlassen, oder?« Ihre Haltung drückte deutlich aus, daß sie sich dafür einsetzen wollte, ein solches Gesetz abzuschaffen, falls es tatsächlich existieren sollte.

Miß Robbins errötete und fand gerade noch Zeit, eine Bemerkung anzubringen, bevor die Verbindung unterbrochen wurde.

»Ich würde ihn schnellstens psychiatrisch untersuchen lassen.«

Mrs. Hanshaw stand vor der Quarzplatte und starrte blicklos auf die blanke Fläche. Ihr Familiensinn ließ sie wenigstens ein paar Augenblicke lang auf Richards Seite treten. Warum mußte er denn das Klassentor benutzen, wenn er nicht wollte? Dann setzte sie sich auf einen Stuhl und wartete. Ihr Stolz kämpfte mit der quälenden Angst, daß vielleicht wirklich mit Richard etwas nicht stimmte.

Mit trotzigem Gesicht kam er nach Hause, aber mit mühsam erzwungener Selbstbeherrschung begegnete ihm seine Mutter, als sei nichts passiert.

Diese Politik verfolgte sie einige Wochen lang. Es ist nichts, sagte sie sich immer wieder. Nur eine seltsame Laune. Er wird bald genug davon haben.

Langsam wurde eine ganz normale Gewohnheit daraus. Doch eines Tages, als sie nach dem Frühstück herunterkam, sah sie Richard mürrisch vor dem Tor warten. Er benutzte es auch, als er von der Schule heimkehrte. Das tat er an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Sie enthielt sich jedes Kommentars.

Jedesmal, wenn er durch das Tor verschwand oder wenn er aus seiner schwarzen Finsternis ins Haus trat, wurde ihr warm ums Herz, und sie dachte: Jetzt ist es vorbei. Aber als die drei Tage vorbei waren, schlüpfte Richard wieder durch die kleine handbetriebene Tür, wie ein Süchtiger, der auf seine Drogen nicht verzichten konnte. Immerhin, er gewöhnte sich an, zwei-bis dreimal pro Woche das Tor zu benutzen.

Verzweifelt dachte sie an einen Psychiater, aber immer wieder stand ihr Miß Robbins' triumphierendes Gesicht vor Augen, und das hielt sie davon ab, einen Psychiater aufzusuchen. Obwohl sie sich kaum bewußt war, daß dies der wahre Grund ihres Zögerns war.

Sie versuchte, das Beste aus Richards seltsamer Angewohnheit zu machen. Der Mechano wurde instruiert, mit einem Wascheimer und frischen Kleidern an der kleinen handbetriebenen Tür zu warten, und Richard wusch sich und wechselte widerspruchslos seine Kleider. Seine Unterwäsche, Socken und Schmutzabweiser waren ohnehin wegwerfbar, und ohne zu klagen nahm Mrs. Hanshaw es auf sich, die Mehrkosten der täglich erneuerten Hemden zu tragen. Schließlich entschloß sie sich, daß er wenigstens seine Hosen eine Woche lang tragen sollte, bevor auch sie weggeworfen wurden.

Eines Tages beschloß sie, daß Richard sie auf einem Ausflug nach New York begleiten sollte. Sie verfolgte damit keine bestimmte Absicht, sondern verspürte lediglich den vagen Wunsch, ihn einmal längere Zeit unter Aufsicht zu haben. Richard hatte nichts dagegen einzuwenden. Er freute sich sogar. Widerstandslos und ohne zu zögern trat er durch das Tor. Sein Gesicht zeigte nicht einmal das Mißbehagen, das er an den Tagen zur Schau getragen hatte, als er anscheinend gegen seinen Willen das Tor zum Schulgang benutzt hatte.

Mrs. Hanshaw war glücklich. Das war vielleicht ein Weg, ihn wieder an den Gebrauch des Tores zu gewöhnen. Immer öfter unternahm sie Ausflüge mit ihm und zerbrach sich den Kopf über immer neue, vergnügliche Reiseziele. Einmal nahm sie sogar außerordentlich hohe Kosten auf sich, um mit Richard einen Tag lang ein chinesisches Fest in Kanton zu besuchen.

