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Devall schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich bin noch zu keinem Entschluß gekommen. Wenn ich Sie ausliefere, schaffe ich einen gefährlichen Präzedenzfall. Tue ich es nicht, so weiß ich nicht, was geschieht.«Er zuckte die Achseln. »Ich werde den Fall zur Erde melden. Ich sehe nicht ein, warum ich eine so schwerwiegende Entscheidung treffen soll.«
Aber es war seine Pflicht, die Entscheidung zu treffen, dachte er, als er die Unterkunft Leonards’ verließ und sich auf den Weg zur Nachrichtenbude machte. Er allein konnte alle Faktoren des Falles beurteilen, weil er mit dem Schauplatz des Verbrechens vertraut war. Ganz gewiß würde sein Appell an die Erde nur dazu führen, daß man ihm die Verantwortung wieder zuschob.
Für eine Tatsache aber war er dankbar: Leonards hatte keinen Versuch gemacht, aus dem Verwandtschaftsverhältnis Kapital zu schlagen. Es war seine, Devalls, Pflicht, zu vergessen, daß Leutnant Leonards sein Neffe war.
Der Nachrichtenmann war im Hintergrund des kleinen Baues beschäftigt und bemerkte Devalls Eintritt nicht. Der Colonel wartete einen Augenblick, dann räusperte er sich und sagte: »Mr. Rory?«
Rory drehte sich um. »Ja, Colonel?«
»Stellen Sie sofort eine Subradio Solidoverbindung zur Erde her, mit Direktor Thornton vom ET-Department. Und rufen Sie mich, wenn es soweit ist.«
Es dauerte zwanzig Minuten, bis der Subspaceimpuls die Lichtjahre überwunden und einen Empfänger auf der Erde gefunden hatte, weitere zehn Minuten, um über eine Relaisstelle in Rio empfangen zu werden. Devall kehrte in die Funkbude zurück. Das grünfunkelnde Solidofeld war abgestimmt. Er trat hinein und stand scheinbar im Büro des ET-Chefs. Thorntons Projektion war scharf, aber der Schreibtisch schien an den Kanten zu flattern. Nichtorganische Gegenstände kamen nie in völliger Klarheit durch.
Schnell schilderte Devall die Lage. Thornton unterbrach ihn nicht. Stumm, die Hände ineinander verschlungen, lauschte er den Worten Devalls. Als der Colonel geendet hatte, sagte Thornton: »Eine sehr unangenehme Geschichte.«
»Allerdings.«
»Der Priester will am nächsten Tage wiederkommen, sagten Sie? Ich fürchte, das läßt uns nicht genug Zeit, den Stab zusammenzutrommeln und den Fall zu besprechen.«
»Wahrscheinlich könnte ich ihn ein paar Tage hinhalten.«
Thorntons Lippen bildeten einen dünnen Strich. Nach kurzem Überlegen sagte er: »Nein. Ergreifen Sie alle Maßnahmen, die Sie für nötig halten, Colonel. Ist nach der psychologischen Einstellung der Markinbewohner zu befürchten, daß sich schwerwiegende Konsequenzen ergeben, wenn Sie sich weigern, Ihren Mann durch ein Markingericht aburteilen zu lassen, so liefern Sie ihn aus. Kann dieser Schritt vermieden werden, so vermeiden Sie ihn selbstverständlich. Bestraft werden muß der Mann auf alle Fälle.«
Der Direktor lächelte gezwungen. »Sie sind einer unserer besten Männer, Colonel. Ich bin überzeugt, daß Sie die richtige Lösung für diesen Fall finden werden.«
»Danke, Sir«, sagte Devall unbehaglich. Er nickte und trat aus dem Solidofeld zurück. Thorntons Bild begann zu verschwimmen, aber Devall vernahm noch seine letzten Worte: »Melden Sie sich wieder bei mir, wenn der Zwischenfall beigelegt ist.«
Devall blinzelte in die plötzliche Dunkelheit, die nach dem grellen Licht des Soliphons doppelt schwarz schien. Langsam tastete er sich aus der Funkbude und trat auf den freien Platz hinaus.
Es war so gekommen, wie er es vorausgeahnt hatte. Thornton war ein guter, tüchtiger Mann, aber er war Zivilangestellter und unterstand als solcher der Kontrolle der Regierung. Er liebte es nicht, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen — besonders dann nicht, wenn ein Colonel einige hundert Lichtjahre entfernt gezwungen werden konnte, diese Entscheidungen für ihn zu treffen.
