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KAPITÄN NEMOS KINDER

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WOLFGANG HOHLBEIN DAS MÄDCHEN

VON ATLANTIS

UEBERREUfER

Die Deutsche Bibliothek -CIP-Einheitsaufnahme

Hohlbein, Wolfgang: Das Mädchen von Atlantis/ Wolfgang Hohlbein. -Wien: Ueberreuter, 1993 (Kapitän Nemos Kinder) ISBN 3-8000-2374-1

J 2039/1 Alle Rechte vorbehalten Umschlagillustration von Doris Eisenburger Copyright (C) 1993 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien Printed in Germany 357642

Das gedämpfte Wummern der Motoren, von denen das gewaltige Unterseeboot während der letzten Monate erfüllt gewesen war, hatte sich in ein leises Tuckern verwandelt und war schließlich ganz verstummt. In den ersten Tagen und Nächten hatte Mike den Motorenlärm verflucht, denn es war ein Geräusch, das in jeden Raum, jede Ecke, jeden noch so verborgenen Winkel des Schiffes drang und das bald angefangen hatte, nicht nur seinen Herzschlag, sondern auch jeder seiner Bewegungen, der Betonung seiner Worte und selbst seinen Gedanken seinen Rhythmus aufzuzwingen. Aber er hatte sich daran gewöhnt, und jetzt empfand er die fast geisterhafte Ruhe beinahe als unangenehm. Aber vielleicht lag es auch nur an seiner Stimmung, die kaum gedrückter hätte sein können, wenn der Weltuntergang unmittelbar bevorstehen würde. Mike sah sich in der kleinen, einfachen Kammer um, die in den vergangenen Monaten sein Zuhause gewesen war. Er hatte jeden Zentimeter dieses Raumes ebenso wie das übrige Schiff -kennen- und lieben gelernt. Ganz egal, wie viele Wunder man auf diesem Schiff entdeckte, ganz egal, wie viele Geheimnisse man ergründen mochte -für jede Frage, auf die er eine Antwort gefunden hatte, hatten sich zwei neue gestellt, und es hatte keinen Tag gegeben, an dem er oder die anderen nicht wieder etwas Neues über die Funktionen des Schiffes herausgefunden hatten. Denn dies war nicht nur ein Unterseeboot -was im August des Jahres 1914, in dem sie sich der englischen Küste wieder näherten, an sich schon eine Sensation gewesen wäre. Es war die NAUTILUS, das legendäre Tauchboot des nicht minder legendären Kapitäns Nemo, die Mike (und mit ihm nahezu der gesamte Rest der Menschheit) bisher noch für eine bloße Erfindung gehalten hatte -ebenso wie ihren Erbauer. Aber inzwischen war viel geschehen, und Mike wußte, daß sein Leben nie mehr das gleiche wie früher sein würde. Noch vor mehr als einem halben Jahr hatte er sich für einen ganz normalen, durchschnittlichen Jungen gehalten, einer von über zweihundert ganz normalen, durchschnittlichen Schülern des englischen Internats, in dem er die letzten sechs Jahre seines Lebens verbracht hatte. Nichts davon kam der Wahrheit irgendwie nahe. Es begann damit, daß er erfahren hatte, daß sein seit langem toter Vater nicht ein indischer Adeliger gewesen war, wie Mike bisher angenommen hatte, sondern niemand anders als jener legendäre Kapitän Nemo. Und auch er, Mike, war alles andere als einnormalerSchüler des Nobelinternats vor den Toren Londons. Sein wirklicher Name lautete Prinz Dakkar, und er war nicht nur der Erbe des beträchtlichen Vermögens seines Vaters, sondern zugleich auch der Erbe der NAUTILUS und mit ihr des unvorstellbaren Schatzes an Wissen und Macht, den sie darstellte, kurz -was Mike in den letzten sieben Monaten widerfahren war, war etwas wie ein Märchen. Allerdings -an das Vermögen seines Vaters kam er nicht heran. Er konnte sich auch nicht vorstellen, daß er und die anderen so einfach nach Andara-House zurückkehren konnten, als wäre nichts geschehen. Und was die NAUTILUS betraf ... Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die Tür geöffnet wurde. Juan steckte den Kopf herein.

»Wo bleibst du?« fragte er. »Wir warten schon alle auf dich.« Er trat in die Kabine und legte Mike die Hand auf die Schulter. »Es tut weh, nicht wahr?« Seine Stimme war leise und mitfühlend. Juan war trotz seiner Jugend ganz das, was man sich unter dem klassischen stolzen spanischen Edelmann vorstellte. Daß er jemandem kameradschaftlich die Hand auf die Schulter legte, war beinahe undenkbar. Mike wußte diesen Freundschaftsbeweis durchaus zu schätzen. Trotzdem nickte er nur stumm. Was hätte er auch schon sagen sollen? Der Abschied tat wirklich weh. In den letzten Wochen hatten er und seine Freunde mitgeholfen, defekte Aggregate zu reparieren, und gelernt, wie man viele der Maschinen bediente. Sie hatten hier geschlafen, gelacht, gegessen und wilde Pläne gesponnen, und zumindest für Mike war das Schiff in dieser Zeit mehr zu einer Heimat geworden, als es Andara-House, das Internat, ja selbst das Anwesen seines Vormunds in Indien je gewesen waren. Es war einfach nicht fair, dachte er, daß er all dies nun aufgeben mußte. Natürlich hatte er von Anfang an gewußt, daß sie nur eine begrenzte Zeit hier verbringen würden, Trautman hatte an seinen diesbezüglichen Plänen von Anfang an keinen Zweifel gelassen. Aber Mike hatte jeden Gedanken daran, was nach ihrer Rückkehr nach England geschehen würde, weit von sich geschoben. Und nun war es plötzlich da. »Es ist... nicht fair!« sagte er mit schwankender Stimme. »Es ist einfach nicht gerecht!« »Nein, das ist es nicht«, bestätigte der junge Spanier. »Und das hat auch niemand behauptet. Aber es ist das einzig Vernünftige. Du selbst hast schon auf der Vergessenen Insel eingewilligt, daß die NAUTILUS zerstört wird. Ich kann mir vorstellen, wie dir zumute ist, aber trotzdem ...«