Das war an einem Sonntag, und am nächsten Morgen marschierte Richard geradewegs auf die handbetriebene Tür zu, wie er es immer tat. Mrs. Hanshaw, die zeitiger als sonst aufgestanden war, beobachtete ihn. Sie konnte es nicht mehr ertragen.

»Warum benutzt du denn nicht das Tor, Dickie?« rief sie ihm verzweifelt nach.

Er wandte sich kurz um.

»Für Kanton ist das Tor ganz gut«, sagte er und stapfte aus dem Haus.

So war also alle ihre Mühe umsonst gewesen.

Und dann kam Richard eines Tages tropfnaß nach Hause. Der Mechano umkreiste ihn unsicher, und Mrs. Hanshaw, die gerade von einem vierstündigen Besuch bei ihrer Schwester in Iowa zurückgekehrt war, schrie: »Richard Hanshaw!«

Er blickte sie an wie ein geprügelter Hund.

»Es regnet. Ganz plötzlich hat es zu regnen begonnen.«

Zuerst wußte sie gar nicht, was das Wort bedeutete. Ihre eigenen Schuljahre und Geographiestudien lagen zwanzig Jahre zurück. Und dann erinnerte sie sich. Vor ihren Augen tauchte eine Vision auf. Wasser floß endlos vom Himmel, ein wilder Wasserfall, den man mit keinem Knopfdruck oder Schalthebel abstellen konnte.

»Und du bist draußen geblieben?«

»Wirklich, Mammy, ich bin so schnell ich konnte heimgelaufen. Ich wußte ja nicht, daß es zu regnen beginnen würde.«

Mrs. Hanshaw wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie war fassungslos, und ihr Entsetzen ließ sich nicht in Worte kleiden.

Zwei Tage später lief Richard die Nase, und sein Hals war kratzig und trocken. Mrs. Hanshaw mußte zur Kenntnis nehmen, daß tatsächlich ein Krankheitsvirus Eingang in ihr Haus gefunden hatte, so als würde sie in einer schäbigen Steinzeithütte wohnen und nicht in einem wohlausgestatteten Heim.

Und jetzt brach ihr Stolz endgültig zusammen. Sie mußte mit Richard einen Psychiater aufsuchen.

Mrs. Hanshaw wählte den Psychiater sehr sorgfältig. Zuerst dachte sie daran, einen Arzt in einer anderen Stadt zu konsultieren. Eine Zeitlang trug sie sich sogar mit dem Gedanken, direkt ins San Francisco Medical Center zu reisen und sich an einen x-beliebigen Psychiater zu wenden.

Doch dann ließ sie diesen Plan fallen. Für einen fremden Arzt wäre Richard nur ein Patient unter vielen, und er würde ihrem Sohn keine größere Aufmerksamkeit widmen als irgendwelchen Slumbewohnern, die durch das öffentliche Tor zu ihm kamen. Aber wenn sie sich innerhalb ihrer Gemeinschaft umsah und einen Arzt wählte, der in der Nähe wohnte, würde ihr Wort Gewicht haben ...

Mrs. Hanshaw schlug den Plan ihres Distrikts auf, auf dem jedes Haus mit der dazugehörigen Tornummer genau eingezeichnet war. Sie verspürte einen gewissen Stolz, als sie über das glatte Papier strich.

Und warum auch nicht? Distrikt A-3 hatte einen guten Klang in der Welt. Wenn man hier lebte, so war das so gut wie ein Adelstitel. Distrikt A-3 war die erste Gemeinschaft des Planeten, die sich auf einer vollständigen Tor-Grundlage etabliert hatte. Die erste, größte, reichste und berühmteste. Hier gab es keine Fabriken und keine Läden. Es gab nicht einmal Fahrstraßen. Jedes Haus war wie ein kleines Schloß, ganz in sich selbst versunken, abgeschlossen von der Umwelt. Und jedes Haus hatte ein Tor, durch das man an alle Orte der Welt gelangen konnte, die ebenfalls über Tore verfügten.