Devall rief die Männer seines Stabes für 09.15 Uhr am nächsten Morgen zusammen. Fast alle Arbeit in der Enklave ruhte. Die Fremdsprachengruppe war zurückgeblieben, Posten hielten alle Ausgänge besetzt. Selbst unter den sanftesten fremden Völkern konnte plötzlicher Haß zum Ausbruch von Feindseligkeiten und Gewalt führen.
Die Gruppe hörte sich schweigend die Bandaufnahme von Leonards Bericht, Meyers Zeugenaussage und von der kurzen Unterredung an, die Devall mit den fünf Fremden gehabt hatte. Devall schaltete das Gerät ab und ließ den Blick über die versammelten Männer gleiten — zwei Majore, ein Captain und vier Leutnants bildeten seinen Stab.
»Sie wissen nun, was geschehen ist. Der alte Hohepriester kommt gegen Mittag, um sich meine Antwort zu holen. Ich hielt es für angebracht, die Dinge erst in einer Stabsbesprechung zu diskutieren.«
Major Dudley meldete sich zum Wort. Er war ein mittelgroßer untersetzter Mann mit funkelnden dunklen Augen. In Verfahrensfragen hatte er schon des öfteren in krassem Gegensatz zu Devall gestanden. Der Colonel hatte ihn trotzdem zu vier aufeinanderfolgenden Missionen mitgenommen, weil er keine Männer brauchen konnte, die zu allem ja und amen sagten. Dudley hatte sich zudem als großartiger Organisator erwiesen.
»Major?«
»Sir, nach meiner Ansicht gibt es keinen Zweifel, welchen Kurs wir einzuschlagen haben. Es ist unmöglich, Leonards den Fremden auszuliefern, damit sie über ihn zu Gericht sitzen. Es wäre unmenschlich.«
»Würden Sie Ihre Meinung begründen, Major?«
»Einfach genug. Wir sind die Rasse, die die Raumfahrt entwickelt hat und darum die am höchsten entwickelte Rasse der Milchstraße. Ich denke, das versteht sich von selbst.«
»Ich bin anderer Ansicht«, erwiderte Devall. »Aber fahren Sie fort.«
Dudley machte eine finstere Miene. »Von Ihrer Meinung einmal abgesehen, Sir — die Fremden, die uns bisher begegnet sind, haben uns offensichtlich als Überlegene betrachtet. Das kann kaum geleugnet werden und ist nur durch die Tatsache zu erklären, daß wir ihnen wirklich überlegen sind. Geben wir Leonards aber auf, so daß er von ihnen verurteilt werden kann, so schwächen wir unsere Position. Dann sieht es aus, als hätten wir kein Rückgrat. Wir…«
»Sie schlagen also vor, daß wir uns in der Milchstraße als Lehnsherren gebärden und fürchten, daß wir alle Kontrolle über die fremden Welten verlieren könnten, wenn wir unseren ›Leibeigenen‹ nachgeben? Ist das tatsächlich Ihre Ansicht, Major?« Devall funkelte den Major an.
Dudley wich dem Blick nicht aus. »Im Grunde, ja. Verdammt, Sir, ich habe mich bemüht, Sie seit der Hegath-Expedition zu dieser Ansicht zu bekehren. Wir sind nicht hier draußen zwischen den Sternen, um Schmetterlinge und Eichhörnchen zu fangen! Wir…«
»Ich entziehe Ihnen das Wort«, sagte Devall kalt. »Wir haben sowohl eine kulturelle als auch eine militärische Aufgabe zu erfüllen. Solange ich das Kommando führe, sehe ich unsere Mission in erster Linie als kulturell an.«Devall fühlte, daß er nahe daran war, die Nerven zu verlieren. Er wandte sich von Dudley ab und sagte: »Major Grey, würden Sie sich zur Sache äußern?«
Grey war der Astrogator des Raumschiffes. Am Boden fungierte er als Überwacher aller Bauten und als Kartograph. Er war ein drahtiger Mann, der nie lächelte.
