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»Schluß jetzt!« befahl Trautman scharf, »Hört auf, euch wie kleine Kinder zu benehmen.« Er wandte sich wieder Singh zu. »Das beste wird vermutlich sein, wenn wir den Tag hier abwarten. Sobald es dunkel geworden ist, nähern wir uns unbemerkt der LEOPOLD und versuchen an Bord zu gelangen. Mit ein wenig Glück können wir Arronax und die anderen befreien, ehe Winterfelds Leute überhaupt merken, daß wir da sind.« Er drehte sich halb herum und ließ seinen Blick suchend über die Gesichter der anderen schweifen. »Chris, schalte bitte die automatische Steuerung aus«, sagte er. »Wir bleiben hier, bis es dunkel ist.« Während Chris ins Boot zurückflitzte, um zu tun, was Trautman ihm aufgetragen hatte, fragte Mike: »Und die Taucherglocke? Ich meine: Selbst wenn es uns gelingt, den Professor zu befreien, hat Winterfeld noch immer die Glocke.« »Ohne Arronax nutzt sie ihm nicht viel«, behauptete Trautman. Er schwieg eine Sekunde, bevor er mit einem schrägen Seitenblick auf Ben hinzufügte: »Schlimmstenfalls können wir sie noch immer zerstören. Das wird Arronax zwar das Herz brechen, aber als letzter Ausweg -« Ein dumpfer Knall wehte über das Meer zu ihnen heran, etwas wie ein weit entfernter, einzelner Donnerschlag, so leise, daß er gerade noch an der Grenze des überhaupt Wahrnehmbaren schien. Trotzdem brach Trautman erschrocken mitten im Satz ab, fuhr herum und starrte mit aufgerissenen Augen nach Westen. »Aber das ist doch ...« murmelte er. Er lauschte plötzlich gebannt, und nach einer Sekunde hörte auch Mike etwas: ein ganz leises, hohes Pfeifen, das rasch näher kam und dabei immer mehr an Lautstärke gewann. Und es war nicht das erste Mal, daß er ein Geräusch wie dieses hörte.
»Aber das ist doch unmöglich!« keuchte Trautman. »Sie können uns doch überhaupt nicht sehen!« Aber unmöglich oder nicht -sie alle wußten nur zu gut, was das rasend schnell näher kommende Pfeifen zu bedeuten hatte. Und noch bevor irgendeiner von ihnen etwas sagen konnte, schlug die Granate mit einem ungeheuren Krachen in die Wasseroberfläche ein. Eine turmhohe Schaumsäule explodierte in den Himmel hinauf, und obwohl der Einschlag mehr als hundert Meter entfernt gelegen hatte, erbebte die NAUTILUS unter den Wellen, die plötzlich gegen ihre Flanke schlugen. »Sie schießen auf uns!« keuchte Ben. »Aber das kann doch nicht sein! Sie können doch gar nicht wissen, daß wir hier sind!« Als hätten die Männer auf dem Kriegsschiff am Horizont seine Worte verstanden, ertönte das ferne Donnern ein zweites Mal, und wieder hörten sie das rasch anschwellende Heulen der heranrasenden Granate. »Alles unter Deck! Wir tauchen!« schrie Trautman. Sie fuhren herum und rannten auf den Turm zu. Jede Sekunde, die er eher hinter dem Kommandopult des Schiffes stand, mochte über Leben und Tod entscheiden. Zweifellos hatte Chris getan, was Trautman ihm aufgetragen hatte, und die automatische Steuerung ausgeschaltet, und das bedeutete nichts anderes, als daß die NAUTILUS gleich ganz von selbst anhalten und ein hervorragendes Ziel bieten würde! Dicht hintereinander polterten sie die schmale eiserne Leiter in den Turm und dann die Treppe zum Kommandoraum hinab. Das Schiff erbebte unter einer zweiten Explosion, die die Meeresoberfläche auseinanderriß, und obwohl Mike die brüllende Gischtsäule diesmal nicht sehen konnte, spürte er doch, daß sie weitaus näher lag als die erste. Unmöglich oder nicht -die Kanoniere der LEOPOLD schossen sich allmählich ein. Und sie hatten ja schon einmal eine Kostprobe von der Treffsicherheit der Kanonen des Kriegsschiffes bekommen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die erste Granate die NAUTILUS traf. Mike stolperte hinter Trautman und Singh in den Kommandoraum. Er sah, daß Chris über die Kontrollanzeigen gebeugt dastand und ihnen voll Entsetzen entgegensah -die beiden Explosionen waren auch hier unten deutlich zu hören gewesen, aber Chris konnte ja nicht wissen, was der Lärm und die plötzlichen Erschütterungen bedeuteten. Mike warf einen Blick aus dem riesigen Aussichtsfeilster, das einen Großteil der Steuerbordwand einnahm. Das Wasser, das hier normalerweise so kristallklar und durchsichtig war, daß man Hunderte von Metern weit sehen konnte, sprudelte und schäumte. »Was ist passiert?« fragte Chris entsetzt. »Ich ... ich habe nur die automatische Steuerung ausgeschaltet. Wirklich, ich habe nichts angerührt!« Offensichtlich glaubte Chris, daß der Lärm und die kochenden Wogen seine Schuld waren. Niemand antwortete, alle waren mit einem Sprung an ihrem Platz hinter den Kontrollinstrumenten. Trautman selbst ließ sich in den Kapitänssessel fallen. Seine Hände schienen plötzlich zu eigenem Leben zu erwachen und ein Dutzend verschiedener Dinge gleichzeitig zu tun. Aber auch Mike und die anderen waren für die nächsten Augenblicke vollauf beschäftigt. Sie hatten während der Fahrt hierher Zeit genug gehabt, sich mit der Steuerung der NAUTILUS vollends vertraut zu machen, und sie hatten auch einen Fall wie diesen geübt - sozusagen aus dem Stand heraus Fahrt aufzunehmen und zu tauchen. Allerdings hätte sich wohl keiner von ihnenauch nur träumen lassen, daß sie ihre Übungen so schnell in die Praxis umsetzen würden -und daß es dabei um ihr Leben ging. Und so war es auch. Mike warf einen Blick aus dem Fenster - und schloß geblendet die Augen, als die nächste Granate der LEOPOLD so nahe bei der NAU-TILUS explodierte, daß der grelle Lichtblitz für einen Moment alle Farben auslöschte und schmerzende Nachbilder auf Mikes Netzhaut hinterließ. Eine halbe Sekunde später erbebte die NAUTILUS wie unter einem Hammerschlag. Mikes Herz machte einen erschrockenen Sprung, als er spürte, wie sich das riesige Tauchboot schwerfällig auf die Seite legte. Für ein paar Sekunden war das Meer vor dem Fenster verschwunden, und statt dessen fiel grelles Sonnenlicht in den Raum. Dann kippte das Schiff mit solcher Wucht in die Waagrechte zurück, daß Mike um ein Haar aus seinem Sessel geschleudert worden wäre. »Das war knapp«, sagte Trautman trocken. »Machen wir, daß wir wegkommen. Ich fürchte, der nächste Schuß trifft.« Das Meer vor dem Fenster begann allmählich dunkler zu werden, als das Schiff immer steiler in die Tiefe sank. Eine weitere Granate explodierte über ihnen, und sie wurden erneut durchgeschüttelt; allerdings nicht mehr so heftig wie das letzte Mal. »Dreißig ... vierzig ... fünfundvierzig Meter.« Trautman las die Anzeige des Tiefenmessers laut ab. »Ich glaube, das reicht. Aber das war verdammt knapp.« Etwas im donnernden Takt der Maschinen änderte sich, und der Boden begann sich wieder zu heben. Sie fuhren noch immer mit Höchstgeschwindigkeit, sanken aber nicht mehr tiefer. Trautman richtete sich hinter seinem Kommandopult auf. Mike sah erst jetzt, daß sein Gesicht schweißnaß war und seine Hände leicht zitterten. Trotz seiner äußerlichen Ruhe war ihm die entsetzliche Gefahr, in der sie alle geschwebt hatten, bewußt gewesen. Irgendwie fand Mike den Gedanken, daß auch Trautman Angst gehabt hatte, beruhigend, obwohl er sich dies im ersten Moment selbst nicht erklären konnte. Singh betrat die Brücke. Sein Haar, sein Gesicht und seine Schultern waren naß, er hatte die Luke wohl im allerletzten Moment zubekommen, und er schien gestürzt zu sein, denn er blutete aus einer kleinen Platzwunde über dem Auge. Noch ehe Trautman etwas sagen konnte, wandte er sich an Mike. »Seid Ihr verletzt, Herr?« Mike schüttelte den Kopf. »Was ... was ist überhaupt passiert?« fragte Chris verdattert. »Ist ... ist irgend etwas kaputtgegangen?