Sorgfältig glitt ihr Finger über die Liste der fünftausend Familien, die in Distrikt A-3 wohnten. Sie wußte, daß verschiedene Psychiater hier lebten. Alle Arten von Wissenschaften waren in Distrikt A-3 vertreten.

Doktor Hamilton Sloane war der zweite Name den sie entdeckte. Ihr Finger suchte auf der Karte. Seine Ordination war nur zwei Meilen von Mrs. Hanshaw entfernt. Der Name gefiel ihr. Die Tatsache, daß er in A-3 wohnte, war ein eindeutiger Beweis für seine Fähigkeiten. Dr. Sloane würde verstehen, daß die Angelegenheit dringend war - und streng vertraulich behandelt werden mußte.

Sie rief in seiner Ordination an, um einen Termin zu verabreden.

Dr. Hamilton Sloane war ein noch relativ junger Mann. Er war noch keine Vierzig. Er stammte aus einer guten Familie und hatte natürlich schon von Mrs. Hanshaw gehört.

Er hörte ihr ruhig zu und sagte dann: »Und die ganze Sache begann mit dem Zusammenbruch des Tores.«

»Ja, Doktor.«

»Fürchtet er sich vor den Toren?«

»Natürlich nicht! Was für ein Gedanke!« rief sie erschrocken.

»Es wäre aber möglich, Mrs. Hanshaw. Wenn Sie es nämlich recht bedenken, so ist ein Tor tatsächlich eine ziemlich furchterregende Sache. Sie treten in ein Tor, und für einen Augenblick verwandeln sich Ihre Atome in Kräftefeld-Energien, werden an irgendeinen Ort des Weltraums gesendet und nehmen dann wieder Gestalt an. In diesem einen Augenblick leben Sie nicht.«

»Über so etwas mache ich mir wirklich keine Gedanken.«

»Aber vielleicht Ihr Sohn. Er hat gesehen, wie das Tor zusammenbrach. Vielleicht hat er gedacht: >Was passiert, wenn das Tor gerade in dem Augenblick zusammenbricht, in dem ich an einen anderen Ort transportiert werde?<«

»Das ist doch Unsinn. Er benutzt das Tor immer noch. Er war mit mir sogar in Kanton. In Kanton, China. Und zwei- bis dreimal pro Woche benutzt er das Tor sogar auch, um in die Schule zu gelangen.«

»Freiwillig? Und es hat ihm nichts ausgemacht?«

»Nun ja«, sagte Mrs. Hanshaw widerstrebend, »er schien sich nicht ganz wohl dabei zu fühlen. Aber wirklich, Doktor, es hat wenig Sinn, lange drum herumzureden, nicht wahr? Untersuchen Sie ihn bitte, und dann werden wir ja sehen, wo seine Schwierigkeiten liegen. Ich bin überzeugt, es handelt sich nur um eine Kleinigkeit. Eine schnelle psychiatrische Routineuntersuchung genügt sicher.«

Dr. Sloane seufzte. Er haßte das Wort »Routineuntersuchung«. Es gab kaum ein Wort, das er in seinem Leben schon öfter gehört hatte.

»Mrs. Hanshaw«, sagte er geduldig. »Eine schnelle Routineuntersuchung gibt es nicht. Ich weiß, daß die Zeitschriften voll davon sind, und in gewissen Kreisen begeistert man sich dafür, aber die Sache wird überschätzt.«

»Meinen Sie das ernst?«

»Allerdings. Die Routineuntersuchung ist sehr kompliziert. Dabei werden die Aktionswellen des Gehirns aufgezeichnet. Die einzelnen Zellen des Gehirns sind auf verschiedenen We-gen miteinander verbunden. Manche dieser Verbindungswege werden häufiger benutzt, andere weniger häufig. Auf diese Weise kann man die Denkgewohnheiten eines Menschen feststellen, die bewußten und unbewußten. Theoretisch ist erwiesen, daß man mit Hilfe der Aufzeichnung dieser Verbindungswege zwischen den einzelnen Gehirnzellen schon frühzeitig und mit großer Sicherheit das Auftreten einer geistigen Erkrankung feststellen kann.«

»Ja, und?«

»Die Methode dieser Art von Untersuchung ist ziemlich angsterregend, besonders für ein Kind. Es ist eine traumatische Erfahrung. Es dauert über eine Stunde.