Auf der Vergessenen Insel, dem Versteck der NAUTI-LUS, war sie für ihn nur ein Mythos gewesen, der unvermutet Wirklichkeit geworden war. Er hatte damals keinerlei persönliche Beziehung zu diesem Schiff gehabt, sondern es nur als das gesehen, was es im Grunde auch war: ein phantastisches Fahrzeug und eine gefährliche Waffe, die ungeheuren Schaden anrichten konnte, wenn sie in die falschen Hände fiele. Und diese Gefahr hatte damals durchaus bestanden: Kapitän Winterfeld von der kaiserlichdeutschen Kriegsmarine hatte gewissermaßen schon seine Hände nach der NAUTILUS ausgestreckt. Vor die Wahl gestellt, ihm das Schiff zu überlassen oder es zu zerstören, war es Mike vergleichsweise leicht gefallen, sich für letzteres zu entscheiden. Aber jetzt sah die Sache entschieden anders aus. Sie waren Winterfeld entkommen. Andererseits war Mike klar, daß der Kapitän die Suche nach ihnen mit Sicherheit nichtaufgegebenhatte, dafür hatte er viel zu viel riskiert, um in den Besitz der NAUTILUS zu gelangen.Über kurz oder lang würden sie ihm wieder begegnen -und ob es ihnen noch einmal gelingen würde, ihn hinters Licht zu führen, war mehr als fraglich. Winterfeld war rücksichtslos und gefährlich und alles andere als dumm. »Ich könnte heulen bei dem Gedanken, daß Trautman dieses wunderbare Schiff zerstören wird, sobald wir von Bord gegangen sind«, sagte er. »Ich weiß«, antwortete Juan ernst. »Meinstdu, mir geht es anders?« Überrascht sah Mike den jungen Spanier an. Juan war schon immer ein Einzelgänger gewesen, der jeder Situation mit Vernunft begegnete. Nur wer ihnwirklichkannte, konnte ermessen, wie schwer ihm ein Eingeständnis wie dieses fallen mußte.

»Aber es geht nun einmal nicht anders«, fuhr Juan fort. »Trautman hat gut eineinhalb Jahrzehnte damit verbracht, die NAUTILUS zu bewachen. Sie ist sein Lebensinhalt. Glaubst du, er würde sie vernichten, wenn er irgendeine andere Möglichkeit sähe?« Widerstrebend nickte Mike -es nutzte nichts, mit dem Schicksal zu hadern. Die Dinge waren nun einmal, wie sie waren. »Du hast recht«, murmelte er und straffte sich. »Gehen wir.« An der Tür verharrte er noch einmal und ließ seinen Blick durch die Kabine schweifen, die er niemals wiedersehen würde. Die letzten sieben Monate wa

ren ... Nein, es gab keine Worte, um es zu beschreiben. Das große Abenteuer seines Lebens. Aber nun war es vorbei, und vielleicht sollte er versuchen, seinen Schmerz darüber nicht übermächtig werden zu lassen, um sich wenigstens die Erinnerung an diese Zeit so zu bewahren, wie sie es verdiente. Seine Augen brannten. Er mußte einen Tränenschleier fortblinzeln, als er sich endlich mit einem Ruck abwandte und die Tür hinter sich schloß. Sie traten auf den Gang hinaus, der beinahe durch die gesamte Länge des Tauchbootes führte. Im Gegensatz zu dem Unterseeboot, mit dem Kapitän Winterfeld sie entführt hatte (dem einzigen, in dem Mike jemals zuvor gewesen war) und in dem alles so niedrig und schmal gebaut war, daß man schon nach zehn Minuten Platzangst bekam, war die NAUTILUS riesig. Sie war gut hundert Meter lang und besaß mehrere Decks, so daß sie fast schon so etwas wie eine kleine,

schwimmende Stadt aus Stahl war. Trautman und die anderen erwarteten sie in der Kommandozentrale. Die anderen, das waren Ben, André und Chris, wie Mike Schüler in Andara-House, und

dazu Ghunda Singh, der Sikh-Krieger, Mikes Diener und Leibwächter. »Na endlich«, brummte Ben, als Mike und Juan eintraten. Er wollte noch mehr sagen, erntete jedoch einen so scharfen Blick Trautmans, daß er den Mund wieder zuklappte. Ben war vermutlich der einzige, der sich auf das Ende der Reise freute. Anfangs hatte er am schärfsten dagegen protestiert, die NAUTILUS zu zerstören - allerdings nicht, weil er so an dem Schiff hing, sondern weil er fand, es müßte der englischen Marine übergeben werden. Seit er eingesehen hatte, daß er weit und breit der einzige war, der das für eine gute Idee hielt, hatte er sich nach Kräften bemüht, ihnen die Freude an der Reise zu verderben. Trautman musterte Mike einige Sekunden lang. Seine Finger spielten nervös mit einer zusammengerollten Zeitung: einer beinahe drei Wochen alten Ausgabe der TIMES, die sie auf dem Weg hierher erstanden hatten. Trautman war damals eigens dafür an Land gegangen, was im Moment ein nicht unerhebliches Risiko darstellte. Nach fünfzehn Jahren, die er in vollkommener Isolation verbracht hatte, war er neugierig, was in der Welt vor sich ging. Aber schon die Schlagzeile hatte ihm jegliche Lust an der weiteren Lektüre genommen: Sie sagte, daß der Ausbruch eines Krieges nun so gut wie unvermeidlich geworden sei. Und so wie es aussah, war die Behauptung nicht übertrieben gewesen. »Bist du soweit?« erkundigte sich Trautman. Mike riß seinen Blick von der zusammengerollten Zeitung los und nickte widerstrebend. »Dann laßt uns gehen«, sagte Trautman und wandte sich zur Tür. Ohne ein weiteres Wort folgten sie Trautman die schmale Treppe zum Turm und danach auf das Deck der NAUTILUS hinauf. Sie waren in der Nähe von Alderney aufgetaucht. Ur

