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Der Priester sah dürr und zerknittert aus, ein Zwerg mit verrunzelter Haut, die an schmutziges trockenes Pergament erinnerte. Er trug einen grünen Turban auf dem kahlen Schädel — das Zeichen tiefer Trauer, wie Devall wußte.
Der kleine Fremdling verbeugte sich mit grotesk abgewinkelten Armen, wodurch er seinen Respekt andeutete. Als er sich wieder aufrichtete, riß er den Kopf scharf zurück, bis sein Blick den Devalls traf.
»Die Jury ist gewählt worden, das Verfahren kann beginnen. Wo ist der Angeklagte?«
Devall wünschte, er hätte an einen Dolmetscher für diese letzte Unterredung gedacht, aber das war unmöglich; mit dieser Situation mußte er allein fertig werden, niemand konnte ihm dabei helfen.
»Der Angeklagte befindet sich in seiner Unterkunft«, sagte er langsam. »Zuerst möchte ich einige Fragen stellen.«
»Fragen Sie.«
»Wenn ich Ihnen den jungen Mann ausliefere, damit er sich Ihrem Gericht stellt, muß er damit rechnen, daß ihn die Todesstrafe trifft?«
»Es ist denkbar.«
Devall legte die Stirn in Falten. »Können Sie sich nicht etwas präziser ausdrücken?«
»Wie kann ich das Urteil kennen, bevor die Verhandlung stattgefunden hat?«
»Gut, lassen wir das«, sagte Devall, der begriff, daß er keine konkrete Antwort bekommen würde. »Wo wird die Verhandlung stattfinden?«
»Nicht weit von hier.«
»Kann ich ihr beiwohnen?«
»Nein.«
Der Colonel fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Angenommen, ich weigere mich, Leutnant Leonards auszuliefern. Wie würden Ihre Männer darauf reagieren?«
Lange herrschte Schweigen. Dann sagte der alte Priester: »Denken Sie daran, es zu tun?«
»Ich spreche hypothetisch.«
»Das wäre sehr schlimm. Der heilige Garten würde für viele Monate entweiht bleiben. Dazu…«Er sprach eine Reihe von Worten, die Devall unbekannt waren. Der Colonel überlegte fast eine Minute, dann sagte er:
»Was bedeutet das? Können Sie es nicht in Worten ausdrücken, die mir geläufig sind?«
»Es ist der Name des Rituals. Ich würde an Stelle des Erdenbewohners angeklagt werden und müßte sterben. Mein Nachfolger würde Sie alle auffordern müssen, uns zu verlassen.«
Tiefe Stille senkte sich über das Dienstzimmer. Nur das laute Atmen des alten Priesters war zu vernehmen und das Tschirpen der grillenähnlichen Insekten auf dem Rasen vor dem Fenster.
Was soll ich tun? dachte Devall. Nachgeben — oder die Faust des Lehnsherrn zeigen?
Plötzlich schien alles klar für ihn zu sein, und er fragte sich erstaunt, wie er solange unentschieden hatte zögern können.
»Ich habe Ihren Wunsch vernommen und respektiere ihn«, sagte er. »Der junge Mann gehört Ihnen. Aber darf ich um eine Gunst bitten?«
»Fragen Sie.«
»Er wußte nicht, daß er Ihre Gesetze verletzte, und er bedauert, was er getan hat. In ein paar Minuten wird er in Ihren Händen sein. Ich möchte um Gnade für ihn bitten. Er wußte nicht, daß er Sie kränkte.«
»Das wird sich bei der Verhandlung herausstellen«, sagte der Priester kühl. »Wenn Gnade gewährt werden kann, wird sie ihm gewährt werden. Ich kann keine Versprechungen machen.«
»Gut«, sagte Devall. Er griff nach seinem Schreibblock und setzte den Befehl auf, durch den Leutnant Leonards den Fremden übergeben wurde. Er unterzeichnete den Befehl mit seinem vollen Namen und dem Dienstrang. »Hier. Geben Sie das dem Mann, der Sie einließ. Er wird dafür sorgen, daß der junge Offizier Ihnen übergeben wird.«
»Sie sind klug«, sagte der Priester. Er verbeugte sich tief und wandte sich der Tür zu.