Dann müssen die Ergebnisse zur analytischen Auswertung an das Zentrale Psychoanalytische Institut gesandt werden, und das kann Wochen dauern. Und dazu kommt noch, Mrs. Hanshaw, daß es sehr viele Psychiater gibt, die von der Zuverlässigkeit dieser Art von Untersuchung keineswegs überzeugt sind.«

Mrs. Hanshaw preßte die Lippen zusammen.

»Dann kann man also gar nichts unternehmen?«

Dr. Sloane lächelte.

»Das habe ich nicht gesagt. Es hat schon jahrhundertelang Psychiater gegeben, bevor man die Routineuntersuchung eingeführt hat. Am besten, ich unterhalte mich einmal mit dem Jungen.«

»Sie wollen mit ihm reden? Das ist alles?«

»Wenn nötig, werde ich mich auch noch mit einigen Fragen an Sie wenden, aber das Wesentliche ist, daß ich zuerst einmal mit dem Jungen spreche.«

»Also wirklich, Dr. Sloane, ich bezweifle, ob er mit Ihnen über diese Angelegenheit sprechen wird. Nicht einmal mit mir hat er darüber gesprochen, und ich bin doch immerhin seine Mutter.«

»So etwas kommt oft vor«, versicherte der Psychiater. »Ein Kind eröffnet sich oft viel eher einem Fremden als einer nahe-stehenden Person. Jedenfalls, auf andere Art kann ich den Fall nicht behandeln.«

Etwas unbefriedigt erhob sich Mrs. Hanshaw.

»Wann können Sie kommen, Doktor?«

»Sagen wir, am kommenden Samstag. Da hat Ihr Sohn ja schulfrei. Oder haben Sie an diesem Tag schon etwas anderes vor?«

»Wir werden Sie erwarten.«

Würdig schritt sie aus dem Sprechzimmer. Dr. Sloane begleitete sie durch den kleinen Empfangsraum zum Tor und wartete, bis sie die Nummer ihres Tores gewählt hatte. Er beobachtete, wie sie durch das Tor schritt. Er sah eine halbe Frau, eine Viertelfrau, einen einzelnen Ellbogen, einen Fuß, ein Nichts.

Es war tatsächlich furchterregend.

War ein Tor schon jemals während eines Transports zusammengebrochen - hier die eine Hälfte des Körpers, dort die andere? Er hatte noch nie von einem solchen Fall gehört, aber er konnte sich vorstellen, daß es möglich war.

Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück und sah nach, welcher Patient als nächster in die Sprechstunde kommen sollte. Mrs. Hanshaw war offensichtlich verärgert und enttäuscht gewesen, weil er es abgelehnt hatte, für ihren Sohn eine psychiatrische Routineuntersuchung zu arrangieren.

Aber warum, um Gottes willen? Warum sollte eine solche Untersuchung, die seiner Meinung nach nichts als Quacksalberei war, eine so große Bedeutung in der Öffentlichkeit gewonnen haben? Es mußte an diesem allgemeinen Trend zur Maschine hin liegen. Was der Mensch auch kann, Maschinen können es besser. Maschinen! Noch mehr Maschinen! Maschinen für alles und jedes! O tempora! O mores!

Zum Teufel!

Es begann ihn zu stören, daß er der psychiatrischen Routineuntersuchung so ablehnend gegenüberstand. Fürchtete er sich vor Arbeitslosigkeit? Fürchtete er für die Sicherheit seines Be-rufs? Fürchtete er eine Mechanophobie, wenn man es so nennen konnte?