sprünglich hatte Trautman vorgehabt, die Themsemündung direkt anzusteuern und sie irgendwo in der Nähe von London an Land zu setzen, was sich jedoch als unmöglich erwiesen hatte. Das Meer wimmelte nur so von Kriegsschiffen, und vor allem die Themsemündung wurde streng bewacht. Schon die ganze Zeit war die politische Lage in Europa ernst gewesen: Der Balkan war schon seit Jahren Krisengebiet, und zwischen dem deutschen Kaiserreich auf der einen und Frankreich und Großbritannien auf der anderen Seite gab es tiefgehende Spannungen. Die große Zahl von Kriegsschiffen vor der englischen Küste deutete darauf hin, daß sich die Situation seither offenbar noch beträchtlich verschärft hatte. Deshalb hatte es einige Tage gedauert, bis Trautman entschieden hatte, sie auf der Kanalinsel abzusetzen. Von dort aus sollten sie mit einer Fähre nach England übersetzen. Ein kalter Wind blies ihnen in die Gesichter, als sie auf das Deck der NAUTILUS hinaustraten. Es war spät in der Nacht, und passend zu Mikes Stimmung waren schwarze Regenwolken am Himmel aufgezogen, die das Licht der Sterne und des Mondes verschluckten, so daß fast vollkommene Dunkelheit herrschte, in der die wenigen Lichter der kleinen Hafenstadt wie ein Sternenband aufleuchteten. Trautman deutete wortlos auf das kleine Ruderboot, mit dem sie an Land gehen würden. Die NAUTILUS hatte sich der Küste so weit genähert, wie es ging, trotzdem lag zwischen ihnen und dem Strand noch eine gute Meile. Leichter Nebel war aufgezogen, der ihnen eine unbemerkte Landung ermöglichen würde: Außerdem war Alderney eine kleine Insel, mit einem kleinen Hafen, den sich sicherlich niemand zu bewachen die Mühe machte.

»Also los«, sagte Trautman. »Das Wetter ist günstig. In einer Stunde wird es hell. Wenn sich der Nebel verzieht, möchte ich nicht mehr hier sein. Beeilt euch.« Diese beinahe rüde Art überraschte Mike, aber dann begriff er, weshalb sich der Kapitän der NAUTILUS so benahm. Nicht nur Mike hatte längst gespürt, daß er und die anderen Trautman ebenso ans Herz gewachsen waren wie er ihnen. Er verbarg nur seinen Schmerz hinter seiner Ruppigkeit, um sich und ihnen den Abschied zu erleichtern. Hintereinander kletterten sie an Bord des kleinen Bootes, Juan und Ben griffen nach den Rudern, während André, Chris und Singh das Boot mit vereinten Kräften von der Bordwand der NAUTILUS abstießen. Zuerst schien es ihnen nicht zu gelingen, denn die Strömung drückte das Boot immer wieder gegen das große Schiff, fast als hätte es einen eigenen Willen und wollte ebensowenig hier weg wie Mike und die anderen. Aber schließlich war der Abstand doch groß genug, Juan und Ben tauchten ihre Ruder ins Wasser und begannen zu pullen. Während der ganzen Zeit wandte Mike den Blick nicht von der NAUTILUS ab. Selbst als sie schon längst vom Nebel verschluckt worden war, starrte er unverwandt weiter in die Richtung, in der er das Schiff wußte. Obwohl er sich fest vorgenommen hatte, nicht zu weinen, konnte er die Tränen nun doch nicht ganz unterdrücken -aber er war nicht der einzige. Chris, der mit seinen neun Jahren der Jüngste von ihnen war, weinte ganz offen, aber auch André und sogar Juan drehten ein paarmal den Kopf weg und wischten sich verstohlen über die Augen. Lediglich Singh ließ sich wie üblich keine Gefühlsregung anmerken, und Ben -was auch sonst? -gab sich alle Mühe, seinem Ruf als Miesepeter gerecht zu werden.

»Wirklich toll«, kommentierte er, nachdem sie sich ein gutes Stück von der NAUTILUS entfernt hatten. »England befindet sich wahrscheinlich schon im Krieg mit den Deutschen, und dieser alte Narr will das großartigste Schiff versenken, das jemals gebaut wurde. Würden wir die NAUTILUS der britischen Marine zur Verfügung stellen, könnte sie den Verlauf dieses Krieges entscheidend beeinflussen.« »Halt die Klappe«, sagte André. Auch er starrte weiter in den Nebel zurück, und in seinem Gesicht stand derselbe Kummer geschrieben, den auch Mike verspürte. »Aber sicher, ich halte sofort den Mund«, maulte Ben. »Ich meine -warum sollte ich auch was sagen? Die NAUTILUS auf unserer Seite könnte ja nur vielleicht Tausende von Menschenleben retten.« »Oder aber kosten«, entgegnete Juan an Andrés Stelle. Er seufzte. »Das haben wir doch schon oft genug durchgekaut, oder?« »Aber da wußten wir noch nicht, daß der Krieg tatsächlich ausgebrochen ist. Das ist eine völlig andere Situation.« Ben hielt für einen Moment mit Rudern inne und blickte Juan herausfordernd an. »Willst du vielleicht, daß die Deutschen gewinnen?« »Bitte schweig«, sagte Singh plötzlich. »Erweise ihm diese letzte Ehre. Er hat sie wahrlich verdient.« Mike blinzelte. Juan, André und selbst Chris hatten auf einmal einen sehr sonderbaren Ausdruck auf dem Gesicht, und Mike überfiel ein unbehagliches Gefühl. »Was ... meinst du damit?« fragte er zögernd. Singh wandte den Kopf und sah ihn aus seinen schwarzen, unergründlichen Augen an: »Wir werden Trautman nicht wiedersehen, Herr. Er wird die NAU-TILUS auf ihrer letzten Fahrt begleiten.« »Das weiß ich«, antwortete Mike, »aber wieso -« Er stockte. Dann begriff er - und fuhr so erschrocken in die Höhe, daß das winzige Boot wild auf dem Wasser zu schaukeln begann. »Du meinst -« »Er meint, daß Trautman mit der NAUTILUS untergehen wird«, fiel ihm Juan ins Wort. »Und jetzt sag bloß noch, du hast das nicht gewußt!« Aber genau so war es. Mike gestand sich ein, daß er bis jetzt noch nicht einmal darüber nachgedacht hatte, was Trautman tun würde, nachdem er die NAUTI-LUS versenkt hatte. Die Antwort war einfach: Er würde nichts tun, weil er mit dem Schiff sterben würde. Er würde es irgendwo versenken, wo das Meer tief genug war, daß der Wasserdruck es zermalmen würde, und Trautman würde an Bord bleiben. Er liebte die NAUTILUS über alles und hatte die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens das Schiff bewacht. Wenn es nicht mehr da war, hatte auch sein Leben seinen Sinn verloren. Er würde zusammen mit der NAUTILUS untergehen: das Schiff, das er fast ein Menschenleben lang beschützt und bewacht hatte, würde nun zu seinem Grab werden. »Das ... das darf er nicht«, stammelte er. »Das lasse ich nicht zu! Kehrt um! Rudert sofort zurück.« Ben schürzte nur verächtlich die Lippen und pullte weiter, während Juan ihn voll Mitgefühl ansah. Singh legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Es hätte keinen Sinn«, sagte er. »Wahrscheinlich ist er bereits fort. Und selbst wenn nicht - Ihr wißt, daß er so handeln muß. Ihr könntet ihn nicht aufhalten. Ihr würdet es nur für uns alle schwerer machen.« Mike schlug seine Hand beiseite und funkelte ihn an. Gleich darauf tat ihm seine eigene Unbeherrschtheit schon wieder leid - aber Singh schien sie ihm nicht übelzunehmen. Er spürte wohl, daß es nur seine Art war, mit dem Entsetzen fertig zu werden.