« »Ja«, maulte Ben, ehe Mike oder Trautman antworten konnten. »Wirwären um ein Haarkaputtgegangen.« Er schoß einen giftigen Blick in Mikes Richtung ab und fügte böse hinzu: »Das war ein schöner Gruß von deinem Freund Winterfeld.« »Winterfeld ist nicht mein Freund«, antwortete Mike ärgerlich. »Er ist -« Trautman unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Aufhören!« sagte er scharf. »Habt ihr zwei nichts Besseres zu tun, als euch zu streiten?« Ben duckte sich ein wenig unter seinen Worten, aber seine Kampfeslust war keineswegs gestillt. »Doch«, antwortete er patzig. »Zum Beispiel darüber nachzudenken, wieso uns ein Schiff beschießt, dessen Besatzung gar nicht wissen kann, daß wir hier sind. Das war ja fast so, als hätten sie auf uns gewartet!« André seufzte. »Jetzt kommt wieder die Verrätertheorie«, murmelte er. »Wen von uns willst du denn diesmal verdächtigen?« »Schluß damit!« fuhr Trautman dazwischen. Seiner Stimme war anzuhören, daß er nahe daran war, die Geduld zu verlieren. Aber Mike mußte zugeben, daß Ben nicht ganz Unrecht hatte. Es warwirklich fast, als hätte Winterfeld gewußt, daß sie kamen. Singhs Überlegungen gingen offensichtlich in die gleiche Richtung, und anders als Mike sprach er seine Gedanken laut aus: »Der Junge hat recht, selbst wenn sie gewußt haben, daß wir sie suchen - wie konnten sie uns überhaupt sehen? Wir sind Meilen von der LEOPOLD entfernt.« »Das wüßte ich auch gern«, murmelte Trautman. Sein Gesicht war voll Sorge aber da war etwas in seinen Augen; ein Ausdruck, den Mike noch nie zuvor darin erblickt hatte und der ihm ganz und gar nicht gefiel. »Winterfeld muß vollkommen den Verstand verloren haben!« fuhr Trautman erregt fort. »Na gut -wenn dieser feine Herr Krieg haben will, dann kann er ihn bekommen.« Mike tauschte einen Blick mit Singh. Auch dem Inder war die Veränderung, die plötzlich mit Trautman vor sich gegangen war, nicht verborgen geblieben. Und sie schien ihm so wenig zu gefallen wie Mike. »Wie meinen Sie das?« fragte Mike. »Unseren ursprünglichen Plan können wir vergessen«, antwortete Trautman. »Wie die Dinge liegen, kommen wir nie unbemerkt an Bord der LEOPOLD. Aber ich denke,daß wir immer noch die eine oder andere Überraschung für diesen Herren bereit haben. Die NAUTILUS verfügt noch über ganz andere Möglichkeiten. Als wir noch unter Kapitän Nemo fuhren, waren wir mehr als einmal in schlimmeren Situationen. Ich werde euch zeigen, wie wir solche Probleme damals gelöst haben.« »Sind Sie sicher, daß das auch klug ist?« fragte Mike. Trautman lachte, leise und auf eine Art, die Mike frö
stein ließ. »Nein«, sagte er. »Aber bestimmt wirksam. Auf eure Plätze!« Es lag etwas so Befehlendes in der Art, wie er das sagte, daß Mike nicht einmal auf den Gedanken kam, sich zu widersetzen oder auch nur noch eine Frage zu stellen, sondern sich auf Skalen und Schalter konzentrierte. Das Motorengeräusch wurde lauter, als die NAUTILUS immer schneller wurde. Mike konnte ihr genaues Tempo auf seinen Instrumenten nicht erkennen, aber er spürte, daß das Schiff seine normale Höchstgeschwindigkeit längst überschritten hatte und immer noch weiter beschleunigte. Eine sonderbare Erregung ergriff von ihm Besitz. Das Gefühl war nicht sehr angenehm, aber er konnte sich ihm auch nicht entziehen. Er glaubte den Anblick, den die NAUTILUS plötzlich bieten mußte, vor seinem inneren Auge zu sehen: Das Schiff schoß wie ein gigantischer, stählerner Raubfisch unter Wasser auf seine Beute zu, nicht mehr länger ein friedliches U-Boot, das die Weltmeere durchkreuzte, sondern ein Ungetüm, das Vernichtung und Tod brachte. Trautmans Blick war auf eine komplizierte Apparatur gerichtet, auf der er die Entfernung zu ihrem Ziel ablesen konnte. Mike erschrak, als er sah, wie rasch sie sich der LEOPOLD näherten. Sie brauchten die Torpedos, von denen Ben vorhin gesprochen hatte, gar nicht mehr. Bei dieser Geschwindigkeit wurde die gesamte NAUTILUS zu einemeinzigen, übergroßenGeschoß. »Was haben Sie vor?« erkundigte sich Juan. »Sie wollen das Schiff doch nicht wirklich versenken, oder?« Trautman biß sich auf die Lippen. »Nein«, sagte er dann. »Aber wir werden für ein wenig Aufregung an Bord sorgen.« Er lachte. »Das letzte, womit Winterfeld jetzt vermutlich rechnet ist, daß wir ihn angreifen. Und gerade darum tun wir es.«
»Angreifen?« Juans Stimme verriet weitaus mehr von seiner Unsicherheit als sein Gesichtsausdruck. »Die LEOPOLD ist ein ziemlich großes Schiff, Trautman«, sagte er. »Selbst im Vergleich zur NAUTILUS. Sind Sie sicher, daß wir sie besiegen können?« »Ja«, antwortete Trautman. »Wir könnten es, wenn es sein müßte. Aber ich habe nicht vor, jemanden zu töten. Wir können das Schiff beschädigen und in dem Durcheinander versuchen, Arronax und seine Leute zu befreien und die Taucherglocke an uns zu bringen -oder notfalls zu zerstören.« »Und wie wollen Sie das machen?« fragte Mike. »Wir werden der LEOPOLD ein wenig den Bauch aufschlitzen«, erklärte Trautman vergnügt. »Ein so großes Schiff wird davon nicht untergehen, aber die Mannschaft wird alle Hände voll zu tun haben, um das Wasser aus dem Schiff zu pumpen.« »Aufschlitzen?!« Mike tauschte einen erschrockenen Blick mit Juan und André. Irgend etwas stimmte hier nicht, das spürte er. »Natürlich«, erklärte Trautman. »Auf diese Weise hat dein Vater all seine Opfer erlegt. Was glaubst du, wofür die NAUTILUS den Zackenkamm hat? Damit sägen wir das Schiff auf, als bestünde es aus Butter, statt aus massivem Eichenholz.«»Holz?«stammelte Mike. Er fühlte eisigen Schrecken in sich aufsteigen. Sie hatten die LEOPOLD fast erreicht. »Sagten Sie:Eichenholz?«Trautman nickte und sah ihn an, als zweifelte er an seinem Verstand. »Was sonst? Kriegsschiffe baut man schließlich nicht aus Schilf, oder? Es wird einen ganz schönen Ruck geben, aber wir -« »Worauf Sie sich verlassen können«, fiel ihm Juan trocken ins Wort. »Es mag noch viele Segler aus Holz gegeben haben, als Nemo und Sie die Weltmeere unsi
cher gemacht haben, aber das Ding da vorne -« Er hob die Hand und deutete zum Bug hin. »-besteht aus mindestens fünf Zentimeter starkem Panzerstahl!« »Stahl?« wiederholte Trautman. Auf seinem Gesicht erschien ein bestürzter Ausdruck. »Panzerstahl«, verbesserte ihn Juan. Er deutete mit Daumen und Zeigefinger einen Abstand von gut fünf Zentimetern an. »So dick.« Trautman starrte ihn mit blankem Entsetzen an. »0 mein Gott!« flüsterte er. »Wir müssen -« Er kam nicht weiter. Die Zahlen auf der Anzeige vor ihm hatten die Null erreicht. Mike fand gerade noch Zeit, sich am Rand seines Pultes festzuklammern, da ging auch schon ein ungeheurer Schlag durch die NAUTILUS. Das Schiff dröhnte wie eine riesige Glocke, die von einem ebenso riesigen Klöppel getroffen worden war, und diesmal war es, als wären sie unter die Füße eines zornigen Riesen geraten, der sich vorgenommen hatte, sie in den Meeresgrund zu rammen. Mike wurde aus seinem Sessel und in die Höhe gerissen, verlor den Halt und schlug einen Salto in der Luft, während er über sein Pult hinwegsegelte. Gellende Schreie erfüllten den Kommandoraum, Mike stürzte hart, wurde erneut herumgerissen und prallte gegen etwas Hartes, daß er glaubte, sein Rückgrat bräche entzwei. Das Licht flackerte. Ein schriller, mißtönender Laut erklang, als schrie das Schiff wie unter Schmerzen, und er konnte hören, wie irgendwo weiter am Heck etwas zerbrach. Decke, Boden und Wände schienen einen wilden Tanz um ihn herum aufzuführen, und er sah noch, wie sich der Boden immer weiter und weiter nach vorne senkte, als das Schiff regelrecht ins Meer hineingetrieben wurde. Vergeblich suchte er nach irgend etwas, woran er sich festklammern konnte.