Er beschloß, mit seinem eigenen Psychiater darüber zu sprechen.

Dr. Sloane mußte erst einen Zugang zu dem Jungen finden. Richard war kein Patient, der zu ihm kam, mehr oder weniger gewillt zu sprechen, mehr oder weniger gewillt, sich helfen zu lassen.

Den Umständen entsprechend war es wohl am besten, wenn seine erste Begegnung mit Richard kurz und unverbindlich verlief. Es würde genügen, wenn der Junge ihn erst einmal kennenlernte. Beim nächsten Zusammentreffen würde Richard ihn bereits als Bekannten betrachten und kurze Zeit später als Freund der Familie.

Es konnte natürlich sein, daß Mrs. Hanshaw nicht gewillt war, einen langwierigen Prozeß zu akzeptieren. Vielleicht würde sie versuchen, über einen anderen Psychiater eine Routineuntersuchung in die Wege zu leiten, und sie würde natürlich einen finden, der dazu bereit war.

Und sie würde dem Jungen weh tun. Das wußte er genau.

Aus diesem Grund mußte er einen Teil der üblichen Vorsichtsmaßnahmen außer acht lassen und eine kleine Krisis riskieren.

Unangenehme zehn Minuten waren verstrichen, als er zu dieser Entscheidung gelangt war. Mrs. Hanshaw lächelte steif und musterte ihn aus engen Augen, als erwarte sie, daß die Worte gleichsam magisch von seinen Lippen flössen. Richard rutschte auf seinem Sessel hin und her, hörte teilnahmslos Dr. Sloanes tastenden Versuchen zu, ein Gespräch in Gang zu bringen. Er langweilte sich tödlich und war anscheinend unfähig, das zu verbergen.

Dann fragte Dr. Sloane plötzlich: »Hättest du Lust, mit mir spazierenzugehen, Richard?«

Die Augen des Jungen weiteten sich, und er hörte auf, auf dem Sessel herumzurutschen.

»Spazierengehen, Sir?«

»Ich meine, draußen.«

»Sie gehen hinaus?«

»Manchmal. Wenn mir danach zumute ist.«

Richard war aufgesprungen. Verlegen bemühte er sich, seinen freudigen Eifer nicht zu zeigen.

»Ich hätte nicht gedacht, daß das irgend jemand tut.«

»Ich tue es. Und ich habe gern Gesellschaft dabei.«

Der Junge setzte sich unsicher wieder hin.

»Mammy ...«

Mrs. Hanshaw war zu Stein erstarrt. Ihre zusammengepreßten Lippen zitterten vor Entsetzen. Schließlich brachte sie es fertig zu sagen. »Aber sicher, Dickie. Paß gut auf dich auf!«

Sie warf Dr. Sloane einen kurzen, unheil schwangeren Blick zu.

In einer Beziehung hatte Dr. Sloane gelogen. Er ging nicht manchmal ins Freie. Seit seinen frühen Studienjahren war er nicht mehr an der frischen Luft gewesen. Sicher, er hatte immer viel für Sport übrig gehabt.

Auch zuletzt betrieb er noch Ausgleichssport. Aber zu seiner Zeit hatten sich gerade die ultravioletten Sporthallen durchgesetzt, die Hallenbäder und Tennissäle wuchsen nur so aus dem Erdboden. Diese Sportzentren waren viel angenehmer als die Freiluftplätze. Sie konnten benutzt werden, wann immer man dazu Lust hatte, unabhängig von der Jahreszeit. Bald gab es überhaupt keinen Grund mehr, an die frische Luft zu gehen.

So fühlte er ein leichtes Kribbeln auf der Haut, als der Wind ihn umstrich, als er mit seinen Schmutzabweisern vorsichtig durch das bloße Gras stapfte.

»Da, sehen Sie!« Richard war wie ausgewechselt. Er lachte, und jede Zurückhaltung war von ihm gewichen.