»Nach meiner Meinung müssen wir behutsam vorgehen, Sir. Liefern wir Leonards aus, so würde die Erde gewaltig an Prestige verlieren.«
»An Prestige verlieren?« stieß Dudley hervor. »Wir würden uns selbst aufgeben. Wir könnten nie wieder erhobenen Hauptes in der Milchstraße auftreten, wenn…«
Ruhig sagte Devall: »Major Dudley, ich hatte Ihnen das Wort entzogen. Verlassen Sie diese Versammlung.«Ohne Dudley noch eines Blickes zu würdigen, wandte er sich wieder Grey zu. »Sie glauben also nicht, Major, daß wir durch die Auslieferung bei den Völkern, die die Erde mit Unbehagen betrachten, an Prestige gewinnen könnten?«
»Das ist eine Frage, die im voraus schwer zu beantworten ist, Sir.«
Devall stand auf. »Gemäß den Dienstvorschriften habe ich den Fall zur Kenntnis der Behörden auf der Erde gebracht und ihn meinem Stab zur Diskussion gestellt. Ich danke Ihnen für die Zeit, die Sie mir geopfert haben, Gentlemen.«
Captain Marechal sagte unbehaglich: »Sir, wäre nicht eine Abstimmung über die Schritte, die unternommen werden müssen, angebracht?«
Devall lächelte kühl. »Als Kommandeur dieser Basis übernehme ich die alleinige Verantwortung in dieser Sache. Dadurch dürfte die Situation klar sein für den Fall, daß es zu einem kriegsgerichtlichen Verfahren kommt.«
Er war der einzige Weg, dachte er, als er in seinem Büro auf die Ankunft des Hohenpriesters wartete. Im Interesse des terranischen Prestiges schienen die Offiziere gegen eine versöhnliche Haltung eingestellt. Es wäre nicht fair, sie die Verantwortung für eine Entscheidung übernehmen zu lassen, mit der sie nicht einverstanden waren.
Der Gedanke an Dudley bereitete Devall Unbehagen, aber Insubordination dieser Art durfte nicht geduldet werden. Bei der nächsten interstellaren Mission würde Dudley der Einheit nicht mehr angehören. Vorausgesetzt, daß es für ihn, Devall, zu dieser nächsten Mission kommen würde.
Die Lampe des Sprechgerätes glühte schwach auf.
»Ja?« sagte Devall.
»Sir, die Abordnung der Fremden ist da«, meldete die Ordonnanz.
»Schicken Sie sie mir erst herein, wenn ich Ihnen den Befehl gebe.«
Devall ging zum Fenster und blickte hinaus. Das eingezäunte Gelände schien voller Fremder zu sein. Tatsächlich war es höchstens ein Dutzend, aber sie waren in voller Rüstung erschienen und trugen Speere und verzierte Schwerter. Ein halbes Dutzend Soldaten beobachtete sie nervös aus der Ferne; sie waren bereit, in jeder Sekunde zu den Blastern zu greifen, wenn es erforderlich werden sollte.
Devall wog ein letztes Mal die Möglichkeiten gegeneinander ab.
Lieferte er Leonards aus, so würde sich die augenblickliche Verärgerung der Fremden legen — wahrscheinlich aber auf Kosten des terranischen Prestiges. Verweigerte er die Auslieferung, so würde er die fremden Welten die Faust des Lehnsherrn spüren lassen.
Welchen Weg er auch wählte, der Ruf der Terraner würde in der Galaxis auf jeden Fall geschädigt werden. Entweder würden sie als Schwächlinge oder als Tyrannen betrachtet werden. Er erinnerte sich an eine Definition, die er einmal gelesen hatte: Kern des Melodramas ist der Konflikt zwischen Recht und Unrecht, Kern der Tragödie der Konflikt zwischen Recht und Recht. Beide Seiten hatten hier recht. Welchen Weg er auch einschlug, Schwierigkeiten würden sich nicht vermeiden lassen.
Etwas anderes kam hinzu: Leonards. Wenn sie ihn nun hinrichteten? Familiäre Betrachtungen schienen in diesem Augenblick läppisch, aber dennoch, seinen Neffen auszuliefern, obwohl ihm unter Umständen der Tod drohte…
Er holte tief Atem, straffte seine Gestalt und blickte in den Spiegel. Das Bild, das ihm entgegenblickte, beruhigte ihn. Er war jeder Zoll der kommandierende Offizier, auch nicht die leiseste Andeutung seiner inneren Konflikte spiegelte sich in seiner Miene wider.