»Einen Augenblick«, sagte Devall verzweifelt, als der andere die Tür öffnete. »Ich habe noch eine Frage.«
»Fragen Sie«, sagte der Priester.
»Sie sagten mir, daß Sie den Platz des Jungen einnehmen müßten, wenn ich mich weigerte, ihn auszuliefern. Wie wäre es, wenn ein anderer…«
»Sie sind für uns nicht annehmbar«, sagte der Priester, als läse er Devalls Gedanken. Dann ging er.
Fünf Minuten später blickte der Colonel aus dem Fenster und sah die Prozession der Fremden den Ausgangsposten passieren. In ihrer Mitte marschierte, in sein Schicksal ergeben, Leutnant Leonards. Er warf keinen Blick zurück.
Der Colonel starrte lange auf die abgegriffene Reihe von Büchern, die mit ihm von Welt zu Welt gereist waren — vom grauen Danelon zum stürmischen Lurrin und dem knochentrockenen Korvel, weiter zu Hegath und M’Qualt und den anderen, und nun zum Markin mit seinem blauen Himmel. Er schüttelte den Kopf, wandte sich ab und ließ sich schwer in den Sessel hinter seinem Schreibtisch fallen.
Mit einer herrischen Gebärde schaltete er den Autoschreiber ein und diktierte einen ausführlichen Bericht, vom Beginn des Falles bis zum Höhepunkt der von ihm getroffenen Entscheidung. Er lächelte bitter. Einige Zeit würde vergehen, bis die Autoschreiber-Faksimilemaschine im Keller des ET-Gebäudes zu rattern begann. Dann würde Thornton in Rio wissen, welche Entscheidung er getroffen hatte.
Devall schaltete das Sprechgerät ein und sagte: »Ich möchte unter keinen Umständen gestört werden. Dringende Sachen sind an Major Grey weiterzuleiten; er vertritt bis auf Widerruf. Nachrichten von der Erde sind ebenfalls an Major Grey weiterzugeben.«
Er fragte sich, ob sie ihn sogleich seines Kommandos entheben oder warten würden, bis sie wieder auf die Erde zurückkehrten. Wahrscheinlicher war das letztere. Auf alle Fälle würde eine Untersuchung erfolgen, und ein Kopf würde rollen.
Devall zuckte die Achseln und lehnte sich zurück. Ich habe das Richtige getan, sagte er zu sich selbst. Dessen bin ich sicher. Aber ich hoffe, daß ich nie mehr meiner Schwester unter die Augen treten muß.
Er sann lange vor sich hin. Seine Augen schlossen sich, Schlaf überkam ihn.
Ein lauter Schrei weckte ihn. Es war ein frohlockender Schrei aus Dutzenden von Kehlen, der die nachmittägliche Stille zerriß. Devall sprang auf und stürmte ans Fenster. Eine Gestalt, allein und zu Fuß, kam durch das Tor. Der Mann trug die vorgeschriebene Uniform, aber sie triefte von Nässe und war an mehreren Stellen zerrissen. Das blonde Haar lag wie bei einem Schwimmer glatt am Kopf. Der Uniformierte schien sich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten zu können.
Leonards!
Der Colonel war halb aus der Tür, als ihm zu Bewußtsein kam, daß seine Uniform nicht den Vorschriften entsprach; Knöpfe standen offen, der Hemdkragen hatte sich selbständig gemacht. Mit erzwungener Ruhe richtete der Colonel seine Kleidung, dann trat er hoch aufgerichtet den Marsch über den Platz an.
Um Leonards hatte sich eine Gruppe lachender Kameraden gebildet, Offiziere und Mannschaften. Der Leutnant grinste müde.
»Achtung!« rief Devall, und sofort trat Stille ein.
Leonards hob einen Arm zum vorgeschriebenen Gruß.
»Ich bin zurück, Colonel.«
»Das sehe ich. Sind Sie sich darüber klar, daß ich Sie trotz Ihrer Flucht den Fremden wieder zur Aburteilung übergeben muß?«
Der Junge schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, Sir. Sie begreifen nicht. Der Prozeß ist vorüber. Ich bin freigesprochen worden.«