Dr. Sloane konnte nur einen blauen Streifen sehen, der in einem Baumwipfel endete. Blätter raschelten, und das blaue Ding verschwand.

»Was war das?«

»Ein Vogel«, sagte Richard. »Ein blauer Vogel.«

Dr. Sloane blickte sich erstaunt um. Der Hanshaw-Besitz lag auf einer kleinen Erhebung, und man konnte meilenweit sehen. Das Gebiet war nur locker von Bäumen bestanden, und dazwischen schimmerte das Gras in der Sonne.

Im tieferen Grün leuchteten Farben auf, bildeten rote und gelbe Muster. Das waren Blumen. Er hatte sie in Büchern abgebildet gesehen, und manchmal auch in alten Filmen. Er hatte einiges darüber gelernt, und so schien ihm das Bild, das sich ihm jetzt bot, seltsam vertraut.

Aber das Gras war so schön und saftig, die Blumen wuchsen in so wohlgeordneten Mustern. Dumpf wurde ihm bewußt, daß er erwartet hatte, hier draußen eine Art Wildnis vorzufinden.

»Wer sorgt denn für die Gegend hier?«

Richard zuckte mit den Schultern.

»Weiß ich nicht. Vielleicht die Mechanos.«

»Die Mechanos?«

»Sie wimmeln in Scharen hier herum. Manchmal kommen sie mit einer Art Atommesser. Das halten sie ganz nahe an den Erdboden. Damit können sie das Gras schneiden. Und dann trödeln sie mit den Blumen herum und allem möglichen Zeug. Sehen Sie, da drüben ist einer!«

Man sah eine kleine Gestalt, etwa eine halbe Meile entfernt. Die Metallhaut warf die Sonnenstrahlen zurück, als der Me-chano langsam über die glänzende Wiese glitt. Er schien sich mit irgend etwas zu beschäftigen. Dr. Sloane konnte nicht sehen, womit.

Dr. Sloane staunte. Eine Art perverser Ästhetizismus, verdächtig.

»Was ist das?« fragte er plötzlich.

Richard blickte in die Richtung, in die Dr. Sloane deutete.

»Ein Haus. Es gehört den Froehlichs. A-3, 23, 461. Der kleine Punkt da ist das Tor.«

Dr. Sloane starrte das Haus an. War es tatsächlich so seltsam, wie es von außen aussah? Er hatte etwas Höheres erwartet, etwas Würfelförmigeres.

»Kommen Sie!« rief Richard und lief davon.

Dr. Sloane folgte ihm etwas langsamer.

»Kennst du alle Häuser hier?«

»Fast alle.«

»Wo ist A-3, 26, 475?« Das war natürlich sein eigenes Haus.

Richard blickte sich um.

»Warten Sie mal ... Oh, ja, sicher. Ich weiß, wo es ist. Sehen Sie das Wasser dort?«

»Wasser?« Dr. Sloane entdeckte ein silbernes Band, das sich durch das Grün schlängelte.

»Das ist wirkliches Wasser«, sagte Richard. »Es fließt über Steine und alle möglichen Dinge, ununterbrochen. Man kann es überqueren, wenn man auf die Steine tritt. Es wird Fluß genannt.«

Es ist wohl eher ein Bach, dachte Dr. Sloane. Er hatte natürlich auch Geographie studiert, aber heutzutage verstand man unter diesem Fach natürlich nur ökonomische und zivilisatorische Geographie. Die ursprüngliche Geographie war beinahe ausgestorben und wurde nur mehr von wenigen SpezialWissenschaftlern betrieben. Trotzdem kannte er wenigstens theoretisch den Unterschied zwischen Fluß und Bach.

»Jenseits des Flusses, dort hinter dem Hügel mit der dichten Baumgruppe ist A-3, 26, 475. Es ist ein hellgrünes Haus mit einem weißen Dach.«

»Tatsächlich?« Dr. Sloanes Überraschung war echt. Er hatte nicht gewußt, daß sein Haus grün war.