Dann sprang plötzlich die stählerne Wand des Raumes auf ihn zu, und das war für etliche Stunden das letzte, was er sah.
Jemand schlug Mike ins Gesicht: so leicht, daß es nicht weh tat, aber auch so hartnäckig und gleichmäßig, daß es ihm unmöglich war, das zu tun, was er am liebsten getan hätte -nämlich weiterzuschlafen. Widerwillig hob Mike das linke Augenlid, sah ein dunkles, von schwarzem Haar umrahmtes Gesicht über sich und schloß das Auge sofort wieder. »Lßmchnruhe«, nuschelte er. Singh jedoch schlug Mike weiter geduldig abwechselnd auf die rechte und die linke Wange, bis dieser endlich die Augen öffnete und seine Hand festhielt. »Ich denke, du bist mein Leibwächter«, sagte er. »Wieso schlägst du dann auf mich ein, als würdest du dafür bezahlt?« Es war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen tatsächlich ein Lächeln auf Singhs Zügen erschien. »Ihr müßt aufwachen, Herr«, sagte er. »Wenn das so ist, warum versuchst du dann, mich wieder bewußtlos zu schlagen?« maulte Mike. Er wollte nicht aufwachen. Er hatte einen so spannenden Traum gehabt. Er hatte geträumt, daß die NAUTILUS das deutsche Kriegsschiff angegriffen hatte und dabei so schwer beschädigt worden war, daß -
Geträumt?
Mike setzte sich mit einem so plötzlichen Ruck auf, daß Singh erschrocken ein Stück zurückprallte. Es war kein Traum gewesen! Siehattendie LEOPOLD angegriffen, und das Schiffwarbeschädigt worden. Zumindest war das letzte, woran er sich erinnern konnte, daß Trautman wohl gründlich die Kontrolle über die NAUTILUS verloren hatte und sich das Tauchboot auf dem Weg zum Meeresboden befand, fünf Meilen unter der Wasseroberfläche. »Was ist passiert?« fragte er. »Wo sind wir?« »Keine Sorge, Herr«, antwortete Singh. »Es ist alles in Ordnung. Niemand ist ernsthaft verletzt.« »Das istdeinStandpunkt«, sagte eine wohlbekannte, nörgelnde Stimme hinter Mike, die ihn endgültig davon überzeugte, daß er nicht mehr träumte. Er drehte sich herum und sah in Bens Gesicht, der Singh unter einem frischen Stirnverband hervor zornig anfunkelte. »Bei Gelegenheit sollten wir uns über die genaue Bedeutung der Worte >nicht ernsthaft verletzt< unterhalten. Ich habe mir fast den Schädel eingeschlagen.« »Eben«, sagte André gelassen. »Es wurde kein besonders wertvoller Körperteil in Mitleidenschaft gezogen.« Ben warf ihm einen giftigen Blick zu, den André mit einem Grinsen quittierte - das allerdings wenig überzeugend ausfiel. Es lag wohl daran, daß er kaum einen besseren Anblick bot als der junge Engländer und die anderen ebenfalls. Chris trug einige Heftpflaster auf der Stirn und einen Verband um das rechte Handgelenk. Andrés linkes Auge war dunkel unterlaufen und halb zugeschwollen, und Juans Wange zierte ein langer, erst halb verschorfter Kratzer. Es schien genauso zu sein, wie Singh behauptet hatte: Keiner von ihnen war ernsthaft verletzt, aber offensichtlich war auch niemand ohne Blessuren davongekommen. »Und was ist mit dem Schiff?« fragte er. Juan wollte antworten, aber Trautman kam ihm zuvor. »Es ist beschädigt, aber nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe«, sagte er. Mike stand langsam auf und tastete vorsichtig seine Glieder ab, als müsse er sich davon überzeugen, daß sie auch tatsächlich alle noch da und unversehrt waren. Erst danach nahm er sich die Zeit, seinen Blick durch die Kommandozentrale streifen zu lassen. Der Anblick war tatsächlich nicht so schlimm, wie er im ersten Moment erwartet hatte, einige Scherben lagen herum, und zwei Bilder waren von der Wand gefallen. Der Boden lag ein wenig schräg, und vor dem Fenster war nichts als vollkommene Schwärze. Offenbar hatten sie noch einmal Glück gehabt. »Sieht so aus, als hätten wir noch einmal Glück im Unglück gehabt«, sagte Juan, als ob er Mikes Gedanken gelesen hätte. »Wir sind nicht besonders tief gesunken.« Er deutete auf Trautmans Pult, auf dem sich der Tiefenmesser befand. »Nicht ganz zweihundert Meter. Irgend etwas hat uns aufgehalten.« »Nicht besonders tief?« ächzte Mike. »Zweihundert Meter? Und das nennst du nicht besonders tief?!« Er wollte sich erst gar nicht die Tonnen um Tonnen von Wasser vorstellen, die auf jeden Quadratzentimeter des Schiffsrumpfes über ihren Köpfen drückten. »Das nenne ich es«, sagte Juan ruhig. »Das Meer ist an dieser Stelle beinahe sechstausend Meter tief. Wenn wir nicht auf diesem Riff oder was immer es ist, gestrandet wären, dann wären wir jetzt dort unten. Und der Wasserdruck in dieser Tiefe hätte mit dem Schiff einfach -« Er hob die Hand, spreizte die Finger und schloß sie dann mit einem Ruck zur Faust. »-das gemacht.« Mike schauderte erneut. Juans Handbewegung war so anschaulich, daß er gern auf jede weitere Erklärung verzichtete. Die NAUTILUS war ein gewaltiges Schiff, aber sie war nicht unzerstörbar. »Haben wir viel abbekommen?« fragte er. »Trautman und Singh haben sich im Schiff umgesehen, während du geschlafen hast -wie üblich hast du wieder einmal das Spannendste verpaßt.« Juan wies
zur Decke. »Die oberen Lagerräume scheinen unter Wasser zu stehen. Aber es ist nicht so schlimm, wie es im ersten Moment aussah. Wenn es uns gelingt, das Leck abzudichten, können wir das Wasser
herauspumpen. Eine Menge Arbeit, aber es geht -hoffe ich.« Mike deutete mit einer Kopfbewegung auf Trautman, der mit dem Rücken zu ihnen am Fenster stand. »Warum ist er dann so niedergeschlagen?« »Er macht sich Vorwürfe«, antwortete Juan flüsternd. »Vorwürfe?« fragte Mike. »Weil ich uns um ein Haar alle umgebracht hätte«, sagte Trautman, ehe Juan antworten konnte. Mike und er hatten sehr leise gesprochen, aber Trautman hatte ihre Worte offensichtlich trotzdem verstanden. Er drehte sich nicht zu ihnen herum, als er weitersprach, aber Mike sah, daß er die Fäuste ballte. »Ich hätte das niemals tun dürfen«, fuhr er fort. »Ich ... ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist. Ich war wie von Sinnen. Aber ... aber für einen Augenblick war es wieder wie früher. Wie damals, als Nemo noch an Bord dieses Schiffes war.«
Und sie sich als eine Art moderner Pirat betätigt hatten?dachte Mike. Keiner von ihnen hatte es jemals deutlich ausgesprochen, aber sie alle wußten, daß der sagenumworbene Kapitän Nemo auch eine Menge Dinge getan hatte, die nicht so ganz zu dem RobinHood-Image paßten, das er in den Erzählungen der Menschen später bekommen hatte. Es gab nicht wenige, die behaupteten, Nemo und seine Männer wären nichts als gemeine Piraten gewesen - was Mike natürlich empört von sich gewiesen hätte, vor allem jetzt, wo er Singh und Trautman kennengelernt hatte. Aber es gab Dinge, über die Trautman nicht gerne sprach, und was er nun andeutete, gehörte zweifellos dazu. Und das schlimmste war vielleicht, daß Mike zu wissen glaubte, was er meinte. Schließlich hatte er es selbst gespürt. Diese düstere, böse Verlockung der Macht und den fast unbändigen Wunsch, die Kräfte dieses phantastischen Schiffes einzusetzen, um ihren Gegner einfach zu zerstören, hatte er ebenso deutlich gefühlt wie Trautman -und wohl auch alle anderen, denn als er sich umsah, erblickte er auch auf Juans und Andrés Gesicht die gleiche Betroffenheit, die auch er verspürte. Einzig Ben sah nur trotzig drein. »Wir hätten nicht hierherkommen dürfen«, fuhr Trautman fort. »Ich hätte bei meinem Entschluß bleiben und dieses verdammte Schiff an der tiefsten Stelle des Meeres versenken sollen.« »Es ist ja nicht viel passiert«, sagte Mike. »Nicht viel passiert?« Trautman schnaubte. »Wir liegen zweihundert Meter unter dem Meeresspiegel fest. Um ein Haar hätte ich euch alle umgebracht. Und wenn es anders gekommen wäre, dann hätte ich vielleicht noch viel mehr Menschen getötet. Habt ihr eine ungefähre Vorstellung, wie viele Männer an Bord der LEOPOLD sind?« »Etwa tausendzweihundert«, sagte Ben - und wahrscheinlich hätte er noch mehr gesagt, hätte Juan ihm nicht einen so kräftigen Tritt vor das Schienbein verpaßt, daß er vor Schmerz die Luft anhielt. »Ja, und auch die hätte ich um ein Haar auf dem Gewissen«, sagte Trautman düster. »Ich hätte mein Wort niemals brechen dürfen. Ich habe Nemo geschworen, dieses Schiff nie wieder als Waffe gegen Menschen einzusetzen. Und er wußte, warum er mir diesen Schwur abverlangte.« »Wenn Winterfeld Atlantis findet, wird vielleicht noch viel größeres Unheil geschehen«, sagte Mike vorsichtig. »Wir werden ihn kaum davon abhalten können, seine