Und nach einer Weile ließ sich Mike auch wieder zurücksinken und schloß die Augen. Diesmal versuchte er nicht, die Tränen zurückzuhalten, die unter seinen Lidern hervorquollen.

Sie hatten sich erkundigt, wann die nächste Fähre ablegen würde, und dabei erfahren, daß sich Großbritannien tatsächlich im Kriegszustand mit Deutschland befand. So schrecklich die Nachricht auch war, brachte sie ihnen doch einen Vorteil. Vor der Kriegserklärung hatte nur alle paar Tage eine Fähre zwischen Alderney und dem britischen Festland verkehrt. Jetzt aber fuhr täglich mehrmals eine Fähre: die nächste bereits eine Stunde nach Sonnenaufgang. Um nicht aufzufallen, gingen sie nicht in einer Gruppe, sondern getrennt an Bord - Singh, der sich des neunjährigen Chris' angenommen hatte, als erster, danach kam Ben (niemand hatte sich seinem Vorschlag,alleinzu gehen, besonders nachdrücklich widersetzt), und am Schluß und mit einigen Minuten Abstand folgten Juan, André und Mike selbst. Es war ein sonderbares Gefühl, nach so langer Zeit wieder unter Menschen zu sein. Immerhin waren mehr als sieben Monate vergangen, seit sie England verlassen hatten, und seither waren sie eigentlich fast immer allein gewesen. Wenn überhaupt, so hatte sich Mike auf diesen Aspekt ihrer Rückkehr am meisten gefreut: endlich wieder unter Menschen zu sein und einmal andere Gesichter zu sehen als die Singhs, Trautmans oder der vier anderen. Aber nun fühlte Mike sich unter all diesen Menschen nicht wohl. Ganz im Gegenteil: Sie machten ihm angst. Auf dem Deck der schwankenden Fähre herrschte enormes Gedränge. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und der Lärm war unbeschreiblich.

Erst nach einer Weile wurde ihm klar, weshalb. Es waren nicht die Menschen, die ihm ein solches Unbehagen einflößten. Es war ihre Angst, die er spürte. Wohin er auch sah, blickte er in bedrückte Gesichter, sah er in Augen, die sorgenvoll dreinblickten, und es schien nur ein Gesprächsthema zu geben: den Krieg. Je mehr Mike darüber nachdachte, desto absurder erschien ihm die Vorstellung, daß sich plötzlich ganze Nationen gegenüberstehen sollten, bis an die Zähne bewaffnet und wild entschlossen, den anderen niederzumachen, ganz gleich, was es kostete. Es gelang ihm einfach nicht, den Gedanken alsWirklichkeitzu akzeptieren. Krieg, das war etwas, worüber man in Geschichtsbüchern las oder in Romanen, wo er einen spannenden Hintergrund bilden mochte. Es war Vergangenheit. Die Zeiten, in denen man Meinungsverschiedenheiten dadurch löste, indem man den anderen kurzerhand tötete, sollten eigentlich längst vorbei sein. Ihm selbst kam die Vorstellung noch immer lächerlich vor. Aber die Angst in den Gesichtern der

Menschen hier war echt. Die Fähre legte pünktlich ab und nahm Kurs auf die Britischen Inseln. Juan, André und Mike hatten sich einen Platz auf dem Achterdeck erobert, an dem sie

wenigstens stehen konnten, ohne sich gegenseitig auf die Zehen zu treten. Falls diese Fähre überhaupt jemals so etwas wie Sitzplätze gehabt hatte, so waren sie entfernt worden, um Platz für mehr Passagierezu schaffen. Zumindest würde die Überfahrt nicht lange dauern -der Mann, der ihnen die Karten verkauft hatte, hatte gesagt, daß sie kaum zwei Stunden brau

chen würden, um England zu erreichen.

Mikes Blick irrte immer wieder auf das Meer hinaus,

und er ertappte sich bei der widersinnigen Hoffnung,

den Turm der NAUTILUS auftauchen zu sehen.