Ein kleines Tier strich durch das Gras, ängstlich bemüht, den Menschenfüßen zu entkommen. Richard blickte ihm nach und zuckte mit den Schultern.

»Man kann sie nicht fangen. Ich habe es schon oft versucht.«

Ein Schmetterling flog vorbei, ein flatterndes gelbes Etwas. Dr. Sloane blickte ihm nach.

Leises Summen lag über der Wiese, unterbrochen von einem gelegentlichen heiseren Schrei, ein Klappern, ein Zwitschern, ein Schnattern, einmal lauter, dann wieder leiser. Als Dr. Sloa-nes Ohren sich an die fremdartigen Geräusche gewöhnt hatten, erkannte er, daß er tausend verschiedene Laute hörte. Und kein einziger stammte von einem Menschen.

Ein Schatten fiel über die Landschaft, bewegte sich auf ihn zu, bedeckte ihn. Plötzlich wurde es kühler. Verwirrt blickte er nach oben.

»Das ist nur eine Wolke«, sagte Richard. »In einer Minute verschwindet sie wieder. Da, diese Blumen! Wie die riechen!«

Sie waren nun einige hundert Yards vom Hanshaw-Haus entfernt. Die Wolke glitt vorbei, und wieder schien die Sonne. Dr. Sloane blickte zurück. Erschrocken sah er, wie weit sie schon gegangen waren. Wenn er das Haus nicht mehr sehen konnte und wenn Richard davonlaufen sollte, würde er den Weg zurück finden?

Ungeduldig schob er diesen Gedanken beiseite und blickte auf den Bach hinab, dem sie nun nähergekommen waren. Dort hinter dem Hügel mußte sein Haus stehen. Hellgrün? dachte er verwundert.

»Du bist ja ein richtiger Forschungsreisender«, sagte er.

Mit schüchternem Stolz erwiderte Richard: »Wenn ich in die Schule oder nach Hause gehe, nehme ich immer einen anderen Weg und lerne wieder etwas Neues kennen.«

»Aber du gehst nicht jeden Morgen ins Freie, nicht wahr? Manchmal benutzt du doch wohl auch das Tor.«

»Ja, sicher.«

»Warum, Richard?« Dr. Sloane fühlte, daß diese Frage wesentlich war.

Aber Richard enttäuschte ihn. Mit hochgezogenen Brauen und erstauntem Blick sagte er: »Nun, manchmal regnet es, und da muß ich das Tor benutzen. Ich hasse es zwar, aber was soll ich machen? Vor zwei Wochen bin ich in den Regen gekommen, und ich . « Er drehte sich automatisch um, und seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Ich habe mich verkühlt, und Mammy hat sich sehr aufgeregt.«

Dr. Sloane seufzte.

»Sollen wir umkehren?«

Enttäuschung malte sich auf Richards Gesicht.

»Ach! Warum denn?«

»Deine Mutter wartet vielleicht schon auf uns.«

»Wahrscheinlich.« Widerstrebend kehrte der Junge um.

Sie wanderten langsam zurück.

»Einmal habe ich in der Schule einen Aufsatz geschrieben«, erzählte Richard, »über das Thema, welches alte Fahrzeug ich mir aussuchen würde. Ich habe ein Großverkehrsflugzeug gewählt und geschrieben, wie ich mir die Sterne und Wolken und alle möglichen anderen Dinge ansehen würde. Damals war ich noch richtig blöd.«

»Und jetzt würdest du dir ein anderes Fahrzeug aussuchen?«

»Da können Sie drauf wetten. Ich würde in einem Auto fahren, ganz langsam. Dann würde ich alles sehen, was es auf der Erde gibt.«

Mrs. Hanshaw blickte den Psychiater besorgt und etwas unsicher an.