Suche fortzusetzen, wenn wir auf dem Meeresgrund
liegen und Wasser aus dem Schiff pumpen«, antwortete Trautman. »Wenn es das Schicksal so will, dann soll er Atlantis meinetwegen finden. Ich werde jedenfalls nicht mehr versuchen, mich in Dinge einzumischen, die mich nichts angehen.« Er straffte sich und wandte sich mit einem Ruck von der Schwärze jenseits des Fensters ab. »Wir werden die NAUTILUS reparieren, und danach setze ich euch im nächsten erreichbaren Hafen ab«, sagte er. Mike schwieg. Er spürte, daß es im Moment vollkommen sinnlos war, mit Trautman darüber zu reden. »Statt Trübsal zu blasen, sollten wir uns lieber den Schaden genauer ansehen und versuchen, den Kahn wieder flottzumachen«, sagte André laut. Er blickte von Trautman zu Singh und wieder zu Trautman. Singh nickte. Trautman schwieg, senkte aber zustimmend den Kopf. »Du hast recht«, sagte er schließlich. »Singh und ich gehen nach draußen und sehen uns den Schaden an. Ihr könnt inzwischen hier Ordnung schaffen.« »Ich komme mit«, sagte Mike spontan. »Ganz bestimmt nicht«, antwortete Trautman, aber Mike ließ sich so schnell nicht abwimmeln. »Wieso nicht?« fragte er. »Es ist für mich dort draußen nicht gefährlicher als für Sie. Und wenn Ihnen etwas passiert, sind wir sowieso alle geliefert.« »Es gibt dort draußen absolut nichts Interessantes zu sehen«, sagte Trautman mit einer Geste auf die Grabesschwärze jenseits des Fensters. »Außerdem ist es gefährlicher, als du denkst. Es ist nicht so einfach, sich in einem Taucheranzug zu bewegen.« »Dann wird es Zeit, daß ich es lerne«, sagte Mike. »Ich komme mit.« Und dabei blieb es.
Eine halbe Stunde später standen Trautman, Singh und er in der Tauchkammer tief unten im Rumpf der NAUTILUS, und Mike war sich nicht mehr so sicher, daß es eine gute Idee gewesen war, die beiden zu begleiten. Er hatte die Taucheranzüge, von denen die NAUTILUS ein gutes Dutzend an Bord hatte, schon vorher gesehen, aber es war etwas anderes, ob diese im Schrank hingen oder ob ein Mensch in ihnen steckte und sich bewegte. Trautman und Singh hatten kaum noch etwas Menschliches an sich: In den klobigen Anzügen sahen sie wie mißgestaltete Zyklopen mit einem riesigen kugelrunden Kopf aus Metall aus. Das Sichtfenster prangte wie ein einzelnes, viel zu großes starrendes Auge darin. In dem spiegelnden Glas konnte Mike sich selbst als verzerrten Schatten sehen; ein drittes, klobiges Ungeheuer mit einem viel zu kleinen Kopf und einem bleichen Gesicht. Trautman hob die Hand und winkte ungeduldig, und Mike griff nach seinem eigenen Helm und stülpte ihn über. Singh überprüfte gewissenhaft die Verschlüsse, erst dann gab er Trautman ein Zeichen, der sich schwerfällig herumdrehte und an einem kleinen Handrad drehte. Ein kreisrunder Ausschnitt öffnete sich im Boden. Wasser quoll daraus hervor und überspülte ihre Füße, aber der Druck in der luftdicht abgeriegelten Schleusenkammer verhinderte, daß es höher als einige wenige Fingerbreit stieg. Obwohl der Anzug gut isoliert war, spürte Mike, wiekalt das Wasser des Atlantik in dieser Tiefe war. Singh war der erste, der durch die Öffnung kletterte. Während er in den mit schwarzem, ölig aussehendem Wasser gefüllten Schacht hinabstarrte, bedauerte Mike, darauf bestanden zu haben, an dieser Erkundigungsexpedition teilzunehmen. Dort draußen gab es wirklich nichts zu sehen. Nur Dunkelheit, Schwärze und unbekannte Gefahren. Am liebsten hätte er Trautman signalisiert, daß er doch zurückbleiben wollte. Aber sein Stolz verhinderte, daß er jetzt noch einen Rückzieher machte. Tapfer kletterte er in das Loch im Boden hinab. Das Wasser schlug eisig und schwarz über ihm zusammen, und seine eigenen Atemzüge erzeugten in dem geschlossenen Kupferhelm unheimlich klingende Echos. Als er das Schiff verließ, wurde Mike durch das Licht von Singhs Handscheinwerfer geblendet, bevor der Sikh die Lampe in eine andere Richtung schwenkte. Singh stand nur einen Schritt von ihm, aber trotzdem erahnte Mike ihn mehr, als er ihn wirklich sah. Aber er begriff die Bedeutung der Geste, die Singh machte
- Mike löste den Scheinwerfer vom Gürtel seines Anzugs, schaltete ihn ein und schwenkte ihn herum. Was er sah, versetzte ihn in Erstaunen und Schrecken zugleich. Das Meer war zwar hier unten völlig lichtlos, aber keineswegs ohne Leben. Unter ihren Füßen quollen braune Wolken aus aufgewirbeltem Schlamm hoch, aber überall darin bewegte es sich, huschte es hin und her, verschwanden winzige silbrige Schatten aus dem Bereich der ungewohnten Helligkeit. Kleine Schwärme von Fischen stoben vor dem Licht davon, und Mike konnte erkennen, daß sie in einer regelrechten Wiese kniehoher, grauweißer Algen standen, die sich in der Strömung sanft hin und her wiegten. Das Leben hatte selbst in dieser Tiefe Fuß gefaßt, obwohl das Licht der Sonne niemals hierhergekommen war. Der Gedanke hatte etwas Beruhigendes. Aber Mike sah auch etwas, was ihn sehr beunruhigte. Die Tauchkammer befand sich im hinteren Drittel des Schiffes. Alles, was davor lag, hatte sich unter dem ungeheuren Gewicht der NAUTILUS tief in den schlammigen Grund gegraben - aber auf der anderen
Seite, nur noch wenige Schritte von Singh und ihm entfernt, war