Natürlich würde das nicht geschehen. Sie hatten vor einer halben Stunde abgelegt, und das bedeutete, daß Trautman jetzt bereits seit anderthalb Stunden unterwegs war, um die NAUTILUS in ihren letzten Hafen zu steuern. Der Gedanke erfüllte ihn mit tiefer Traurigkeit. Er spürte erst jetzt wirklich, wie sehr ihm dieser alte Mann ans Herz gewachsen war. Aber war es nicht oft im Leben so -daß man erst begriff, wie viel einem ein Mensch bedeutete, wenn er nicht mehr da war? »Nimm es nicht so schwer«, sagte André leise. »Trautman tut, was er tun muß. Er hat sich diese Entscheidung bestimmt nicht leicht gemacht.« Mike begriff, daß seine Gedanken ziemlich deutlich auf seinem Gesicht zu lesen sein mußten. »Ich ... habe nicht daran gedacht«, antwortete er wenig überzeugend. »Ich habe nach Singh und den anderen Ausschau gehalten.« André zog nur die Augenbrauen zusammen, aber Juan deutete mit der Hand nach vorne. »Singh und Chris sind irgendwo am Bug, glaube ich«, sagte er. »Ben steht dort drüben und bläst Trübsal.« Mikes Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Spaniers, und tatsächlich sah er Ben: Er stand nur ein knappes Dutzend Schritte entfernt an die Reling gelehnt da und starrte mit finsterem Gesicht auf das Wasser hinab. »Wahrscheinlich kann er es immer noch nicht verwinden, nicht als strahlender Held heimzukehren und König Georg die NAUTILUS als Beute zu übergeben«, sagte André spöttisch. Er schwieg ein paar Sekunden, dann fügte er, leiser und in besorgtem Ton, hinzu: »Ich hoffe nur, er hält sich an das, was wir besprochen haben, und erzählt keinen Unsinn.« Mike verstand seine Sorge. Sie hatten lange über dieses Thema gesprochen und waren schließlich übereingekommen, niemandem zu erzählen, was ihnen in den langen Monaten ihrer Abwesenheitwirklichwiderfahren war. Davon abgesehen, daß nach der Zerstörung der NAUTILUS niemand mehr einen Nutzen aus dem Wissen um ihre Existenz ziehen konnte, waren sie sich zumindest in diesem Punkt einig gewesen, daß es besser war, Kapitän Nemos Geheimnis zu bewahren. Aber auch Mike war plötzlich nicht mehr sicher, daß Ben sich auch wirklich an ihre Absprache halten würde. Je näher sie England gekommen waren, desto hartnäckiger hatte er versucht, Trautman von seinem Entschluß abzubringen, und ihn statt dessen dazu zu überreden, das Schiff der Royal Navy zu übergeben, um - wie er es ausdrückte - den Krieg zu beenden. Weiter sollte Mike mit seinen Gedanken nicht kommen, denn in diesem Moment entstand irgendwo auf der anderen Seite des Schiffes Aufregung: sie hörten Stimmen, erregte Rufe und einen Augenblick später Schreie, und plötzlich schien die gesamte Menschenmenge nach Steuerbord zu drängen, so daß sie mitgerissen wurden, ob sie wollten oder nicht. »Was ist da los?« schrie André über den Tumult hinweg. Mike konnte zur Antwort nur mit den Schultern zucken. Er war inmitten dieser Menschen eingepfercht wie die sprichwörtliche Sardine in der Dose. Die Bewegung nach Steuerbord hin war inzwischen so gewaltig geworden, daß sich das Schiff in diese Richtung zu neigen begann. In die gellenden Schreie mischten sich jetzt immer wieder panische Rufe, die mal von einemSeeungeheuer,dann wieder von einerGeheimwaffeder Deutschen schrien. Eine bange Ahnung begann sich in Mike breitzumachen, worum es sich bei dem »Seeungeheuer« handeln könnte.

Sie erreichten die Reling, und ein einziger Blick aufs Meer hinaus genügte, um Mikes Ahnung Gewißheit werden zulassen. Ein gewaltiges stählernes Etwas, über dessen Rücken sich vom Bug bis zum Heck ein Zackenkamm zog, der in einem ehrfurchtgebietenden Rammsporn endete, war nur wenige Dutzend Meter von der Fähre entfernt aufgetaucht. Rings um den stählernen Koloß schäumte das Meer, als koche es.Eine riesige Heckflosse ragte fast zehn Meter weit in die Luft, und umdie Ähnlichkeit mit einem Fabelwesen komplett zu machen, erhob sich über der Mitte des Rumpfes ein gewaltiger, buckeliger Turm, aus dem zwei runde Bullaugen wie übergroße Augen hervorstarrten. »Die NAUTILUS«, stießAndré hervor. »Das ist -« Weiter kam er nicht, denn trotz seiner Überraschung und Freude fuhr Mike blitzschnell herum und versetzte ihm einen heftigen Rippenstoß. »Still!« zischte er und sah sich erschrocken um. Glücklicherweise schien niemand Andrés Worte gehört zu haben -rings um sie herum drohte nämlich Panik auszubrechen. »Das sind die Deutschen!« kreischte eine dicke Frau. Sie starrte kreidebleich vor Schreck auf das Unterseeboot. Andere Passagiere nahmen ihren Ruf auf. Wieder hallten Schreckensschreie über das Deck. Einige Besatzungsmitglieder versuchten tapfer, aber vergeblich, die aufgebrachte Menge zu beruhigen. Die Fähre begann immer spürbarer zu schaukeln. Mike sah sich nach Ben und den beiden anderen um. Singh kämpfte sich gerade in ihre Richtung vor, wobei er Chris der Einfachheit halber auf die Arme genommen hatte, damit sie nicht getrennt wurden. Von Ben war keine Spur zu sehen. »Sie kommt näher!« stieß André atemlos hervor. »Sie kommt zurück, Mike! Trautman geht längsseits!«

Tatsächlich nahm die NAUTILUS wieder Fahrt auf, überholte die Fähre und ging schließlich kaum einen Meter neben der Fähre längsseits, so daß sie scheinbar stillzustehen schien. Hinter dem riesigen Bullauge im Turm bewegte sich ein Schatten, dann wurde die Turmluke geöffnet. Eine Sekunde lang war es, als hielten alle Leute an Bord den Atem an, aber als nichts geschah, brach die Panik tatsächlich aus. Ein Teil der Menschenmenge versuchte entsetzt, von der Reling und der vermeintlichen Geheimwaffe zurückzuweichen, während von hinten andere herankamen -ein unvorstellbares Gedränge entstand, in dem niemand mehr wirklich von der Stelle kam. »Trautman will, daß wir wieder an Bord kommen«, rief Mike voll Aufregung. Er wartete nicht ab, ob Juan und André antworteten, sondern schwang sich mit einer entschlossenen Bewegung auf die schmale Metallreling hinauf. Die Fähre war ein ziemlich flaches Schiff, so daß sich der Rücken der NAUTILUS fast auf gleicher Höhe mit ihrem Deck befand. Hinter ihm klangen erschrockene Schreie auf. Jemand versuchte ihn zurückzuhalten, aber Mike streifte die Hand ab und nutzte den Schwung dieser Bewegung zugleich, um sich abzustoßen. Der Sprung war nicht sehr tief, aber er verlor auf dem nassen Metall um ein Haar die Balance und kämpfte mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht, dann hatte er festen Halt gefunden. »Kommt schon!« rief er. Den anderen blieb keine Wahl mehr. Nach dem Sprung war für die Besatzungsmitglieder der Fähre klar, daß Mike und seine Begleiter etwas mit dem mysteriösen Ungetüm zu tun hatten, das so jäh aus dem Meer aufgetaucht war. Rücksichtslos drängten sie sich durch die Menschenmenge auf die Jugendlichen zu.