»Und sie glauben nicht, daß es anormal ist, Doktor?«

»Vielleicht ungewöhnlich, aber nicht anormal. Er liebt eben die frische Luft und die Welt da draußen.«

»Wie kann er nur! Es ist doch so schmutzig, so unangenehm!«

»Das ist eine Frage des Geschmacks. Vor Jahrhunderten waren unsere Ahnen die meiste Zeit im Freien. Ich glaube, sogar heute gibt es Millionen Afrikaner, die noch nie im Leben ein Tor gesehen haben.«

»Aber ich habe Richard immer dazu angehalten, sich zu benehmen, wie sich ein anständiger Mensch in Distrikt A-3 zu benehmen hat«, sagte Mrs. Hanshaw wütend. »Nicht wie ein Afrikaner - oder einer unserer Ahnen.«

»Daraus resultieren ja seine Schwierigkeiten. Er spürt den Drang hinauszugehen, und gleichzeitig spürt er, daß er etwas Unrechtes tut. Er schämt sich, darüber mit Ihnen oder mit seiner Lehrerin zu sprechen. Es zwingt ihn dazu, sich in sich selbst zu verkriechen, und das könnte unter Umständen gefährlich werden.«

»Aber wie kann ich ihn überreden, mit dem Unsinn aufzuhören?«

»Versuchen Sie es nicht«, sagte Dr. Sloane. »Versuchen Sie lieber, seine Aktivität in die richtigen Bahnen zu lenken. An dem Tag, als ihr Tor nicht funktionierte, war er gezwungen, ins Freie zu gehen. Er entdeckte, daß ihm das gefiel, und von da an ging er zu Fuß in die Schule und nach Hause, um dieses erste erregende Erlebnis ständig zu wiederholen. Nehmen Sie einmal an, Sie erlauben ihm, am Samstag oder Sonntag für zwei Stunden das Haus zu verlassen. Dann wird er einsehen, daß er es nicht täglich erzwingen muß, sondern wieder wie üblich an den Schultagen das Tor benutzen. Glauben Sie nicht, daß seine Schwierigkeiten mit der Lehrerin und wahrscheinlich auch mit den Mitschülern dann aufhören?«

»Aber dann ändert sich ja gar nichts. Muß das so sein? Wird er nie mehr normal werden?«

Dr. Sloane erhob sich.

»Mrs. Hanshaw, er ist so normal wie jedes andere Kind. Er kostet eben gerade die Freuden des Verbotenen aus. Wenn Sie ihm beistehen, wenn Sie ihm zeigen, daß sie seine Handlungsweise nicht mißbilligen, wird das Verbotene bald seine Anziehungskraft verlieren. Wenn er älter wird, wird er rechtzeitig genug erkennen, welche Forderungen die Gesellschaft an ihn stellt. Er wird lernen, sich anzupassen. In jedem von uns steckt ein kleiner Rebell, aber er stirbt, wenn wir alt und müde werden. Aber wenn man den kleinen Rebellen unterdrückt und ihm nicht erlaubt, sich auszuleben, wird er nie sterben. Setzen Sie Richard also nicht unter Druck. Bald wird er wieder in Ordnung sein.«

Er ging zum Tor.

»Und Sie glauben nicht, daß eine psychiatrische Routineuntersuchung nötig ist?« fragte Mrs. Hanshaw.

Ärgerlich fuhr er herum.

»Nein, unter keinen Umständen! Der Junge hat nichts, das eine solche Untersuchung rechtfertigen würde. Verstehen Sie? Nichts!«

Er hob den Finger, und einen Zoll von der Schalttafel des Tores entfernt blieb der Finger plötzlich in der Luft hängen. Er runzelte die Stirn.

»Was ist denn los?« fragte Mrs. Hanshaw.

Aber er hörte sie nicht. Er dachte an das Tor, an die psychiatrische Routineuntersuchungen, und an den steigenden, erdrük-kenden Strom der Maschinerie. In jedem von uns steckt ein kleiner Rebell, dachte er.

Er ließ die Hand sinken, wandte dem Tor den Rücken zu und sagte mit sanfter Stimme: »Heute ist so ein wunderschöner Tag. Ich glaube, ich gehe lieber zu Fuß nach Hause.«