nichts mehr. Auch der Inder hatte diese erschreckende Tatsache bemerkt und näherte sich der klaffenden Schwärze; mit langsamen, kleinen Schritten, wobei er Mike und Trautman, der gerade in diesem Moment hinter ihnen aus dem Schiff kletterte, mit Handzeichen zu verstehen gab, daß sie vorsichtig sein sollten. Mike schob sich buchstäblich millimeterweise weiter. Sein Herz klopfte. Er hatte nicht vergessen, was Trautman ihm über diese Anzüge erzählt hatte: sie waren zwar so sicher, daß sie ihren Träger in nahezu jeder Wassertiefe schützten, aber auch viel zu schwer, um damit zu schwimmen. Wenn er das Gleichgewicht verlor, würde er wie eine Schildkröte, die auf dem Rücken gelandet war, hilflos darauf warten müssen, daß ihn jemand aufhob. Oder darauf, daß er ungefähr sechstausend Meter tiefer auf dem Meeresboden aufschlug ... Mike schauderte, als er neben Singh und Trautman stehenblieb und sich behutsam vorbeugte. Der Abgrund lag genau vor ihnen. Das Licht des starken Scheinwerfers verlor sich nach wenigen Metern, als würde es von der Schwärze dort unten aufgesogen wie ein Wassertropfen von der Wüste. Sie alle waren dem Tod nur um Haaresbreite entgangen: Die NAUTILUS war an der Klippe eines Unterwasserriffes hängengeblieben, aber wäre sie auch nur ein winziges Stückchen weiter abgetrieben... Nein, er wollte sich nicht vorstellen, was dann passiert wäre. Das Schiff hing gut zu einem Drittel über dem Nichts. Sein Bug war zwischen einigen Felsen eingekeilt, aber der Halt sah nicht besonders vertrauenerweckend aus. Mike bildete sich tatsächlich ein, das Boot in der Strömung hin und her wanken zu sehen wie eine zu groß geratene Schiffsschaukel. Natürlich wußte er, daß das pure Einbildung war - ein Scherz, den ihm seine über die Maßen angespannten Nerven spielten. Aber es war auch zugleich eine Warnung. Wenn sie an Bord zurückkehrten, sollten sie sich vielleicht besser vorsichtig bewegen. Eine Winzigkeit mochte genügen, das Schiff vollends abrutschen und ins Bodenlose stürzen zu lassen. Trautman berührte ihn an der Schulter. Als Mike den Kopf wandte und ihn ansah, deutete ihm Trautman, daß sie wieder zum Schiff zurückkehren sollten. Schwerfällig drehten sie sich herum und bewegten sich an der Außenwand des Unterseebootes entlang, wobei ihnen die Lichtstrahlen ihrer Scheinwerfer wie kleine suchende Lichttierchen vorauseilten. Obwohl das Wasser ihnen mit seinem Auftrieb half, war es ein hartes Stück Arbeit, an der Außenseite der NAUTLIUS emporzuklettern. Mike erschrak, als sie hintereinander auf das Oberdeck kletterten und das volle Ausmaß der Schäden erkannten: Mehrere Spitzen des stählernen Zackenkammes waren verbogen, zwei oder drei glatt abgebrochen. Die NAUTILUS mußte die LEOPOLD mit weitaus mehr Wucht gerammt haben, als er bisher geglaubt hatte. Auch der Turm mit dem Ausstieg hatte etwas abbekommen; der obere Lukendeckel war verbogen. Er war zwar noch dicht, aber wahrscheinlich würden sie einen Vorschlaghammer brauchen, um ihn jemals wieder aufzubekommen. Das Schlimmste aber war ein fast mannslanger Riß, der sich dort entlangzog, wo sich die oberen Lagerräume befanden. Und trotzdem hatten sie wieder Glück gehabt. Hätte der Zusammenstoß den Turm beschädigt -oder gar abgerissen -, dann wäre das Schiff binnen weniger Minuten randvoll mit Wasser gelaufen. Trautman ging näher an den Riß heran, um das Leck genau zu untersuchen. Er blieb eine ganze Weile dort stehen, tastete vorsichtig über das Metall und besah sich auch die Heckschleuse eingehend, die sich in gefährlicher Nähe der Wunde befand, die im Leib der NAUTILUS klaffte. Dann kam er wieder zu ihnen und machte eine Handbewegung, die besagte, daß sie sich wieder ins Schiffsinnere begeben sollten. Als Mike sich herumdrehte, um der Aufforderung Folge zu leisten, sah er das Licht. Mike erstarrte mitten in der Bewegung. Es war nur ein Schimmer gewesen, ein kurzer, blasser Blitz, der ebenso rasch wieder erloschen wie aufgeflammt war. Mikes Herz begann so schnell zu schlagen, daß er es bis in die Fingerspitzen fühlen konnte. Ein Licht? Hier unten? Zweihundert Meter unter dem Meeresspiegel? Offensichtlich hatte auch Singh das Licht gesehen, denn das spiegelnde Zyklopenauge seines Helmes blickte starr in die gleiche Richtung, als Mike sich zu ihm herumdrehte. Trautman winkte ihnen erneut, doch Singh und Mike schüttelten gleichzeitig den Kopf, und Singh deutete in die Richtung, in der sie das Licht gesehen hatten. Mike hatte sich nicht getäuscht: es vergingen nur einige Sekunden, dann flammte das Licht wieder auf, wieder nur für einen winzigen Moment. Aber diesmal hatte es auch Trautman gesehen, denn er kletterte am Rumpf der NAUTILUS hinab, so schnell es der klobige Anzug zuließ, und legte seinen Scheinwerfer auf den Boden. Der gelbe Lichtstrahl, der in der schauerlichen Schwärze hier unten noch greller wirkte als ohnehin, stach schräg nach oben in den flüssigen Himmel, wo
er sich nach einer Weile in der Dunkelheit verlor. Im ersten Moment verstand Mike nicht, warum Trautman das tat -aber es wurde ihm klar, kaum, daß sie
sich ein paar Schritte von der NAUTILUS entfernt
hatten. Das Schiff verschmolz mit dem schwarzen Wasser und war schon nach Augenblicken einfach verschwunden. Ohne den Scheinwerfer, den Trautman zurückgelassen hatte, hätten sie wahrscheinlich keine Chance gehabt, den Rückweg jemals zu finden. So dicht hintereinander, daß sie sich mit den ausgestreckten Armen hätten berühren können, bewegten sie sich in Richtung des Lichtes. Es war auch jetzt noch dann und wann zu erblicken: ein sanfter Schimmer, der aufblitzte und verschwand, mal für eine Sekunde, mal für zwei oder drei, mal nur für einen winzigen Augenblick. Mike versuchte vergeblich, irgendeine Regelmäßigkeit in diesem Rhythmus zu entdecken. Das Licht schien vollkommen willkürlich aufzuleuchten und wieder zu erlöschen. Es war sehr schwer, in diesem schwarzen Universum Entfernungen zu schätzen, aber Mike glaubte nicht, daß sie weiter als zwei- oder dreihundert Schritte von der NAUTILUS weg waren, als Trautman plötzlich stehenblieb und warnend die Hand hob. Irgendwo nicht mehr sehr weit vor ihnen wurde der Lichtschein von Singhs Lampe von etwas Großem, Metallischem reflektiert, dessen Umrisse nicht genauer zu erkennen waren: ein Schatten von nur zuerahnender Größe und Form, der aus dem Schlamm des Meeresgrundes herauswuchs. Äußerst vorsichtig bewegten sie sich weiter. Plötzlich sah Mike das Licht wieder: es leuchtete jetzt direkt vor ihnen auf, wie ein kleines, asymmetrisch geformtes Auge, das in unregelmäßigem Takt blinzelte.
Es war ein Fenster. Ein Fenster, hinter dem Licht brannte. Ein dichter Vorhang aus Algen und Tang bewegte sich davor im willkürlichen Takt der Strömung, wie wehendes verfilztes Haar. Mike spürte, wie seine Hände in den dicken Handschuhen vor Aufregung feucht wurden. Unter den hin und her gleitenden Lichtkreisen seines und Singhs
Scheinwerfer schälten sich allmählich die Konturen einer gewaltigen, metallenen Kuppel aus der Schwärze, ein riesiger Bau, sicher fünfzehn Meter hoch und mehr als doppelt so breit, der über und über mit Muscheln verkrustet war, so daß nur hier und da noch ein Stück längst blind gewordenes Metall zu erkennen blieb. Ohne das Fenster mit dem Licht wäre die Kuppel vollkommen unsichtbar gewesen. Sie hätten buchstäblich darüber stolpern können, ohne auch nur zu ahnen, daß vor ihnen mehr als ein Felsbuckel lag. Trautman tastete sich ein Stück an der Kuppel entlang und winkte ihnen. Mike und Singh gingen zu ihm. Vor ihnen befand sich ein kleiner, aus der Kuppel ragender Vorbau -unverkennbar so etwas wie eine Tür. Trautman machte sich an einem Handrad neben dem Eingang zu schaffen, aber erst als Singh ihm half, gelang es ihnen, das Rad zu drehen. Selbst die beiden Männer mußten all ihre Kraft aufwenden, um das sonderbar geformte Rad zu bewegen. Langsam schwang die runde Tür auf. Eine Perlenkette aus silbernen Luftblasen sprudelte ihnen entgegen, und Mike hob sofort seine Lampe, um in den dahinterliegenden Raum zu leuchten. Er sah eine rechteckig geformte Kammer aus Metall, die vollkommen leer war. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine zweite Tür und ein gleichartiges Rad. Die Kammer war eine Schleuse, ganz ähnlich der Tauchkammer anBord der NAUTILUS.