Juan war der nächste, der sprang. Mike packte ihn, bevor er stürzen konnte. Ihm folgte André. Von Ben war noch immer nichts zu entdecken. Zwei Besatzungsmitglieder hatten inzwischen Singh erreicht, und versuchten ihn zu packen. Singh versetzte dem einen einen Stoß, der ihn in die Menschenmenge zurücktrieb, und rammte dem anderen den Ellbogen in den Magen, daß er sich vor Schmerz krümmte. Noch in der gleichen Bewegung fuhr Singh herum, stieg mit einem Fuß auf die schmale Reling - und warf den völlig perplexen Chris einfach zu ihnen herüber! Noch während Mike und Juan gemeinsam vorsprangen, um Chris aufzufangen, stieß Singh sich ab und landete geschmeidig auf dem Deck der NAUTILUS. Mike hastete auf den Turm zu, stieg die kleine Leiter hinauf und schwang sich durch die Luke ins Innere des Unterseebootes, wo Trautman ihn erwartete. »Was ist passiert?« fragte Mike. Trautmans Aufregung war unverkennbar. »Später«, antwortete er knapp. »Erst einmal müssen wir hier weg. Wo sind die anderen?« Juan und André polterten bereits die schmale Eisenleiter in den Turmhinunter. Über ihnen erschien Singhs Gestalt, und endlich sahen sie auch Ben. Durch das der Fähre zugewandte Bullauge beobachtete Mike, wie Ben ein ganzes Stück zum Heck hin vergeblich versuchte, sich durch die Menge zu quetschen. Als er einsah, wie wenig Sinn dieses Unterfangen hatte, sprang er kurzerhand über Bord und begann mit kräftigen Bewegungen auf das Boot zuzukraulen. Ben war ein guter Schwimmer, aber an Bord der Fähre hatte sich die Situation dramatisch verändert: Zwei Männer in dunkelblauen Uniformen bahnten sich ihren Weg zur Reling, und Mike bemerkte voller Schreck, daß einer ein Gewehr trug.

Trautman und Singh verständigten sich mit einem schnellen Blick. Während Trautmans Finger über die Kontrollen huschten, Schalter umlegten, Knöpfe drückten und Hebel betätigten, kletterte Singh die Leiter wieder hinauf und verharrte auf der zweitobersten Sprosse, um Ben beim Einsteigen zu helfen. »Aber die werden doch nicht etwa auf ihn schießen!« sagte Juan ungläubig. Wie zur Antwort krachte vom Deck der Fähre ein Schuß. Allerdings galt der Angriff nicht dem Jungen im Wasser, sondern der NAUTILUS selbst. Die Kugel knallte gegen den Turm und heulte als Querschläger davon. Natürlich konnte eine Gewehrkugel dem gewaltigen Schiff keinen Schaden zufügen; selbst die Bullaugen bestanden aus fünf Zentimeter dickem Quarzglas, das ein solches Geschoß nicht einmal anzukratzen vermochte. Trotzdem fuhren alle im Turm so erschrocken zusammen, als wäre das Schiff von einem Kanonenschuß getroffen worden. »Er ist auf Deck!« rief Singh zu ihnen hinab. »Los!« Trautman schob einen großen Hebel nach vorne, und die NAUTILUS begann sich schwerfällig in Bewegung zu setzen. Das Schiff war so konstruiert, daß es notfalls auch von einem einzigen Menschen gesteuert werden konnte, allerdings standen zahlreiche Funktionen dann nicht zur Verfügung. Um alle Fähigkeiten des Tauchbootes voll zu nutzen, war eine Besatzung von wenigstens einem Dutzend Mann erforderlich. Jetzt näherten sich Bens hastige Schritte dem Turm. Vor den beiden Bullaugen stieg eine sprudelnde Wasserlinie in die Höhe. Ben schaffte es, aber buchstäblich im allerletzten Moment. Kaum eine Sekunde, bevor sich das Wasser endgültig über der NAUTILUS schloß, sprang er mit einem Satz die Leiter herab, und beinahe gleichzeitig knallte Singh den Lukendeckel über sich zu -allerdings nicht schnell genug. Ein Schwall eisigen Wassers schoß herein und ergoß sich über Ben, der gerade erst aus dem Wasser heraus war. Ben begann zu schimpfen, aber niemand achtete darauf. Das Schiff sank immer schneller und entfernte sich gleichzeitig weiterhin von der Fähre. Im Inneren des Turmes wurde es düster, als die NAUTILUS immer tiefer sank, um eventuellen Verfolgern zu entgehen. Mike schätzte, daß sie sich jetzt schon gute zwanzig oder gar dreißig Meter unter der Meeresoberfläche befanden. Trotzdem blieb Trautman noch eine geraume Weile gebannt über seine Kontrollen gebeugt stehen, ehe er sich mit einem hörbaren Seufzen aufrichtete und zu ihnen herumdrehte. »Alles in Ordnung?« fragte er. Er sah ziemlich erschöpft aus, fand Mike. Es war etwa zwei Stunden her, daß sie sich voneinander verabschiedet hatten, aber Trautman schien in dieser Zeit um Jahre gealtert zu sein. »Was ist passiert?« fragte Mike noch einmal. »Warum sind Siezurückgekommen?« Trautman legte einen Schalter am Kommandopult um, trat von dem fast mannsgroßen Steuerrad zurück und deutete auf die eiserne Wendeltreppe im Boden, die tiefer ins Innere des Schiffes hinabführte. Der eigentliche Kommandoraum der NAUTILUS befand sich

im Rumpf des Schiffes, zwei Etagen unter ihnen. Mike hatte das Gefühl, gleich vor Neugier platzen zu müssen, aber irgendwie brachte er das Kunststück fertig, sich zu beherrschen. Sie folgten Trautman in den großen, behaglich eingerichteten Kommandoraum