Trautman und Singh hatten die äußere Tür weit genug geöffnet, um durchgehen zu können. Trautman deutete ihnen zurückzubleiben, betrat die Schleuse als erster und blieb eine volle Minute reglos stehen, ehe er ihnen winkte, ihm zu folgen. Mike gehorchte, wenn auch langsam und mit zitternden Knien. In seine Entdeckungsfreude hatte sich längst etwas Angst gemischt. Diese Kuppel war alt:uralt.Er fragte sich, was sie hinter der Tür auf der anderen Seite finden
mochten. Nachdem Singh als letzter die Schleuse betreten hatte,
machten sich Trautman und er mit vereinten Kräften daran, an dem Rad zu drehen. Wie erwartet schloß sich die Tür hinter ihnen - aber dann geschah etwas völlig Unerwartetes: Kaum war die gewaltige Tür wieder zu, da glomm an der gebogenen Decke über ihnen ein mildes, grünes Licht auf, und fast im selben Moment hörten sie ein dumpfes Rumoren und Rauschen, und der Wasserspiegel in der Kammer begann zu sinken. Anscheinend hatten sie mit ihrem Eindringen eine Art Automatik ausgelöst, die ganz von selbst reagierte und das Wasser aus der Schleuse pumpte. Der Gedanke beunruhigte Mike. Ihm war längst klar, daß sie tatsächlich gefunden hatten, wonach Arronax und Winterfeld noch suchten: Die Kuppel war zweifellos ein Bauwerk der sagenumwobenen Atlanter. Sie konnte gar nichts anderes sein.Dasbeunruhigte ihn auch nicht. Im Gegenteil.Wasihn beunruhigte, war das Licht, das sie hinter dem Fenster gesehen hatten, und die Tatsache, daß zumindest ein Teil ihrer uralten Technik noch funktionierte. Als das Wasser so weit gesunken war, daß es ihnen nur noch bis zur Brust reichte, hob Trautman die Hände und begann seinen Helm abzuschrauben. Mike wollte dasselbe tun, aber Trautman machte eine ver
neinende Bewegung, die ihn innehalten ließ, setzte den Helm behutsam ab und atmete fünf-, sechs-, siebenmal hintereinander ein und aus, ehe er auch Singh und Mike gestattete, ihre Helme abzunehmen. Die Luft, die sie einatmeten, schmeckte sonderbar: alt und abgestanden und fremdartig. Mike konnte es nicht besser beschreiben, denn es war eine Art von Luft, wie er sie noch niemals gerochen hatte. »Ich glaube, wir haben gefunden, wonach Winterfeld und Arronax suchen«, sagte Trautman -fast wörtlich das, was Mike gerade gedacht hatte. Trautmans Stimme klang seltsam, ein fast ehrfürchtiges Flüstern, das von den metallenen Wänden hohl und irgendwie heiser zurückgeworfen wurde. Und er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da hörten sie erneut dieses rumpelnde Geräusch - und vor ihnen begann sich die innere Tür der Schleusenkammer wie von Geisterhand bewegt zu öffnen.
Während der Sekunden, die vergingen, bis sich die Tür so weit geöffnet hatte, daß sie einen Blick in den dahinterliegenden Raum werfen konnten, plagten Mike alle nur denkbaren fürchterlichen Visionen - von der Vorstellung, von einem tosenden Wasserschwall verschlungen zu werden bis hin zu der, sich einem glotzäugigen Ungeheuer mit Krakenarmen und handlangen Zähnen gegenüberzusehen. Nichts von alledem geschah -aber es kam Mike noch im nachhinein ganz erstaunlich vor, wie lange ein paar Sekunden sein konnten, in denen man hilflos den Schreckgespenstern der eigenen Phantasie ausgeliefert war. Und was sie sahen, war erstaunlich genug. Auch das Innere der Kuppel war hell erleuchtet. Das Licht, das von derselben unwirklichen grünen Farbe war wie das in der Schleuse, kam aus unsichtbaren Quellen
unter der Decke, und was es enthüllte, ließ Mike neuerlich erschaudern. Der ganze, riesige Raum war mit Maschinen und Gerätschaften der unterschiedlichsten Größe und Bauart regelrecht vollgestopft. Nichts davon ähnelte irgend etwas, was er jemals gesehen hätte. Sowohl die Einrichtung wie auch die gesamte Architektur der Halle gehorchten einer fremdartigen, düsteren Geometrie. Es war Mike unmöglich, irgendwo einen rechten Winkel zu entdecken, eine gerade Linie oder auch nur eine Krümmung, die ihm vertraut schien, aber es war ihm auch unmöglich, die Abweichung vom Normalen zu beschreiben. Es war, als wären alle Winkel und Linien, alle Formen und Umrisse ein ganz kleines Stückchen verschoben aber in eine Richtung, die es eigentlich gar nicht gab. Und so unheimlich und fremd ihm diese Umgebung erschien, kam sie ihm doch zugleich auch auf sonderbare Weise vertraut vor. Staunend und hin und her gerissen zwischen Faszination und Furcht ging er in die Halle hinein. Bei jedem Schritt dröhnten seine schweren Stiefel dumpf auf dem Boden. Anders als die Wände bestand er aus Stein; großen, asymmetrisch geformten Blöcken, die ein eigenartiges Muster bildeten, von dem Mike irgendwie sicher war, daß er es kannte. Und dann, ganz plötzlich, wußte er es. Er hatte ein Bauwerk wie dieses schon einmal gesehen. Diese Kuppel war ganz zweifellos von den gleichen Wesen (es war ihm selbst in Gedanken nicht möglich, sie alsMenschenzu bezeichnen) errichtet worden wie die Gebäude auf der Vergessenen Insel, auf der sie die NAUTILUS gefunden hatten. Aber es gab einen gewaltigen Unterschied. Die Gebäude, auf die sie im Inneren des erloschenen Vulkans gestoßen waren, warenRuinengewesen, zum Großteil
zerstört und ihrer gesamten technischen Einrichtung beraubt. Hier war nichts zerstört, und die fremdartigen Maschinen versahen ihren Dienst zuverlässig wie am ersten Tag -und das, obwohl dieser Kuppelbau Tausende von Jahren alt sein mußte! Hilflos sah er sich nach Singh und Trautman um. Die beiden waren ihm gefolgt und sahen ebenso verwirrt drein wie er selbst. Mike machte eine Geste. »Was ... ist das hier?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Trautman leise. »Ich meine, es ist ein Teil des versunkenen Kontinents, daran besteht kein Zweifel. Aberwases ist ...« Er hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Auch ich habe so etwas noch nie gesehen. Mein Gott -es muß Tausende und aber Tausende von Jahren alt sein. Und es funktioniert noch immer!« Mike trat an eine der Maschinen heran und betrachtete das Schaltpult genauer. Er hatte nicht die geringste Ahnung, um was es sich dabei handelte, doch die Apparaturen kamen ihm irgendwie bekannt vor wie alles hier, und auf einmal begriff er es. Sie ähnelten denen der NAUTILUS. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, woher das phantastische Tauchboot wirklich stammte, so hatte er ihn jetzt vor Augen. »Rühr nichts an«, sagte Trautman. »Das alles hier scheint noch immer zu funktionieren -aber ich habe keine Ahnung,wasdann passiert.« »Es muß Jahrtausende alt sein«, murmelte Mike kopfschüttelnd. »Was für ein Volk muß es gewesen sein, das solche Apparate bauen konnte?« »Ich frage mich, welche Gewalt ein solches Volk einfach ausgelöscht haben kann«, sagte Trautman leise. Mike erschrak. »Sie meinen -« »Ich meine gar nichts«, unterbrach ihn Trautman scharf. »Bis jetzt war Atlantis auch für mich nur eine