der NAUTILUS und zu einem Tisch in der Ecke, auf

dem eine Zeitung lag; die TIMES, die Trautman vor

etwa drei Wochen gekauft hatte. Mike warf einen flüchtigen Blick auf die Schlagzeilen, die in zehn Zentimeter großen Lettern auf der Titelseite prangten: GROSSBRITANNIEN STELLT DEM KAISER EIN ULTIMATUM! IST DER KRIEG NOCH ZU VERMEIDEN? Für einen kurzen Moment überlegte Mike, ob Trautman tatsächlich nur wegen des Kriegsausbruches seine Absicht geändert hatte. Doch Trautman schlug die Zeitung weiter hinten auf. »Hier«, sagte er, während er sie Mike reichte. »Ich habe es vorhin erst entdeckt, als ich noch einmal darin geblättert habe. Dabei hatte ich es die ganze Zeit über praktisch vor der Nase! Meine Schuld. Lies!« Mike überflog rasch den Artikel während sich die anderen im Halbkreis hinter ihm aufstellten und versuchten, über seine Schulter zu blicken. Die Meldung bestand nur aus wenigen Sätzen und besagte, ein deutsches Kriegsschiff habe eine friedliche französische Forschungsexpedition im Atlantik überfallen, ihr Schiff und die gesamte Ausrüstung gekapert und die Besatzung gefangengenommen - bis auf einen einzigen Mann, der wie durch ein Wunder hatte entkommen können. Verwirrt runzelte Mike die Stirn und gab Trautman die Zeitung zurück. »Und?« fragte er. Der Artikel war sicher bemerkenswert, aber er begriff nicht ganz, wieso Trautman darüber so aufgeregt war. »Schau dir den Namen des Mannes an, der die Expedition geleitet hat«, sagte Trautman. »Professor Ar-ro-nax«, buchstabierte Mike den ungewöhnlichklingenden Namen. »Und?« Der Name sagte ihm nichts -aber er bemerkte, daß Singh leicht zusammenfuhr. »Professor Arronax gehört zu den wenigen noch lebenden Menschen, die jemals an Bord der NAUTILUS waren«, erklärte Trautman. »Seit der Begegnung mit

deinem Vater haben sie ihr Leben der Suche nach

dem versunkenen Atlantis gewidmet.«

»Aber Atlantis ist doch nicht mehr als eine Legende«,

warf Juan ein.

Ein leichtes Lächeln erschien auf Trautmans Gesicht. »Wie die NAUTILUS?« entgegnete er. Juan zuckte leicht zusammen. »Wollen Sie damit sa

gen, daß -?« »Ich will gar nichts sagen«, fiel ihm Trautman ins

Wort, »Ich weiß lediglich, daß Professor Arronax davon überzeugt ist, daß es Atlantis gegeben hat und daß er zeit seines Lebens danach gesucht hat.« »Aber warum sollten die Deutschen eine Forschungsexpedition überfallen?« wunderte sich André. »Nichtdie Deutschen«, korrigierte Trautman und

deutete auf die letzten Sätze des Artikels. »Das Flottenkommando hat jede Verantwortung für diesen Zwischenfall abgelehnt, und in diesem Fall glaube ich das, weil es das einzige ist, das Sinn ergibt. Die deutsche Marine dürfte ganz andere Probleme haben, als sich mit der Suche nach Atlantis abzugeben.« »Winterfeld«, murmelte Mike injähem Begreifen. Trautman nickte ernst. »Ja. Genau das befürchte ich auch. Es war zu erwarten, daß er nicht untätig bleiben würde, nachdem er unsere Spur verloren hatte. Wie in dem Artikel steht, hat Professor Arronax eine Taucherglocke entwickelt, mit der man sehr viel tiefer als bisher ins Meer hinabsteigen kann.« »Und Sie glauben, er hat Atlantis entdeckt?« Der Zweifel in Bens Stimme war nicht zu überhören. »Mag sein«, erwiderte Trautman. Wenn es jemanden gibt, der den verlorenen Kontinent finden kann, dann ist es Arronax. Er weiß vermutlich mehr darüber als jeder andere lebende Mensch.«

Einige Sekunden herrschte Schweigen. »Aber ... aber selbst wenn es Atlantis wirklich gegeben hat - was

verspricht sich Winterfeld davon, es zu finden?« fragte Mike schließlich. »Die Insel soll schon vor Tausenden von Jahren versunken sein. Vielleicht existieren noch ein paar Ruinen, aber die haben doch höchstens archäologischen Wert.« Trautman rang einen Moment sichtbar mit sich, dann seufzte er. »Eshat wohl keinen Sinn, die Wahrheit länger zu verschweigen. Über kurz oder lang werdet ihr es ja doch erfahren.« Er sah Mike an. »Hast du dich eigentlich noch nie gefragt, woher dein Vater dieses Schiff hatte?« »Ich ... ich dachte, daß er die NAUTILUS selbst entworfen hat«, stotterte Mike. Trautman machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist, was alle glauben sollen«, sagte er. »Eine Legende, die Nemo selbst in die Welt gesetzt hat, um von der Wahrheit abzulenken. Ihr habt das Schiff inzwischen alle ganz gut kennengelernt. Eigentlich hätte ich erwartet, daß ihr längst von selbst darauf gekommen seid, daß das nicht stimmen kann. Kein Mensch wäre in der Lage, so etwas zu bauen.« Er schüttelte bekräftigend den Kopf. »Nicht in hundert Jahren.« »Aber ... soll das heißen ...« Mike brach ab. Mit einem Mal ergab alleseinen Sinn. Arronax' jahrzehntelange Suche, Winterfelds Überfall auf die Expedition und Trautmans Entsetzen darüber. »Die NAUTILUS kommt aus Atlantis«, murmelte er fassungslos. »Dein Vater hat selbst mir nie erzählt, wie er die NAUTILUS bekommen hat«, erklärte Trautman ernst. »Er hat nur einmal eine Bemerkung über ein verlorenes Reich unter dem Meer gemacht. Aber damit kann er nur Atlantis gemeint haben.« Er schloß für einen Moment die Augen und fuhr mit veränderter Stimme und großem Ernst fort: »Wenn die untergegangene atlantische Zivilisation in der Lage gewesen ist, ein Schiff wie dieses zu bauen, kannst du dir dann vorstellen, was sie noch alles hinterlassen hat?Daraufhat es Kapitän Winterfeld abgesehen.« Mike wurde blaß, als er die volle Bedeutung dessen begriff, was er gerade gehört hatte. Er warf einen Blick in die Runde und sah, daß es den anderen ebenso erging. Nur Singh sah ungerührt aus wie immer. »Ich glaube, daß Winterfeld von Anfang an nur hinter dem Geheimnis von Atlantis her war«, fuhr Trautman fort. »Vielleicht ist das sogar der einzige Grund, aus dem er die NAUTILUS haben wollte - um mit ihr nach Atlantis zu suchen. »Die Geheimnisse von Atlantis in den Händen eines Verrückten wie Winterfeld unvorstellbar.« Er erschauerte sichtlich. »Deshalb bin ich zurückgekommen«, sagte er. »Ganz egal, wie, und ganz egal, was es uns kostet - wir müssen ihn aufhalten. WinterfelddarfAtlantis niemalsfinden.«