Legende, weißt du? Trotz der NAUTILUS und der Vergessenen Insel. Aber das hier ... Wenn dieses Volk in der Lage war, Maschinen zu bauen, die nach Jahrtausenden noch funktionieren, was um alles in der Welt mag es dann vernichtet haben?« Die Worte erfüllten Mike mit einem Schrecken, den er sich selbst nicht erklären konnte. »Wir können nicht lange bleiben«, sagte Trautman. »Die anderen werden sich schon Sorgen machen.« Mike verstand. Sie alle wußten, daß der Sauerstoffvorrat in den Anzügen nur für eine knappe Stunde ausreichte. Zwar waren sie hier drinnen nicht darauf angewiesen, aber die auf dem Tauchboot Verbliebenen hatten ja davon keine Ahnung, sondern glaubten sie noch draußen vor der NAUTILUS. »Aber wenn Winterfeld in der Zwischenzeit diese Kuppel findet...« begann Mike. »Ich habe nicht gesagt, daß wir so tun sollen, als wäre nichts passiert«, verbesserte ihn Trautman gereizt. In etwas gemäßigterem Ton fuhr er fort: »Wir gehen zurück und erzählen den anderen, was wir entdeckt haben. Später können wir wiederkommen und überlegen, was ... was wir tun.« Mike sah ihn betroffen an. Er wußte, was das unmerkliche Stocken in Trautmans Worten zu bedeuten hatten. Mit der Taucherglocke war Winterfeld durchaus in der Lage, diese Kuppel zu erreichen - und sie durften auf gar keinen Fall zulassen, daß dies geschah. Was Trautmann meinte, war schlichtweg dies: Wenn es ihnen nicht gelang, Winterfeld irgendwie aufzuhalten, würden sie diese Kuppel eher zerstören, bevor sie zuließen, daß sie Winterfeld in die Hände fiele. »Vielleicht reicht es, wenn wir irgendwie das Fenster verschließen«, sagte er. »Ohne das Licht findet er die Kuppel nie.«
Trautman antwortete nicht. Er nahm den Helm, den er bisher wie sie alle unter den Arm geklemmt getragen hatte, wieder in beide Hände. »Gehen wir zurück«, sagte er. »Wir beraten in Ruhe, wenn wir wieder an Bord der NAUTILUS sind.« Mike drehte sich gehorsam herum -aber gerade, als er seinen Helm wieder aufsetzen wollte, glaubte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung zu sehen. Erschrocken fuhr er herum und starrte in die entsprechende Richtung. Er sah nichts - aber er war fast sicher, einen kleinen, dunklen Schatten gesehen zu haben, der davonhuschte, ehe er wirklich erkennen konnte, um was es sich handelte. »Was hast du?« fragte Trautman. »Ich ... bin nicht sicher«, murmelte Mike. »Ich dachte, ich ... hätte etwas gesehen. Eine Bewegung.« Trautman blickte ihn kurz an, drehte sich dann ebenfalls herum und sah konzentriert in die Richtung, in die Mikes ausgestreckter Arm wies. Ohne daß es eines weiteren Wortes bedurft hätte, setzten sie sich gemeinsam in Bewegung. Erst als sie die Halle zur Hälfte durchquert hatten, sahen sie, daß es an der anderen Seite eine Anzahl niedriger, halbrunder Türen gab, die tiefer in das uralte Gebäude hineinführten. Wieder war es, als hätten sie sich ohne Worte verständigt, denn sie teilten sich ganz selbstverständlich auf, um die dahinterliegenden Räume zu untersuchen. Mike trat mit klopfendem Herzen durch die Tür auf der rechten Seite. Der Raum, in den er gelangte, war im ersten Moment eine Enttäuschung. Die Kammer war fast vollkommen leer -bis auf einen länglichen, völlig aus Glas bestehenden Behälter, der auf einem schwarzen Podest ruhte. Kein Schatten. Keine Gespenster und keine Ungeheuer mit Krakenarmen, die seit fünftausend Jahren darauf warteten, daß ihr Frühstück zur Tür hereinspaziert kam. Mutiger geworden, trat Mike vollends in den Raum hinein und warf einen Blick auf den Glasbehälter. Mike schluckte. Eine Sekunde lang stand er einfach da,vollkommen starr vor Überraschung und Unglauben, dann fragte er sich, ob er das wirklich sah, oder
nicht vielmehr noch immer bewußtlos im Salon der NAUTILUS lag und einen Alptraum hatte. Hätte er nicht die dicken Handschuhe getragen, dann hätte er sich wahrscheinlich gekniffen, um sich zu überzeugen,
daß er sich auch wirklich in wachem Zustand befand. Aber was er sah, war wahr: In dem Kasten lag regungslos
ein Mädchen. Mike blinzelte. Das Bild blieb. Vor ihm befand sich ein fast zwei Meter langer, gläserner Sarg auf einem schwarzen Basaltblock, in dem eine schlanke, blondhaarige Mädchengestalt lag. Langsam, mit klopfendem Herzen und weichen Knien, ging Mike weiter und blieb einen Schritt vor dem Sarg stehen. Er sah noch immer ein bewegungslos daliegendes Mädchen von dreizehn oder vierzehn Jahren, in einem schlichten, weißen Gewand mit gelocktem blondem Haar und einem bleichen Gesicht. Und offensichtlich war sie tot. Sie atmete nicht. Was hatte er erwartet? Wahrscheinlich war seit Hunderten, vermutlich sogar Tausenden von Jahren niemand mehr in dieser Kuppel gewesen. Sein erster Eindruck hatte ihn nicht getrogen: Der gläserne Kasten war ein Sarg, in dem -Mike begriff erst mit einiger Verspätung,wener da überhaupt vor sich hatte, und diese Einsicht traf ihn mit voller Wucht.
Wenn diese Kuppel von den Bewohnern des untergegangenen Reiches gebaut worden war, dann stand er einemMädchen aus Atlantisgegenüber, das hier zur letzten Ruhe gebettet worden war! Der Gedanke erfüllte Mike mit einer tiefen Trauer. Er trat dichter an den Sarg heran und betrachtete das Gesicht des Mädchens genauer. Ja, sie war eine Schönheit gewesen, als sie noch gelebt hatte. Ihr Gesicht schien aus feinstem weißem Porzellan modelliert zu sein, und das Haar, das ihren Kopf und die Schultern wie ein goldener Schleier umgab, mußte ihr etwas Engelsgleiches verliehen haben. Ihre Züge waren fremdartig, aber trotzdem weich und edel. Plötzlich hatte Mike das sichere Gefühl, daß er nicht mehr allein war, und wandte sich um. Aber es waren nicht Trautman oder der Sikh, die unbemerkt hinter ihm die Kammer betreten hatten ... Mike wich mit einem hellen Schrei zurück, hob entsetzt die Arme vor das Gesicht - und war die nächsten Sekunden vollauf damit beschäftigt, sich unbeschreiblich blöd vorzukommen. Hinter ihm stand kein Ungeheuer. Kein Monster, das gekommen war, um seine tote Herrin zu beschützen und den Eindringling anzugreifen. Nein, was Mike schier zu Tode erschrocken hatte, war nichts anderes als eine ganz normale, langhaarige schwarze Katze. Mike lachte befreit, nannte sich in Gedanken einen Narren und ließ sich automatisch in die Hocke sinken und streckte die Hand aus, um die Katze zu streicheln, die -
Katze?
Hier?
Zweihundert Meter unter dem Meeresspiegel? In einer
hermetisch verschlossenen Kuppel, die mindestens fünftausend Jahre alt war??!
Mikes Unterkiefer klappte vor Verblüffung herab. Er starrte das Tier an, das nur noch ein Auge hatte und sehr zutraulich war, denn als Mike keine Anstalten machte, seine Bewegung zu Ende zu führen, kam es herangetrippelt, stellte grüßend den Schwanz auf und rieb sich schnurrend an seiner Handfläche. Mike zog fast erschrocken die Hand zurück. Wo um alles in der Welt kam diese Katze hierher? Sein Herz klopfte. Irgend etwas stimmte hier nicht. Die Katze legte den Kopf schräg, musterte ihn aus ihrem einzigen, bernsteingelben Auge und miaute laut, als hätte sie seine Gedanken gelesen und versuchte ihn zu beruhigen. Mike seinerseits betrachtete sie genauer aber es blieb dabei: Was er sah, war eine schwarze Angorakatze, nicht mehr und nicht weniger. Sie war erstaunlich groß, und ein einziger Blick auf ihre Zähne und ihre Krallen überzeugte Mike davon, daß er sich vielleicht besser nicht mir ihr anlegte, aber es blieb trotzdem eine Katze. Punktum. Eine Katze, die sich noch dazu äußerst einsam zu fühlen schien, denn als Mike sich beharrlich weigerte, sie zu streicheln, sprang sie mit einem Satz auf seine Knie, stellte sich auf die Hinterbeine und versetzte ihm mit dem Kopf einen Stoß unter das Kinn, der Mike beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Mike fand leise lachend seine Balance wieder und strich dem Tier mit der linken Hand über den Kopf. Die Katze schnurrte lauter. Mike nahm sie behutsam auf beide Arme, stand auf und drehte sich wieder zu dem Sarg herum. Mike musterte nun die Konstruktion genauer. Der Sarg bestand gänzlich aus Glas, aber an seiner Oberseite ragte eine schmale Metallzunge heraus, in der sich eine Anzahl winziger, mattgrüner Lichter und zwei Schalter mit fremdartiger Beschriftung befanden.