Singh senkte den Feldstecher, blinzelte ein paarmal rasch hintereinander und hob das Glas dann noch einmal kurz an die Augen, ehe er es an Trautman weiterreichte, der neben ihm auf dem eisernen Vorderdeck der NAUTILUS stand. Es war ein sehr sonderbares Fernglas - wie fast alle Dinge des täglichen Gebrauchs, die sich an Bord befanden, stammte es noch von den ursprünglichen Besitzern der NAUTI-LUS - ein großes, bizarres Etwas mit schimmernden Kupferschwingen an den Seiten und Gläsern, die auf den ersten Blick gar nicht durchsichtig erschienen, denn sie waren pechschwarz. Trotzdem vergrößerte es weit besser als jedes andere Fernglas, das Mike je in der Hand gehabt hatte; selbst besser als das armlange Schülerteleskop, das in seinem Zimmer im Internat stand. Und das war nur ein winziges Beispiel dafür, wie unvorstellbar weit die Technologie der untergegangenen Atlanter der des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts überlegen war. Ausgelöst durch den Anblick des Glases, begannen Mikes Gedanken eigene Wege zu gehen, während er neben Trautman und dem Sikh stand und darauf wartete, zu erfahren, was die beiden hinter dem für ihn leeren Horizont entdeckt hatten. Annähernd drei Wochen waren vergangen, seit sie Alderney verlassen und wieder Kurs auf den Atlantik genommen hatten. Sowohl die Freude, sich wieder an Bord der NAUTILUS zu befinden, wie auch die Aufregung über Winterfelds neues Vorhaben waren im Laufe der Tage einer gewissen Monotonie gewichen. Dabei war es anfangs aufregender denn je gewesen. Jetzt, wo sie wußten, was die NAUTILUSwirklichwar, hatten sie das Schiff gewissermaßen neu entdeckt, und vieles, was ihnen vorher unverständlich und seltsam vorgekommen war, erschien plötzlich in einem anderen Licht. So hatten sie alles neuerlich untersucht und begutachtet -mit Ausnahme des Maschinenraumes, den Trautman ihnen zu betreten strengstens verboten hatte. Trotzdem hatte Mike einen Blick hinter die entsprechende Tür riskiert. Der große, mit unverständlichen Apparaturen vollgestopfte Raum war von einem unheimlichen Dröhnen und einem sonderbaren, blau pulsierenden Licht erfüllt gewesen, das Mike - so verrückt es ihm selbst erschien - auf der Hautgespürthatte. Er war das unangenehme Kribbeln einen ganzen Tag nicht losgeworden und hatte sich fest vorgenommen, in Zukunft besser auf Trautmans Verbote zu hören. Was sich nicht verändert hatte, war die Furcht bei der Vorstellung, daß es Winterfeld tatsächlich gelingen könnte, Atlantis zu finden. Die Motoren der NAU-TILUS liefen auf vollen Touren, dennoch hatte Mike

das Gefühl, daß sie kaum von der Stelle kamen. Geduld war noch nie seine starke Seite gewesen, und der Gedanke daran, daß sie endlose Tage brauchen würden, um ihr Ziel im Atlantik zu erreichen, während Winterfelds Suche vielleicht gerade in diesem Moment schon Erfolg hatte, machte ihn fast wahnsinnig. Und Winterfelds Chancen standen nicht schlecht. Trautman hatte ihnen eine Menge über Professor Arronax erzählt -genug, um Mike und die anderen gebührend neugierig auf ihn zu machen, aber auch genug, ihnen einen gehörigen Respekt einzuflößen. Arronax gehörte zu den wenigen Menschen, die jemals an Bord der NAUTILUS gewesen waren. Und dieses Erlebnis hatte sein Leben gründlich verändert. Seit jenen Tagen hatte er sich noch mehr der Erforschung der Tiefsee verschrieben - und vor allem der Suche nach dem legendären Atlantis. Wie Trautman erzählt hatte, wußte er mittlerweile ziemlich genau,woer zu suchen hatte - und verfügte wohl auch über die entsprechenden Mittel. Die von ihm weiterentwickelte Taucherglocke war in der Lage, Hunderte von Metern tief ins Meer hinabzutauchen und somit tiefer als jedes andere Schiff auf der Welt, die NAUTI-LUS vielleicht ausgenommen. »Das ist sie«, sagte Trautman und senkte den Feldstecher. »Kein Zweifel. Das ist die LEOPOLD.« Mike fuhr aus seinen Gedanken hoch. Es erfüllte ihn mit Erleichterung, daß die endlose Zeit der Suche nun vorüber war, aber auch mit Schrecken bei dem Gedanken an das, was noch vor ihnen liegen mochte. »Da ist noch ein kleineres Schiff«, fuhr Trautman fort. »Das von Arronax, vermute ich.« »Also ist es wahr«, sagte der Inder düster.

Trautman antwortete nicht. »Ich verstehe das nicht«, sagte Ben hinter ihnen. Mike drehte sich herum und stellte fest, daß nicht nur er, sondern auch die drei anderen mittlerweile auf das Deck heraufgekommen waren. »Sie haben doch gesagt, daß das Meer an dieser Stelle etwa sechstausend Meter tief ist.« »Richtig«, bestätigteTrautman. »Eben!« sagte Ben. »So tief kann diese Taucherglocke doch bestimmt nicht hinunter.« »Nicht einmal annähernd«, sagte Trautman. »Aber irgend etwas tun sie dort vorne.« »Wofür haben wir eigentlich Torpedos an Bord?« brummte Ben. »Wenn wir die LEOPOLD damit unter Beschüß nehmen, bleibt von dem Kahn nicht mehr viel übrig. Auf die Weise kommt Winterfeld viel schneller auf den Meeresgrund. Und das sogar ganz ohne Taucherglocke.« Er grinste, aber er war der einzige, der das komisch zu finden schien. Mike warf ihm einen zornigen Blick zu. Ben war noch nie gut auf die Deutschen zu sprechen gewesen, aber seit er vom Ausbruch des Krieges erfahren hatte, haßte er sie geradezu. Bereits als Scherz wäre eine solche Bemerkung nicht lustig gewesen, aber Mike kannte Ben gut genug, um zu wissen, daß dieser seine Worte bitterernst meinte. »Und alle anderen Menschen an Bord gleich mit ihm, wie?« entgegnete er heftig. »Selbst wenn Arronax und seine Leute nicht auf der LEOPOLD wären, käme das gar nicht in Frage.« »Ach nein? Was hast du denn sonst vor? Willst du Winterfeld vielleicht freundlich bitten, uns den Professor und die Taucherglocke auszuhändigen?« höhnte