Es gab einige drehbare Verschlüsse, mit denen der Deckel befestigt war. Er zögerte einen Moment, dann griff er danach. Die Handschuhe behinderten ihn, so daß er die Katze behutsam auf der Oberseite des Glassarges absetzte und die Handschuhe dann kurzerhand auszog, ehe er sich wieder an dem Verschluß zu schaffen machte. Die Katze miaute laut und warnend, doch er beachtete es nicht. Mit einem Klicken schnappte der erste Verschluß zurück. Nur einen Sekundenbruchteil später schrie Mike vor Schmerz auf, riß den Arm zurück und schlenkerte ihn wild hin und her -um die Katze abzuschütteln, die plötzlich gar nicht mehr einsam und verschmust war, sondern sich mit rasender Wut in seine Hand verbissen hatte. Die Katze flog davon, suchte vergeblich mit den Krallen auf der spiegelglatten Oberfläche des Sarges nach Halt und landete unsanft auf dem Boden. Mike preßte die Hand einen Moment unter die Achsel und hob sie dann stöhnend vor das Gesicht. Der Biß sah nicht sehr dramatisch aus, aber er tat höllisch weh. Die Zähne hatten sich tief in seine Haut gebohrt. Einige Blutstropfen quollen aus den kleinen Wunden. Zornig sah er die Katze an, die mittlerweile wieder auf den Glassarg hinaufgesprungen war und ihn mit gebleckten Zähnen anfauchte. Ihr buschiger Schwanz peitschte wild hin und her, und die Krallen waren drohend ausgefahren. Ihre Ohren lagen flach am Kopf. Hastige Schritte näherten sich. »Was ist los?« keuchte Singhs Stimme hinter ihm. »Ist Euch etwas geschehen? Seid Ihr in Gefahr, Herr?« Mike drehte sich herum, Singh und Trautman kamen hintereinander durch die Tür, aufgescheucht durch seinen Schrei. Singh war mit einem Satz neben ihm, hob die Hände und sah sich kampflustig nach dem unbekannten Feind um, der seinen Herrn bedrohte, während Traut
man wie vom Donner gerührt stehenblieb und den Glassarg und die schwarze Katze anstarrte. »Was ist geschehen?« fragte Singh noch einmal. Dann bemerkte er Mikes blutende Hand und fuhr erschrocken zusammen. »Ihr seid verletzt, Herr!« Er wollte nach Mikes Hand greifen, aber Mike zog den Arm hastig zurück und verbarg die Hand wieder unter der Achselhöhle. Er war verletzt - aber wenn er ehrlich war, dann hauptsächlich in seinem Stolz. »Schon gut«, sagte er. »Ein Kratzer. Nicht mehr.« Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, war Singh in diesem Punkt entschieden anderer Meinung. Aber er kam nicht dazu, eine entsprechende Bemerkung zu machen, denn Trautman berührte ihn am Arm und deutete auf den gläsernen Sarg, und der Anblick schlug selbst den normalerweise durch nichts zu beeindruckenden Sikh in seinen Bann. »Unglaublich!« flüsterte Trautman. »Ich habe es entdeckt«, sagte Mike. »Das Mädchen muß schon seit einer Ewigkeit hier liegen. Passen Sie auf!« fügte er erschrocken hinzu, als Trautman einen Schritt auf den Sarg zu tat. »Dieses Mistvieh wird rabiat, wenn man ihm zu nahe kommt.« Die Katze miaute zur Antwort, hörte auf, mit dem Schwanz zu wedeln, zog die Krallen ein und begann zu schnurren. Trautman bewegte sich vorsichtig weiter. Unschuldig blickte ihn das Tier an, leckte eine seiner Pfoten und schnurrte dabei, als könnte es kein Wässerchen trüben. »Ja, das ist ein richtiges Ungeheuer«, sagte Trautman belustigt. Er trat an den Glassarg heran, nahm die Katze mit beiden Händen hoch und betrachtete sie eingehend, ehe er sie behutsam wieder absetzte. »Es ist übrigens ein Kater. Das erklärt alles. Sei froh, daß er dir nicht den Arm abgerissen hat.«
Mike blieb weder das Glitzern in Trautmans Augen noch der spöttische Klang seiner Stimme verborgen, aber er zog es vor, nicht darauf zu reagieren. Für heute hatte er sich eigentlich genug blamiert. Feindselig musterte er den Kater und trat an Trautmans Seite, hütete sich aber, dem Sarg zu nahe zu kommen. »Es sieht fast so aus, als ob er sie bewache«, sagte Singh leise. Mike blickte auf seine Hand herab: »Hm.« »Wer mag sie gewesen sein?« murmelte Trautman. »Das ... das war ein Kind.« Er sah kurz zu Mike. »Keinesfalls älter als du. Wahrscheinlich sogar jünger. Das ist unglaublich.« »Vielleicht ist das Ganze hier nichts anderes als ein riesiges Grabmal«, sagte Mike. »Möglich.« Trautman überlegte. »Die Pyramiden haben auch keine andere Aufgabe, als Tote zu bewahren.« »Wenn sie tot ist«, hörte Mike sichzu seiner eigenen Überraschung sagen. Trautman schüttelte heftig den Kopf. »Deine Phantasie geht mit dir durch, junger Mann«, sagte er. »Sie atmet nicht, ist dir das schon aufgefallen? Möglicherweise ist siedie einzige Überlebende von Atlantis.« Er zuckte die Schultern. »Auf jeden Fall ist sie tot. Wir können uns später noch den Kopf darüber zerbrechen, wer sie war, und wie sie hierhergekommen ist. Jetzt sollten wir zum Schiff zurückkehren.« Er deutete zum Ausgang. »Ich habe zur Abwechslung eine gute Nachricht. Singh hat einen Lagerraum voller Preßluftflaschen entdeckt. Das erspart uns eine Menge Arbeit.« »Wieso?« »Weil wir so das eingedrungene Wasser nicht mühsam aus der NAUTILUS herauspumpen müssen«, antwortete Trautman. »Singh und ich werden den Riß
schweißen. Wenn es uns gelingt, die Flaschen anzuschließen, können wir das Wasser einfach aus dem Schiff herausblasen. Also los - gehen wir, ehe die anderen anfangen, sich Sorgen zu machen.« Mike drehte sich widerwillig herum, um den Raum zu verlassen. Niemals hätte er es laut zugegeben -aber es fiel ihm sonderbar schwer, das Mädchen zurückzulassen. Er kam sich vor, als ließe er sie im Stich. Der Kater miaute kläglich. Mike bedachte ihn mit einem letzten, finsteren Blick und wandte sich endgültig zum Gehen, blieb dann aber unter der Tür noch einmal stehen. Der Kater folgte ihnen nicht, sondern blieb auf dem gläsernen Sarg sitzen; fast, als hätte Trautman mit seiner scherzhaften Bemerkung recht gehabt, und er bewachte das tote Mädchen tatsächlich. Aber er sah ihnen so mitleiderregend nach, daß Mike ihm nicht mehr böse sein konnte. »Wir kommen zurück«, versprach er. »Und dann werden wir eine Möglichkeit finden, dich mitzunehmen.« Die Antwort war ein langgezogener, schier herzzerreißender Laut - und etwas, was Mike mehr irritierte als alles, was sie bisher gesehen und erlebt hatten. Während sie die Kuppel verließen und zur NAUTILUS zurückgingen, zerbrach er sich die ganze Zeit den Kopf über die Frage, ob er den Kater tatsächlich hattelächelnsehen. Natürlich war das unmöglich. Schließlich können Katzen nicht lächeln, ebensowenig wie Hunde oder andere Tiere. Er mußte sich getäuscht haben. Aber ganz sicher war er nicht.
Trautman hatte recht gehabt - die anderen waren in Sorge, als sie zurückkamen. Sie waren weit länger als eine Stunde draußen gewesen, viel länger, als ihr mitgenommener Sauerstoffvorrat eigentlich reichte.
Die Erleichterung, Trautman, ihn und den Inder lebend und unversehrt wiederzusehen, wich rasch ungläubigem Staunen, als sie von ihrer Entdeckung berichteten-und dann dem Wunsch, sofort zur Kuppel zu gehen. Aber Trautman winkte ab. Er erklärte, daß oben über dem Meer mittlerweile längst die Sonne untergegangen sein mußte und es auch für sie an der Zeit wäre, sich schlafen zu legen. Am nächsten Morgen würden sie ihre erste richtige Expedition zur Unterwasserkuppel vorbereiten - und vor allem überlegen, wie sie die schweren Preßluftflaschen in ausreichender Menge zur NAUTILUS herüberschaffen konnten. Alle waren enttäuscht, Mike eingeschlossen. Aber er sah auch ein, daß es so besser war. Der nächste Tag würde anstrengend werden. Sie würden jedes bißchen Kraft brauchen. Sie hatten jetzt schon eine der großen Stahlflaschen mitgebracht, und obwohl ihnen das Wasser geholfen hatte, mit dem enormen Gewicht fertig zu werden, hatte es ihre Kräfte fast überstiegen. Selbst allen drei zusammen war es kaum gelungen, die Stahlflasche durch die Tauchkammer und dann die schmale Treppe zu den oberen Lagerräumen hinaufzuschaffen. Nach und nach zogen sich alle in ihre Kabinen zurück. Auch Mike wollte das tun, überlegte es sich aber dann und ging noch einmal in den oberen Teil des Schiffes, wo Singh und Trautman mit der Preßluftflasche hantierten. »Klappt es?« fragte Mike, während er hinter den beiden stehenblieb, die über die Stahlflasche gebeugt
dahockten. Trautman sah nicht besonders begeistert drein. »Ich bin nicht sicher«, antwortete er. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das stählerne Schott, vor dem sie
knieten. Die gepanzerte Tür hatte sich bei dem Wassereinbruch automatisch geschlossen. Sie gehörte zu einem ausgeklügelten System, das im Falle eines Lecks verhindern sollte, daß die NAUTILUS ganz mit Wasser vollief, und das - wie er ja mit eigenen Augen sah - auch zuverlässig funktionierte. Wogegen keine Automatik der Welt etwas hätte tun können, waren die fünfzig- oder auch hunderttausend Liter Wasser, die in den Raum hinter der geschlossenen Tür eingedrungen waren und das Schiff wie ein Betongewicht am Meeresgrund festnagelten. Trautman wies auf einen runden, kompliziert aussehenden Verschluß neben der Tür. »Die Anschlüsse passen nicht«, sagte er. »Ich hatte gehofft, die Preßluftflaschen einfach anschließen zu können, um das Wasser kurzerhand aus dem Schiff zu pusten, aber die Ventile passen nicht genau aufeinander.« »Also doch pumpen?« fragte Mike. Trautman hob die Schultern. »Das kann Tage dauern«, sagte er. »Hast du eine Vorstellung, wie viel Arbeit es bedeutet, etliche zehntausend Liter Wasser aus dem Schiff zu pumpen?« »Wenn wir alle mithelfen -« »Darum geht es nicht«, unterbrach ihn Trautman. »Ich bin nicht sicher, daß uns genug Zeit bleibt.« Er deutete zur Decke hinauf. »Vergiß nicht auf Winterfeld. Früher oder später werden sie hier herunterkom